ADB:Brunn, Heinrich von
*): Heinrich B., Archäolog, wurde geboren am 23. Januar 1822 zu Wörlitz in Anhalt-Dessau, wo sein Vater seit 1818 als Titularpropst das Amt eines Pfarrers bekleidete. Beide Eltern stammten aus alteingesessenen anhaltinischen Familien. Dort, inmitten des dörflichen Wörlitz, in dem behaglich-freundlichen Pfarrhaus hat B. seine erste Jugend bis zum 13. Jahre verlebt. Die Schilderung des Elternhauses entnehmen wir der Gedächtnißrede Adam Flasch’s, der hier aus Mittheilungen schöpfen konnte, die ihm der noch lebende jüngere Bruder Brunn’s gesandt hatte. „Es war ein guter Geist, der in dem Brunn’schen Elternhause herrschte, der Ordnung und Thätigkeit, aber zugleich des Frohsinnes. Die Mutter, eine kluge und lebhafte, wirthschaftliche Frau, setzte ihren ganzen Stolz in die Führung ihres Haushalts, wobei sie der Stütze nie begehrte. Der Propst, ein Geistlicher alten Schlags, der auch mit Andersgläubigen sich wohl vertrug und den schönsten Preis des Christenthums in dessen ethischer Kraft sah, hielt strenge Zucht und leitete, selber ein Muster gewissenhafter Pflichterfüllung und nebenher auch um die eigene Fortbildung bemüht, namentlich Heinrich sehr früh zu ernster Arbeit und regelmäßiger Lebensführung an. Aber im Grunde seines Herzens ein guter und wahrhaft humaner Mensch, wollte er seine Kinder nicht düster und muckerisch machen, sondern gönnte ihnen auch frohe Stunden und beschnitt ihnen in keinerlei Weise die freie Entfaltung ihres besonderen Wesens. Ein [692] Freund geselligen Lebens, hatte er einen großen Kreis von Bekannten, die er gerne auch in seinem eigenen Hause sah. So verging namentlich im Sommer selten eine Woche, in der nicht Gäste aus Dessau oder der sonstigen Nachbarschaft sich einstellten, in der grünen Idylle des dem Pfarrhause anstoßenden herzoglichen Parks sich zu ergehen und mit den Brunn’schen ein paar heitere Stunden zu verbringen. Eines Imbisses war man bei dem allerdings haushälterischen, aber von Herzen gastfreundlichen Pfarrherrn immer gewiß, und fanden sich einmal der Freunde mehr zusammen, so wurde wohl auch die eine und andere Flasche Weins aus dem Keller hervorgeholt, die Stimmung zu beleben.“ Den ersten Schulunterricht empfing Heinrich beim Cantor in der Volksschule. Später unterwies ihn ein Hülfsprediger in den Anfangsgründen des Griechischen und der Vater im Lateinischen. In eben jenen Jahren regte sich bei ihm in den Freistunden zum ersten Mal in eigenartiger Weise der bildnerische Trieb: er hatte sich freiwillig bei einem Tischler in die Lehre gegeben und brachte es dort zur Verfertigung eines ganzen Stuhles. Dreizehn Jahre alt, verließ er das Elternhaus und trat in das Gymnasium zu Zerbst ein, mit dem eine Pensionsanstalt (Francisceum) verbunden war. Hier waren seine Hauptlehrer, denen er dankbare Anerkennung noch am Festabend seines fünfzigjährigen Doctorjubiläums zollte, der Director Heinrich Ritter und der Philologe Karl Sintenis, nicht zu vergessen den Zeichenlehrer und Maler Krägen, bei dem er Zeichnen, Tuschaquarelliren und die Anfangsgründe des Malens und Radirens lernte. Wie herzlich das Verhältniß insbesondere zu diesem Maler war, wie hoch der Lehrer den Schüler schätzte, können wir daraus entnehmen, daß Krägen bei seinem Tode B. eine große Menge Mappen mit Radirungen, Zeichnungen und Aquarellen hinterließ. Im Sommer 1838 führte den Sechzehnjährigen ein Reise durch Thüringen bis an den Rhein, wo er Verwandte besuchte; sie muß damals seinen empfänglichen Sinnen einen tiefen Eindruck gemacht haben, denn er erzählte von ihr auch in späteren Jahren noch gern und oft. Im Herbst 1839 verließ er das Francisceum; es ist charakteristisch, daß die Lehrer im Zeugniß der Reife vor allen andern guten Eigenschaften die Kindlichkeit seines Gemüthes zu loben wußten, und daß sie gerne bezeugten, er habe ihnen nur Freude bereitet.
BrunnAls Universität wurde Bonn gewählt, wo sich B. am 2. November als Philologe immatriculiren ließ. Von Sintenis wurde er an Ritschl empfohlen, der damals von jugendlichem Feuer beseelt die Bahn zur Höhe seines Ruhmes aufwärts ging; mit ihm verknüpfte B. bald ein unzerreißbares Band der Anhänglichkeit und Dankbarkeit. Ritschl’s Schule war, wie keine andere, geeignet, durch die Schärfe, Eleganz und Energie seiner Kritik die Organe des jugendlichen Geistes zu stählen, ihnen Gewandtheit zu geben, ihre Waffen zu schärfen; dabei muß die Art Ritschl’s etwas Glänzendes, Siegesgewisses gehabt haben, das auf seine Schüler begeisternd wirkte und auch die Matten aufrüttelte. Es war sicher ein großes Glück, daß die zart veranlagte Persönlichkeit Brunn’s gerade in jenen Jahren der größten Empfänglichkeit und Bildungsfähigkeit in die strenge Zucht dieses Meisters scharfer, verstandesmäßiger Kritik geführt wurde. Schon die Art der Doctordissertation und selbst die einzelnen beim Examen vertheidigten Thesen zeigen deutlich seinen bestimmenden Einfluß, und späterhin wurde es B. immer klarer, wie Viel er gerade diesem Meister verdankte. Dazu kam noch eines, was von höchster Bedeutung wurde, als B. sich entschloß, dauernd im Süden zu bleiben: er war bei Ritschl daran gewöhnt worden, daß alle kritische Feinheit nur Werth hat, wenn sie sich mit souveräner Beherrschung des ganzen erreichbaren Arbeitsmaterials verbindet und bei der Ansammlung dieses Materials auch das geringste Monument [693] nicht verachtet wird; geschieht es doch oft genug, daß gerade solche die glänzendsten Hypothesengebäude über den Haufen werfen. Nächst Ritschl war es Welcker, an den sich B. mit Liebe anschloß: persönlich nähergetreten ist er ihm erst später, als sich Beide in Rom wiedertrafen, und das ist charakteristisch und findet seine Erklärung wohl nicht in dem erheblich größeren Altersunterschiede zwischen Lehrer und Schüler, sondern darin, daß Beide in vieler Beziehung verwandte Naturen waren, während B. bei Ritschl eben das fand, was ihm fehlte. Selbstverständlich aber war es, daß auch damals schon die tiefgründige, von glühendster Begeisterung und zartester Poesie wahrhaft durchleuchtete Art Welcker’s den tiefsten Eindruck auf das jugendliche Gemüth des Schülers nicht verfehlte. Nach einem Semester trat B. in das philologische Seminar, dessen Senior er später wurde. Als eigenstes Arbeitsfeld wählte er sich Geschichte der antiken Kunst, angeregt gewiß ebenso sehr von seinen Lehrern wie von seinen eigenen künstlerischen Neigungen. Diese waren in der That so stark, daß er noch im Beginn seiner Universitätszeit zwischen Kunst und Wissenschaft geschwankt hat, und auch, nachdem er sich für das Studium entschlossen, ist er der Kunst nicht ganz untreu geworden. Nicht Figurenmalerei reizte ihn besonders, wie man nach der Richtung seiner archäologischen Forschungen denken könnte, sondern die Landschaft; er malte Oelskizzen in der Umgebung Bonns, 1841 ein größeres Bild „Gegend bei Altenahr“; im Mai 1840 verbrachte er seine Ferien in Düsseldorf und copirte in der dortigen Galerie. „Im übrigen“, bemerkt Flasch mit Recht, „erscheint noch beachtenswerth, wie früh B. gelernt, seine Zeit so zu nützen, daß er das Nothwendige und Ersprießliche that und das Angenehme nicht unterließ.“ B. wurde in dem Corps Palatia activ und hat das Burschenleben und auch seinen Uebermuth flott und voller Humor gekostet. Am 20. März 1843 wurde er zum Doctor promovirt. „Die Inauguraldissertation »Artificum liberae Graeciae tempora« enthält eine Reihe schwieriger, mit Klarheit und in Anbetracht des jugendlichen Alters des Autors überraschender kritischer Umsicht geführter Untersuchungen zur Chronologie namhafter griechischer Künstler der Zeit vor Alexander“ (Fl.). Schon in dieser frühen Zeit hat sich B. augenscheinlich über das Verhältniß von Archäologie und Philologie seine eigenen Gedanken gemacht; so lesen wir in der Vorrede der Dissertation: Quamquam enim in antiquae artis historia elaborare propositum sit mihi, non tamen potui non assentiri Fr. Ritschelio, praeceptori dilectissimo, qui sine philologiae lumine caecutire archaeologiam suo iure contendit. Man meint es diesem Satze anzuhören, daß es dem jungen Künstlergeist nicht leicht geworden ist, sich dieser Einsicht unterzuordnen; aber er hat es gethan und hat Zeit seines Lebens seinen Schülern den unersetzlichen Werth strengster philologischer Vorbildung eingeprägt, so sehr er auch immer die Bedeutung der Archäologie vertheidigt hat. Diesen Standpunkt vertritt er bereits in einer seiner Doctorthesen: Archaeologia quae dicitur pars est philologiae recte definitae. Ganz persönlich und sehr charakteristisch ist eine andere These: In critica arte malo errare via et ratione, quam sine ratione verum invenire. So merkwürdig ein solches Bekenntniß bei einem künstlerisch veranlagten Menschen ist, und so gern man auch hier auf den Einfluß Ritschl’s rathen möchte, muß doch dieser Grundsatz aus der eigensten Ueberzeugung Brunn’s geflossen sein, denn nur durch ihn erklärt sich die Hartnäckigkeit, mit der er zeitlebens an Meinungen festhielt, die er via et ratione gefunden hatte, auch wenn Andere mit unverächtlichen Gründen dagegen auftraten.
Zu Ostern 1843 verließ der junge Doctor Bonn, reichlich mit Empfehlungsbriefen von Ritschl für Berlin, Leipzig, Halle, Gotha beladen. Sein [694] Endziel aber war Rom, wo er sein Specialstudium unter der Leitung Emil Braun’s fortsetzen sollte, der damals „dirigirender Secretär“ des Instituts für archäologische Correspondenz war. Auch dorthin hatte ihn Ritschl gewiesen, der mit Braun persönlich befreundet war und diesem bei seinem diesjährigen Sommerbesuch in Bonn seinen Zögling noch besonders warm ans Herz gelegt hatte. Im Spätsommer kam B. über Augsburg nach München, wo er während eines längeren Aufenthaltes die Sammlungen studirte und anregenden Verkehr in Künstlerkreisen fand; dann ging es weiter nach Salzburg und nun zu Fuß über die Alpen. In Triest besuchte er das Grab Winckelmann’s; der erste längere Aufenthalt auf italienischem Gebiete wurde in Venedig gemacht. Dann führte sein Weg über Padua, Vicenza, Verona, Bologna nach Florenz, wo ihn ein Auftrag seines Lehrers festhielt, mit dessen Ausführung er sich gewissermaßen seine italienischen Sporen verdienen sollte; es handelte sich darum, eine Handschrift, auf die Ritschl große Erwartungen setzte, aufzutreiben. Leider erfüllte der Fund, der Brunn’s Spüreifer wirklich binnen kurzem gelungen war, die gehegten Hoffnungen nicht. Anfang December zog B. in die ewige Stadt ein, wo ihn Braun und Henzen, der seit 1841 seine Dienste dem Institut gewidmet hatte, voller Freundlichkeit aufnahmen; er bezog ein Zimmer in der alten Casa Tarpea und wurde freiwilliger Hülfsarbeiter am Institut. Allerhand Aufträge von philologischen Arbeiten in den Bibliotheken, die ihm Braun verschaffte, brachten eine, wenn auch kärgliche Einnahme; auch im übrigen war ihm dieser mit seiner Vertrautheit der römischen Verhältnisse und seiner umfassenden Kenntniß der römischen Denkmäler gern behülflich. B. hat sich noch nach Jahren, als er selber nach Braun’s Tode eine leitende Stellung am Institute übernahm, und trotzdem inzwischen ein unheilbarer Bruch beide Männer getrennt hatte, voller Dankbarkeit und Anerkennung über dies Verhältniß ausgesprochen. Mit besonderem Eifer nahm er an den Periegesen Braun’s in den römischen Museen theil, und hier ist es wohl gewesen, wo der Aeltere den tiefsten Einfluß auf den Jüngeren ausgeübt hat. Otto Jahn spricht in der Widmung seiner Archäologischen Aufsätze, die er Braun zugeeignet hat, davon, wie dieser ihn gelehrt habe, sich stets von dem Grundsatze leiten zu lassen, „das Kunstwerk als solches aufzufassen und zu betrachten, und durch sorgsame und möglichst umfassende Vergleichung der Monumente Einsicht und Verständniß der eigenthümlichen Sprache zu gewinnen, welche die Kunstwerke reden“. Braun schienen in der That alle Grundsätze der Deutung in dem einen enthalten, nichts aus den Monumenten herauszulesen, als was der Künstler selbst hineingelegt habe; und keiner hat diesen Grundsatz so ernsthaft zu dem seinigen gemacht und allezeit verfochten wie gerade B. Ja, vergleicht man das, was er auf diesem Gebiete geleistet hat, mit einem Werke Braun’s, in dem dieser doch wohl niedergelegt hat, was er bei seinen Führungen vorzutragen pflegte, mit den „Ruinen und Museen Roms“, so erkennt man, wie viel mehr der Schüler von dem Lehrer zu überwinden als zu bewahren hatte; mit Erstaunen sieht man, wie oft Braun geradezu seinem vornehmsten Grundsatze untreu wird, wie oft seine feinen Bemerkungen über die rein formale Seite der Kunstwerke versinken in einem allgemein schönrednerischen Ton und in einem Wust von allegorisirender Kunstbetrachtung, in der die barocken Deuteleien des unseligen Creuzer allzu deutlich nachklingen. B. konnte sich als Schüler Braun’s nur in dem Sinne bekennen, in dem Lysipp den Doryphoros des Polyklet seinen Lehrer nannte; in dem Princip konnte er von ihm bestärkt werden, aber für dessen praktische Anwendung mußte er eigene Wege finden. Dafür war es ungemein segensreich, daß er zehn volle Jahre ununterbrochen [695] in Rom festgehalten wurde und daß ihm seine Stellung das stetige, ruhige Studium der Kunstschätze zur Pflicht machte. Fördernd und anregend wirkte sicher auch der Verkehr mit Künstlern und Kunstfreunden; genannt sei insbesondere der hannöversche Gesandte August Kestner, durch den er bei einer gemeinsamen Reise nach Neapel im Frühjahr 1844 auf den Kopf der Hera Farnese hingewiesen wurde. Den Zusammenhang mit den Strömungen der heimischen Wissenschaft erhielt das immer häufigere Eintreffen älterer und jüngerer Gelehrter, die auf längere Zeit nach Rom kamen und sich allesammt an B. anschlossen, der dann auch von 1845 an die Führung in den Museen an Stelle Braun’s übernahm; so vor allen Hettner, der erst von B. für die Kunstgeschichte gewonnen wurde und zeitlebens einer seiner nächsten Freunde blieb, Stark, Keil, Stephani – mit seinem schematischen Sammeleifer ein geistiger Antipode Brunn’s –, Mommsen und Burckhardt. Aber nicht nur bei ernsten Studien war er der Mystagog der Alten und Jungen; auch in dem übermüthigen Treiben bei den tollen Festen des Künstlervereins, der damals noch internationalen Charakter trug, in den Cervaragrotten und beim täglichen Schlürfen des Est-Est von Montefiascone wurde er willig als Dionysos anerkannt. Stets aber blieb er dem edlen Grundsatz des Kleobulos von Lindos[WS 1] treu. Auch in italienischen Kreisen hatte er sich bald bekannt und beliebt gemacht. Im Sommer 1844 war er bereits mit allen Verhältnissen so gut vertraut, daß ihm für die Zeit, die Braun in Deutschland, Henzen bei Borghesi auf dem Felsen von San Marino verweilte, die Vertretung der beiden Leiter des Instituts anvertraut werden konnte.
Unter den Aufsätzen der ersten römischen Jahre ist der über einen Sarkophag mit Darstellung einer römischen Hochzeit hervorzuheben. Wir finden darin zum ersten Male den richtigen methodischen Grundsatz durchgeführt, das römische Monument nur mit Hülfe römischer Vorstellungen zu erklären. Das führte B. in späteren Jahren dazu, den fundamentalen Gegensatz zwischen griechischer und römischer Auffassung immer klarer herauszuheben. Als Welcker’s echter, aber selbständig weiter strebender Schüler zeigt er sich in einem Aufsatz über den Parallelismus in der Composition altgriechischer Bildwerke (der Schilde bei Homer und Hesiod, des amyklaeischen Thrones, der Truhe des Kypselos[WS 2] und des Thrones des Zeus in Olympia). Als Welcker im Winter 1845/6 nach Rom kommt, legt ihm B. diese Arbeit vor, die bei ihm vollkommene Anerkennung findet, ohne daß er die Abweichung von der eigenen Art verkennt. Braun schreibt einmal bei Gelegenheit eines früheren Besuches über Welcker an Gerhard: „W. imponirt mächtig vor den Monumenten; eine ähnliche Fülle der Erudition mit gleichem Geschmack hat wohl noch kein Gelehrter zu denselben hingebracht.“ Aehnlich wird der Eindruck Brunn’s gewesen sein, und andererseits konnte auch Welcker den eigenthümlichen Werth der Brunn’schen Begabung jetzt erst, d. h. vor den Monumenten wirklich würdigen. B. hat einmal über Welcker gesagt: „Das Auge war bei ihm nicht für äußere scharfe Beobachtung gemacht, nicht fixirend, sondern poetisch schauend, oder etwa die äußeren Eindrücke soweit in sich aufnehmend, wie sie sich mit seinen inneren Anschauungen verbunden. Gewiß selten hat er eine plastische Form mit dem Finger geprüft.“ Auch Brunn’s Augen waren nicht eigentlich fixirend; auch sie sahen die Form selten als solche, sondern fast stets als Ausdruck inneren, physischen oder psychischen Lebens; deshalb blieben sie nie am Einzelnen haften, sondern suchten überall das Ganze zu begreifen als organische Entfaltung eines Keimes, der künstlerischen Idee. Aber sein feiner Finger hat oft tastend die bildnerische Form geprüft, ein Zeichen, wie fein in ihm das plastische Empfinden war: unwillkürlich [696] benutzte er, um seine Sinne zu schärfen, das Organ, dem unser Auge die Fähigkeit räumlichen Sehens verdankt. So konnten sich jetzt auch hier Lehrer und Schüler ergänzen, wie das früher in anderem Sinnes mit Ritschl der Fall gewesen war. B. begleitete Welcker auf seinen Wanderungen durch die Sabiner Berge nach Tivoli, Subiaco, Olevano und Palestrina. Ganz eigenartig und hochbedeutsam trat er am Palilientage[WS 3] 1846 hervor mit einem Vortrage, der damals durch seine Neuheit außerordentlich tief gewirkt haben muß, und der uns zudem die persönlichsten geistigen Eigenschaften Brunn’s bereits in voller Entwicklung, ja, wie so häufig in jugendlichem Alter, in besonders scharfer Accentuirung zeigt, zwei scheinbar unversöhnliche Gegensätze in eigenthümlicher Mischung: feinstes Nachempfinden und construirenden, bis zum Schematismus consequenten Verstand. B. hatte sich das Problem gestellt, nachforschend den Schöpfungsproceß im Innern des Künstlers zu reproduciren, nachzuweisen, daß sich ebenso organisch und nothwendig, wie in den Geschöpfen der Natur, in denen des Künstlergeistes die ganze Gestalt aus einer Kernform entwickelt, die dem Grundbegriff des dargestellten Wesens Ausdruck gibt. Es ist dabei zunächst gleichgültig, daß B. in der Deutung des Kopfes auf die kuhäugige Hera Homer’s zweifelsohne geirrt hat; das trifft die Hauptsache nicht. Tiefer scheint ein anderer Vorwurf zu dringen: dem Künstler lägen bei seiner Arbeit derartig systematische Ueberlegungen fern. Aber B. behauptete auch keineswegs, daß der Proceß, wie er ihn rückläufig darzustellen suchte, sich umgekehrt mit bewußter Klarheit und Regelmäßigkeit im Geiste des Künstlers abgespielt haben müsse. Man hat ihm einmal einen ähnlichen Vorwurf wegen einer späteren Arbeit über die sixtinische Madonna Raffael’s gemacht. Dort handelte es sich um die Entstehungsgeschichte der tektonischen Composition des Bildes, bei der die Mittel-Senkrechte eine bestimmende Rolle spielt; man sträubte sich besonders gegen diese Linie. B. antwortete sehr charakteristisch: „Brauchen Sie diese Linie nicht, so lassen Sie sie weg! Ich brauchte sie, weil mir zum vollen Genießen auch ein gewisses Maß bewußten Verständnisses Bedürfniß ist. Dazu hat sie mir gedient, womit ich aber keineswegs gesagt haben will, daß Raffael sie jemals in Wirklichkeit gezogen habe.“ Wenn nun auch in diesem ersten Versuch Brunn’s Neigung zu formulirender Construction das lebendige Nachempfinden überwiegt, so nimmt ihm das nichts an seiner Bedeutung; hier war Braun’s Grundsatz, das Kunstwerk allein aus sich selber zu erklären, zum ersten Male methodisch in strenger Folgerichtigkeit zu entwickeln versucht. B. hat sich im Laufe seines Lebens noch häufig ähnliche Probleme gestellt; das Verstandesmäßige tritt immer weiter zurück, die lebendige Empfindung immer siegreicher hervor, und so gehören die Aufsätze dieser Art, die später alle unter dem Titel „Griechische Götterideale“ gesammelt wurden, zu dem Feinsten und Tiefsten, das je über griechische Kunst geschrieben wurde. Nachfolge haben sie nicht gefunden, und nicht nur, weil das in ihnen Geleistete so durchaus den persönlichen Stempel des Brunn’schen Geistes trug. Die Ausgrabungen in Griechenland, die Erleichterung des Reisens und die Entwicklung der Photographie brachten dem archäologischen Arbeitsgebiet eine so ungeahnte Bereicherung an neuem Arbeitsmaterial, daß die Bewältigung dieser Massen zunächst gebieterisch alle Kräfte in Anspruch nahm. Das führte wieder ins Weite und war der Vertiefung ins Einzelne nicht günstig. B. hat später selbst bei weitgreifenden Publicationen mitgeholfen – er blieb darin der Lehre Ritschl’s und dem Beispiel Gerhard’s treu –, aber im Grunde seiner Seele war ihm doch die verwirrende Häufung des unaufhörlich zuströmenden Materiales, das unablässig zerstreuende Arbeit forderte, zuwider. Zweifellos werden künftige Generationen, [697] denen wieder mehr Sammlung gegönnt ist, auch zu den Problemen der „Götterideale“ zurückkehren. Zweifelhaft mag es bleiben, ob sich Brunn’s Wünschen gemäß aus den methodischen Erfahrungen dieser Arbeiten allmählich eine zuverlässige Sicherheit in der Deutung und dem Verständniß der Idealtypen gewinnen lasse; dazu scheint die Phantasie der griechischen Künstler, abgesehen von dem ungleichen Maß der Begabungen, allzu mannichfachen Bedingungen durch den Wechsel der Zeiten und die Verschiedenheit der einzelnen Culte unterworfen.
Die nächsten Jahre zeitigten reiche, stetige Arbeit auf allen möglichen Gebieten, wozu die römischen Sammlungen unerschöpfliches Material darboten. All diese kleineren Aufsätze Brunn’s liest man auch heute noch mit Vortheil und Genuß, sollten auch ihre Resultate im Einzelnen überholt, modificirt oder widerlegt sein. Keine verliert sich in gleichgültige Kleinigkeitskrämerei, mag der Ausgangspunkt auch noch so geringfügig erscheinen. Wir fühlen bei allen, daß das Auge des Schreibenden stets auf den großen Zusammenhang aller Einzelerscheinungen gerichtet war. Auch die politisch bewegten Jahre 1847–49 brachten kaum eine Unterbrechung, trotzdem B. damals auch Correspondenzen über die Tagesereignisse an verschiedene deutsche Zeitungen übernommen hatte. Im Herbst 1847 war Welcker abermals in Rom; Lehrer und Schüler zogen diesmal gemeinsam in die Albaner Berge. Bald darauf meldete sich eine neue Aufgabe. Im Sommer 1851 faßte Ritschl den Plan einer vollständigen Sammlung aller alt-lateinischen Inschriften in chronologischer Folge. Dazu sollte ihm der getreue B. helfen, als der zuverlässigste und thatkräftigste von Allen, und an ihn waren die ersten Andeutungen dieses Planes gerichtet. Zwei Tage nach dem Schreiben Ritschl’s traf bei B. ein anderes aus Leipzig ein, worin Mommsen ihm mittheilte, er gedenke, sich eine Holzschnittsammlung von lateinischen Inschriften bis auf Augustus anzulegen, um aus den Buchstabenformen chronologische Indicien zu gewinnen. Auch er nahm Brunn’s Gefälligkeit in Anspruch. Dieser benachrichtigte jeden von beiden über die Absichten des Andern, und so kam es zunächst zu einer persönlichen Einigung, 1853 aber nach langen Verhandlungen mit der Berliner Akademie zu der Feststellung des Planes, unter Mommsen’s und Henzen’s Leitung ein Corpus der gesammten lateinischen Inschriften herauszugeben, dem Ritschl’s Tafelwerk als Prodromus vorangeschickt wurde. Anschaulich schildert Ribbeck in Ritschl’s Biographie, was B. dem neuen Unternehmen bedeutete: „Was für ein Glücksfall, daß damals auf dem Capitol neben dem erfahrenen Meister der epigraphischen Wissenschaft, Henzen, der durch seine Kenntnisse und Verbindungen die richtigen Wege wies und ebnete, ein Schüler Ritschl’s residirte von der persönlichen Hingebung, der praktischen Einsicht und Energie des Willens, der Gewissenhaftigkeit und der körperlichen Rüstigkeit, wie B., der eine wahre Säule für den materiellen Aufbau des stolzen Thesaurus geworden ist! Es gab keine Hindernisse für diesen Heros: er trotzte der Sonnengluth des südlichen Himmels wie den Nachstellungen der Banditen. Einmal in den Abruzzen zogen ihn dieselben wirklich aus und nahmen ihm Alles – bis auf seine Inschriften. Dafür erhielt er von seinen Freunden den wohlverdienten Titel eines Hercules Saxanus, des Patrons der Arbeiter in Steinbrüchen. Es kam ihm nicht darauf an, nach einem Marsch in der Junisonne auf freiem Felde in ein antikes Brunnenhaus hinabzusteigen und dort bis an den Nabel im Wasser stehend, von oben mit sanftem Regen gekühlt, kaltblütig den calco anzufertigen. Im Neapolitanischen gerieth er, da er eine Thorinschrift abklatschte, mit einer wohllöblichen Polizei in Collision, die ihn auf großen Umwegen in 24stündiger Tour nach Neapel zurückescortirte, [698] trotz der Ueberzeugung, daß er nichts verbrochen habe. Durch Sturm und Regen, dem Wind entgegen, auf hohen halsbrecherischen Leitern stehend, gewann er Thürmen, Mauern, Brücken die epigraphische Beute ab. Das ganze Museo Borbonico plünderte er in vierzehn heißen Junitagen (1853) mit ‚Dampfkraft‘“. „An Dankbarkeit ließ es der Bonnische Plagegeist aber auch nicht fehlen“; in der Vorrede zum Prodromus berichtete er von dem Heer seiner Mitarbeiter, den sechzig Officieren und dem Generalfeldmarschall Heinrich B.
Die Hauptarbeit all dieser Jahre indeß war die Vorbereitung des ersten Bandes der Geschichte der griechischen Künstler, der im Jahre 1853 erschien. Er behandelte die Geschichte der griechischen Bildhauer. Nach sorgsamer Sammlung aller antiken Ueberlieferungen über die Epochen und einzelnen Künstlerpersönlichkeiten und mit Benutzung der wenigen Sculpturen, die man mit Sicherheit auf bestimmte Bildhauer zurückführen konnte, ist in diesem Werke versucht, die Entwicklung der griechischen Kunst und die Bedeutung der Schulen und der Einzelnen für diese Entwicklung darzustellen. Wiederum waren es zwei Eigenschaften Brunn’s, die sich hier zu glänzendem Resultate ergänzten: neben dem feinfühligen Nachempfinden diesmal die sorgfältig wägende, streng sachliche Kritik. Und so ist dieses Werk trotz aller Bereicherung unseres Materials, trotz mancher Abweichungen in der kritischen Beurtheilung von Einzelheiten noch heute ein unentbehrliches Handbuch für den Lernenden, eine Quelle reinsten Genusses für den Tieferdringenden. Hier war einmal ein entscheidender Schritt über Winckelmann hinaus gethan; die großen Umrisse fingen an, sich mit lebendigen Gestalten zu füllen. Vorarbeiten auf gleichem Gebiete – Sillig’s Catalogus artificum, die Epochen von Thiersch Und Schorn’s Studien griechischer Künstler – wurden weit überholt, eine gleichzeitige Darstellung, wie die Geschichte der griechischen Plastik von dem feinsinnigen Feuerbach, dem Vater des Malers, vollkommen in Schatten gestellt. Es scheint mir nicht überflüssig, hier eine persönliche Mittheilung Brunn’s zu übermitteln, da sie für seine Neigung zu systematischer Disponirung charakteristisch ist: B. bekannte, daß er von den eben genannten Schorn am meisten verdanke, und insbesondere der Einleitung jener „Studien“ – vom Schaffen des Künstlers – mit ihrer klaren, einfach überzeugenden Durchleuchtung des Gegenstandes. Ihr entnahm er die Frage nach den drei Elementen des Kunstwerks: Idee, Gestalt und Stoff, die er in der Künstlergeschichte in allen einzelnen Fällen wiederholt, wodurch den Ausführungen bei der verwirrenden Mannichfaltigkeit des Inhalts eine große Klarheit in der Disposition gewahrt bleibt, und auch andere Andeutungen Schorn’s, wie die über die verschiedene Wirkung der Stoffe, über Charakter und Ausdruck, Stil und Manier, Naturbildung und Ideal sind nicht ohne Einfluß geblieben. Man mag heute den Eindruck haben, B. habe als Kind jener Zeit zu viel systematisirt, auch ohne daß man ihm etwa den Vorwurf philosophischen Spintisirens machen könnte; andererseits läßt sich in dem heutigen Betriebe der Wissenschaft der Mangel jeglicher philosophischer Durchdringung nicht verkennen.
Die Künstlergeschichte fand die freudigste Aufnahme in Gelehrtenkreisen und über sie hinaus – in den römischen Osterien sah man damals deutsche Künstler beisammen sitzen, die sich die zusammenfassenden Capitel vorlasen! – nur Braun ließ im Frühjahr 1854 eine unglaublich mißgünstige, ja gehässige Recension erscheinen; die seinem seither veränderten Verhältniß zu B. und zu der ganzen jungen Generation Ausdruck gab. Das an sich gesunde Princip, ein Künstlerwerk nur aus seinen eigenen Bedingungen zu erklären, hatte er derart auf die Spitze getrieben, daß er bald alle Versuche, dasselbe Werk auch als Product der äußeren und inneren geschichtlichen Verhältnisse, aus denen [699] es hervorgegangen, und inhaltlich als Document des Wandels mythologischer Vorstellungen zu begreifen, für nichts ansah als Scholiastengelehrsamkeit und Eruditionsplunder, ohne Rücksicht darauf, daß er damit die Archäologie aus dem großen Verbande historischer Wissenschaften gelöst, dem ästhetisirenden Dilettantismus Thür und Thor geöffnet hätte; all das doppelt gefährlich bei seiner ausgesprochenen Neigung zu Philosophisterei und einem Mysticismus, dem sich allzubald das Gebilde der eigenen Phantasie vor das gesehene Kunstwerk schob. Freudig hatte er B. aufgenommen, denn in jenem Principe stimmten beide vollkommen überein. Um so größer war Braun’s Enttäuschung, als er bemerkte, wie weit der Schüler Ritschl’s doch im Grunde von ihm entfernt war, und als dieser nun gar in der Künstlergeschichte ein Werk erscheinen ließ, das durchaus auf der strengsten philologischen Erudition und der Erkenntniß basirte, daß wir zum tieferen Verständniß der griechischen Kunst im Ganzen und Einzelnen der historischen Kenntniß gar nicht entrathen können, und daß all unsere Forschungen ohne die gewissenhafteste Prüfung der Tradition durchaus der Willkür anheimgegeben sind. Oft genug hat B. noch in seinen späten Jahren protestirt gegen allzu leichtfertige Versuche, die eigene Tradition der Alten zu entwerthen, um moderne Hypothesen an ihre Stelle zu setzen.
Auch äußere Verhältnisse hatten zu dem Bruch zwischen ihm und Braun beigetragen. Diesen hatte eine seltsame, ruhelose, unstäte Geschäftigkeit auf wissenschaftlichem und praktischem Gebiete ergriffen. Unzählige Artikel seiner Hand erfüllten die Bände der Institutsschriften und ließen Anderes neben sich kaum aufkommen. Dann richtete er eine Fabrik zur Herstellung von Gypsabgüssen und galvanoplastischen Nachbildungen antiker Werke ein, für deren Geschäftsbetrieb er den bedürftigen B. in rücksichtsloser Weise ausbeutete, bis dieser sich am 1. Mai 1851 losriß, um sich mit Führungen durch die Museen, kleineren selbständigen Arbeiten und Zeitungscorrespondenzen durchzuhelfen. B. wäre schon früher nach Deutschland zurückgekehrt, um dort irgend eine Stellung zu suchen, wenn er nur das Geld zur Heimreise gehabt hätte. Erst die Ausgabe des ersten Bandes seiner Künstlergeschichte brachte ihm diese Möglichkeit. Er verließ Rom am 4. October 1853, war unterwegs immer noch bemüht, neue Abklatsche von Inschriften zu schaffen, reiste über Mailand, Verona, den Brenner und den Fernpaß nach München, wo er kurzen Aufenthalt machte, dann über Augsburg, Nürnberg, Hof in die Heimath, wo er in der Ruhe des Vaterhauses den zweiten Band seines Werkes zu vollenden dachte. Damals lernte er in dem benachbarten Oranienbaum seine künftige Frau, Ida Bürkner, kennen, mit der er sich im Sommer verlobte, ein liebliches Wesen mit blauen Kinderaugen und prachtvollem blondem Haar, schlichtem, einfach liebenswürdigem Wesen und schelmischer Freundlichkeit. All diese Eigenschaften blieben ihr treu bis in ihr spätes Alter trotz schwerer körperlicher Leiden, die sie mit rührender Geduld ertrug. Sie kannte kein anderes Glück, als den sonnigen Frieden ihres stillen Heimes zu wahren, und das ist ihr auch in jenen Zeiten jammervoller Hülflosigkeit gelungen. Die jungen Brautleute mußten sich schon im Herbste trennen. Ritschl war an Welcker’s Stelle Oberbibliothekar an der Bonner Universitätsbibliothek geworden und beabsichtigte deren vollkommene Umgestaltung. Wieder wußte er keinen Besseren, ihn zu seiner Unterstützung bei der Bewältigung dieser Arbeitslast zu berufen, als den treuen B., der als Custode angestellt und mit der Ordnung der Manuscripte, Kupferstiche und Karten betraut wurde. Daneben beschäftigte er ihn hinter den Coulissen am technischen Geschäfte der Redaction des Rheinischen Museums. Die kleine, aber sichere Einnahme jener Custodenstelle [700] ermöglichte es B., sich als Privatdocent an der Bonner Universität zu habilitiren und ungestört die Arbeit an der „Künstlergeschichte“ fortzusetzen, von deren zweitem Bande die erste Hälfte mit der „Geschichte der Maler“ im J. 1855 erschien.
Schon im nächsten Jahre eröffnete sich eine neue Aussicht. Am 11. September 1856 erlag Braun einem Anfall der Perniciosa[WS 4]; an seine Stelle wurde Henzen zum leitenden Sekretär, neben ihm auf Henzens Vorschlag B. ernannt, der natürlich dem Rufe mit Freuden folgte. Am 9. December – dem Geburtstage Winckelmanns – heirathete er. Die Hochzeitsreise führte ihn über die Alpen nach Rom, wo er zu Anfang des nächsten Jahres eintraf. In den ersten Zeiten gestalteten sich die persönlichen Verhältnisse nicht allzu glücklich; noch im Jahre seiner Ankunft packte auch ihn die heimtückische Perniciosa, von der er zwar genas, aber nicht, ohne daß sie ihm länger dauernde Schwächezustände hinterlassen hätte. Das erste Söhnchen starb ganz jung Ende 1858, ein Töchterchen 1861, ein zweiter Sohn 1865. Die Einnahmen waren noch so karg, daß sich B. wiederum durch Führungen in den Museen helfen mußte. Es ist erstaunlich, welch eine Fülle reichhaltigster Arbeit er trotz alledem in diesen ersten Jahren bewältigt hat. Das Institut mußte nach dem Niedergang in den letzten Lebensjahren Braun’s vollkommen reorganisirt werden, eine Aufgabe, die, wie man meinen sollte, allein den Einsatz der ganzen Persönlichkeit von beiden Secretären erheischte. Sie gelang Henzen und B. so vorzüglich, daß man einen Antrag von fundamentaler Wichtigkeit, mit dem die Existenz des Instituts ein für alle Mal gesichert werden sollte, an höchster Stelle in Berlin mit dem gehörigen Nachdruck wagen konnte. Der Antrag lief darauf hinaus, das Institut, das bisher eine internationale Privatanstalt unter dem Patronat des Königs von Preußen gewesen war, in eine preußische Staatsanstalt umzuwandeln. Zwar erreichte man diesen Zweck zunächst noch nicht, aber im Frühjahr 1859 wurde nicht nur eine wesentliche Erhöhung des preußischen Zuschusses gewährt, es wurden auch zwei Reisestipendien für junge Gelehrte gestiftet. Damit begann damals die lange Reihe der jährlichen Stipendiaten, für die den Secretären in Rom allwinterlich oblag, eine Erklärung der Museen und archäologische und epigraphische Uebungen zu veranstalten. B. hatte mit der regelmäßigen Führung durch die Museen bereits im Winter 1858/59 von sich aus begonnen; in den acht Jahren seines Secretariates hat er so eine ganze Generation von Archäologen als Mentor durch die verwirrenden Massen der römischen Museen geleitet und darüber hinaus durch seine methodisch klare Behandlung der Probleme und seine Persönlichkeit erziehlich gewirkt, und all diese Männer – Conze, Michaelis, <Kießling, Wachsmuth, Reifferscheid, Helbig, Kekule und Benndorf – bekannten oder bekennen sich noch heute als seine Schüler. Unter seinen Beiträgen zu den Institutsschriften leuchtet ein Edelstein vor allen: der Aufsatz des Jahres 1858, in dem er nachwies, daß in einer Silenstatue des lateranensischen Museums eine Copie nach dem Marsyas des Myron erhalten sei. Nächstdem ist das Bedeutsamste eine ganze Reihe von Reiseberichten aus Etrurien und ein längerer Aufsatz über Grabgemälde aus Caere und Vulci; zum ersten Male werden hier ernsthafte Versuche gemacht, die etruskische Kunst in ihrer Eigenart und ihrem Gegensatz zur griechischen Kunst zu erfassen. 1859 kam endlich die Geschichte der griechischen Künstler mit dem zweiten Theile des zweiten Bandes, in dem über Architekten, Kleinkünstler und Vasenmaler gehandelt war, zum Abschluß. B. deutet in der Vorrede die harten Prüfungen des Schicksals an, durch die ihm das Glück der Rückkehr nach Rom verbittert und die Vollendung des Werkes so lange [701] hinausgezögert wurde. Im Zusammenhang mit seinen etruskischen Studien steht ein großes Unternehmen, das im J. 1861 begonnen ward. Im März stellte B. den Antrag, die bescheidenen Ueberschüsse des Institutsetats für Sammlungen ganzer Monumentenclassen, wie es Gerhard’s „Etruskische Spiegel“ und „Griechische Vasenbilder“ gewesen waren, zu verwenden; er schlug zunächst eine Sammlung der Reliefs etruskischer Aschenkisten vor, wozu wiederum Gerhard bereits einen Anfang gemacht hatte. Die Centraldirection des Instituts bewilligte die Mittel, und B. machte sich sofort ans Werk, das Material für den ersten Band zu sammeln, der im J. 1870 erschien. In den Jahren 1862 und 1863 folgten zwei neue Arbeiten in der Art jener Formenanalyse der farnesischen Hera: die eine über den Gegensatz in den äußerlich ähnlichen Bildungen des Hephaistos und Odysseus mit dem sicheren Resultat der Deutung einer damals neu gefundenen Herme des Gottes, die zweite – ein Juwel in der Kette dieser Studien – über eine Darstellung des Schlafgottes. Mit alledem ist nicht annähernd erschöpft, was B. in diesen Jahren an schriftstellerischer Arbeit im Dienste des Instituts und sonst geleistet hat; wir erinnern nur an den Beginn der bedeutsamen Fehde mit Friederichs um die Zuverlässigkeit der Gemäldebeschreibungen des Philostrat, in der B. seine Ansicht ebenso nachdrücklich als Archäologe wie als Philologe verfocht, und die Festschrift des Instituts über eine Darstellung des Anakreon, mit der er den greisen Welcker zu dessen höchster Freude am Tage der Feier seines 50jährigen Lehrjubiläums begrüßte. Das Jahr 1864 brachte als Unterbrechung eine Reise durch Südfrankreich nach Paris. Immer wieder sehen wir ihn im engsten Zusammenhange mit Ritschl, dem er aus St. Remy über den Charakter und die Datirung der Skulpturen des Julierdenkmals berichtet und für den er in der Pariser Bibliothek collationirt. Die Rückreise führte ihn durch Deutschland, wo er im September die Philologenversammlung in Hannover besuchte.
Schon im Jahre 1862 war an B. eine Berufung ergangen, die davon zeugt, wie viel Achtung er sich auch unter seinen italienischen Collegen erworben hatte: man trug ihm die Professur für Archäologie an der Universität Neapel an; aber die Ablehnung im Interesse seiner Stellung am Institute wird ihm nicht allzu schwer geworden sein. Jetzt eröffnete sich ihm eine Aussicht, die sich in jeder Beziehung so bedeutsam erwies, daß B. begreifen mußte, er stehe an dem wichtigsten Wendepunkte seines Lebens. Der archäologische Lehrstuhl an der Universität in München war durch den Tod des bisherigen Vertreters erledigt, und man berief B. als Nachfolger. Mit der Professur war die Stelle eines Conservators des königlichen Münzcabinets verbunden. Verbesserung seiner Einnahmen, ehrenvolle Rückkehr in deutsche Verhältnisse, die Wirksamkeit an der zweitgrößten deutschen Universität, das Leben in den geistig regsamen und doch behaglichen Kreisen der Münchener Gelehrten und Künstler – all das mußte mit zwingender Gewalt locken, und dennoch zögerte B. – so war ihm seine römische Wirksamkeit ans Herz gewachsen –, dennoch wäre er dem Institute in Rom erhalten geblieben, wenn ihn nicht die Rücksicht auf seine eigene Existenz und die Zukunft seiner Familie zu der Entscheidung für München gedrängt hätten. Sein Abschiedsgruß an das römische Institut war ein Vortrag an dem Palilientage, in dem er von einer seiner glänzendsten Entdeckungen in den italienischen Museen Kunde gab, der Entdeckung zerstreuter Glieder einer Nachbildung des attalischen Weihgeschenks auf der athenischen Akropolis. Mit einem Schlage bevölkerte sich so ein äußerst interessantes Gebiet der griechischen Kunstgeschichte, in dem bisher der capitolinische Gallier und die ludovisische Gruppe als einsame Größen geglänzt hatten, ein Gebiet, [702] das bald durch die Ausgrabungen in seinem Centrum Pergamon in den Vordergrund des archäologischen Interesses gerückt werden sollte. Man hat – und das ist charakteristisch für viele von Brunn’s Arbeiten, die er langsam und besonnen in seinem Geiste reifen ließ, ehe er sich damit an die Öffentlichkeit wagte – wohl einiges Einzelne zu seinen Resultaten hinzufügen können, nichts Wesentliches an ihnen ändern müssen. Was er dem Institut in den Jahren seines Secretariates gewesen war, hat Conze erschöpfend in die Worte zusammengefaßt: „Er gab dem Institute an der Seite seines älteren Collegen ein neues Leben, und fördernd und gefördert entfaltete er in dieser Wirksamkeit sein wissenschaftliches Wesen und seine besondere Begabung. Er ist es vor allem gewesen, welcher dem Institute neben der Aufgabe wissenschaftlicher Forschung und Vermittlung zugleich seinen Charakter als wissenschaftliche Lehranstalt aufprägte, bestimmt den auf deutschen Universitäten begonnenen Studien die Weiterentwicklung zu erleichtern.“
Als Lehrer wurde er denn auch in erster Linie nach München berufen und in dieser Eigenschaft hat er dort in den drei Dekaden seiner Thätigkeit eine außerordentliche Wirkung ausgeübt; während seine Zuhörer in Rom bereits von den eigenen Lehrern in bestimmte Richtung gelenkt waren und sein Einfluß sich nothwendig darauf beschränken mußte, modificirend oder klärend zu wirken, war es ihm jetzt vergönnt, sich seine eigene Schule von den Anfängen an heranzuziehen, und, während in Rom bei den Giri durch die Museen stets das Einzelne als Thema im Vordergrunde stand, für den die allgemeinen Zusammenhänge nur den großen Hintergrund abgaben, trat jetzt die entgegengesetzte Aufgabe an ihn heran, wie er sie schriftstellerisch bisher nur einmal, da allerdings mit imponirender Großzügigkeit und Feinheit zugleich, in der Künstlergeschichte bewältigt hatte. Der Kreis seiner Vorlesungen umfaßte: Griechische Kunstgeschichte und Geschichte der altitalienischen und römischen Kunst, im Anschluß daran die antiken Schriftquellen der Kunstgeschichte; ferner griechische Kunstmythologie und die Erklärung der Monumente des troischen Cyklus, eine praktische Methodologie archäologischer Interpretation. Mit diesem Colleg und den exegetischen Uebungen hat B. auf die Studenten wohl am meisten erziehlich gewirkt. Bei Vorstellungen, wie denen des troischen Cyklus, deren Inhalt jedem Studirenden vertraut ist, konnte sich klarer als irgend sonst das Grundprincip archäologischer Exegese herausstellen lassen, das Monument nicht von dem litterarisch überlieferten Inhalt aus, sondern nach seinen eigenen Bedingungen zu erklären. Bei der früheren Betrachtungsweise sanken die Monumente zu mehr oder weniger getreuen Illustrationen der bekannten Dichtungen herab; jetzt wurden sie Zeugnisse der lebendigen Freiheit, mit der griechische Künstler aller Zeiten dem großen Stoffe nationaler Sagen gegenüberstanden, selbständige Quellen einer ganzen Seite antiken Geisteslebens, die bis dahin verschlossen war. In den Uebungen untersagte B. gelegentlich geradezu die Benutzung jeglicher alter oder neuer Litteratur, und manch einer mag bei der Stellung des Themas im Stillen über dessen scheinbare Simplicität gelächelt haben, bis ihm der tiefer liegende Zweck des Lehrers aufging. Viele aber lernten aus diesen Uebungen mehr, als ihnen für das beschränkte Gebiet der Archäologie nothwendig war. Noch entschiedener wies B. seine Schüler auf die selbständige Bedeutung der Formenwelt in den Führungen durch Glyptothek und Gypsmuseum, die zur Ergänzung seiner Vorlesungen dienten, mochte er hier an langen Reihen die Entwicklung der Stile demonstriren oder an einzelnen Werken in ebenso fein empfundener, wie methodisch klar entwickelter Formenanalyse den künstlerisch-poetischen Gehalt zu erschöpfen suchen. Nicht zu vergessen die Führungen durch [703] die Vasensammlung, deren Conservator er 1868 wurde; auch hier legte er, als treuer Anhänger und Verehrer Gottfried Sempers, überwiegendes Gewicht auf das Verständnis der künstlerischen Leistung in den einfachen, immer zweckentsprechenden Formen der griechischen Vasen, in der freiwilligen tektonischen Gebundenheit ihrer Verzierungen. Er hat die Grundlinien dieser Ausführungen später (1877) in Einleitung und Text zu dem Prachtwerke von Lau – Die griechischen Vasen, ihre Formen und Decorationssysteme – ausgeführt. Diese ganze Richtung auf das Rein-Künstlerische wollte um so mehr bedeuten in einer Zeit, in der das Interesse der Laien, der Kunstgelehrten und vieler Künstler – wenigstens in Deutschland – noch ausschließlich dem Inhaltlichen in der Kunst zugewendet war.
Als B. seine Stellung in München antrat, besaß die dortige Universität noch kein Gypsmuseum. Im J. 1867 reichte B. dem Minister eine Denkschrift über die Gründung eines Museums von Gypsabgüssen classischer Bildwerke in München ein. Die kleine Schrift, die in kurzem eine vollständige Uebersicht über die Entwicklung der antiken Kunst gibt, beweist, wie fest B. bereits damals die Grundzüge seiner Anschauungen über diesen Entwicklungsgang standen. Sie enthält im Keime das Meiste von alledem, was er in den Einzelschriften der nächsten Jahrzehnte dargelegt, nachher in dem Fragment der Kunstgeschichte zusammengefaßt hat; und das ist um so erstaunlicher, wenn man bedenkt, wie wenig ihm damals von dem ganzen Material, durch dessen Studium und Vergleich er allein zu seinen Schlüssen gelangen konnte, in guten Abbildungen oder gar in voller Figur vor Augen stand! Noch fünf Jahre vergingen unter ständigem Mahnen und Drängen, bis mit den Anschaffungen von Gypsabgüssen begonnen werden konnte. So ist ihm allein die Gründung jenes Museums zu danken, das lange, auch nachdem es an Zahl von anderen Sammlungen weit überflügelt war, als kanonisches Muster weiser Auswahl galt und besucht wurde. Noch in anderer Hinsicht hat er schon in dieser Zeit versucht, für den Unterricht, insbesondere für die Uebungen zu sorgen, für die es an brauchbarem Materiale gänzlich gebrach. Es handelte sich darum, ohne große Kosten möglichst viele einzelne Blätter herzustellen, die man dem Studirenden in die Hand geben konnte. Im Frühjahr 1866 ging von B. der Vorschlag zur Bildung einer Association aus, die sich die Herstellung autographirter Durchzeichnungen von Monumentalabbildungen für archäologische Interpretationsübungen zur Aufgabe machen sollte. Eine Reihe derartiger Blätter wurden thatsächlich vervielfältigt. Conze und Benndorf haben die Anregung mit den Wiener Vorlegeblättern zu reicherer Ausführung gebracht. Vorgreifend sei endlich erwähnt, daß es 1887 ebenfalls unter Brunn’s Aegide gelang, dank einer hochherzigen Stiftung des Historikers Cornelius, den ersten Grund zur Beschaffung einer eigenen archäologischen Seminarbibliothek in München zu legen, und daß es auf seine Anregung hin eingeführt wurde, die bairischen Gymnasiallehrer in ihrem Staatsexamen auch in Archäologie zu prüfen, wodurch in den meisten Fällen ja wohl nur ein nothdürftiger Collegbesuch erzwungen, häufig aber doch ein Interesse erweckt werden mag, das zu tieferem Eindringen führen kann; und zweifellos ist diese Forderung vollberechtigt für alle, die es eingesehen haben, daß ein Bild antiker Cultur ohne Kenntniß der antiken Kunst nothwendig unvollkommen bleibt.
Auf dem Katheder hatte B. etwas Befangenes, ja fast Unbeholfenes; jegliche Rhetorik war ihm vollkommen fremd. Und doch folgte ihm Jeder gerne, bezwungen von dem sachlichen Werth seiner Ausführungen, dem fesselnden Eindruck seines ernsten Glaubens an den hohen Werth seines Gegenstandes, eines Glaubens, der auch nur den Schatten persönlicher Eitelkeit gar nicht [704] hätte aufkommen lassen, und von dem dringenden Bestreben, nicht nur Kenntniß, sondern auch die eigene reine Freude am Erkennen und jenen Glauben mitzutheilen. Den tiefsten Eindruck erhielt der Schüler, wenn B. vor den Monumenten selber docirte, obwohl er sich hier, ganz vom Gegenstande in Anspruch genommen, fast gar nicht an die Zuhörer wendete; es war, als umklammere sein Geist mit all seinen überaus feinfühligen Organen das Kunstwerk und suche ihm tastend sein Geheimniß abzugewinnen. Am nächsten aber kam die Persönlichkeit Brunn’s dem Schüler in den Uebungen, in denen er mit ausdauernder Geduld und, wenn es noth that, mit unnachsichtlicher, aber wohlwollender Strenge das ungebildete oder häufiger verbildete Auge zum Sehen erzog. Und weit darüber hinaus erstreckte sich die Wirkung von Mensch zu Mensch, wie sie ein Jeder an sich erfuhr, nicht Jeder dankbar anerkannte. Keine bittere Erfahrung aber konnte B. beirren; jedem neuen Ankömmling trat er mit der gleichen treuherzigen Offenheit entgegen. Allwöchentlich versammelte er am Dienstag Abend den Kreis seiner Schüler in seinem Hause um sich bei Bier und Cigarre, gemüthlich plaudernd und freundlich berathend.
Sein äußeres Leben verlief von nun an, abgesehen von einigen Reisen, vollkommen ruhig und gleichmäßig. Alljährlich führte ihn seit 1874 seine Betheiligung an den Sitzungen der Centraldirection des Instituts, in die er bei seinem Abgangs von Rom als auswärtiges Mitglied gewählt war, um die Osterzeit nach Berlin, seit 1875 seine Thätigkeit als Ministerialcommissär bei den Schlußprüfungen der Gymnasien in die kleineren bairischen Städte. Abwechslung brachte wohl auch hie und da der Vorsitz der Commission für die Urgeschichte Baierns, den er sofort bei Uebernahme der Münchener Professur erhielt und bis zu seinem Tode behalten hat. Drei Mal – 1868, 1878 und selbst noch 1888 – besuchte er sein Bonner Corps zu den Stiftungsfesten, um alte, liebe Erinnerungen aufzufrischen. Von den wenigen Reisen, die für seine wissenschaftliche Thätigkeit wichtig wurden, wird weiterhin die Rede sein. Eine Einzelheit aus dem Anfang seines Münchener Aufenthaltes sei hier erwähnt, da sie für die weltfremde Naivität Brunn’s und für seine warme, durch äußere Rücksichten unbeirrte Anerkennung des wahrhaft Bedeutenden charakteristisch ist. „In frischer Begeisterung für Gottfried Semper’s ‚Stil‘, der für seine späteren Arbeiten so große Bedeutung gewinnen sollte, schlug er den ihm geistesverwandten Meister zum Mitglied der Akademie vor, zum Entsetzen weltkundiger Collegen, die sich sagten, daß eine solche Auszeichnung des Mannes, der eben für den verhaßten Richard Wagner ein Festspielhaus entworfen hatte, den kaum beschwichtigten Parteikampf von neuem entfachen würde“ (Sauer). B. war seit 1860 auswärtiges Mitglied der bairischen Akademie; bei seiner Ankunft in München wurde er zum ordentlichen Mitglied ernannt.
In den Aufsätzen dieser Epoche tritt die etruskische Kunst allmählich in den Hintergrund; alle Kraft nimmt die Ausgestaltung der griechischen Kunstgeschichte in Anspruch. Immer klarer stellen sich die Phasen der Entwicklung, die Gegensätze in den Stilen der verschiedenen Gegenden heraus. Dabei ist bemerkenswerth, wie consequent B. auf den einmal eingeschlagenen Wegen fortgewandelt ist. Man kann all diese Leistungen als ein Ganzes zusammenfassen und betrachten – vieles hat er selber unverändert in die Darstellung der Kunstgeschichte aufgenommen – nirgend bemerken wir Schwankungen, nirgend ein tastendets Hin und Her oder gar Widersprüche gegen eigene frühere Ansichten. Darin sprach sich kein kleinlicher Eigensinn aus, sondern die feste Sicherheit seiner Arbeitsweise, die sich niemals auf Einfälle verließ, [705] nichts der Oeffentlichkeit anvertraute, ehe es nach immer und immer wiederholter methodischer Erwägung für ihn den höchsterreichbaren Grad von Wahrscheinlichkeit erreicht hatte. Man mag es zugeben: beweglichere Naturen entsprechen besser den Ansprüchen der Archäologie, wie sie sich noch zu Brunn’s Lebzeiten entwickelt hat, mit ihrem unendlich anwachsenden Material, aus dem sich in stetem Wechsel immer neue Gesichtspunkte ergeben; allzuleicht aber verwirren sich diesen die großen Linien, auf die es im Grunde doch vor allem ankommt, und durch deren feste Zeichnung B. es erreicht hat, daß uns all seine Arbeiten, auch wenn wir in Einzelheiten von seinen Ansichten abweichen, noch heute Belehrung und Genuß gewähren. Es ist unmöglich, hier alles Einzelne zu würdigen; nur die Hauptsachen seien heraus gehoben. Zunächst beanspruchten natürlich die Schätze der Glyptothek seine ganze Aufmerksamkeit, und bald zeigte sich, wie sehr er das Vertrauen lohnte, das man mit seiner Berufung in ihn gesetzt. In den Jahren 1867 und 1868 folgten sich die beiden inhaltreichen Arbeiten über Alter und Composition der äginetischen Giebelgruppen, die in ihren äußeren Resultaten erst durch die neuen Ausgrabungen auf Aegina und Furtwängler’s Reconstruction der Giebel endgültig überholt sind, während die feinen stilistischen Beobachtungen noch heute vollkommen zu Recht bestehen und ewig bestehen werden. Im J. 1868 trat er dann mit der capitalen Entdeckung der Eirene des Kephisodot hervor, die er in einer Statue der Glyptothek wiedererkannte, und noch in demselben Jahre erschien die erste Auflage seiner Beschreibung dieser wahrhaft königlichen Sammlung. Exegetischer Art waren die troischen Miscellen, Früchte des Collegs über Darstellungen des troischen Kreises; inhaltlich steht damit der erste Band des Corpus der etruskischen Urnen im Zusammenhang, der 1870 erschien und ebenfalls die Darstellungen des ciclo troico enthielt. Andere Arbeiten dieser Jahre suchen die Ueberlieferungen der ältesten Zeiten griechischer Kunst mit den damals verfügbaren Mitteln und in Ergänzung der ersten Capitel der Künstlergeschichte zu entwirren; eine davon über die Kunst bei Homer präludirt Helbig’s Werk über das homerische Epos, und neben die Stilanalysen der Aegineten treten als Gegenbild die Aufsätze über das Harpyienmonument von Xanthos als Specimen archaisch-ionischer Kunst. 1871 veröffentlichte B. eine Abhandlung, die gewisse „Probleme in der Geschichte der Vasenmalerei“ mehr zu stellen als zu lösen unternahm. Er ist, angeregt durch die Ausgrabungen der Certosa von Bologna, nach sechzehn Jahren noch einmal auf das gleiche Thema zurückgekommen, dem auch die gleichzeitige, in den Grundzügen durchaus von B. abhängige Dissertation eines Schülers gewidmet war. Es handelte sich darin um die Frage, ob die gemalten Vasen schwarz- und rothfigurigen Stils, die man trotz ihres Fundortes in italischen Gräbern wegen ihrer Darstellungen und Inschriften für griechische Erzeugnisse hält, eine einheitliche Masse bilden, oder ob sich auch unter ihnen Originale und Copien oder archaisirende Nachahmungen scheiden lassen. Durch äußerst subtile Beobachtungen gelangte B. zu diesem zweiten Schlusse; ihm war für Griechenland nur eben das Beste gut genug. Entdeckungen und weitere Forschungen haben seine Resultate fast vollkommen widerlegt, seinen Beobachtungen ihren Werth nicht zu rauben vermocht. Der Krieg 1870/71 ist nicht spurlos an B. vorübergegangen. Einer seiner Schüler, Karl Strube, auf den er die größten Hoffnungen gesetzt hatte, dem sein Herz mit väterlicher Liebe zugethan war, und der, nach seinen Anfängen zu urtheilen, wohl der einzige von allen gewesen wäre, der die Arbeit ganz im Sinne des Meisters hätte weiterführen können, fiel in den blutigen [706] Kämpfen vor Metz. Sein letztes Schreiben an den geliebten Lehrer enthält neben dem ahnungsvollen Hinweis auf das Nichtwiedersehen das Vermächtniß seines Materials für Arbeiten, die er eben begonnen hatte. B. löste diese heilige Verpflichtung dadurch ein, daß er die drei Vasenbilder, um die es sich dabei handelte, in einem Supplement zu Strube’s Dissertation, den Studien über den Bilderkreis von Eleusis, veröffentlichte. Er charakterisirt in dem Vorwort den Verstorbenen mit herrlichen Worten, die es uns begreiflich machen, wie sehr er gerade diesen Schüler lieben, welch tiefen Schmerz er bei seinem frühen Tode empfinden mußte. Es hat etwas Rührendes, wenn B. dort schreibt: „Während er, wo sich Gelegenheit bot, nie unterließ, sich als meinen Schüler zu bekennen, spreche ich es ohne Hehl aus, daß umgekehrt für mich als Lehrer die durch engen Verkehr ermöglichte genaue Beobachtung seiner wissenschaftlichen Entwicklung in ganz besonderem Maße lehrreich geworden ist“, und wenn er dann für die Dissertation des Schülers vertheidigend eintritt: „Man hat gemeint, das Verdienst gewisser Hauptsätze auf meine Rechnung setzen zu müssen, um sodann an einzelnen etwas gewagten Hypothesen des Verfassers eine um so schärfere Kritik zu üben. Es wäre vielleicht richtiger gewesen, mich dafür verantwortlich zu machen, daß ich meinen Einfluß nicht geltend gemacht habe, um solche, vielleicht etwas üppige Schößlinge zu beseitigen. Ich glaubte indessen, die Selbständigkeit des jugendlichen Verfassers gerade auch in der Freiheit des Irrens nicht beschränken zu dürfen, in der Ueberzeugung, daß für einen die Wahrheit aufrichtig suchenden Geist nichts lehrreicher zu sein pflegt, als die Gelegenheit, einen Irrthum durch spätere Erfahrungen aus eigener Ueberlegung zu erkennen und zu verbessern. Um so nachdrücklicher muß ich ein Lob ablehnen, welches mir nicht gehört …“ Damit ist zugleich Brunn’s Verhältniß zu all seinen Schülern und den Arbeiten, die unter seiner Leitung entstanden, charakterisirt. Noch sei hervorgehoben, was ihn die Beobachtung dieses Schülers so eindringlich gelehrt hatte: „Die an ihm gemachten Erfahrungen brachten es mir zum klarsten Bewußtsein, daß, wie die philologische Erziehung nicht in erster Linie von dem Studium der Litteraturgeschichte, sondern von einer strengen, namentlich sprachlichen Interpretation der alten Autoren auszugehen hat, ebenso die archäologische Bildung in erster Linie nicht auf die Kunstgeschichte, sondern auf eine streng methodische Interpretation der Denkmäler begründet werden muß, bei welcher überall auf eine scharfe Analyse der künstlerischen Sprache, d. h. der künstlerischen Motive und Formen der größte Nachdruck zu legen ist.“
Im Sommer 1871 unternahm B. eine Reise nach London, wo er bei Newton, dem damaligen Leiter der griechisch-römischen Abtheilung im Britischen Museum, dem Ausgräber des Mausoleums, wohnte. Zum ersten Male sah er nun hier in überwältigender Fülle und Vollendung Originalsculpturen griechischer Künstler aus den drei bedeutsamsten Perioden der griechischen Kunst, der archaischen, der Zeit des Phidias und dem vierten Jahrhundert. Ungeheuer tief mußte dieser Eindruck auf seine empfindliche Künstlerseele wirken; als er auf der Rückfahrt das Museum im Louvre wieder aufsuchte, erschienen ihm die in der Masse der Antiken dort vorherrschenden Copien schal, stumpf und seifig. Dieser Eindruck ist in seiner Seele lebendig geblieben, und in seinen Vorträgen wies er immer aufs neue eindringlich hin auf die feinen Unterschiede zwischen dem Original und der besten Copie, auf den unbeschreiblichen Zauber der unmittelbaren, individuellen Meißelführung, der unwiederbringlich bei der ängstlich-genauen oder der flotten Nachahmung in allgemeinen Zügen verloren geht. Als einzelne Frucht brachte der Aufenthalt die vortreffliche Analyse des Strangford’schen Jünglings, durch die das schöne Fragment [707] endgültig seine Stellung neben den äginetischen Giebeln erhielt. Die großen Eindrücke vor den Resten der Parthenon-Sculpturen werden es denn auch gewesen sein, die ihn aufs neue und nachdrücklichste auf eines der bedeutendsten Probleme der Kunstexegese hinwiesen, auf die Deutung der einzelnen Figuren, die sich aus den Giebeln des Tempels erhalten haben, woran sich dann in der Arbeit, die er im J. 1874 über dies Thema veröffentlichte, eine Deutung der Göttergruppen auf den Friesen des Parthenon und des Theseion anschloß. Eine erwünschte Grundlage und Erleichterung boten die Zusammenstellungen in Michaelis’ Parthenon-Werk, manche Anregung Petersen’s Buch über die „Kunst des Phidias“. Das aber, wodurch sich dieser Versuch weit über alle anderen erhebt, die ihm vorauf gingen und folgten, ist durchaus Brunn’s eigenstes Eigenthum. Alle Anderen waren von Einzelheiten ausgegangen, suchten die einzelnen Figuren zu deuten und dann aus all diesen einzelnen Resultaten ein möglichst glaubwürdiges Gesammtresultat zu erzielen; B. war der erste, der von einer Gesammtauffassung ausging und von dieser zu den einzelnen Deutungen zu gelangen suchte. Alle Anderen hatten zur Erklärung der Zusammenhänge zwischen den einzelnen Figuren cultliche, d. h. äußerlich-religiöse Beziehungen verwerthet; B. war der erste, der darauf bestand, daß zur Erklärung eines griechischen Kunstwerkes jener Zeiten religiöse Momente nur soweit in Frage kommen dürfen, als sie poetischer Natur sind. Alle Anderen waren als verstandesmäßig deutende Gelehrte an das Problem herangetreten; B. suchte es zu lösen als nachempfindender Künstler, und, mag man heute auch mit Recht die einzelnen Namen, mit denen er die Figuren nennen wollte, bei Seite werfen, so muß doch Jeder anerkennen, daß es nur auf diesem Wege möglich ist, dem schaffenden Künstler nahe zu kommen. Wem, wie B., der große Gegensatz zwischen der morgendlichen Sonnenseite und der mächtigen Mondseite in den elementaren Gestalten des Ostgiebels, zwischen der Felsnatur des sog. Theseus und der Wolkennatur der „Thauschwestern“, aufgegangen ist, dem hat der Schöpfer dieser Sculpturen sein tiefstes Geheimniß anvertraut, mag es uns auch ewig verschlossen bleiben, wie Phidias und seine Zeitgenossen diese Figuren im einzelnen genannt haben. Und, wenn es überhaupt je gelingen sollte, die theilnehmenden Gestalten des Westgiebels überzeugend zu deuten, so wird das wiederum nur möglich sein, wenn man an dem Brunn’schen Principe festhält. Auch der Künstler mußte von einem einheitlichen Gedanken ausgegangen sein, und, wie sich das Licht im Prisma in die einzelnen farbigen Strahlen sondert, mußte sich aus diesem Grundgedanken die Auswahl der einzelnen Gestalten naturnothwendig ergeben haben und rückschauend wieder erklären lassen. Im letzten Grunde ist diese Deutungsart durch die gleiche Anschauung bedingt, die wir schon bei der Formenanalyse der Götterideale feststellen konnten: auch dort suchte B. zu allererst den schöpferischen Grundgedanken zu fassen und erst aus diesem die Einzelheiten zu erklären. Das gleiche Jahr 1874 brachte eine der schönsten seiner Formenanalysen: den Vortrag über die Demeter von Knidos, mit dem er sich an der Philologenversammlung zu Innsbruck betheiligte, dann auf Grund seiner persönlichen Kenntniß der südlichen Natur die prächtige Deutung des Wiener Io-Kopfes, der sich als der eines jugendlichen Flußgottes herausstellte; leider ist diese kleine Perle nicht in die Sammlung der „griechischen Götter-Ideale“ aufgenommen worden.
Von Einzelnem sei aus den nächsten Jahren nur dreierlei hervorgehoben. Erstens der Streit, den er mit Overbeck um den Poseidonfries in der Münchener Glyptothek führte. Er sah in ihm einen sehr directen Abglanz skopasischer Kunst und ein griechisches Werk, sein Gegner ein schlechtes [708] römisches Decorationsstück. Wir wissen heute, daß er von dem Altar des Tempels stammt, den die Römer im letzten Jahrhundert v. Chr. dem Neptun errichteten, und in dem sie die große Meergötter-Gruppe des Skopas aufstellten. Zweifellos also gehört das Werk in den Bereich der römischen Kunst; ebenso sicher aber wird auf den griechischen Künstler, der mit der Ausführung des Reliefs betraut war, der Anblick der Gruppe des großen Pariers nicht ohne Wirkung geblieben sein. Dann 1879 die wundervolle Stilanalyse der Statue eines Athleten (des sogenannten Salbers) in der Münchener Glyptothek mit vergleichendem Seitenblick auf eine entsprechende Statue im Dresdener Albertinum. Die Arbeit erschien in den Annalen des Instituts, das in diesem Jahre das 50jährige Jubiläum seines Bestehen feierte. B. war selber als Vertreter der Münchener Akademie in Rom und brachte dem geliebten Institut diese Festgabe aus seiner neuen Heimath, um so bedeutungsvoller, als er in der künstlerischen Eigenart der Münchener Statue verwandte Züge mit der des Myron fand und so an seine Entdeckung des Marsyas anknüpfen konnte. Endlich 1882 noch eine Frucht des Londoner Aufenthaltes: seine Studie über den Amazonenfries des Mausoleums, in der er zum ersten Mal versuchte, die erhaltenen Reste dieses Frieses in stilistisch zusammengehörige Gruppen zu sondern und in diesen die Persönlichkeiten der vier Meister zu erkennen. Mag man in manchem heute anders urtheilen, manches anders werthen, die Arbeit ist auch heute noch für alle, die hier weiterkommen wollen, eine unentbehrliche Grundlage.
In der Hauptsache aber waren diese ganzen Jahre in Anspruch genommen durch Untersuchungen, die durch die neuen Ausgrabungen in Olympia angeregt waren, und uns einen doppelten, bedeutungsvollen und bleibenden Gewinn gebracht haben: die Einsicht in die eigenthümlichen, bei aller Mannichfaltigkeit im einzelnen doch durchgehenden Charakterzüge der archaisch-peloponnesischen Kunst und die ganz neu auftauchende Kenntniß einer eigenartigen nordgriechischen Kunst. Zwar, die seltsamen Probleme der olympischen Sculpturen hat auch B. nicht gelöst, so vortrefflich er sie in stilistischer Hinsicht zu analysiren wußte; sie sind bis heute ungelöst. Das aber muß man ohne weiteres zugeben: von allen Lösungsversuchen ist der Brunn’sche der einzige, der via et ratione auf sein Ziel losgeht, und deshalb der einzige, den man trotz des Fragezeichens am Schlusse noch jetzt nicht, ohne die tiefste Förderung zu erfahren, lesen kann. Die Ausgrabungen lenkten zudem mit Nothwendigkeit die Aufmerksamkeit von neuem und intensiver als bisher auf die Frage, wie weit die Zuverlässigkeit unserer schriftlichen Ueberlieferungen reicht. Auch in die Discussionen über diese Frage hat B. in jener Zeit zu verschiedenen Malen eingegriffen mit Arbeiten über Plinius, Cornelius Nepos und Pausanias; da regte sich wieder der alte Schüler Ritschl’s. Auch in Klein-Asien hatten die Ausgrabungen begonnen und in Pergamon vor allem zu der Entdeckung der Reste des Zeus-Altares geführt, die seither den kostbarsten Besitz des Berliner Museums bilden. B. mußte diese Bereicherung unserer Kenntniß hellenistischer Kunst um so tiefer interessiren, hatte er doch gerade durch die Entdeckung der attalischen Weihgeschenke den ersten Anstoß zu einer weiteren Ausgestaltung des Bildes jener griechischen Barockkunst gegeben. Den Anlaß aber zu seiner Schrift fand er in der nur durch die Finderfreude entschuldbaren Ueberschätzung der neuen Funde. Seine Kritik ist ein Meisterwerk, unwiderleglich in allen Einzelheiten und im Gesammtresultat; seine Anschauung beherrscht seither durchaus alle Aeußerungen über diese in ihrer Art einzigen, aber innerlich hohlen Bildwerke, denen gegenüber er die höhere Bedeutung des vornehmeren Laokoon betonte. Zwei nicht minder meisterliche Formenanalysen [709] – Medusa und die Personification des Meeres – schließen sich zeitlich dieser Leistung an; die eine trug er auf der Philologenversammlung in seiner Heimath Dessau vor. Unsere Stellung ihr gegenüber ist heute ähnlich wie die zu den Deutungen der Parthenonsculpturen; es handelt sich um die Entwicklung des Medusenideals, an deren Ende B. einen Reliefkopf der Sammlung Ludovisi stellt. Die Benennung trifft aller Wahrscheinlichkeit nach nicht das Richtige; aber das Wesen der Schöpfung ist in den Worten Brunn’s wunderbar getroffen. Unwidersprochen und unwidersprechlich aber blieb die zweite Analyse.
In dem äußeren Leben Brunn’s trat in dieser Zeit nur einmal eine Unterbrechung ein. Im Herbst 1881 wurde er als Mitglied der Jury für ein Denkmal des 1876 verstorbenen Naturforschers Karl Ernst v. Bär nach Dorpat berufen. Das ermöglichte ihm einen Besuch der Eremitage in St. Petersburg, wo er bei dem damaligen Director Kieseritzky als Gastfreund aufgenommen wurde. Hier fesselten ihn vor allen Dingen die prächtigen Goldsachen und die griechischen Vasen aus der Krim, deren eigenthümliche Schönheit ihn in seiner Ansicht, die größere Masse der Vasen italienischen Fundortes sei spätere Waare imitirenden Stiles, nur bestärkte. Einer Seite dieser vermeintlichen Lösung der „Vasen-Probleme“ hat er dann den ersten von zwei Aufsätzen über den tektonischen Stil in griechischer Plastik und Malerei gewidmet (1883), eine Arbeit, die, abgesehen von diesem ganz verfehlten Endzweck, heute noch ihren Werth behält wegen der Fülle seiner tiefgreifender Beobachtungen, in denen Semper’s Einfluß besonders deutlich fühlbar ist. B. sagt im Beginn dieses Aufsatzes: „Das tektonische Princip ist eines der wichtigsten, ja in der ältesten Zeit vielleicht das wichtigste Grundprincip der hellenischen Kunst … und wenn überhaupt die älteste decorative Kunst bei den Hellenen weniger Ungeschick, Laxheit und unsicheres Tasten verräth, als bei den andern Völkern, so liegt der Grund darin, daß sie sich von Anfang an auf dieses Princip stützt, an dieser Stütze sich erzieht und zu immer größerer Freiheit fortschreitet.“ In diesen Sätzen ist thatsächlich eine Fundamentaleigenschaft des griechischen Kunstschaffens klargelegt, fundamental auch für die weitere Entwicklung: gerade auf dieser bewußten oder unbewußten Unterordnung unter die Gesetze der Formen und der Technik beruht der eigenthümliche Charakter der ganzen griechischen Kunst im Gegensatz zu der aller anderen Völker, und für B. ihr höchster Werth. Der zweite jener Aufsätze über den tektonischen Stil schließt sich der Reihe von Arbeiten über den archaisch-peloponnesischen Stil an und setzt diesen in den schärfsten Gegensatz zu dem gleichzeitigen kleinasiatischen Stil. Alle die hier ausgesprochenen Beobachtungen bilden mit ganz wenigen Ausnahmen eine unersetzliche Grundlage aller weiteren Studien auf dem gleichen Gebiete; es sei daran erinnert, daß hier zum ersten Male entschieden die Zugehörigkeit der delischen Nike zu der Archermosbasis bestritten wurde. Es hat Jahre gedauert, bis das mit anderen äußerlichen Argumenten bestätigt wurde, und noch viel länger, bis man sich ungern entschloß, die so erwünschte Rückführung auf den Meister von Chios aufzugeben. Der 60. Geburtstag war ohne öffentliche Feier und Festschrift vorübergegangen; seine Zuhörer hatten ihrem geliebten Lehrer das Katheder bekränzt und ihm als gemeinsames Geschenk einen Abguß der Büste des praxitelischen Hermes überreicht. Im Herbst 1882 erhielt er den bairischen Kronenorden und damit den persönlichen Adel.
Winter 1885 bis 1886 verwaltete B. das Rectorat der Universität; bei der feierlichen Uebernahme des Amtes am 21. November 1885 hielt er eine Rede über das Thema „Archäologie und Anschauung“, wohl das Persönlichste, [710] das er je geschrieben hat. Einige Sätze mögen hier Platz finden, weil sie uns den ganzen Mann und den Sinn seiner ganzen Lebensarbeit klar vor Augen stellen: „Allerdings, das muß festgehalten werden, der Archäologe soll eine tüchtige philologische Schulung besitzen: er soll von der Philologie nicht bloß äußerlich Kenntnisse entlehnen, sondern von ihr als der älteren Schwester auch Methode lernen; nur freilich soll er sich hüten, sie schablonenhaft zu übertragen, sondern sie anwenden und umgestalten nach dem Princip der Analogie, das in dem Gegensatze zwischen einem sprachlichen und einem Kunstdenkmal seine natürliche Abgrenzung findet.“ „Das Ziel ist also eine Kunstwissenschaft, aufgebaut auf dem Verständniß der Form und zwar nicht einem instinctiven, sondern einem bewußten Verständniß, welches der systematisch begründeten Kenntniß der Sprache auf philologischem Gebiete nicht nachstehen darf.“ „Jener ‚natürliche Kunstsinn‘ reicht hier nicht aus.“ Die Schule schon solle den Grund zu einem richtigen Verhältniß zur Außenwelt legen und darauf dringen, daß sich der Schüler gewöhne, das Gesehene nicht zuerst zu deuten, sondern zu beschreiben. Die Mathematik solle erziehen zu der Beobachtung abstracter Formen, im deutschen Aufsatz mehr Gewicht auf klare Beschreibung gelegt werden, im Zeichenunterricht keine Handfertigkeit, sondern deutliche Wiedergabe des Einfachsten verlangt werden. All das scheint sehr selbstverständlich, aber man erinnere sich, wie langer Zeit es bedurft hat, bis wenigstens der letzte dieser Wünsche erfüllt wurde. „Und endlich das volle Menschenleben: ‚Ein jeder lebt’s, nicht vielen ist’s bekannt‘. Und es wird Ihnen nicht bekannt werden, weder wenn Sie aus Furcht vor seinen Gefahren sich vom Leben glauben abschließen zu müssen, noch wenn Sie sich willenlos vom Strome desselben dahin treiben lassen. Auch hier führt nur eigenes Sehen, eigenes Beobachten zum Verständniß und verleiht die Kraft, nicht sich den Dingen, sondern die Dinge sich unterzuordnen und sie zu beherrschen. Und kehren Sie dann zurück in die Stille ihres Studirzimmers, so werden Sie sich nicht ermüdet, sondern erfrischt fühlen. Sie werden empfinden, daß auch bei strenger Gedankenarbeit Sie nichts mehr zu fördern vermag, als ein offenes Auge, ein freier Blick, ein freier offener Sinn.“ Die Rede enthält zudem eine wundervoll klare, kurze Schilderung der Geschichte der Archäologie von Winckelmann bis auf die damalige Zeit; alle bedeutenden Persönlichkeiten sind in ihren typischen Eigenheiten neben und gegen einander gestellt, und zum Schluß wird die Hauptaufgabe der nächsten Zukunft folgendermaßen formulirt: „Und in der That haben wir seitdem angefangen, die individuelle Bedeutung der hervorragendsten Meister eingehender zu würdigen, verschiedene Kunstrichtungen und Schulen schärfer zu scheiden und den Wechsel der Erscheinungen im Fortschritte der Zeiten genauer zu verfolgen. Ja, beobachten wir, wie die neuerschlossene Kenntniß der Kunst des Orients unsern Gesichtskreis erweitert, wie gerade die täglich sich mehrenden Entdeckungen der letzten Jahre auf hellenischen Gebieten, ich nenne nur Olympia und Pergamos, uns mehr als auf den poetischen Inhalt, auf die künstlerische Form und den Stil hinweisen, so scheint sich als die wichtigste Aufgabe der heutigen Archäologie eine völlige Neugestaltung der griechischen Kunstgeschichte in den Vordergrund zu drängen, eine Kunstgeschichte, die nicht nur neben der politischen und der Literaturgeschichte ihren Platz einzunehmen, sondern den Beweis zu liefern hat, daß jedes Gesammtbild classischer Cultur lückenhaft und ungenügend bleiben muß, in dem nicht der künstlerische Geist des Hellenenthums als einer der maßgebenden Factoren sich wirksam erweist.“
Dieser Periode der höchsten Reife Brunn’s folgen neun Jahre des Greisenalters, in denen nur hie und da noch ein ganz glücklicher Wurf [711] gelingt; zugleich waren es leider auch Jahre des Kummers und der Leiden. Im Winter 1888 traf seine Frau ein erster Schlaganfall, der sich im Frühjahr 1891 schwerer wiederholte. Im Sommer 1890 zeigten sich bei ihm selber die ersten Anzeichen einer langsam-progressiven Zuckerkrankheit, die im Januar 1893 zu einem plötzlichen Zusammenbruch führte. Der Ton der Arbeiten aus dieser Zeit hat begreiflicher Weise häufig etwas Mattes, noch häufiger etwas Verbittertes. Daß er 1888 zum selbständigen Director der Glyptothek ernannt wurde, brachte keine äußerliche Aenderung mit sich. Im Winter des gleichen Jahres trat er als Secretär der Münchener Akademie an die Stelle des verstorbenen Prantl; von den zahlreichen Nekrologen, deren Abfassung nun zu seinen Obliegenheiten gehörten, seien nur die beiden auf Urlichs und Schliemann hervorgehoben. B. verstand es, auch diese an sich lästige Aufgabe sich selber interessant zu gestalten, indem er stets, wie es bei dem engen Rahmen nothwendig war, eine Haupteigenschaft des Verstorbenen, die ihm besonders charakteristisch und für den ganzen Lebenslauf bestimmend schien, mit starken Strichen heraushob und so ein Porträt im Sinne der griechischen Kunst zu geben suchte. Daran dürfen wir eine größere Darstellung in gleichem Sinne anschließen: die Festrede zur Centenarfeier der Geburt König Ludwigs I., mit dem B. in den ersten Jahren seines Münchener Aufenthaltes noch persönliche Beziehungen verknüpft hatten; überall leuchtet aus den vorsichtig-abwägenden, wohlwollend-gerechten Urtheilen sein vornehm-nachsichtiges, wahrhaft menschliches Wesen. Unter den kleineren Arbeiten dieser Zeit stehen zwei in engerem Zusammenhang mit einander: der 4. Abschnitt der troischen Miscellen und ein Aufsatz mit dem Titel „Methodologisches“. In beiden kommen allerlei methodische Fragen zur Sprache, die B. nach seiner reichen Erfahrung und klaren Einsicht entscheidet, nur in wenigen Punkten irre geführt durch eine gewisse eigensinnige Rückständigkeit gegenüber unwiderleglichen neueren Ergebnissen der Forschung, die ihm allzu revolutionär erschienen. In der ersten vertheidigt er aufs neue die Forderung, alle Bildwerke aus sich selber zu erklären, ihre Deutung nicht durch die Rücksicht auf irgendwelche litterarischen Darstellungen des gleichen Inhalts zu schrauben. Aus der zweiten Schrift sei eine Stelle hervorgehoben, die sich durchaus mit Klinger’s Resultaten in dem Büchlein deckt, in dem der Künstler die Unterschiede zwischen Malerei und Zeichnung feststellt. B. schreibt: „Von diesem Punkte aus würde sich die Untersuchung leicht überleiten lassen zu der Frage, wie weit … auch die technischen Bedingungen auf die Auswahl und die Durchbildung der in der Vasenmalerei dargestellten Gegenstände überhaupt eingewirkt haben. Es würde sich dabei wahrscheinlich herausstellen, wie das Fehlen der Illusion wesentlich, ja vielleicht entscheidend dazu mitgewirkt hat, der Vasenmalerei den Charakter einer Bilderschrift im höheren Sinne zu bewahren, welche mehr unsere Phantasie zum Denken anregen, als den Sinnen Befriedigung gewähren soll.“
Noch einmal regten ihn die nunmehr geordneten und zusammengesetzten Funde von Olympia zu einer Arbeit über Giebelgruppen an, in der er mit wenig Glück die Deutung, die Pausanias der Mittelfigur des Westgiebels gegeben hat, zu vertheidigen sucht und im Ostgiebel, wiederum auf Grund der Worte des Pausanias, zu den Füßen des Zeus einen Altar annimmt, der immer noch seine Vertheidiger findet. Ebenso ist die „Kunstgeschichtliche Studie“, in der er allerlei ungefähr der gleichen Zeit angehörige Werke zusammenordnet, um sie dem Silanion zuzuschreiben, trotz allerlei feiner Einzelbeobachtungen in dem Hauptresultat verfehlt. Das Verständniß für das Individuellste der einzelnen Künstler konnte erst sehr allmählich heraufdämmern. [712] B. hat unserer Generation auch für die Erreichung dieses Zieles unschätzbare Dienste geleistet, indem er die ganz allgemeinen großen Entwicklungslinien, wie sie Winckelmann gezogen hatte, durch eingehendere Charakteristik der einzelnen Richtungen und Persönlichkeiten in ihrem Gemeinsamen und ihren Gegensätzen belebte, aber es war ihm und seiner Zeit nicht gegeben, über das Typische in dieser Charakteristik hinauszugehen.
Im J. 1888 erschien unter Brunn’s Leitung der Beginn eines gewaltigen Werkes: Bruckmann’s „Denkmäler griechischer und römischer Sculptur in historischer Anordnung“. Es handelte sich darum, Musterabbildungen der bedeutendsten antiken Sculpturen in sinnvoller Zusammenordnung herauszugeben und so dem Einzelnen für sein Studium und den akademischen Lehrern für ihre Vorlesungen ein reichhaltiges Material zur Ergänzung der Sammlungen von Gypsabgüssen zu schaffen. B. übernahm die Leitung gerne; er sah darin eine Fortsetzung seiner Bestrebungen im Anschluß an Gerhard. Leider hat das Werk wegen seines ungeheuren Volumens und seiner Kosten nicht entfernt die Wirkung getan, die man erwarten konnte. Dazu kam, daß B., wie es am Ende natürlich war, zunächst nur die Werke zur Auswahl heranzog, die für ihn und seine Generation die Marksteine der Entwicklung gebildet hatten, Werke, deren Kenntniß längst durch gute und billige Photographien allgemein vermittelt war. Sicher aber trägt an der technischen Ausgestaltung der Idee nicht etwa B. die Schuld. 1889 konnte eine zweite unveränderte Auflage der griechischen Künstler gedruckt werden. 1891 trat B. noch einmal bedeutsam in den Verhandlungen der Münchener Philologenversammlung hervor mit einer sehr eigenartig interessanten Formenanalyse des Apollon Giustiniani im Vergleich mit dem Apoll vom Belvedere und zwei kleineren Vorträgen über zwei Frauenköpfe der Münchener Glyptothek, zwei Perlen, die durch ungeschickte Ergänzung ihrer schönsten Reize verlustig gegangen waren: der eine ein griechisches Original aus dem 4. Jahrhundert, ein wundervoll zarter Mädchenkopf, bekannt unter dem Namen „der Brunn’sche Kopf“; der andere die gute Copie eines hellenistischen Aphroditekopfes. B. wies allein aus der Composition der Formen nach, daß auf dem Scheitel die Haarschleife nicht gefehlt haben könne; man hat ihm mit Unrecht widersprochen: der Kopf stammt, was B. nicht gesehen hat, von einer Copie der badenden Aphrodite des Doidalsas, und diese trägt die Haare auf dem Scheitel verknotet. Ebenda regte er an, daß von den „Denkmälern“ eine kleinere Ausgabe für die Schulen hergestellt werden solle; leider blieb es bei einem Bande. 1892 erschien bei Bruckmann eine Sammlung seiner Formenanalysen in vornehmster Ausstattung unter dem Titel „Griechische Götterideale, in ihren Formen erläutert.“
Endlich seien nun an dieser Stelle drei bedeutsame Arbeiten erwähnt, die wir bisher übergangen haben, da sie einem Künstler der Renaissance gewidmet sind, einem Künstler, der seinem ganzen Wesen nach den Griechen näher steht als irgend ein anderer und eben deshalb B. so sehr ans Herz gewachsen war – ja, man kann sagen: seine Werke ersetzten ihm geradezu die verlorenen antiken Malereien. Die erste dieser Arbeiten über die Composition der Wandgemälde Raffaels im Vatican war schon 1867 erschienen; die zweite, über Raffaels sixtinische Madonna, wurde 1886 gedruckt, die dritte – Raffael und die gegebenen Voraussetzungen seiner Werke – erst nach seinem Tode, doch hatte er sie bereits 1891 in der Münchener Gesellschaft der Zwanglosen vorgetragen. Das Thema dieses Vortrages könnte man auch als Gesammtthema über die drei Arbeiten setzen, denn in allen dreien spürt B. jener Eigenthümlichkeit des Raffaelischen Genius nach, besondere Schwierigkeiten in den räumlichen Bedingungen, an die seine Werke gebunden waren, nicht nur in glänzender [713] Weise zu überwinden, sondern aus ihnen gerade die grundlegenden Elemente der verschiedenartigen Compositionen und ungeahnte Möglichkeiten neuer Schönheit zu entwickeln. Nicht um den poetischen Gehalt der einzelnen Gestalten handelt es sich hier, sondern um die tektonischen Grundzüge der Compositionen und ihre Beziehungen zu der Bestimmung des Gemäldes im räumlichen Zusammenhang, selbst bei der sixtinischen Madonna, deren compositionelle Motive mit großer Feinheit und Klarheit dargelegt und zum Schluß dadurch erklärt werden, daß das Bild in seiner Kirche zu Piacenza bestimmt war, nicht direct über dem Altar zu stehen, sondern das mittlere von drei Fenstern zu verdecken, so daß man den Eindruck erhielt, als sei hier ein Blick eröffnet über die Schranken der Kirche hinaus in die ewigen Regionen des Himmels, und die Darstellung vollkommen wie eine Vision wirken mußte. Die Aufsätze sind in den Kreisen der Kunsthistoriker fast vergessen; zur Zeit ihres Entstehens fanden sie wenig Anerkennung. Hermann Grimm, einer der treuesten Freunde Brunn’s, äußerte sein Befremden: sein Bestreben sei, sich in die Seele des schaffenden Künstlers zu versetzen, B. dagegen nehme das Werk als Product an sich und suche nachzuweisen, wie es als Schöpfung an sich zu erklären sei; und er hatte damit thatsächlich Brunn’s Standpunkt ganz richtig präcisirt, eine Anschauungsweise, die wir auch bei der Formenanalyse der Götterideale constatirt haben. „Wahre Freiheit ist freiwillige Erfüllung des Gesetzes“ – auf diesem Grundsatz beruhte Brunn’s Wesen als Mensch und als Gelehrter, er gab ihm selber im Leben einen Zug hoher Idealität; in all seinen hervorragenden wissenschaftlichen Arbeiten kehrt er bestimmend wieder: in den Formenanalysen, in der Auffassung der Vasenmalerei und der Giebelcompositionen und seiner Deutung der Parthenongiebel, ja, in der Gesammtauffassung der ganzen griechischen Kunst im Gegensatz zu der orientalischen und der etruskischen, und nun auch hier in der Vorliebe und dem tiefen Verständniß für Raffael, während er sonst allen Phasen und Persönlichkeiten der Kunst des Mittelalters und der Renaissance durchaus kühl gegenüberstand.
Im Januar 1893 erfolgte jener bedenkliche Zusammenbruch, von dem sich B. indeß nach kurzer Zeit wieder soweit erholt hatte, daß für den 20. März die Feier seines 50jährigen Doctorjubiläums angesagt werden konnte. Schüler und Freunde aus allen Theilen Deutschlands sammelten sich um den greisen Jubilar, ihm ihre Liebe und Verehrung zu beweisen. Die Bonner philosophische Facultät erneuerte das Diplom mit einem glänzenden Elogium, von der Berliner Akademie erhielt er die Ernennung zum correspondirenden Mitgliede; der deutsche Kaiser verlieh ihm die große goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft, der Herzog von Anhalt-Dessau den Anhaltinischen Bärenorden 2. Klasse. Von allen Seiten trafen Gratulationen und Adressen ein, Festschriften von Körte, Milchhöfer, Furtwängler, Löscheke, Arndt und Amelung; aus Rom kam die Nachricht, daß man dort im Bibliotheksaale des Instituts eine Porträtbüste Brunn’s enthüllt habe, die der Münchener Bildhauer Rümann aus einem pentelischen Marmorblock, einem Geschenk der griechischen Regierung, gemeißelt hatte. Das schönste Geschenk freilich brachte der Jubilar selber den Feiernden: den ersten Band seiner lang erwarteten, wir müssen leider sagen, zu lang erwarteten griechischen Kunstgeschichte. Es war unmöglich, das vor langen Jahren bereits Concipirte und Niedergeschriebene auf das Niveau der damaligen Forschung zu bringen, und so mußte man das Werk schon damals hinnehmen als das Zeugniß einer vergangenen Zeit; von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet ist aber auch das hier und in dem zweiten Band Gebotene – dieser wurde erst nach Brunn’s Tode von seinem ältesten Schüler Flasch herausgegeben – ein unersetzliches Document. Man stelle es ruhig neben die [714] dicken Bände der Histoire de l’art ancien von Perrot und Chipiez; wer vollständige Materialsammlungen sucht, wird nur dort auf seine Rechnung kommen, aber Uebersicht, Beherrschung des Materials vergebens suchen. Wer aber von einem Geschichtswerk verlangt, daß es den Eindruck einer individuellen Auffassung und künstlerischen Composition hinterlasse, der liest auch heute noch mit Genuß in jenen Bänden der Brunn’schen Kunstgeschichte; findet er darin doch etwas, das nicht veraltet, nicht verdunkelt werden kann: das Gepräge einer selbständigen vornehmen Persönlichkeit, einer Persönlichkeit, in deren maßvoller, schönheitsfreudiger Art ein Stück edelsten Griechenthums wieder lebendig geworden war. Am Abend seiner Jubelfeier wohnte B. mit altgewohnter Heiterkeit einem Festessen bei; es war der letzte rauschende Accord, mit dem sein öffentliches Leben den Abschluß fand. Er legte selbst in längerer Rede seine Entwicklung dar, dankbar aller seiner Lehrer gedenkend, angefangen von dem Wörlitzer Cantor bis zu Welcker und Ritschl, deren Manen er den ersten Band der Kunstgeschichte gewidmet hatte, und trank auf seine Lehrer und seine Schüler.
Bis zuletzt lebte B. in der Hoffnung, die unterbrochenen Vorlesungen wieder aufnehmen zu können; als aber im Sommer 1894 zu dem alten Leiden eine Nierenentzündung hinzutrat, war seine Kraft gebrochen. Er verschied am 23. Juli. Seine irdische Hülle ist auf dem nördlichen Friedhofe in München beigesetzt, sein Grab bezeichnet mit einer Marmorstele, die der Florentiner Bildhauer Erwin Kurz mit einem ergreifend schlichten, im tiefsten Sinne wahren Reliefbildniß des Verstorbenen geschmückt hat. B. starb im 72. Lebensjahre. Was er geleistet hat, steht klar vor unseren Augen, nachdem wir die lange Reihe seiner Schriften durchmustert haben. Es ist viel, aber im Verhältniß zu der langen Lebenszeit nicht vieles. B. war ein langsamer Arbeiter: lange trug er sich mit seinen Gedanken, bis er sie niederschrieb, und dann feilte und feilte er, bis alles irgend Entbehrliche abgefallen war. Dadurch hat die Form seiner Schriften etwas Abgeklärtes, Reines, vielleicht für viele einen Mangel an Unmittelbarkeit. Aber B. schätzte vollendete Form höher als ungeläutert-individuellen Ausdruck; es lag etwas Bescheidenes darin, wie er sich hinter der Maske dieser Form verbarg; eitles Prunken mit ihrer Schönheit lag ihm ganz fern. Auch unter den Künstlern schätzte er, wie wir gesehen haben, die am höchsten, deren Eigenheit eben darin bestand, daß sie sich willig den Gesetzen der Form unterordneten, daß in ihnen, ungetrübt durch Schlacken der vergänglichen Persönlichkeit, das Walten des schaffenden Geistes in klarster Krystallisation zur Erscheinung kam; deshalb liebte er vor allen anderen Raffael und die Griechen. Rechnen wir alles in allem: B. war mehr als ein bedeutender Gelehrter. Ein durchaus eigener Geist, hat er seinen Werken, vom ersten bis zum letzten, den Stempel dieses Geistes aufgedrückt, an seinen Tugenden und Fehlern, die eben nicht zu trennen waren, festgehalten mit einer zähen Consequenz, ja, mit Hartnäckigkeit. Das köstlichste aber von allem: er war ein edler, großzügiger Mensch, den der Unbefangene lieben mußte, und zu dem die Erinnerung gerne zurückkehrt, wie zu einem Quell reiner Erquickung.
- A. Flasch, Heinrich von Brunn, Gedächtnißrede gehalten in der öffentlichen Sitzung der königlich bairischen Akademie der Wissenschaften zu München am 28. März 1895; hrsg. von A. Furtwängler (München 1902, Verlag der königlich bairischen Akademie). – v. Szcepánski, Bonner Skizzen in den Akademischen Monatsheften. 1892 (Heft 74, wo Brunn unter dem Spitznamen „Dessauer“ geschildert wird). – O. Ribbeck, Fr. W. Ritschl, ein Beitrag zur Geschichte der Philologie. Leipzig 1879–81. – R. Kekulé, [715] Das Leben Fr. G. Welckers nach seinen eigenen Aufzeichnungen und Briefen. Leipzig 1880. – Br. Sauer, in der „Post“ vom 12. Aug. 1894, Nr. 219. – Nekrologe, aufgezählt bei Flasch, S. 20. – Persönliche Mittheilungen von dem jüngeren Bruder Brunn’s, Geh. Regierungsrath L. Brunn in Dessau, und dem Sohne, Professor Dr. H. Brunn in München.
[691] *) Zu Bd. XLVII, S. 297.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Kleobulos, griechischer Tryrann und Weiser
- ↑ Kypselos, griechischer Tyrann
- ↑ Pales, altitalische Gottheit der Weiden, als Gott, häufiger jedoch als Göttin gedacht und mit der Vesta oder mit Anna Perenna zusammengestellt. Ihr zu Ehren wurde 21. April das ländlich-heitere Fest der Palilien oder Parilien (zugleich Stiftungsfest der Stadt Rom) gefeiert (lt. Meyers Konversationslexikon 1888)
- ↑ Perniciosa febris = schwere Malaria