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ADB:Gutschmid, Alfred Freiherr von

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Artikel „Gutschmid, Alfred Freiherr von“ von Franz Rühl in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 49 (1904), S. 646–652, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Gutschmid,_Alfred_Freiherr_von&oldid=- (Version vom 27. November 2024, 03:02 Uhr UTC)
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Gutschmid: Hermann Alfred Freiherr von G. ist geboren zu Loschwitz bei Dresden am 1. Juni 1831. Sein Vater, Hof- und Justizrath in der königl. sächsischen Landesregierung zu Dresden, starb schon 1836, so daß die Erziehung des Sohnes und seiner zwei Schwestern der Mutter überlassen blieb, die aber auch schon 1848 starb. Alfred v. G. besuchte die Kreuzschule zu Dresden, wo er insbesondere der Einwirkung Köchly’s viel verdankte und enge Freundschaft mit dem einige Jahre jüngeren Heinrich v. Treitschke schloß. Bereits hier entwickelte sich seine Individualität in durchaus selbständigen Studien, durch die er den Grund zu seiner unermeßlichen Gelehrsamkeit und seinem ausgebreiteten Wissen auf den allerverschiedensten Gebieten sowie zu seiner hervorragenden Kenntniß alter und neuer Sprachen legte. Er ging indessen damals so wenig wie später in den Büchern auf; er liebte frohe Geselligkeit und vor allem die Natur, und stets hat er mit Freude von den glücklichen Tagen gesprochen, die er als Knabe besonders in Loschwitz verlebte. Zu Ostern 1848 bezog er überreif die Universität Leipzig, welche er 1851 auf zwei Semester mit Bonn vertauschte. Seine Absicht war, Philologie zu studiren, er nahm jedoch nicht nur die Geschichte in seinen Studienplan auf, sondern hörte daneben auch philosophische und bei Roscher staatswissenschaftliche Vorlesungen, sowie Vorträge über deutsche und französische Litteratur und über Shakespeare. In Leipzig [647] haben Haupt und Mommsen den größten Einfluß auf ihn ausgeübt; auch Wuttke verdankte er manche Anregung. In Bonn, wo er wieder mit Treitschke zusammentraf, hat er insbesondere bei Ritschl und Lassen gehört; die größte und dauerndste Einwirkung aber verdankte er Dahlmann. Durch diesen wurde er vor allem auch in seinen politischen Anschauungen bestimmt und befestigt. Sie waren von Hause aus liberal und unitarisch gerichtet gewesen, zum Theil in einem gewissen Gegensatz zu seiner heimischen Umgebung; jetzt wurden sie völlig in die Bahnen jener Partei gelenkt, welche man damals als die „Gothaer“ bezeichnete.

Nach Dresden zurückgekehrt, setzte G. seine Studien mit großem Eifer fort und begann ein großes Werk über die Chronologie des alten Orients, das indessen, wie manche andere Entwürfe aus dieser Zeit, nie vollendet worden ist, da andere, dringendere Arbeiten den Abschluß immer wieder verzögerten. Im J. 1854 promovirte er in Leipzig in absentia mit der Dissertation „De rerum Aegyptiacarum scriptoribus ante Alexandrum Magnum“, die mit ihren Anhängen im Philologus erschienen ist, einer Abhandlung von seltener Reife, an der auch heute noch wenig zu ändern ist. Den Plan einer längeren Reise nach Paris, um dort seine orientalischen Studien zu vertiefen, sah er sich indessen veranlaßt aufzugeben, und so siedelte er dann 1855 nach Leipzig über, mit der Absicht, sich später dort zu habilitiren. Schon während seiner Universitätszeit hatte er Freundschaft mit manchen hervorragenden Altersgenossen geschlossen, wie mit Bursian, R. A. Lipsius, Hopf und J. Brandis, jetzt trat er in Leipzig in einen ungemein angeregten Kreis begabter und hochstrebender Männer, zu denen neben Bursian namentlich Emil Müller, Zarncke, Moritz Busch, dann später Treitschke und von älteren Gustav Freytag gehörten. Die Richtung seiner Studien führte ihn auch zu enger Verbindung mit dem großen Orientalisten Fleischer. Er wurde Mitglied jener bekannten politischen Tafelrunde, die sich nach der Bierwirthschaft, wo sie tagte, den „Kitzing“ nannte. Denn das politische Interesse hat G. zeitlebens nicht weniger bewegt, als das wissenschaftliche. Er erwartete auch damals, so sehr er die preußische Gegenwart verabscheute, nur von Preußen das Heil für Deutschland, und die Praxis des Beust’schen Regiments und die Thätigkeit der sächsischen „Zionskosaken“ waren nicht dazu angethan, ihn in dieser Meinung zu erschüttern. Im J. 1857 veranlaßte ihn eine längere Krankheit, auf einige Monate nach Dresden zu ziehen und hier vermählte er sich mit Constanze Becker († 18. Januar 1904), einer Tochter des bekannten Leipziger Archäologen, mit der er schon einige Jahre verlobt gewesen war. Gesammelt und gearbeitet hat er in dieser Periode erstaunlich viel, aber zu einem Abschluß ist er mit keiner größeren Arbeit gekommen. In seinem engeren Kreise war freilich der Ruf seiner Gelehrsamkeit und seines Scharfsinns bereits fest begründet, und eine Reihe ausgezeichneter Recensionen, vornehmlich in Zarncke’s Lit. Centralblatt, legten glänzendes Zeugniß davon ab. Da wurde in den Jahren 1857 und 1858 plötzlich die allgemeine Aufmerksamkeit der Gelehrten durch zwei Werke auf ihn gelenkt, durch welche er sich sofort als einen Forscher vom ersten Range erwies. Der Lemberger Bibliothekar Bielowski glaubte in polnischen mittelalterlichen Chroniken große Bruchstücke des verlorenen Geschichtswerkes des Pompejus Trogus gefunden zu haben und hatte sie 1853 als solche herausgegeben. Die deutsche Gelehrtenwelt hatte den Fund im ganzen gläubig aufgenommen, zum Theil wol deshalb, weil eine ernsthafte Prüfung auf Gebiete führen mußte, welche die Philologen nur selten betreten. G. brach sich die Bahn mit seiner „Kritik der polnischen Urgeschichte des Vincentius Kadłubek“ und wies dann in seiner Abhandlung „Ueber die Fragmente des Pompejus Trogus und die [648] Glaubwürdigkeit ihrer Gewährsmänner“ mit staunenerregender Gelehrsamkeit und mit einer Beweisführung, welche jeden Widerspruch sofort zum Schweigen brachte, jene angeblichen Funde in ihr Nichts zurück. Es ergab sich, daß abgesehen von einer im 16. Jahrhundert vorgenommenen Fälschung jene Chronisten nur den uns erhaltenen Auszug des Justinus benutzt hatten. In die Untersuchung hatte G. auch noch mancherlei feine Untersuchungen über die entlegensten wie über die scheinbar bekanntesten Gebiete der Wissenschaft eingefügt, welche der Abhandlung auch ohne Rücksicht auf ihren eigentlichen Gegenstand eine dauernde Bedeutung sichern. Das zweite dieser Werke wurde durch einen ebenso unbesonnenen als hochmüthigen Angriff Bunsen’s hervorgerufen. G. hatte die letzterschienenen Bände von dessen großem Buche „Aegyptens Stellung in der Weltgeschichte“ im Centralblatt kurz besprochen und dabei gegen Einzelnes Widerspruch erhoben, den er anderswo zu begründen versprach. Er war dabei, wie er an Treitschke schrieb, viel milder gewesen, als das Buch eigentlich verdiente, weil er den „verdienten Mann“ schonen wollte. Ohne die in Aussicht gestellte Begründung jener Ausstellungen abzuwarten, griff Bunsen in der Vorrede des folgenden Bandes den „jungen, unbekannten Mann“ auf das heftigste an und glaubte offenbar, ihn völlig vernichtet zu haben. Er mußte erfahren, daß er mit einem Riesen angebunden hatte. Gutschmid’s Erwiderung in den „Beiträgen zur Geschichte des alten Orients“ hat Bunsen’s wissenschaftlichen Ruhm für immer vernichtet, ja den gefeierten Schriftsteller bis zu einem gewissen Grade als einen Charlatan erwiesen, der mit gründlichem Wissen auch auf Gebieten prahlte, von denen er nur eine höchst oberflächliche Kenntniß besaß. Das Buch ist indessen keine bloße Polemik; es enthält eine Fülle eingehender, selbständiger Untersuchungen über das orientalische wie über das classische Alterthum, gleichmäßig ausgezeichnet durch kritischen Scharfsinn, gewaltige und gründliche Gelehrsamkeit und weiten Ueberblick über die historischen Zusammenhänge alter und neuer Zeit. Seitdem war Gutschmid’s Ruhm fest begründet; wenige Jahre nachher konnte ihn Köchly auf der Meißner Philologenversammlung unter lautem Beifall als einen Stern erster Größe auf einem der dunkelsten und dornigsten Gebiete der Wissenschaft bezeichnen.

Die Hauptthätigkeit Gutschmid’s war damals dem ägyptischen Alterthum zugewandt; seine einschlagenden Aufsätze sind heute noch nicht veraltet. Es sind meistens chronologische Untersuchungen, welche an die griechische Ueberlieferung über Aegypten anknüpfen. Ein weiteres Gebiet umspannen die Anmerkungen zu der deutschen Uebersetzung von Sharpe’s Geschichte Aegyptens, welche zugleich den feinen und sicheren Tact ihres Verfassers auf dem Felde der eigentlichen Geschichte bewährten. Kein Wunder, daß die Aegyptologen von Fach wiederholt versuchten, eine so ungewöhnliche Kraft ganz für sich zu gewinnen; G. versagte sich ihnen jedoch nach einigem Schwanken, weil er die Jahre nicht daran setzen wollte, welche ein gründliches Studium des Koptischen, das er dazu für unumgänglich hielt, erfordert haben würde.

Das Jahr 1861 brachte dann eine neue große Abhandlung, über die nabatäische Landwirthschaft und ihre Geschwister, welche diese angeblichen Reste altbabylonischer Litteratur als Fälschungen aus arabischer Zeit nachwies; sie war ausgezeichnet durch alle Vorzüge der früheren Arbeiten, bewährte aber die Gelehrsamkeit des Verfassers auf einem neuen Gebiete. Es erschien als eine fast selbstverständliche Anerkennung, daß die Sächsische Gesellschaft der Wissenschaften in demselben Jahre den noch nicht dreißigjährigen zu ihrem Mitgliede wählte.

Neben der Geschichte des alten Orients beschäftigte sich G. damals auch eingehend mit der römischen Kaiserzeit und, wahrscheinlich durch seinen Freund [649] Lipsius angeregt, mit den Ursprüngen des Christenthums und mit der jüdischen Tradition. Er wurde vorzugsweise gerade von solchen Gegenständen gelockt, welche eine Fülle von noch unerörterten oder wenigstens noch ungelösten Problemen in sich schlossen und zugleich eine weite Umschau nach allen Seiten erforderten und ermöglichten. Dahin gehören die Arbeiten über die Apokalypse des Esra und über die Königsnamen in den apokryphen Apostelgeschichten. Auch ein Theil von Gutschmid’s Untersuchungen über die älteste griechische Geschichte und Chronologie fällt in diese Leipziger Periode. Ihr abstruser Charakter, der in der Beschaffenheit des Stoffes begründet ist, aber naturgemäß die Theilnahme eines größeren Publicums ausschließt, verhinderte zum Theil ihre rechtzeitige Veröffentlichung. So konnte z. B. von der Schrift über den Διαμερισμὸς τῆς γῆς damals nur ein kleiner Abschnitt, der ein actuelles Interesse darbot, gedruckt werden[WS 1].

Unterdessen war G. mit den Vorbereitungen zur Habilitation noch immer nicht zu Ende gekommen, als er im Herbst 1863 auf Ribbeck’s Betrieb und Ritschl’s Empfehlung als außerordentlicher Professor nach Kiel berufen wurde. Hier nahmen ihn seine Vorlesungen und die Leitung des Seminars (er ward 1866 zum Ordinarius ernannt) zunächst ganz in Anspruch, so daß die schriftstellerische Thätigkeit einstweilen in den Hintergrund trat. Von dem in Kiel ausgearbeiteten Turnus seiner Vorlesungen ist er auch später kaum abgewichen. Er las über Geschichte und Alterthümer des Orients, über ältere griechische Geschichte, griechische und römische Geschichte seit Alexander, römische Kaisergeschichte, griechische und römische Historiographie und über römische Staatsalterthümer, während er daneben eine Anzahl griechischer und römischer Schriftsteller in öffentlichen Vorlesungen erklärte. Von einzelnen dieser Vorlesungen sind Bruchstücke in seinen kleinen Schriften gedruckt worden, ganz die Erklärung von Josephus gegen Apion. Sie imponirten außerordentlich durch die vollständige kritische Beherrschung eines ungeheuren Stoffs, durch die Klarheit und Uebersichtlichkeit der Behandlung und durch die scharfe Hervorhebung der leitenden Gesichtspunkte. Dabei fehlte es nicht an geistreichen Parallelen und glänzenden Aperçus, an Wärme und an Witz und gelegentlich an Sarkasmus. So erweckte er bei der kleinen, aber tüchtigen Schaar der Kieler Studenten eine wachsende Begeisterung, welche durch die liebenswürdige Hülfsbereitschaft, mit welcher er den Bedürfnissen der Einzelnen entgegen kam, genährt und gesteigert wurde. Erwin Rohde, Benedict Niese und Victor Gardthausen gehörten zu seinen Zuhörern.

Es konnte nicht fehlen, daß G. sehr bald in die politischen Bewegungen hineingezogen wurde, welche der Tod Friedrich’s VII. hervorrief. Wenn er anfangs, wie selbstverständlich, auf der Seite des Herzogs stand und die Politik von Bismarck, Schmerling und Beust gleichmäßig verurtheilte, so begann er doch bereits im J. 1864 für die Ansprüche Preußens einzutreten, bewogen in erster Linie durch seine alten unitarischen Tendenzen und durch die Erkenntniß, daß nur hier die Kraft vorhanden sei, etwas Dauerndes und für Deutschland Ersprießliches zu leisten. Es kam aber noch etwas anderes hinzu. Dem Obersachsen war die niederdeutsche Art, wie sie in den Schleswig-Holsteinern ihren vollendetsten Ausdruck gefunden hat, gründlich antipathisch, und dem durch und durch modern Gebildeten und Veranlagten mißbehagten die zahlreichen Reste des Mittelalters, welche sich in den Herzogthümern erhalten hatten; das Selbstbewußtsein der „Normalmenschen“, welche ihn umgaben, war ihm unerträglich, und seinem scharfen Sinn für das Lächerliche boten die vielen schwachen Seiten der in Kiel politisch und gesellschaftlich maßgebenden Kreise nur zu viele Angriffsspunkte, und er glaubte auch zu bemerken, daß hinter der [650] ostentativ zur Schau getragenen „Sittlichkeit“ zuweilen ein recht massiver Eigennutz lauere. G. war in seinem Sinne sehr eifrig thätig; insbesondere hat er Treitschke nicht nur Material, sondern mehrfach auch die Ideen zu seinen damaligen politischen Aufsätzen geliefert. Natürlich war dieser Gegensatz zu der einstimmigen Meinung der Bevölkerung und der weit überwiegenden Mehrzahl seiner Collegen seiner socialen Stellung nicht gerade förderlich. Trotzdem er ein heiterer und anmuthiger Gesellschafter war und trotz seines hohen Ansehens als Lehrer und Gelehrter stand er doch immer etwas zur Seite, und man ließ ihn das gelegentlich fühlen. Um so höher hatte er die enge Freundschaft zu schätzen, welche er mit Theodor Nöldeke schloß. Bald wurde auch Gutschmid’s alter Freund Lipsius nach Kiel berufen, und die nahe Verwandtschaft ihrer Studiengebiete mußte die persönlichen Beziehungen noch fester und enger gestalten. Auch Treitschke gehörte nach 1866 kurze Zeit diesems Kreise an. Wenn, wie schon bemerkt, die Kieler Zeit größeren wissenschaftlichen Arbeiten nicht günstig war, so hat G. doch hier die ersten Proben seiner Studien über die Chronik des Eusebios geliefert, und auch die Untersuchungen über die Quellen des Pompejus Trogus, welche aus seinem Nachlaß veröffentlicht worden sind, müssen dieser Zeit angehören, und recensirt wurde in Kiel kaum weniger fleißig, als in Leipzig. Daneben hat G. seit jener Zeit unzählige Beiträge zu den Schriften anderer geliefert, zum Theil sehr eingehende und mühevolle Untersuchungen.

Wie die Dinge lagen, war es G. sehr erwünscht, als er zu Ostern 1873 einen Ruf nach Königsberg erhielt. Aber er fand dort die Verhältnisse zwar anders, aber für ihn noch unangenehmer, als in Kiel. Das Land stieß ihn ab, die Verhältnisse an der Universität waren wenig erfreulich, die Studentenschaft stand viel niedriger als in Kiel, und nur der Verkehr mit Lehrs gewährte ihm einen gewissen Ersatz für die Trennung von den alten Freunden.

In Königsberg hat G. die Bearbeitung der griechischen Reste des ersten Buches der Chronik des Eusebios zum Abschluß gebracht, wie sie in der Schöne’schen Ausgabe vorliegt. Weit größeres Aufsehen, weit über die Grenzen Deutschlands hinaus machten jedoch die hier entstandenen „Neuen Beiträge zur Geschichte des alten Orients“, welche die Assyriologie in Deutschland behandeln. Sie sind durch eine Polemik mit Duncker und Schrader hervorgerufen und wandten sich mit vernichtender Kritik namentlich gegen die vorzeitige Verwerthung provisorischer Ergebnisse der Entzifferung der Keilschriften für die Geschichte und die Popularisirung solcher zweifelhafter Ergebnisse der neuen Entdeckungen. Sie sind wesentlich negativ gehalten, nur nebenbei geht der Verfasser auf die Gewinnung neuer positiver Ergebnisse aus. Aber ihre Wirkung war darum nicht weniger bedeutend und heilsam. Wenn die Assyriologie jetzt auf einer viel gesunderen Basis beruht und auf so viel gesichertere Erkenntnisse hinweisen kann, als vor 30 Jahren, so darf diesem furchtbaren Angriff ein wesentliches Verdienst daran zugeschrieben werden, der die Keilschriftforscher gelehrt hat, den Enthusiasmus zu zügeln und mit Besonnenheit und Kritik zu paaren.

Im Frühjahr 1876 vertauschte G. seine historische Professur in Königsberg mit einer philologischen in Jena. Er hatte sich darum beworben, weil er in Straßburg an erster Stelle vorgeschlagen worden, aber auf Mommsen’s Betrieb Rudolf Schöll ernannt worden war, während man zugleich nichts that, um seine Stellung in Königsberg zu verbessern. Er fürchtete, in Berlin liege die Absicht vor, ihn zeitlebens an einem ungesunden Orte an der äußersten Grenze Deutschlands zu interniren. Die beiden Semester, welche er in Jena neben dem gleichzeitig berufenen Rohde zubrachte, gehören zu den glücklichsten seines [651] Lebens; schriftstellerisch sind sie durch die epochemachenden Arbeiten über die armenischen Historiker Moses von Chorene und Agathangelos bezeichnet. Schon zu Ostern 1877 folgte er jedoch, wieder gleichzeitig mit Rohde, einem Rufe nach Tübingen. Dort ist er dann dauernd geblieben; Berufungen nach Göttingen und Straßburg hat er abgelehnt; den Ruf nach Leipzig, wo er vorgeschlagen war, hat er nicht erhalten. So fremdartig und unsympathisch ihn auch manche schwäbische Eigenthümlichkeit anmuthete, hat es ihm doch dort gefallen. Die Studenten bewiesen ihm eine immer wachsende Anhänglichkeit; die Universität war stolz auf diesen glänzenden Stern, der auch von weiter Ferne Studirende anzog; unter den Collegen fand er, trotz mancher Meinungsverschiedenheiten, einen angenehmen und anregenden Kreis. Insbesondere war ihm das Verhältniß mit Rohde von Werth, obwol die beiden großen Gelehrten sich ihrer ganz verschiedenen Natur wegen ebenso sehr abstießen, wie anzogen. G. ermangelte ohne Frage einer feineren Empfindung für das Dichterische und hatte eine bewußte Abneigung gegen alle Philosophie, soweit sie nicht Logik ist, während Rohde andererseits eine durch und durch unpolitische Natur war, seine augenblickliche, oft genug wechselnde politische Ansicht aber mit großer Schroffheit zu vertreten pflegte. In die damalige politische Richtung seiner Umgebung aber konnte sich G. überhaupt nicht finden. Die Universität war völlig von der sogenannten deutschen Partei beherrscht, G. aber, der doch einer der Ersten gewesen, welche auf die Seite Bismarck’s getreten waren, konnte schließlich von der Volkspartei nicht ohne eine gewisse Berechtigung zu den Ihrigen gerechnet werden. Die Ursache lag in dem Wandel der Bismarck’schen Politik; G. selbst war seinen früheren Ueberzeugungen durchaus treu geblieben. Noch im Anfang der siebziger Jahre war er im nationalliberalen Sinne thätig gewesen, allein seit etwa 1876 ergriff ihn ein großes Mißtrauen gegen die äußere wie gegen die innere Politik des Kanzlers und gegen das zunehmende Hervorkehren äußerer Religiosität in Preußen; seit dem Umschlag in der Wirthschaftspolitik steigerte sich das zu dem vollkommensten Gegensatze. Das führte dann auch hier und da zum Bruch mit alten Freunden; das alte Verhältniß mit Treitschke ist niemals ganz wiederhergestellt worden, seitdem sich die Freunde über Treitschke’s Haltung in der orientalischen Frage entzweit hatten.

In Tübingen begann G. endlich auch sein unvergleichliches Wissen in größeren Werken in darstellender Form zu verwerthen. So schrieb er für die Encyclopaedia Britannica neben kleineren Aufsätzen die Geschichte Irans seit Alexander und die Geschichte von Phönicien, von denen die erstere 1889 als selbständiges Buch, die letztere im zweiten Bande der kleinen Schriften in der ursprünglichen deutschen Fassung erschienen sind, und für die Schriften der Petersburger Akademie, die ihn, wie die Münchener, zu ihrem Mitglied erwählt hatte, die Geschichte des Königreiches Osroëne; auch die lange gepflegte Ausgabe der Prologe des Trogus erschien als Anhang zu dem Justinus von Rühl. Daneben betrieb er mannichfaltige Vorarbeiten zu anderen Werken, von denen auch einzelne Proben veröffentlicht wurden. Man durfte ihm noch eine lange und tief eingreifende Wirksamkeit versprechen, als ihn plötzlich am 2. März 1887 eine tückische Krankheit dahinraffte.

G. war von mittlerer Größe, von zartem, aber elastischem Gliederbau, in seinem Wesen der vollendete Typus des Sachsen. Er sprach sein Lebelang den reinsten Dresdner Dialekt. Er war gewandt, höflich, fein in seinen Formen, dabei heiter und gesellig, in der Unterhaltung witzig, geistreich und trotz einer gewissen Neigung zum Mißtrauen von einer wahrhaft großartigen naiven Offenherzigkeit. Seine hervorstechendste Eigenschaft war eine unbedingte Wahrheitsliebe. Aller hohle Schein war ihm in der Seele verhaßt; Schwindel und [652] Heuchelei, wo immer sie sich fanden, haben oft genug seinen bitteren Spott und seinen scharfen und stets treffenden Sarkasmus erfahren. Wo er anerkennen konnte, gereichte es ihm zur lebhaftesten Freude, der er zuweilen einen fast enthusiastischen Ausdruck gab. Im Umgang war er nicht allzu wählerisch; wenn er eine angeregte Discussion mit geistreichen Männern liebte, so konnte er sich doch andererseits mit ganz unbedeutenden Persönlichkeiten stundenlang über die kleinlichsten Vorgänge des täglichen Lebens unterhalten. Er liebte die Natur und brachte ihr auch ein wissenschaftliches Interesse entgegen, aber für landschaftliche Schönheit hatte er, wol seiner Kurzsichtigkeit wegen, nur wenig Sinn, mehr für die bildende Kunst. Gereist ist er wenig; Deutschland hat er, abgesehen von einem kurzen Ausflug nach der Schweiz, nie verlassen.

Die zerstreuten Abhandlungen Gutschmid’s sind unter Hinzufügung von manchem Ungedruckten in den „Kleinen Schriften“ herausgegeben von F. Rühl gesammelt, fünf Bände, Leipzig 1889–94. Dort findet sich Bd. V S. 718 ff. ein vollständiges Verzeichniß seiner Schriften.

Rühl i. d. Kleinen Schriften V, S. IX ff. – Th. Schiemann, Heinrich v. Treitschke’s Lehr- u. Wanderjahre, München u. Leipzig 1896 (mit Vorsicht zu benutzen). – O. Crusius, Erwin Rohde, Tübingen u. Leipzig 1902. – Briefwechsel zwischen F. Nietzsche u. E. Rohde. – Ungedruckte Briefe von Gutschmid an Nöldeke, Lipsius u. Treitschke.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: wurden