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ADB:Rohde, Erwin

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Artikel „Rohde, Erwin“ von Fritz Schoell in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 53 (1907), S. 426–440, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Rohde,_Erwin&oldid=- (Version vom 26. Dezember 2024, 18:46 Uhr UTC)
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Rohden, Ludwig
Band 53 (1907), S. 426–440 (Quelle).
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Rohde: Erwin R. wurde geboren am 9. October 1845 in Hamburg als Sohn eines bedeutenden, vielbeschäftigten Arztes; die Mutter war eine geborene Schleiden und mochte manchen Zug mit den bekannten Gliedern dieser hochangesehenen Familie theilen. Den Vater verlor R. als junger Student, die Mutter 1882; zwischen beiden starb sein jüngerer Bruder als Ingenieur in Ungarn und so blieb er nur mit seinen beiden Schwestern und deren Gatten bis ans Ende eng verbunden. Von den Geschwistern hatte er die ausgesprochenste Eigenart, die in frühen Jahren die Erziehung erschwerte: und deshalb wurde er von 1852–1859 in dem bekannten Stoy’schen Institut in Jena unterrichtet. Diese frühe und lange Entfernung von dem geliebten Elternhaus hat er allezeit schwer empfunden: und gewiß hat sie bei ihm mindestens gesteigert den Zug, daß er trotz einer lebhaften, ja unter Umständen feurigen Freundschafts- und Liebesfähigkeit sich leicht verschloß und nicht selten schroffer, ja abstoßender erschien als seiner im innersten Grunde geradezu weichen Natur entsprach. Immerhin muß aber dem alten Pädagogen Stoy nachgerühmt werden, daß er schon in jener frühen Zeit Geist und Art seines oft widerwilligen Zöglings richtig würdigte. In einem Bericht an die Eltern vom Juli 1858 schrieb er u. a.: „Erwin ist jedenfalls der geistig befähigtste, aber auch charaktermäßig am schärfsten hervorstechende aller Knaben … Er streitet, so lange man sich mit ihm auf den Streit nur einlassen will. Er will gewissermaßen erst mit Gründen überzeugt sein … Man kann ein solches Gebahren weniger Ungehorsam als Mißbehagen, weniger Gleichgültigkeit dem Gebote gegenüber, als Unzufriedenheit über die Störung durch die Eingriffe in sein eben mit sich selbst beschäftigtes Leben nennen. Gute, sanfte, freundliche Zusprache nützt in der Regel … Sein sittliches Leben ist viel tiefer, viel inniger. Mit innerem Abscheu weist er unredliche Reden, Gedanken, Erzählungen von sich ab … Lüge und Unwahrheit ist ihm fremd. Er sagt Alles, wie er denkt, offen, klar und ungeschminkt; er legt sein Inneres unverfälscht, unmittelbar an den Tag, darum mag er auch häufig Anstoß erregen und Manchen unangenehm berühren, aber bös ist’s gewiß nicht gemeint. Am meisten hervortretend ist sein Rechtsgefühl; daher geräth er leicht mit andern in Streit … Am meisten Achtung hat er vor wissenschaftlichen Leistungen; körperliche Ueberlegenheit achtet er für jetzt noch nicht und fürchtet sie nicht, gegen sie hält er die Waffe des Geistes für ausreichend genug. So [427] achtet er auch Persönlichkeiten mit wissenschaftlicher Tüchtigkeit … Das Lesen ist ihm eine Lieblingsbeschäftigung; durch dasselbe läßt er sich vom Spiel abziehen, sitzt ganz allein, läßt sich nur ungern stören. Die Lectüre gibt seiner ohnedies reichen Phantasie nur neue Nahrung … An gutem Witz ist er reich, in komischer Mimik sich auszeichnend; gute Wortspiele sind ihm nicht selten. Seine geistigen Anlagen sind ausgezeichnet … In der Auffassung einer Sprache, einer Spracheigenthümlichkeit, liefert er wahrhaft Vorzügliches. Er dringt wirklich ein in die Sprache und in ihre Gedanken mit vollständigster Abstraction … Er ist ein durchaus logischer Kopf … Das Klavierspielen hatte er aufgegeben, wurde aber durch freundliche Ansprache bewogen, es wieder anzufangen, und hat uns durch seine Leistungen erfreut. So lautet denn die Summe dahin, daß der Junge Kopf und Herz auf dem rechten Flecke hat und unserer Liebe werth ist.“

1860 kehrte R. ins Elternhaus zurück und wurde nun Schüler des hamburgischen Johanneums. Nach vier Jahren bestand er das Abiturientenexamen mit Auszeichnung, besuchte aber dann noch ein Jahr die akademischen Vorlesungen der Anstalt und dieses Lustrum verhalf ihm nicht nur durch den Einfluß trefflicher Lehrer, besonders der namhaften Gräcisten Chr. Petersen und noch mehr F. W. Ullrich, sondern auch durch eifrige Pflege neuerer Sprachen (die er auf der Universität noch fortsetzte, zum Theil mit dem dort gewonnenen Freund Franz Hüffer), endlich und nicht zuletzt durch das großzügige Leben in seiner geliebten Hansestadt zu einer nicht gewöhnlichen Reife und Selbständigkeit, als er zum Sommersemester 1865 die Bonner Hochschule bezog, um Philologie zu studiren. Auch durch seine äußere Erscheinung mußte er auffallen: die große, schlanke Gestalt, der mächtige Hinterschädel und die hohe Stirn, die schmalen, stolzen Züge, der sprechende, vom schwarzen Bärtchen umrahmte Mund, die herrlichen, dunkeln, schwermüthigen Augen, das ernste, gehaltene Wesen und Auftreten verkündeten und versprachen Ungewöhnliches.

In Bonn genoß er, freilich nur für ein Semester und ohne tieferes Gefallen, die Freuden der Burschenschaft, vor allem aber die Reize der rheinischen Landschaft; auf dem Kölner Musikfest auch eine Specialität der rheinischen Kunstpflege und das Wahrzeichen der „großen heiligen“ Stadt. Unter den Bonner Docenten wirkte schon damals Welcker durch seine Schriften ganz persönlich auf R., Vorlesungen hielt er nicht mehr; von O. Jahn fühlte er sich weniger angezogen, dagegen mehr und mehr von F. Ritschl: und obwohl er in dem zwischen beiden damals ausgebrochenen Streit nicht, wie die meisten, Partei ergriff, folgte er doch mit einigen Getreuen – denen er damals persönlich noch fern stand – dem Meister nach Leipzig.

In Leipzig trat er auch dem alsbald auf Ritschl’s Anregung ins Leben gerufenen „philologischen Verein“ neben O. Kohl, H. Romundt, W. H. Roscher, E. Windisch u. A., vor allem Fr. Nietzsche als „Stifter“ bei und betheiligte sich lebhaft im Seminar und in Ritschl’s „Societät“. Eine so intime und exceptionelle Stellung, wie Nietzsche, suchte und gewann R. weder zu Ritschl noch in dem ganzen Leipziger Treiben. Doch erkannte er bald und stets deutlicher, wie viel er, gerade bei einer grundsätzlichen Verschiedenheit der Naturen, dem großen Schulhaupte verdankte: und noch später, vollends als in gewissen Kreisen gar abschätzige Urtheile Mode wurden, hat er gegen Freunde und Schüler, gelegentlich, nach dem Erscheinen von Ribbeck’s Ritschlbiographie, auch in der Oeffentlichkeit seiner Verehrung und Dankbarkeit, seinem feinen und reifen Verständniß schönen Ausdruck verliehen. Auf das innigste aber entwickelte sich in diesen Jahren seine wachsende und schließlich herrschende Freundschaft zu Fr. Nietzsche: [428] mit ihm führten ihn keineswegs bloß die Fachstudien zusammen, sondern nicht minder die Philosophie, in der sie von Plato und den Alten ausgingen, um dann überzeugte Schopenhauerianer zu werden, sowie die, von Nietzsche virtuos geübte, Von R. still geliebte Musik, bei der ihnen bald R. Wagner im Vordergrunde stand; mit Nietzsche disputierte er eifrig über Vieles, um im Grunde stets einen reinen, beide beglückenden Gleichklang der Seelen zu fühlen. Auch beim Genuß des Theaters und selbst der Reitbahn fanden sie sich zusammen und auch mit außerakademischen Freunden, z. B. R. Kleinpaul. Eine Fahrt in den Böhmer- und bairischen Wald bildete den Abschluß dieses engen Zusammenlebens, bevor R. für das Wintersemester 1867/8 nach Kiel übersiedelte. Nun wurde brieflich diese Freundschaft weiter gepflegt mit steten Plänen des Zusammenlebens und gelegentlichem Gelingen eines Wiedersehens: und über anderthalb Jahrzehnte war sie der Höhepunkt in Rohde’s Leben und blieb es, auch als die Lebenswege und die geistigen Entwicklungen beider mehr und mehr auseinander gingen. Neben solcher Correspondenz schrieb R. schon früher und noch durch mehrere Jahre halb persönliche, halb wissenschaftliche Tagebuchblätter (Cogitata), in denen wir die Entwicklung so mancher für ihn und uns wichtiger Gedanken verfolgen können. Und seine allezeit unendlich weit verzweigte, mit Vorliebe auch auf Reise-, Brief- und Memoirenlitteratur ausgedehnte Lectüre, pflegte er in Kiel um so eifriger, als der persönliche Umgang dort beschränkter war.

Von den Kieler Professoren schulte R. der grundgelehrte A. v. Gutschmid in der Behandlung historischer und besonders quellenkritischer Fragen: und wie sehr R. seine Schätzung gewann, bewies er später dadurch, daß er zwei Mal für Berufungen Rohde’s an seine Seite mit Erfolg wirkte. Innerlich trat aber R. noch näher O. Ribbeck und bald auch dessen anziehender und bedeutender Frau, die ihm dann dauernd zu wahren und wirksamen Freunden wurden. Eine von Ribbeck gestellte Preisarbeit über die Quellen des Lexikographen Julius Pollux für die Bühnenalterthümer – daneben auch für medicinische Dinge – löste R. mit Glück und ließ sie später drucken: sie diente ihm als Promotions- und Habilitationsschrift. Das anfangs geplante und vorbereitete Oberlehrerexamen gab er auf. Das Ende des Jahres mit jenem ersten Erfolg brachte, wohl durch Ueberanstrengung, auch die erste der später sich wiederholenden Erkrankungen des Magens mit quälender Schlaflosigkeit und R. suchte dafür mit Erfolg die Heilanstalt Reinbeck (in Lauenburg) auf. Mittlerweile war eine schon in Leipzig geplante, in Kiel geförderte Untersuchung „Ueber Lucian’s Schrift Lukios und ihr Verhältniß zu Lucius von Paträ und den Metamorphosen des Apulejus“ zu Ende gekommen. Sie war für eine Festschrift für Ritschl bestimmt gewesen und wurde, als der Plan dazu aufgegeben werden mußte, nun durch Nietzsche’s Vermittlung dem Rheinischen Museum angeboten. Nach Wachsmuth’s Richtigstellung des Vorgangs (in der Einleitung des Nietsche-Ritschl’schen Briefwechsels, Nietzschebriefe III, 1) wollte sie Ritschl gleich drucken lassen, aber der Mitredacteur A. Klette erklärte, es sei kein Platz dafür: außer der Zurückweisung ärgerte R. auch noch das Verlangen, er solle eine inzwischen erschienene höchst unbedeutende Leipziger Dissertation berücksichtigen; so führte, was zu einer Huldigung hatte dienen sollen, zu einer zeitweiligen Entfremdung zwischen Lehrer und Schüler. Nietzsche verschaffte in W. Engelmann einen liberalen Verleger sowohl für diese kleine Monographie (1869) als dann für die Preisschrift (1870). Beide Erstlingsarbeiten führten den jugendlichen Verfasser sehr günstig ein und behielten für ihn noch die weitere Bedeutung, daß er auf die hier angegriffenen Probleme noch öfter und in erweitertem Umfang zurückgeführt wurde: der Wissenschaft aber haben sie neben manchem Bestreitbaren und [429] Bestrittenen oder von R. selbst später Verbesserten auch bleibende Aufklärung gebracht.

Noch während des Druckes der zweiten Schrift war der junge Doctor zur ersten italienischen Reise über München und Zürich nach Verona und von da nach Florenz gefahren, wo er in W. H. Roscher seinen sympathischen Reisegenossen vorfand – freilich keinen Ersatz für den durch Nietzsche’s Berufung nach Basel vereitelten Pariser Aufenthalt mit diesem. Dann ging es nach Rom, unter W. Helbig’s Führung nach Etrurien und ins Gebirge, weiter nach Neapel und Sorrent, sowie mit den neuen Freunden C. Dilthey und F. Matz nach Pompeji und Herkulaneum, ja nach Sicilien; im September zum zweiten Mal nach Florenz und im October zum zweiten Male nach Rom – zur Concilszeit! –, wo er u. A. die Bekanntschaft mit F. Rühl erneuerte und befestigte, die auch eine seiner wirklichen Freundschaften wurde. Auch ein Herzenserlebniß, spann sich hier an, das – durch Rohde’s[WS 1] Zurückhaltung und Zweifel an sich selbst – nicht zur Entwicklung kam und ihm später durch die Erkenntniß des Versäumten viele schwere Stunden und innerliche Conflicte bereitete. So brach er im Februar auf und reiste über Florenz und Bologna nach Venedig, wo er noch schöne Sonnentage genoß, und weiter über Mailand und den Comersee zu dem drei Jahre vermißten Freund in Basel, mit dem er auch R. Wagner in Triebschen besuchte. Auch Leipzig und – zu beiderseitiger Befriedigung – Ritschl suchte er auf, bevor er in Hamburg einlief – kurz vor dem ausbrechenden Kriege, an dem als Krieger oder Pfleger theilzunehmen er nach flüchtiger Erwägung aufgab.

Die Reise hatte nicht nur seine Anschauungen vom classischen Land lebendig gemacht und dazu manche allmählich zu verwerthende – zum Theil nie verwerthete – Anecdota und sonstige handschriftliche Lesefrüchte in seine Mappe gelegt, sie hatte ihm nicht nur neben vielen flüchtigen, keineswegs immer sympathischen, persönlichen Bekanntschaften einige treue Freunde gewonnen, vor allem hatte sie ihn gegenüber der antiken und italienischen Kunst – nicht ohne J. Burckhardt’s Verdienst – zu einem nicht leicht und um so fester gewonnenen Verständniß geführt, das seinen vielseitig angeregten und überall auf den Grund dringenden Geist immer aufs Neue anzog und beschäftigte. Von jenen „Funden“ gab er bald Proben (in Ritschl’s Acta soc. phil. Lips. I. im Rhein. Mus. XXV und XXVIII, im Philologus XXXV). Nach Umfang und Inhalt wurden diese Beiträge zur Parodoxographie, zur griechischen Heortologie und zu Pindar (auf Grund von Lucianscholien), sowie zur antiken Medicin übertroffen durch die „Untersuchungen über die Quellen des Jamblichus in der Vita Pythagorä“ (Rhein. Mus. XXVI, XXVII), die mit der glücklichen Lösung des eigentlichen Themas eine weitausgreifende Beleuchtung der Pythagoraslegenden verband.

Inzwischen hatte R. seine Docententhätigkeit in Kiel begonnen. Schon dritthalb Jahre zuvor hatte ihm Nietzsche eine solche als einzig entsprechend bezeichnet mit den Mahnworten: „Sorgen wir an unserem Theil dafür, daß die jungen Philologen mit der nöthigen Skepsis, frei von Pedanterie und Ueberschätzung ihres Fachs als wahre Förderer humanistischer Studien sich gebärden.“ Im Wintersemester 1870 las er Geschichte der grammatisch-philologischen Studien im Alterthum und erklärte Plato’s Symposion, im folgenden Sommersemester Homer – frei von damals noch herrschenden Vorurtheilen der Philologenschulen –, weiterhin Interpretationen von Catull, Pindar, Sophokles (Antigone), Aristophanes (Thesmophoriazusen), Theokrit und Kallimachus in Verbindung mit einem Colleg über die hellenistische Dichtung, wie er auch über die Geschichte der Epik und Lyrik der Griechen, den griechischen [430] Roman, Quellenkunde der griechischen Liiteraturgeschichte las. Im Verhältniß zu den Kieler Zuhörerzahlen war sein Erfolg so groß, daß Ribbeck und Gutschmid schon 1872 seine Beförderung zum außerordentlichen Professor durchsetzten und der erstere ihm kurz vor seiner Uebersiedlung nach Heidelberg auch Antheil am philologischen Seminar einräumte. Neben all dem und neben kleineren Veröffentlichungen und der Vorbereitung der ersten großen Arbeit fand er Zeit sich in R. Wagner’s Schriften zu vertiefen. Ein Zusamensein mit Nietzsche und v. Gersdorff in Leipzig (Herbst 1871) und dann ein gemeinsamer Besuch in Bayreuth (Frühjahr 1872) waren Lichtblicke in seinem Leben. Zwischen diesen beiden Wiedersehen war R. ganz im Beginn des Jahres 1872 in mehr als einer Hinsicht aufgerüttelt und auch nach außen in Bewegung gesetzt durch das Erscheinen von Nietzsche’s erstem größeren Werke „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“. Während die Verquickung der antiken Probleme mit den Ideen Schopenhauer’s und R. Wagner’s, die den Philologen anstößig sein und mit wenigen Ausnahmen das Buch von vornherein verleiden mußte, bei ihm an vertraute Gedankengänge der Leipziger Tage anknüpfte, traf so manches über Homer und die Tragödie und die hellenische Geistescultur Gesagte und vor allem das Tiefste und Beste des Buches in der Betrachtung des „Dionysischen“ auf Saiten, die bei R. längst erklungen waren und weitertönten, um später in der Zeit seiner größten Reife und in seinem umfassendsten Werke eine bezwingende Macht zu gewinnen. Dabei hörte er in jedem Worte die Stimme des einzig geliebten Freundes – und so fühlte er sich gedrungen und wurde er gedrängt, dem anfangs stillen Widerstand gegenüber seine Stimme zu erheben. Nach vergeblichem Anklopfen bei wissenschaftlichen Recensionsorganen schrieb er in anderem Stil einen schwungvollen Artikel in der Sonntagsbeilage der Norddeutschen Allg. Ztg., den Nietzsche in schönen Sonderdrucken verbreiten ließ; und auf die Herausforderung, die der jugendliche U. v. Wilamowitz-Möllendorf in seinem Pamphlet „Zukunftsphilologie“ ergehen ließ, trat er, nicht als Secundant, sondern als Kämpfer auf den Plan in der heftigen Gegenschrift, deren Titel „Afterphilologie“ von ihm nicht gewählt und nicht gern angenommen war, während er die Form eines „Sendschreibens an R. Wagner“ gleich gefaßt und freudig festgehalten hatte: und gerade in dieser Form konnte er nach der herben Polemik einen erhebenden Schluß mit weitem Ausblick finden. Das klare Bewußtsein, daß er sich mit diesem scharfen Waffengang persönlich schaden müsse, machte ihn keinen Moment zaudern; aber andererseits konnte die hellfreudige Aufnahme der Schrift bei dem Freunde und Wagner’s und ihren Getreuen und die leisere Anerkennung Ribbeck’s, Ritschl’s und Anderer seinen vielfach verdüsterten Sinn auch kaum erhellen. Fahrten in deutsche und italienische Städte, Einkehr bei Ribbecks in Heidelberg und Gastein, Wagnertage in Hamburg und Bayreuth und Nietzschetage dort und in Basel brachten im vertrauten Austausch, in Schauen und Hören zeitweise Aufheiterung und verlangten dann wieder ein gewaltsames Eingewöhnen in den Alltag. Daß er weder in Kiel, wo die Gelegenheit nicht fehlte, noch anderwärts, wo er vorgeschlagen war, – in einem Fall, in Dorpat, gegen die bestimmteste Erwartung – befördert wurde, daß er wohl mit Kieler Collegen, wie Nöldeke, F. L. Andreas, R. Pischel, Schirren anregende Berührungen, aber nach Ribbeck’s Abgang keinerlei näheren Verkehr hatte, daß ihn auch wieder die oben angedeutete tiefe Leidenschaft bei ehernen Schranken und einmal noch winkender und verschwindender Hoffnung – nach seinem eigenen ergreifenden Ausdruck – „auf den Dornen seiner Schmerzempfindung hin und her warf“, daß auch die ganz andersartigen Leiden und Kämpfe des Freundes ihn – trotz „unzeitgemäßer“ Erfrischungen und seinen, wie des nun gemeinsamen [431] Baseler Freundes Overbeck gedankenkräftigen Confessionen, tiefernste Sorgen machten –, das alles erklärt die düsteren Stimmungen und Verstimmungen. Um so bewundernswerther ist es, daß R. sich zu sammeln, seinen Geist und Charakter zu zügeln und höher zu entwickeln vermochte in seinem, aus einer fast erdrückenden Masse des verschiedenartigsten Materials langsam und kunstvoll herausgearbeiteten Buch „Der griechische Roman und seine Vorläufer“ (Leipzig 1876) – ein großentheils unberührtes und dabei auf allen Seiten eingreifendes Gebiet der Litteraturgeschichte, das hier mit einer Meisterschaft der Forschung und des Stiles behandelt war, wie sie auch noch keinen anderen Zweig der antiken Litteratur umfassend dargestellt hatte. Wohl hatte C. Dilthey in seiner Schrift über Kallimachus’ Cydippe ein mustergültiges Glanzstück als vorbildlichen Baustein geliefert; aber R. hat nicht nur in ähnlich feiner Weise die ganze alexandrinische und alexandrinisch-römische Erotik geschichtlich und stilistisch analysirt, bis ins Kleinste und doch ohne Kleinlichkeit, und mit Beherrschung des Ganzen. Ebenso hat er mit weitem Blick und souveräner Eleganz die Entwicklung der geographischen und utopischen Reisemären verfolgt, aber auch die formale rhetorisch-sophistische Bildung erleuchtend dargestellt, um aus all diesen Elementen die spätgriechischen Romane zu erklären und darzulegen, die durch diese Entwicklung wie durch ihre große Weiterwirkung ein höheres Interesse gewinnen, als ihre im ganzen schwächliche Erscheinung an und für sich bieten könnte. Vieles von dem, was R. gedrängt zusammengefaßt hatte, ist seitdem mehr in die Breite als in die Tiefe ausgeschlagen worden, manche Partien haben sich auch gegenüber versuchter Ablehnung gehalten; einen heiklen Punkt, den R. nicht übersehen, aber absichtlich bei Seite gelassen hatte, die Bedeutung der Knabenliebe, berührte alsbald Nietzsche. Weiter haben neuere Funde, die R. zum Theil noch selbst erlebt hat, und, mit und ohne Zusammenhang mit diesen, neuere Erkenntnisse auch einige Umformungen nöthig gemacht. Wenn aber v. Wilamowitz (in der Deutschen Litteraturzeitung 23, 1902, S. 3219) aussprach, E. Schwartz’ „Vorträge über den griechischen Roman“ – über die R. selbst noch sein triftiges Urtheil gesprochen hatte – hätten das Fundament so stark verrückt, daß Rohde’s Gebäude überhaupt nicht mehr stehen könnte, so hatte er vergessen, daß Schwartz selbst in allen Hauptsachen einfach auf R. gefußt und verwiesen hatte; und wenn v. Wilamowitz in den kurzen Litteraturangaben zu seiner Darstellung der griechischen Litteratur in der „Cultur der Gegenwart“ wohl das schillernde Beiwerk seines jungen Freundes, nicht aber das Hauptwerk seines ehemaligen Gegners namhaft macht, so ist ein so rein persönlicher Standpunkt für R. gleichgültig, nicht aber für gewisse Seiten der „Cultur der Gegenwart“. Zu seinem eigenen Leidwesen war es R. nicht vergönnt, sein Werk in zweiter verbesserter Auflage erscheinen zu sehen; erst unmittelbar nach seinem Tode machte sich dies Bedürfniß geltend: und so konnten nur handschriftliche Zusätze des Verfassers beigegeben werden, sowie der Vortrag „über griechische Novellistik und ihren Zusammenhang mit dem Orient“, den R. noch auf der Rostocker Philologenversammlung gehalten hatte (1875) und noch weiter hatte ausarbeiten wollen (Leipzig 1900). In diesem Vortrag, wie in dem Hauptwerk hatte sich der Hellenist mit der morgenländischen und weiter auch der abendländischen Fabulistik, Sagen- und Märchenforschung in ungewöhnlichem Grade vertraut gezeigt und als einer der ersten den angeblichen Einfluß des Orients in Abrede gestellt oder eingeschränkt: und diese Forschungen förderte er auch noch weiter in kleineren Beiträgen, die jetzt im zweiten Bande seiner „Kleinen Schriften“ (Tübingen und Leipzig 1901) gesammelt sind.

Der „griechische Roman“ und der Rostocker Vortrag verfehlten des Eindrucks [432] nicht, auch nicht bei „unzünftigen Freunden des Alterthums“, an die R. bei seinem Sinn für schriftstellerische Bildung und Wirkung gleich mit gedacht hatte, und auch nicht im Ausland; war doch neben allen wissenschaftlichen und geistigen Vorzügen unwiderstehlich auch der Reiz, den die Seelenstimmung des Verfassers als leise und dunkel mitklingendes Element über das Ganze verbreitet hatte. Oeffentlich aber ließ sich von den deutschen eigentlichen Fachgenossen mit warmer Anerkennung nur O. Benndorf (im Litterarischen Centralblatt) vernehmen. Doch traf noch vor diesem ersten vollen Erfolge die Berufung nach Jena, als Nachfolger Nipperdey’s, zu Ostern 1876 ein, wohin kurz zuvor v. Gutschmid aus Königsberg übergesiedelt war. Zu ihm trat er hier, nun in voller Gleichstellung, zum zweiten Mal in ein collegiales Verhältniß; freilich zunächst für kurze Zeit, da Gutschmid bald nach Tübingen weiterging: aber auch dahin zog er, in Gemeinschaft mit L. Schwabe, nach W. S. Teuffel’s Tod zum Herbst 1878 R. nach sich.

In den fünf Jenenser Semestern war R. veranlaßt, seine akademische Thätigkeit mehr auf das Lateinische zu richten: er interpretirte außer Catull auch Plautus (Trinummus) und im Seminar Properz und Statius’ Silven und faßte die Geschichte der römischen Poesie, wie der römischen Prosa in ebenso lebendigen wie lehrreichen Uebersichten zusammen; aber auch ein so trockenes und doch für die Empfindung antiker Form so grundlegendes Gebiet wie die Geschichte und das System der griechisch-römischen Rhetorik wußte er hier und später in gediegener und dabei fesselnder Art vorzutragen. Auch auf griechische Redner (Antiphon und Andocides) ließ er sich näher ein. An den frischeren, wenn auch minder tief als die Holsteiner bohrenden Studenten hatte er zum Theil Wohlgefallen: dazu schickte ihm Nietzsche seinen „Erzschüler“, den Sohn seiner Freundin Baumgartner, und ein glühender Verehrer Nietzsche’s, der mit seiner Erstlingsdichtung „Prometheus“, mehr als mit späteren, Aufsehen erregt hatte, S. Lipiner, trat ihm auch näher. Die liebliche Gegend Jenas zog ihn jetzt natürlich noch mehr an, wie schon als Knaben, und auch unter den Collegen fehlte es nicht an ihm zusagenden Elementen. Flüchtig und nur durch das Verhältniß zu Nietzsche anfangs nicht unangenehm war ihm das Auftauchen von P. Rée; dagegen die Beziehungen zu dem Philosophen J. Volkelt wurden gerade später noch viel wärmer und herzlicher. Das größte Glück aber, daß er in einer blutjungen, hochgewachsenen und hochblonden Rostockerin, die bei dem von Rostock nach Jena gekommenen Juristen Muther zu Besuch war, zwar nicht die „Millionenbraut“ fand, von der er früher gescherzt hatte, auch nicht eine so leidenschaftliche Liebe, wie sie ihn ehedem ergriffen und gequält hatte, aber „eine ganz ergebene, die ganze wunderliche Person mit Schwächen und allen guten Gaben, mit Haut und Haar unbedingt liebende Weiberseele – dergleichen wohl das Seltenste auf dieser Welt ist –, die mit gleicher Nothwendigkeit, wie Einer selbst, in alle Tiefen der Empfindung hineintauchte“ –: so hatte er Mitte November 1872 an Nietzsche geschrieben, und dieses seltenste gewann er sich zu eigen in Valentine Framm, Mitte Juli 1876. Bald darauf sah er in Bayreuth Nietzsche wieder und spürte dort die ersten Anzeichen des geistigen Umschwungs in dem Freunde, der ihn dann anderthalb Jahre später in dem Buch „Menschliches Allzumenschliches“ und in späteren Schriften zugleich erkältend und aufwühlend traf und eine abermalige Wandlung ersehnen ließ. Inzwischen hatte R. durch Ueberarbeitung körperlich wieder eine schlimme Zeit durchgemacht und war dann eine Zeitlang erst durch Ribbeck’s Absicht, ihn nach Köchly’s Tod nach Heidelberg zu ziehn, und dann nach Ribbeck’s Uebersiedlung nach Leipzig durch die gleichen Bemühungen Wachsmuth’s in Athem [433] gehalten worden. Dann aber hatte er im August 1877 in Rostock seine Hochzeit gefeiert und nach einem genußreichen Aufenthalt in Paris sich in Jena häuslich eingerichtet. Seine Schwächen und seine Härten, die Unbändigkeit, deren er sich selbst so bewußt war und oft anklagte, mußten, vollends bei vielen Erschwerungen durch des Lebens Kämpfe und seine körperlichen Zustände, auch im Eheleben manche Stürme bringen: allein die immer gleiche, sanfte, liebevolle, herzgewinnende Art seiner anmuthigen und vortrefflichen Frau, das tiefe Glück, das sie in seinen vielen guten und großen Eigenschaften fand, sicherten einen steten Frieden und eine stille Entwicklung und Steigerung seiner besten Kräfte. Bald nach dem Einzug in Tübingen ward das erste Kind geboren, sein „Berthale“ oder „Berthing“, der in Tübingen noch ein Sohn, Erwin, und später eine zweite Tochter, Anna, folgten: mit diesen seinen Lieblingen durchlebte er alle Freuden der Kindheit, ja, der ernste, leicht finster aussehende Vater konnte mit ihnen selbst zum harmlosen Kind werden.

Während so sein häusliches Behagen sich erweiterte und erhöhte, bedurfte es längerer Zeit, ihn an der württembergischen Hochschule heimisch zu machen. Zwar die gute Schulung und die grundtüchtige Art der Schwaben erkannte er sofort an: und ingleichen erkannten diese bald, was sie an dem hochgebildeten, tiefgreifenden, durch originelle Gedanken und eigenartigen Ausdruck packenden Lehrer besaßen, dessen gelegentliche äußere Rauhheit und Schärfe sie nicht allzusehr anfocht. Aber an manche Einrichtungen des Seminars und Stifts, an manche Sitten und Sonderheiten des „Universitätsdorfs“ und des Menschenschlags gewöhnte R. sich schwer. Unter den Fachgenossen standen ihm Gutschmid und Schwabe am nächsten: die unbedeutende und unwürdige Erscheinung Hans Flach’s konnte ihn nur vorübergehend ärgern, und weit mehr durch die Art, wie er den gutmüthigen Gutschmid ausschlachtete, als durch seine schmähsüchtigen Skandalschriften. Daß ferner so hochstehende Forscher, wie der Sanskritist Roth, der Orientalist Socin, der schon in Jena ihm sympathische Germanist Sievers, der Padektist Bülow u. A. ihn anziehen mußten, ist fast selbstverständlich; noch stärker war das bei dem Philosophen Sigwart der Fall: und mit dessen ältester Tochter, die später den Botaniker Klebs heirathete, bildete sich ein Freundschaftsbündniß, bei dem das Ehepaar R. gleich stark betheiligt war. Die Zuhörerzahlen waren in Tübingen verhältnißmäßig glänzend: bis um 100, und wohl in der Regel über 80; darunter auch, freilich meist für die früheren Semester, geweckte und höher strebende Nicht-Schwaben, wie P. Krumbholz, H. Merian-Genast, E. Weber, und unter den Schwaben so treffliche Leute, wie J. Meltzer, E. Meyer, A. Rapp, in erster Linie C. Ritter und W. Schmid, bei deren umfassenderen Arbeiten R. unmittelbaren Antheil hatte und die er durch sein ganzes Leben mit herzlichstem Wohlwollen, Rath und Hülfe begleitete. Wenn er schon in Kiel und Jena für seine Collegien bis zur Erschöpfung gearbeitet und sich eine „gräuliche Gelehrsamkeit“ dabei erworben hatte, so wuchsen Stoffe und Arbeitslasten hier noch beträchtlich. Er las nicht nur griechische und römische Litteratur im ganzen Umfang, und das mit Feuer und Liebe, mit glänzender Charakteristik und Herausarbeitung der Persönlichkeiten, aber doch mit Maß und mühsamer Beschränkung, sondern auch griechisch-römischer Metrik; er fügte der Vorlesung über ein Drama (Aeschylus’ Agamemnon oder Perser, oder Sophokles’ Antigone oder Aristophanes’ Frösche) eine Darstellung der scenischen Alterthümer hinzu, die in ertragreichen und fruchtbaren Scenica auch einen litterarischen Niederschlag zeitigte; er begleitete auch die Erklärung von Plato’s Symposion [434] mit einer vorzüglichen Einführung in Leben und Werke des philosophischen Künstlers, erklärte ferner mit Virtuosität Pindar’s, aber auch Horaz’ Oden und erweiterte ebenso den Kreis der im Seminar, gelegentlich auch in einem Privatcircel, gelesenen Schriftsteller auf homerische und kallimacheische Hymnen, Reden des Lysias und Demosthenes, die Schrift vom Erhabenen, Lucian, Terenz, Tibull, Sallust, Seneka Rhetor, Tacitus, Dialog u. a. Wenn er sich in einer Antrittsrede „über die Methode der Forschung in griechischer Litteraturgeschichte“ glänzend eingeführt hatte, so erschien gleichzeitig im Rhein. Museum die in Jena gereifte Abhandlung „über γέγονε in den Biographica des Suidas“, die mit der Festlegung eines vielfach und noch kurz zuvor von einem scheinbar Sachkundigen mißverstandenen, häufigen und wichtigen Terminus eine Fülle historischer Daten in allen Zweigen der Dichtung und Prosa erleuchtete; und unmittelbar folgten – außer dem mehr blendenden als überzeugenden Versuch, die neben Democrit so schattenhafte Erscheinung des Leukipp mit Epikur ins Nichts aufzulösen – die „Studien zur Chronologie der griechischen Litteraturgeschichte“ (Homer und Hesiod), die wiederum eine viel geglaubte Hypothese zerstörten und vor allem die antiken Ueberlieferungen und manche damit verbundenen weiteren Fragen „sicherstellig“ behandelten. Ein grundlegender und in seiner grundlegenden Bedeutung später energisch (besonders gegen E. Zeller) vertheidigter Beitrag „zur Platonischen Chronologie“ (Theätet) und Verwandtes, sowie mancherlei, was sich um jene beiden Abhandlungen gruppirt, auch wahrhaft gewinnbringende Recensionen über Schriften von Bergk, Wilamowitz u. A., können jetzt im ersten Band der „Kleinen Schriften“ vereinigt gefunden werden. Zu der geplanten „Geschichte der litterarischen Studien im Alterthum“ kam es leider nicht, und eine „Geschichte der griechischen Litteratur“ oder auch nur eines Hauptzweiges derselben, die man wiederholt von ihm wünschte und erwartete, hatte er nie auch nur vorübergehend geplant; den Druck seines in seiner Art ganz einzig hervorragenden Collegs darüber, oder eines anderen, würde er für ein Unrecht gehalten haben. Dagegen bereitete er mehrere kritische Ausgaben, z. B. des Jamblichus mit Verwandtem und des Hermes Trismegistos eifrig vor, ohne sie zur Ausführung zu bringen; doch gab er durch einzelne Veröffentlichungen und durch Mittheilungen an andere Herausgeber auch zahlreiche und glänzende Proben seiner Textkritik und Divination; bei Apulejus waren solche Beiträge verbunden mit einer lehrreichen Würdigung des ganzen, merkwürdigen Schriftstellers. Daß er in Tübingen, wo in stiller, emsiger Arbeit sein ganzes Gelehrtenthum wuchs und reifte, sich mit dem Plan einer „griechischen Culturgeschichte“ trug, geht aus Aeußerungen an Ribbeck und Overbeck hervor; aber der Zusammenhang der Aeußerungen führt darauf, daß dabei eine wesentliche Rolle die Dinge spielten, die er später, nach langem Schwanken, als seine „Psyche“ betitelte, deren Inhalt ja thatsächlich vielfältig zugleich religions- und culturgeschichtlich ist.

Während er sich in solche Pläne vertiefte und allmählich in Tübingen – von wo er 1882 auf eine Anfrage flüchtig erwogen hatte sogar nach Prag zu gehn! – dergestalt einlebte, daß er an den Bau eines eigenen Hauses dachte, wurde er nach Georg Curtius’ Tode nach Leipzig berufen: und die für ihn so erinnerungsreiche Stadt, das Zusammensein mit Ribbecks u. A. lockte ihn, obwohl gerade beim Entschluß des Abschieds die schönen Seiten von Tübingen und die mächtig sich aussprechende Liebe und Anhänglichkeit der Studenten ihm das Herz schwer machten, auch vor der Gestaltung der neuen Verhältnisse ihm etwas bange war. So zog er Ostern 1886 in Leipzig ein, um alsbald seine bangen Ahnungen bestätigt zu sehen. Gern begann er mit [435] einer Vorlesung über Homer, die er nicht so einseitig, wie sein wesentlich grammatisch gerichteter Vorgänger, sondern von weiten und tiefen Standpunkten behandelte; daneben las er mit den Studenten Apulejus’ Amor und Psyche und Lucian’s Philopseudes. Doch fand er, bei dem damals überall eintretenden Niedergang des philologischen Studiums, weder ein größeres noch ein sympathischeres Auditorium, als er gewohnt war, obgleich nicht wenige der damaligen Zuhörer, wie der früh verstorbene Ettich, gleich von ihm eingenommen waren. Schlimmer war, daß die Auseinandersetzung mit den Specialcollegen Ribbeck, Lipsius und Wachsmuth über die Theilung der Vorlesungen für ihn, als den jüngsten und nicht in erworbenen Rechten Eingesessenen sehr unbefriedigend verliefen, zu unliebsamer Beschränkung oder noch unliebsamerer Concurrenz geführt hätten. So von der „Luft“ Leipzigs in jedem Sinne verstimmt, ergriff er, zum nicht geringen Entsetzen der Leipziger und trotz der Gegenbemühungen von Ribbeck u. A., die ihm von Heidelberg gebotene Hand, wo er ja schon früher in Vorschlag gewesen war und bei Wachsmuth’s Abgang nach Leipzig bloß deshalb nicht genannt worden war, weil Leipzig ihn schon zuvor berufen hatte. Unter denen, die ihm zum Gehen zuredeten, war außer Springer auch Nietzsche, der zu ihm geeilt war und ihn nun nach langer Trennung in den unglücklichen Stunden wiedersah. Wohl hatte R. mittlerweile sich in die neuen Schriften des Freundes, die „Vermischten Meinungen und Sprüche“, „Der Wanderer und sein Schatten“ in seiner Weise hineinzulesen gestrebt und trotz inneren Sträubens gegen die wechselnden Dogmen, das viele Tiefe, Feine, Klare, Besonnene, die Ferne jeder Trivialität und die bewunderungswerthe Ueberwindung dessen, was an Leiden und Ringen dahinterlag, wohl gewürdigt; noch mehr hatte er sich von dem feurigen, hohen Pathos der ersten Theile des Zarathustra hinreißen lassen und darüber auch in seinen spärlicher werdenden Briefen an den Freund Wohlthuendes, wenn auch nicht voll Befriedigendes gesagt: nun standen sie sich an der Stätte ihrer Jugendliebe innerlich fern einander gegenüber; und auf dies letzte, peinliche Wiedersehen kamen bald weitere Mißverständnisse. Sie führten zu einer äußerlichen Entfremdung, weil R. bei aller Anspannung der Gemüthskräfte sich nicht fähig fühlte, dem so weit getrennten und so ganz auf das Spiel mit seinen einsamen Gedanken eingeschränkten Freunde etwas zu sagen, das bis zu ihm dringen könnte, weil er sich von der Art seines Lebens und Möglichkeit zu existiren keine eigentliche Vorstellung machen konnte: selbst aus dem Ringen nach Selbstbefreiung und „halkyonischer“ Stimmung empfand er einen Schmerz und eine Trostlosigkeit, gegen die Leopardi heiter und gefaßt erschien. Allein wie treu trotz allem und trotz des R. peinlichen offenen, schroffen Abfalls von Wagner sein Herz an dem Einzigen hing, dessen Wesen er immer wie ein höheres, ihn und alle Freunde in die Höhe ziehendes und läuterndes empfunden hatte, wie tief ihn dessen schweres Schicksal bedrückte, wie wenig er ein verkehrtes Urtheil über ihn ertragen konnte, wie hoch er nicht nur die im Einzelnen hervortretende geistige Stärke, Freiheit und Reichheit, wie sprachliche Macht und Schwungkraft, sondern auch – bei allen Vorbehalten und Abweichungen in der ganzen Auffassung des Lebens, des Menschen, der vaterländischen Gesinnung – die Größe der ganzen Führung – z. B. in der „Genealogie der Moral“ – einschätzte, das Alles trat in vertrauten Momenten, wie gelegentlich auch in größerer Oeffentlichkeit immer wieder zu Tage und bestimmte bis zum Ende einen Theil seines Daseins. „Mit wem man so etwas erlebt hat, den muß man wohl lieben“, diese Worte nach dem ersten Eindruck des „Tristan“ galten bei R. für sein Verhalten zu Wagner und Nietzsche.

[436] In seiner letzten und längsten, aber doch allzu früh geendigten Universitätsstellung zu Heidelberg fehlten bei R. keineswegs Reuegedanken, daß er überhaupt von Tübingen fortgegangen war oder nicht doch in Leipzig bessere Zeiten abgewartet hätte. Allein er wußte auch die guten Seiten der neuen Wirkungsstätte zu würdigen und ihr verdankte er das Beste und Größte, was er noch leisten sollte. Zunächst hatte er sich in Bayreuth, in Dresden und Weimar eine Erfrischung nach allen Widerwärtigkeiten gegönnt, die doch noch nachträglich in körperlichen Verstimmungen und Störungen sich geltend machten. Bei den Mühen und Freuden der Uebersiedlung und in den ersten schönen Heidelberger Herbsttagen heiterte ihn auch die Anwesenheit der Tübinger Freundin Sigwart auf. Wie er in Tübingen der Vortragsgesellschaft der dortigen Professoren angehört und eine Reihe von Mittheilungen gespendet hatte, so betheiligte er sich in Heidelberg gleich an einem kleineren Kränzchen (außer dem Unterzeichneten Zangemeister, Bekker, Erdmannsdörffer, Uhlig, Osthoff, v. Duhn, später v. Domaszewski) und bot ihm das Beste in seinen durch ihre Schlichtheit genialen Erklärungen Pindarischer Oden u. A. In den weiteren Jahren traten ihm noch Kuno Fischer und Carl Neumann, die Theologen Holsten und Hausrath, die Juristen Georg Meyer und Jellinek, auch mehrere naturwissenschaftliche Collegen näher. Die Ausdehnung seiner Amtspflichten durch die Mitgliedschaft im Badischen Oberschulrath war ihm willkommen und er gewann bei den jährlichen Inspectionen und Leitungen von Abiturientenprüfungen an den verschiedenen Gymnasien die weitere Kenntniß von Land und Leuten; noch höher aber wurde er geschätzt als ständiger Examinator bei den Oberlehrerprüfungen in Karlsruhe; denn alsbald kamen die Mitglieder des Oberschulraths wie die Examinanden zu der Erkenntniß, daß R. in Weite des Blicks und Umfang der Bildung, in leichtem Eingehen auf die besonderen Studien und Kenntnisse des Candidaten und, bei aller Strenge der Anforderungen und gelegentlicher Reizung seines Unwillens, ebenso verständiger wie nachsichtiger Beurtheilung der Leistungen das kaum erreichte Ideal des Examinators war; und denselben Eindruck machte er bei den Collegen und den Doctoranden in den Promotionsprüfungen, die freilich nicht allzuhäufig stattfanden: bei dem immer stärkeren Rückgang der philologischen Studien gerade in Rohde’s Heidelberger Zeit, und bei seiner Art, Doctordissertationen nicht geflissentlich und gleichsam geschäftsmäßig großzuziehn, sondern nur bei Gelegenheit, wo guter Wille und genügende Begabung sich zeigten, wohlwollend zu fördern und zu leiten. Die beste derartige Arbeit war die von A. Marx, der R. von Tübingen nach Heidelberg gefolgt war, „Griechische Märchen von dankbaren Thieren und Verwandtes“; dazu kamen Arbeiten über Plato, über Rhetoren, Sprachliches zu den Romanschriftstellern u. A. In Rohde’s bisherigem Vorlesungskreis traten einige Beschränkungen ein und nur eine Vermehrung durch ein Colleg über griechische Staatsalterthümer, bei dem auch ihm u. a. die neuaufgefundene Schrift des Aristoteles über den Staat der Athener manche Probleme aufgab und zu ihm eigenthümlichen Ansichten führte; und diese Schrift legte er auch zu Seminarübungen vor, zu denen er weiter u. a. noch Cicero’s Briefe hinzuzog. Die reichen Papyrusfunde jener Jahre verfolgte er überhaupt eifrig und förderte ihre Ausnutzung.

Wenn R. in den Verhältnissen der Universität und in der Art der Studirenden im Gegensatz zu dem strammeren Wesen in Tübingen gelegentlich über den „Bummelzug“ oder ein Arbeiten gleich dem Seildrehen des Oknos klagte, so konnte er sich um so ungestörter in seine Lieblingsstudien und Arbeiten vertiefen, besonders, nachdem er sich in dem damals noch fast ganz [437] ländlichen Neuenheim ein kleines, frei und schön gelegenes, von einem nicht ganz kleinen Garten umhegtes Haus (Ecke der Mönchhofstraße und Klosestraße) gekauft hatte, in dem er mit den Seinen sich unendlich wohl fühlte und entrückt „der Oede professörlicher Herdenbildungen“. Freilich wurde auch dies Behagen vielfach gestört durch körperliches Mißbefinden: und die Versuche, durch Reisen sich zu erholen und zu sammeln, hatten nicht immer den gewünschten Erfolg; ein Aufenthalt in den berauschenden Herrlichkeiten Italiens – Griechenland hat dieser große Gräcist, wie so Viele, nie gesehen – führte, wie schon früher, so jetzt erst recht, „mit unwiderstehlicher Gewalt in alle Weiten fremdartiger Anschauungen und Vorstellungen“. Bayreuth behielt seine Anziehung, wenn sie auch für R. gerade durch den Parsifal nicht erhöht wurde. Für die Reize deutscher Städte und Wälder blieb er stets empfänglich.

Trotz vieler Störungen und Unterbrechungen konnte im Frühjahr 1890 der erste Theil jenes reifsten Werkes erscheinen „Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen“, und Ende 1893 war der zweite vollendet und erschien Anfang des Jahres 1894. Weder die leiblichen und seelischen Qualen, unter denen die Arbeit langsam vorgerückt war, fühlt man dem Ganzen an, noch die unendlichen Mühen vielfältigster Art, auf denen es beruht, – es sei denn in dem imposanten Wesen seines Aufbaues und der Fülle seines Ertrages. In lichtem – wenn auch keineswegs immer leichtem – und eigenartigem, oft schwungvollen und tief ergreifenden Stil schreitet es von Erkenntniß zu Erkenntniß voran; und wenn R. in seinem Jugendwerk überrascht hatte durch seine ausgebreitete Belesenheit auch in der neueren Litteratur und in der weiteren Märchen- und Sagenforschung, so wußte er hier in vielfach neuer, förderlicher Weise die reichhaltige und weitverzweigte ethnographisch-anthropologische Forschung zu verwerthen: nicht zu einer Häufung von Parallelen oder gar zu vorschnellen Schlüssen über Zusammenhänge und Einflüsse, sondern zur Aufklärung dunkler Gebiete, für Anfänge und Entwicklungen primitiver Vorstellungen und volksmäßiger Denkungsart, gerade da, wo Andere häufig versucht hatten, „durch Hineinstellung eines selbstgegossenen Lichtleins einen zweideutigen Flackerglanz zu verbreiten“.

Zunächst gewinnt seine Meisterhand durch eindringende Analyse der homerischen Gedichte aus Todtenopfern, Bestattungsriten, Schwurformeln u. a. Rudimente (survivals) eines vorhomerischen Seelencultus, in dem die Angst vor dem Umgehen der Seelen Entschlafener Beruhigung sucht – im Gegensatz zu der bei dem ironischen Sänger herrschenden Anschauung vom fernen, öden Todtenreich und der bei ihm ersichtlichen Befreiung von ängstlicher, ritueller Verehrung. Sodann wird auch die dem Menelaos verheißene Entrückung weiter aufgehellt und mit den Vorstellungen vom Elysium und von so manchen in Berghöhlen Entrückten verbunden. Nicht mindere Ausbeute wird dann aus Hesiodischen Dichtungen gewonnen, in denen hier bei Homer noch Glimmendes deutlicher heraustritt und der Heroendienst durchscheint. Im Zusammenhang mit dem Cult der chthonischen Gottheiten, Zeus, Demeter und Kore, die in ihr Erdreich die Gestorbenen aufnehmen und unter ihnen wie über sie wachen, gewinnt der Seelencult und Ahnencult neue Kraft; der Gräbercult in Mykenä und bei den alten dorischen Königsgeschlechtern, ferner die Ausbreitung der Geschlechtsahnen auf den Demos und in Uebertragungen auf die Colonien schlagen hier ein; wir lernen aus Familienfesten und Staatsfesten, aus dem erst privaten, dann staatlichen Blutrecht und der Mordsühne, und wir sehen, wie auch Lebende für ihre Grabesehren Sorge tragen: denn ohne Cult zerrinnt das Dasein der Schatten; von Unsterblichkeit [438] der Seele ist bei alledem nicht die Rede: denn wo sie stattfindet wird der Mensch zum Gott erhöht. Selbst die Eleusinischen Mysterien lehrten in ihren Jenseitsbildern nicht den Unsterblichkeitsglauben der Seelen. Nur in der mystischen Ekstase und Verzückung fühlt sich der Mensch als Gott: und solche Cultgebräuche kamen mit dem thrakischen Sabaziosdienste und seiner Verquickung mit dem Dionysoscult in die hellenische Welt: hier erst befestigt sich der Glaube von der göttlichen Natur der Menschenseele und ihrer Fähigkeit zu höherer Einsicht erhoben und mit dem Göttlichen vereint zu werden. Selbst im apollinischen Delphi wird nun die Opfer- und Zeichendeutung durch die Ekstase der Inspirationsmantik verdrängt. Sibyllen und Bakiden, Propheten und Wunderthäter treten auf: nicht allein zur Enthüllung der Zukunft, sondern zur religiösen Kathartik, zur Bannung der unreinen Geister des Todes und zur Führung eines asketischen Lebens. Hier knüpfen an die Schulen der Orphischen Theologen in Athen und weiter in Unteritalien und Sizilien, aber auch der Pythagoreismus[WS 2] und andere philosophische Secten, ohne damit ins eigentliche Volk durchzudringen. Glänzend ist nun die eingehende Würdigung der verschiedenen Lehren von der Seele und der Unsterblichkeit bei den Philosophen – im Höhepunkt bei Plato – und weiter bei den Dichtern, Rednern, Historikern, auch in Vorstellungen, die sich aus den zahllosen Grabschriften und sonstigen Quellen des Glaubens und Aberglaubens ergeben – bis zum Schwinden vor der neuen Religion einer neuen Welt. Allein von dem allen kann kein dürftiger, trockener Auszug, nur eigene, wiederholte Lectüre einen Begriff geben.

Die Aufnahme dieses Werkes in der deutschen und ausländischen Kritik, in den weitesten Kreisen der Fachgenossen, aber auch weit über die Gelehrtenwelt hinaus, entsprach diesmal durchaus seinen unvergleichlichen Vorzügen. – Mit dem Erscheinen des zweiten Theiles fast gleichzeitig wurde R. einstimmig zum Prorector gewählt: und er hatte als solcher die Genugthuung, unterstützt von zwei anderen Collegen, eine vor dem Antritt seines Amtes entstandene Spaltung der seit einem Jahrzehnt in einem gemeinsamen Ausschuß geeinten Studentenschaft wieder zu beseitigen und überhaupt in allen Theilen in seiner Amtsführung Anerkennung zu gewinnen. Allein nach dem Beginne des Wintersemesters wurde er wieder leidend und konnte seine, für den Geburtstag des Neubegründers der Universität, Karl Friedrich (22. Nov.), bestimmte, großzügige Rede „über die Religion der Griechen“ nur mühsam fertig dictiren und selbst nicht vortragen. Sie entsprach keineswegs dem, was er gewollt hatte, fand aber trotzdem großen und dauernden Anklang: mit anderen, zum Theil scharf polemischen Abhandlungen, die sich mehr oder weniger eng an die „Psyche“ anlehnen, ist sie im zweiten Theil der „Kleinen Schriften“ wieder abgedruckt und daraus auch gesondert erschienen, und sie erhält selbst für den höheren Schulunterricht unmittelbar, wie die „Psyche“ und Anderes mittelbar, Bedeutung. Nicht ohne Ueberanstrengung, aber mit vollem Gelingen – auch in ungewohnten Aufgaben, wie einer patriotischen Ansprache beim Kaiserbanket des Militärvereins und der Bürgerschaft Heidelbergs – führte R. die Prorectoratsgeschäfte zu Ende.

Nach der schweren Arbeit der letzten Jahre fand er dann Gefallen an einer ganz andersartigen, an seine stillen Studien zur deutschen Romantik anschließenden Aufgabe, zu der eine Neuerwerbung der Universitätsbibliothek und eine Anregung Zangemeister’s führte und die schließlich noch aus einem Unicum im Besitze des Freiherrn v. Bernus ergänzt wurde: „Friedrich Creuzer und Caroline v. Günderode, Briefe und Dichtungen“ herausgegeben (Heidelberg 1896). Auch auf diesem Gebiete glückten ihm manche Berichtigungen zu den Arbeiten [439] deutscher Litteraturhistoriker, vor allem jedoch gab er im Ganzen ein zu wenig nachgeahmtes Muster maßvoller und sachgemäßer Auswahl und leiser, bei aller Knappheit die Theilnahme erhöhender Begleitung so intimer Actenstücke, wie sie sonst allzugern ausgeschüttet und mit einem Ballast beladen zu werden pflegen.

Ungefähr ein Jahr vor dem im Juli 1896 erfolgten Abschluß dieses Büchleins wurde R. noch Vater eines spätgeborenen Söhnchens, das anfangs nicht ohne Sorge erwartet, alsbald für ihn und die ganze Familie zu einer Quelle höchster Wonne wurde – für allzu kurze Zeit. Denn noch nicht anderthalbjährig wurde das liebe, geweckte Kind von einer schweren Krankheit erfaßt und im December dahingerafft – ein herzbrechender Jammer, durch den ersichtlich die schon so oft und schwer erschütterte Gesundheit des Vaters den entscheidendsten Stoß erlitt. Daß R. im Laufe des Jahres 1897 von der Münchener Akademie zum correspondirenden Mitglied erwählt und von der Universität Straßburg als Nachfolger G. Kaibel’s erfolglos berufen wurde, freute ihn, um so mehr, als er dem in akademischen Dingen nicht selten spielenden Cliquenwesen nicht nur entfernt, sondern geradezu feindlich gegenüberstand. Allein zu einer wirklichen Freude kam er überhaupt nicht mehr; und so sehr er sich zur unermüdlichen Arbeit im täglichen Beruf, wie in stiller Wissenschaft und in der Neubearbeitung seiner „Psyche“ zwang, immer merklicher zeigten sich die Spuren einer unheilbaren Krankheit, die auch auf die Augen wirkte, ohne von ihnen auszugehen. Nach einer bewundernswerthen Haltung in dieser Leidenszeit erfolgte in der zweiten Morgenstunde des 11. Januars 1898 ein plötzliches, rasches Ende, wie er es oft gepriesen und für sich nie erwartet hatte und das ihn sicher vor weit schlimmeren Zuständen behütete.

Noch drei Tage zuvor hatte er in einer ausführlichen Anzeige einer Abhandlung seines Jugendfreundes Roscher über Kynanthropie den Ertrag dieser Studien gesäubert ans Licht gestellt und das Problem, das mit den Werwolfsagen verknüpft ist, erst rein gelöst. Vor allem hatte er schon vorher die zweite, vielfach im einzelnen verbesserte Auflage seiner „Psyche“ vollkommen beendigt: und daß nach dem Ablauf einer abermaligen Olympiade eine dritte (unveränderte) nöthig wurde und fast nach dem gleichen Zeitraum gegenwärtig die vierte sich im Druck befindet, beweist, daß eine derartige wissenschaftliche Großthat doch unwiderstehlich wirkt und weiter wirkt. Von der zweiten Auflage des „Griechischen Romans“ und der Sammlung der „Kleinen Schriften“ (durch den Unterzeichneten) ist schon die Rede gewesen. Wieder in anderer Weise wurde durch den 1902 erschienenen „Briefwechsel Friedrich Nietzsches mit Erwin Rohde“ (hrsg. von E. Förster-Nietzsche und Fr. Schöll, Berlin u. Leipzig) dieser einzigartige Freundesbund und in ihm auch die ganze Eigenart Beider mit den tiefsten und feinsten Zügen in Gemüth und Charakter in weitestem Umkreis gewürdigt und warm empfunden. Allein keineswegs bloß in solchen Publicationen und ihrer Aufnahme und allem, was sich weiter anreiht, zeigt sich die lebendige Wirkung des nun schon vor bald zehn Jahren Dahingegangenen. Als kleines Zeichen dafür sei erwähnt, daß sein Todestag alljährlich von dem Philologischen Verein in Heidelberg feierlich begangen wird, nachdem längst schon kein unmittelbarer Zuhörer von ihm zu den ordentlichen Mitgliedern gehört. So tief und wahrhaft verehrt wird also ein Akademiker, der auch als solcher Popularität weder suchte noch leicht gewinnen konnte – eine schwere Natur, aber eine vollwichtige und warmblütige, kein glücklicher Mensch im gewöhnlichen Sinne, aber von geistiger und sittlicher Größe, die über gemeines Glück erhaben [440] ist und aus allen Widerwärtigkeiten und Kämpfen des Lebens zur Höhe führt, die nur erwählten Menschen beschieden ist.

Außer den Nachrufen im J. 1898 von dem Unterzeichneten in der Beilage der (Münch.) Allg. Ztg. Nr. 24 (Gedächtnißrede vom 13. Januar d. J.) und Südwestd. Schulbl. S. 60 = Humanist. Gymn. S. 71, von F. Rühl im Sonntagsbl. d. Königsb. Hart. Ztg. Nr. 13, von J. Meltzer im N. Korr.-Bl. f. d. Gel. u. Realsch. Württ. S. 205 ff., vgl. besonders O. Crusius, E. Rohde. Ein biogr. Versuch. Mit einem Bildniß und einer Auswahl von Aphorismen und Tagebuchblättern Rohde’s. Tübingen und Leipzig 1902 (dazu Th. Gomperz, Deutsche Revue 1902, S. 350 ff. Th. Zielinsky, Beil. z. Allg. Ztg. 1902, Nr. 98 u. A.). Außerdem, als Aeußerungen unmittelbarer Schüler, W. Schmid im Biogr. Jahrb. f. Alterthkde. 22 S. 87 ff. (mit Schriftenverzeichniß, dazu Kl. Schr. I, S. VII ff.). – E. Weber im Biogr. Jahrb. u. D. Nekr. 6 S. 450 ff. – A. Marx in Bad. Biogr. V 2 S. 661 ff. Endlich zum Briefwechsel H. Scholz in der Christl. Welt 1903, S. 709 ff. – J. Hofmiller in der Zukunft 1903, S. 241 ff. u. A.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Rhode’s.
  2. Vorlage: Pythogoreismus