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ADB:Günther, Anton

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Artikel „Günther, Anton“ von Franz Peter Knoodt in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 10 (1879), S. 146–167, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:G%C3%BCnther,_Anton&oldid=- (Version vom 17. November 2024, 16:27 Uhr UTC)
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Günther: Anton G., geb. am 17. November 1783 zu Lindenau, einem Dörfchen im Leitmeritzer Kreise Böhmens, war der Sohn armer und streng gläubiger deutscher Eltern. Der Vater war Schmied und die Mutter Tochter eines Schmieds. Um eine gute Orgel und einen guten Orgelspieler zu hören, ging der Vater an Festtagen oft meilenweit und G. war auf diesen Festgängen sein steter Begleiter. Und wenn Beide auf dem Rückwege durch Wald und Flur kamen, stimmte der Vater die Kirchenlieder von Neuem an oder erzählte dem Sohne aus dem Leben des Heiligen, dessen Fest gefeiert worden. Kamen sie an einem Kreuze vorüber, so sprach er nicht selten: „Sohn Davids, der Du Dich meiner erbarmt hast, erbarme Dich auch meiner armen Kinder!“ Als G. Alles, was in der Dorfschule zu lernen war, wozu auch die Musik gehörte, gelernt hatte, wollte der Vater ihn in seinem schwarzen Handwerke verwenden, während dieser den schwarzen Talar mehr liebte; aber seine Eltern besaßen die Mittel nicht, um ihn studiren zu lassen. Da verschaffte ein Stiefbruder des Vaters, Valentin G., welcher Inspector des reichen Glasfabrikanten [147] Trauschke in Haide war, dem G. die Kost am Tische der Dienstleute Trauschke’s und die Wohnung bei einem Schneider, der die Taubenfütterung im Trauschke’schen Hause besorgte.

Mit dem Segen des Vaters, den er knieend empfing, aus dem elterlichen Hause entlassen und von der Mutter begleitet, trat er den Weg nach Haide in das Haus des Schneiders an. Am folgenden Tage wurde er Herrn Trauschke vorgestellt, der ihn fragte, was er werden wolle und auf die Antwort, das wisse er noch nicht, bemerkte: „aber Eines wirst Du wohl wissen, daß man sich gut aufführen muß, wenn man etwas Rechtes werden will“. Und als G. hierauf erwiederte: „das versteht sich von selbst“, lachte jener und sagte: „nun wir wollen sehen!“ Es war im Herbste des J. 1796, als G. in die dritte Klasse der von Piaristen geleiteten Klosterschule eintrat. Die Freude, ein Student zu sein mit gepudertem Haare und Zopfe, ließ ihn die Mühseligkeiten seiner Lage geduldig ertragen. Das Trauschke’sche Dienstpersonal verfügte nämlich über seine jugendlichen Kräfte zum Holztragen, zum Putzen der Gläser, Poliren der Bestecke und zu Allem, was sonst zur Herrichtung des Speisesaals gehörte. Dazu kam noch, daß er kein ruhiges Plätzchen finden konnte, um seine Schularbeiten zu machen. Denn der Schneider brauchte seinen großen Tisch meist zum Zuschneiden der Stoffe, wo dann G. knieend an der Ofenbank schreiben mußte, von drei Kindern umlärmt; und wenn er sich in die Trauschke’sche Kanzlei flüchtete, so fand und verwendete ihn das Dienstpersonal. Diese Mühsal lastete auf ihm drei Jahre lang, während deren er Unterricht im Deutschen, Lateinischen, Griechischen, in der Geschichte, Geographie und im größeren Katechismus erhielt. Da traf ihn während der Ferien, die er bei seinen Eltern zubrachte, ein Donnerschlag aus heiterem Himmel. Es kam nämlich die Nachricht in Lindenau an, Trauschke sei plötzlich gestorben. Noch am selben Tage eilte G. nach Haide. Am folgenden Tage beschied ihn Pater Nepomuk Janke, der den zwei unteren Klassen der Klosterschule vorstand, zu sich und erklärte ihm: „Du bist von nun an mein Famulus, für den ich sorgen will“. G. kehrte nun wieder nach Lindenau zurück und lebte seinem Ferialvergnügen, das in der Vogelstellerei bestand, wobei er sich durch Verkauf von Drosseln und Schnepfen einiges Geld verdiente, dessen er sehr bedürftig war. Das vierte Jahr in Haide zeichnete sich vortheilhaft vor den drei vorhergehenden aus; denn er fand hinreichende Muße für seine Studien, da er fast nur die Obliegenheit hatte, dem Pater, wenn derselbe Nachts klingelte, die gichtischen Füße mit Flanelllappen zu reiben, Morgens das Zimmer aufzuräumen, das Frühstück zu bereiten, wenn Pater Nepomuk, was nicht immer der Fall war, Geld dafür hatte, und seine Pflanzen im Klostergarten zu pflegen. Als das Schuljahr zu Ende war, schickte ihn Janke mit einem Briefe an den Kreiscommissär Procop Platzer nach Leitmeritz. Das war der erste größere Ausflug, den er, begleitet von seinem Vater, der ihm unterwegs alle Orte zeigte, wo er früher in Arbeit gestanden, machte. Frau Platzer empfing ihn mit den freundlichen Worten: „Mein Mann will für Dein Fortkommen sorgen, und ich bin damit einverstanden, weil Du der Kammerdiener des guten Pater Janke gewesen und dieser mit Dir zufrieden war. Mit dem Anfange des Schuljahres komme daher nach Leitmeritz“. Auf dem Rückwege nach Lindenau sang G. mit lauter Stimme „Herr, großer Gott, dich loben wir …“; die Ferien aber waren die glücklichsten von allen, die er bis jetzt zu Hause verlebt hatte, denn nicht bloß der Blick der Mutter, sondern auch der des Vaters ruhte von nun an mit Wohlgefallen auf ihrem Erstgeborenen.

Zu Leitmeritz wurde G. nach glänzend bestandener Prüfung in die Syntaxklasse des Gymnasiums aufgenommen. Aber schon nach einem halben Jahre wurde Platzer als Gubernialsecretär nach Prag berufen; und nun nahm der Bürgermeister [148] sich seiner an. Jedoch das Abendessen fiel weg, wofür er Mittags eine Semmel nach Hause mitbekam. Drei Jahre später reiste er mit einem glänzenden Abgangszeugnisse nach Prag, wo Platzer ihm den täglichen Mittagstisch zusagte und für ein Quartier bei einem armen Flickschneider sorgte. Seine Stube blieb im Winter ungeheizt und auf das Frühstück konnte er nur einen Kreuzer und auf das Abendbrot zwei Kreuzer verwenden, die er durch Unterrichtgeben sich verdiente. Oft blickte er da, wenn er auf seinem halbstündigen Wege nach dem Universitätsgebäude an dem colossalen Crucifixe am Altstadter Brückenkopfe vorbeikam, zum Gekreuzigten mit den Worten auf: „Dich, lieber Meister, hat am Kreuze gedürstet, mich hungert“. Erst in der zweiten Mittagsstunde konnte er im Platzer’schen Hause seinen Hunger stillen. Aber auch das sollte bald anders werden. Es hatte nämlich die Zahl der armen Kostgänger am Tische Platzer’s sich vermehrt, und da mußte er gar häufig die Klage über zunehmende Theuerung aus dem Munde der Frau vernehmen und zugleich die Erfahrung machen, daß die ihm vorgelegten Portionen kleiner wurden. Um diesen immer wiederkehrenden Klagen auszuweichen, nahm er nach Ablauf eines Jahres die Stelle eines Erziehers von drei Knaben des Münzbeamten Herrn v. Klotz an, wofür er Wohnung in der Kinderstube, die Kost und 5 Gulden Monatsgehalt erhielt. Diese Stelle hatte aber für ihn die schmerzliche Folge, daß er nicht mehr die Zeit fand, um, wie bisher, die k. k. Bibliothek zu besuchen, wo er unter der Leitung der Professoren Titze und Klar mit den Reden des Isokrates und den Dramen des Sophokles sich bekannt machte. Zu seiner Privatlectüre wählte er sich nunmehr vorzugsweise historische und philosophische Schriften; so Herder’s Ideen zur Philosophie der Geschichte, Abbé Millot’s Universalgeschichte, die periodische Schrift „Der Biograph“ und Tiedge’s Urania, worin er Kant’s Postulate der praktischen Vernunft verarbeitet fand. Durch die Lectüre der Herder’schen Ideen wurde er in seiner Ueberzeugung von der Willensfreiheit des Menschen wankend gemacht, so daß das gesammte Drama der Weltgeschichte ihm als ein Product der Nothwendigkeit erschien, zu dem sich die großen Männer und Lenker der Weltereignisse nur als Schleppträger des Fatums verhielten. Wie hätte sich auch eine andere als diese deterministische Ansicht bei einem jungen Manne einnisten können, der in der sogenannten Einleitung zur Weltgeschichte, welche drei Monate lang an der Universität vorgetragen wurde, wol Manches über das Quellenstudium vernahm, nichts aber über die Coefficienten der Weltgeschichte! Dazu kam noch, daß der Professor der Weltgeschichte am Kleinseitner Gymnasium, Haßler, ihm Villaume’s Einleitung in die Logik gab, worin die logischen Grundsätze durch Beispiele erläutert wurden, die größtentheils aus der heiligen Schrift entnommen und darauf berechnet waren, den Wunderglauben zu zerstören. So wurde er gleich Vielen seiner Zeitgenossen dem Glauben seiner Kindheit mehr und mehr entfremdet. Derselbe Haßler rieth ihm auch, nicht in das Studium der Theologie einzutreten. Und so kam es, daß G., obgleich es ihm wehe that, den Herzenswunsch seiner Eltern nicht zu erfüllen, sich entschloß Jurist zu werden. Doch lag zwischen diesem Entschlusse und seiner Ausführung noch das dritte Jahr der Philosophie, in welchem die Moralphilosophie vorgetragen wurde, so daß auf die logischen Denkgesetze und die Naturgesetze die sittliche Gesetzgebung folgte. Anstatt aber über diese dreifache Gesetzgebung in eine Metaphysik hinauszugreifen, wurde Religionsphilosophie vorgetragen, und zwar nach dem Handbuche des Hofburgpfarrers Frint, der an der Ansicht der Scholastik über Glauben und Wissen festhielt. Der Professor für diese Disciplin war der junge Bolzano, welcher durch seine Exhorten an Sonn- und Feiertagen einen großen Einfluß auf die sittliche Haltung der Studenten ausübte. Zu ihm war G. in nähere persönliche Beziehung getreten.

[149] Beim Beginne seiner juristischen Studien übernahm er die Erzieherstelle bei Baron v. Bretfeld, und als er dieselbe wieder aufzugeben sich veranlaßt sah, beim Freiherrn Joh. v. Silberstein. Mit diesem mußte er aber nach Arnau bei Trautenau im Riesengebirge übersiedeln. In der Bibliothek des Barons fand er viele treffliche Schriften über Physik und Naturgeschichte, die ihn um so mehr anzogen, als er in dem lateinisch vorgetragenen Colleg über Physik blutwenig gelernt hatte. Auch machte Silberstein ihm ein Geschenk mit Lossius’ Wörterbuch über die Kantische Philosophie, worin zugleich auch Fichte berücksichtigt wird. Dieses Buch hat insofern Epoche in Günther’s Leben gemacht, als, was er in Tiedge’s Urania nur im Widerscheine der Kunst erblickt und in den Vorlesungen über Moral nur fragmentarisch vernommen hatte, hier seinen ganzen Inhalt vor ihm entfaltete, zugleich mit dem Schlüssel versehen zur Aneignung desselben. Bald darauf wurde er auch mit Schelling’s Weltseele bekannt. Ein Anhänger der Schelling’schen Speculation, Dr. med. Bernt, später Professor an der Wiener Universität, half ihn in das Verständniß derselben einführen. – Am Ende des Jahres reiste G. nach Prag zurück, bestand das Examen im römischen Rechte und trat in das Haus eines Grafen Thun als Erzieher ein. Die in seinem bisherigen Leben gemachten Erfahrungen hatten ihm Kant’s goldenen Spruch in Flammenschrift vor die Seele geführt: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“. Sehr eifrig studirte er nunmehr die Kantische Philosophie, in welcher er es auch bald zum gründlichen Verständniß brachte. Auch Schubert’s Ansichten über die Nachtseite der Natur waren epochemachend in seinen Studien. Schubert benutzte nämlich jede Gelegenheit, bei der er ein Wort zu Gunsten des positiven Christenthums fallen lassen konnte. Jeder Gedanke aber, der ihn darin bestärkte, daß das Christenthum mehr sei als ein bloßes Complement der natürlichen Religion, die zum ewigen Heile des Menschen nicht ausreiche, war für ihn ein Labsal. – Graf Thun starb bald und G. zog mit der Wittwe und deren Kindern nach Wien. Hier aber war seines Bleibens nicht lange, denn die Kinder wurden theils der Artilleriekaserne, theils einer Erziehungsanstalt übergeben. Und nun entschloß er sich, da die Wissenschaft ihm mehr am Herzen lag als das Leben eines Justiziars, beim Fürsten Bretzenheim als Erzieher seiner zwei Prinzen einzutreten, um für die spätere Zukunft eine unabhängige Existenz sich zu erobern. In dieser seiner neuen und vielbeschäftigten Stellung wurde er mit Adam Müller’s Vorlesungen über die neue Staatskunst bekannt. Auch diese Schrift machte Epoche in seinem Leben. Hatten nämlich seine juristischen Studien ihn mit den großen Gesetzgebungen des Alterthums bekannt gemacht, während die canonische Gesetzgebung ihm Respect vor der Kirche einflößte, so führte Adam Müller, dem „Christus auch für das Wohl der Staaten gestorben war“, ihn in das organische Leben des Staates ein. Auch Müller’s Unterscheidung der Idee und des Begriffs, so ungenügend sie war, indem die Idee nur als der Begriff in Bewegung von ihm angesehen wurde, begleitete den G. durch sein ganzes Leben. Zur besseren Bestimmung der Idee gelangte er in der speculativen Theologie, deren Studium ihm durch den Streit Jakobi’s mit Schelling nahe gelegt wurde. Auch Franz Baader’s Bestrebungen, das positive Christenthum wieder zu Ehren zu bringen, fielen in diese Zeit. Diese und andere Studien schwellten die Segel seines Fahrzeugs; aber noch wußte er nicht, auf welches Ziel er hinsteuern und wie er das Steuerruder lenken solle. Da, im Frühling des J. 1811, bezog die fürstliche Familie den Marktflecken Brunn bei Wien, dessen Pfarrer Korn in jener gern gesehen wurde. Zu diesem schlichten und lernbegierigen Mann trat G. bald in [150] nähere Beziehung. Auf die Frage desselben, ob er auch die heilige Schrift gelesen habe, mußte er gestehen, daß er sie nur aus Citaten kenne, worauf jener meinte: „ich an Ihrer Stelle, der Sie schon so viel gelesen haben, würde mir von meinem Gewissen nicht den Vorwurf machen lassen wollen, das Buch der Bücher nicht gelesen zu haben. Zum Zwecke des leichteren Verständnisses will ich Ihnen „„das Reich Gottes““ von einem Schweizer Protestanten, der mir ein Kantianer zu sein scheint, geben“. Bei diesem commentirten Bibelstudium suchte G. vor Allem über die Nothwendigkeit einer übernatürlichen Offenbarung wegen der Unzulänglichkeit der natürlichen in’s Reine zu kommen, denn über diesen Punkt hatte auch Bolzano ihn nicht aufzuklären vermocht. Jetzt aber dämmerte ihm immer mehr die übernatürliche Offenbarung als die historische Offenbarung Jesu Christi als des Gottmenschen auf, der es vor Allem mit der Genugthuung für die Schuld der Sünde zu thun habe. Und die Einleitung zu dieser Genugthuung liege in der Verheißung eines Messias, während die Erfüllung in dem Gehorsam eines mit dem Logos geeinten neuen Adam sich vollziehe. Kurz, der Lichtgedanke fing an ihm aufzugehen, daß keine bloße Lehre die Welt erlöst habe. Ein zweites Lichtmoment war die Ahnung, daß im Heidenthum der sittliche Verfall des Menschengeschlechts sich auspräge, dessen Voraussetzung die Störung des ursprünglich normalen Verhältnisses zwischen den Factoren der Menschennatur sei, während die Reaction gegen diese Physiokratie (als Emancipation des Naturlebens im Menschen) sich im Judenthume als Theokratie geltend mache durch die Veranstaltungen Gottes, welche im Opferkulte, der Weissagung und dem Wunder hervortreten.

Während er aber noch immer nicht ins Klare kommen konnte über die Erreichbarkeit des Ideals des kategorischen Imperativs, fiel ihm ein Band des Wandsbecker Boten in die Hand, worin sich ein Aufsatz „Einfältiger Hausbericht über das Christenthum an seine Kinder“ befand. Da gingen ihm ein für allemal die Augen darüber auf, daß jenes Ideal nicht nur erreichbar, sondern schon erreicht sei von demjenigen, der uns beten gelehrt: „Dein Wille geschehe wie im Himmel so auch auf Erden“, und der uns das Gebot gegeben: „werdet vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist!“ Und nun folgte diesem Siege in seiner Gedankenwelt bald auch der Sieg in seinem ethisch-religiösen Leben. Es waren die Tage der großen welthistorischen Ereignisse, die sich in den Jahren 1812–15 vor seinen Augen abrollten, und in denen zahlreiche Schriften von dem Einen, was in dieser schweren Zeit Noth thue, handelten, von dem Glauben an die Hülfe von Oben. Da führte sein Freund Leopold Horny, ein junger Theolog und Belletrist, den er zu Wien kennen gelernt, ihn in den Kreis des Pater Hoffbauer ein, in Beziehung auf welchen Zacharias Werner, der zur Zeit des Congresses sich in Wien aufhielt, den Ausspruch gethan, er kenne nur drei große Männer, Napoleon, Goethe und Hoffbauer. Bei Letzterem legte G. seine erste Generalbeichte ab. Und von da an blieb Hoffbauer sein Rathgeber in allen Angelegenheiten seines inneren Lebens bis zum Tode desselben, der aber schon nach wenigen Jahren, zur Zeit, als G. zu Raab die Theologie absolvirte, erfolgte. Bei Hoffbauer wurde G. auch mit litterarischen Notabilitäten, mit Friedrich Schlegel, Zacharias Werner, Adam Müller bekannt. Mit Letzterem lenkte er das Gespräch am liebsten auf den Unterschied des Begriffs und der Idee; aber Adam Müller konnte nicht begreifen, warum G. ein so großes Gewicht auf die wesentliche Verschiedenheit beider lege. Und wenn dieser ihn darauf hinwies, daß eine solche Verschiedenheit statuirt werden müsse, falls aus den Postulaten der praktischen Vernunft reale Erkenntnisse werden sollten, rieth Adam Müller ihm, sich an Jakobi’s Theorie von der Unmittelbarkeit des Erkennens, anstatt an den bereits überwundenen Standpunkt der Kritik der praktischen Vernunft [151] zu halten. G. aber konnte die Hoffnung nicht aufgeben, vom Gewissen (von Kant’s kategorischem Imperativ) aus einen Weg zum Wissen zu entdecken, das einen Inhalt von ganz anderer Beschaffenheit besitzen müsse als das Erkenntnißurtheil, in welchem der formlose empirische Stoff (die Materie) unter bloße (reine) Formen gebracht werde, deren Ursprung dem erkennenden Subjecte so unbekannt ist, wie das sogenannte Material ohne Form. Nunmehr kam er auch in nähere Berührung mit der Jakobi’schen Philosophie, indem sein älterer Zögling die Universitätsstudien zu Wien begann. Denn hier waren sowol der Professor der Philosophie als der der Religionswissenschaft Anhänger Jakobi’s; und doch bekämpften Beide einander, so daß das ganze Auditorium in zwei feindliche Heerlager getheilt war. Aber Keiner von Beiden kam über den Semipantheismus hinaus, der das Absolute zugleich in der Form der Unendlichkeit und der Endlichkeit auffaßte. Nunmehr machte sich G., dem neben Kant’s kategorischem Imperativ Augustin’s Ausspruch, daß Göttliches nicht von Gott abfallen könne, den Weg beleuchtete, auf Hoffbauer’s Rath über das Studium der gesammten Theologie her. Am eifrigsten betrieb er die Dogmengeschichte, weil diese vorzüglich ihn in Verbindung erhielt mit der antiken Philosophie, und dadurch mittelbar auch mit der christlichen Speculation vor und nach der Reformation. Inzwischen hatte Prinz Bretzenheim seinen philosophischen Cursus in Wien beendigt und zog, als künftiger Gutsbesitzer in Ungarn, nach Raab, um dort die juridischen Studien zu machen. G., der ihn begleitete, setzte daselbst seine theologischen Studien fort, bestand die theologischen Prüfungen und empfing im J. 1820 die Priesterweihe. So war aus dem Juristen ein Priester geworden zur großen Freude seiner betagten Eltern, die ihn im Herbste desselben Jahres sowol auf der Kanzel als am Altare erblickten.

Aber was nun? fragte ihn Korn, als er denselben in Brunn besuchte. Unter der Protection des Leibarztes des Kaisers Franz, des Barons Stifft, hatten sich die Redemptoristen in Wien niedergelassen, und mehrere von Günther’s Freunden aus den Tagen Hoffbauer’s waren schon in das Noviziat derselben eingetreten; so der Dr. med. und Director der Veterinärschule Joh. Emanuel Veith, der Supplent in der Physik Madlener, der Jurist Springer, der Dichter Passy. Aber auch den Jesuiten war bald darauf durch ein Handbillet des Kaisers gestattet worden, eines der leer stehenden Klöster Wiens sich auszuwählen. Und nun wurde G. von seinen Freunden bestürmt, ob er der Partei der Redemptoristen oder der Jesuiten sich anschließen wolle. G. gab den Jesuiten den Vorzug, weil er glaubte, bei ihnen die reichen Erfahrungen, die er bisher im Erziehungsgeschäfte gemacht, am besten verwerthen zu können. Und als den Jesuiten befohlen wurde Wien wieder zu verlassen, entschloß sich G. sogar, mit drei Freunden, Horny, Rinn und Baron Stöger, denselben am 8. Nov. 1822 nach Starawicz in der Diöcese Przemisl in Galizien zu folgen. Was ihm aber hier bald sehr mißfiel, war 1) die Zumuthung, daß er die Ansicht zu der seinigen zu machen habe, die Societas Jesu sei die Kirche in der Kirche, wogegen er bemerkte: „Glauben Sie diejenigen bekehren zu können, welche die römisch-katholische Kirche als den Staat im Staate verdächtigen, wenn Sie Ihre Gesellschaft als die Kirche in der Kirche anpreisen?“ 2) Die opera humilitatis, denen sich die Novizen wöchentlich einmal unterziehen mußten, z. B. unter den Tafeln, an denen sie speisten, hindurch kriechen und Jedem die schmutzigen Schuhe küssen. 3) Der unbedingte Gehorsam. So wurde ihm befohlen, in das zu Lemberg zu errichtende Convict als Professor der Pastoral einzutreten. Auf seine Vorstellung, daß er ja nie in der Seelsorge gestanden, erhielt er die Antwort: er solle sich mehr mit dem unbedingten als dem philosophischen Gehorsam zu schaffen machen. 4) Der Semipantheismus, den er in den Schriften der Jesuiten fand, indem ihre Lehre von der Anima als [152] forma corporis die Leugnung der Creatürlichkeit des Geistes zur unvermeidlichen Folge habe. Auch manches Andere noch stieß ihn vor den Kopf, z. B. daß man im Orden die damals viel besprochenen magnetischen Erscheinungen für Teufelsspuk erklärte. Dennoch konnte er sich nicht entschließen den Orden zu verlassen. Allein gegen das Ende des zweiten Jahres seines Noviziats wurde ihm vom Arzte eine Badereise anbefohlen, um von einem unerträglichen Ohrensausen, dessen Ursache jener in einem Leberleiden erblickte, geheilt zu werden. So kam er am 29. Juni 1824 nach Wien zurück und fand im nahen Mödling Heilung seines Leidens. Und da inzwischen seine Eltern gestorben waren, schrieb er an seinen Provinzial P. Landes, daß er zu ihm ins Kloster zurückkehren wolle. Aber dieser antwortete ihm: „So lange die Sachen bei uns so stehen, wie sie stehen, passen Sie nicht für uns, und wir nicht für Sie“. Aus Rom aber, wohin Landes bald darauf für die deutschen Angelegenheiten berufen wurde, schrieb derselbe ihm: er solle sich in seinem Glauben immer an den infallibeln Papst halten. Sollte das (meinte G.) ein Correctiv sein für die Ansicht, daß der Jesuitenorden die Kirche in der Kirche sei? Nun starb auch Pfarrer Korn zu Brunn; und so stand denn G. losgelöst von Allem, was ihm im Leben lieb und theuer gewesen, aber auch um so selbständiger in der Einrichtung seiner nunmehrigen Beschäftigung. Vertragsmäßig konnte er im Hause des Fürsten Bretzenheim, von dem er auch eine Pension bezog, Unterkommen finden, aber er zog die Stille des Pfarrhofs dem Salonleben vor. Er nahm Wohnung bei seinem Freunde Horny, der schon vor ihm die Jesuiten verlassen hatte, und jetzt Hülfsgeistlicher an der Pfarrkirche am Hof in Wien war, und half in der Seelsorge aus. Zugleich übernahm er den philosophischen Unterricht des Prinzen Friedrich Schwarzenberg (des späteren Cardinals), dessen Erzieher Günther’s Freund, der Württemberger Greif, war, und später auch den der zwei älteren Prinzessinnen Schwarzenberg. Seine Arbeiten (Recensionen und Abhandlungen) in den Wiener Jahrbüchern der Litteratur, an denen er sich schon vor seinem Eintritte in die Theologie, seit 1818, betheiligt hatte, und in denen sich schon die ganze Originalität und Richtung seiner Philosophie ausspricht, veranlaßte den Polizeiminister Sedlnitzki, ihn zum Censor der philosophischen und juristischen Bücher zu ernennen, welches Amt er bis zum J. 1848 begleitete.

Klar stand ihm jetzt als sein Beruf vor Augen, der christlichen Menschheit zu einer besseren Philosophie zu verhelfen, als sie bisher besaß. In der Ausführung dieses Plans ging ihm zur Hand Joh. Heinr. Pabst, Doctor der Medicin, der spätere Verfasser der Schriften „Der Mensch und seine Geschichte“, 1830, „Adam und Christus oder über die Ehe“, 1831, „Gibt es eine Philosophie des positiven Christenthums“, 1832, „Ein Wort über die Ekstase“, 1834. Pabst, damals noch ein Anhänger der Schelling’schen Identitätslehre und Verehrer des Cartesius, besaß bedeutende naturwissenschaftliche Kenntnisse, die dem G. bei seinem Vorhaben eben so sehr zu Statten kamen, wie jenem des Letzteren speculatives und biblisch-theologisches Wissen. Ihre Studien und Untersuchungen führten Beide zu der Ueberzeugung: daß der Schlüssel zum wissenschaftlichen Verständniß des positiven Christenthums nicht in der antiken griechischen Begriffsspeculation zu finden, und daß die Benützung derselben ein Fehlgriff der Väter im Oriente und (unter dem Haupteinflusse des Aristoteles) der Scholastiker im Occidente sei, weshalb bis auf unsere Tage das Heidenthum seine Herrschaft in der Wissenschaft nicht verloren habe. Ein negatives Verdienst der Reformation aber um die Wissenschaft bestehe darin, daß, unbeirrt von jedem Einflusse der kirchlichen Auctorität, alle Consequenzen aus den Principien der antiken Philosophie zu Tage gefördert worden seien. Und nunmehr reifte in ihm allmählich der Entschluß, eine „Vorschule zur speculativen Theologie des positiven Christenthums“ [153] zu schreiben, um, was ihn aus der Nacht des Zweifels in die Tageshelle des Glaubens geführt, auch Anderen zu bieten. Und er wählte dazu die Briefform, weil er in ihr Vieles, was ihm nicht blos im Kopfe lag, sondern was auch den Pulsschlag seines Herzens beschleunigte, am besten an den Mann bringen zu können glaubte. Zugleich wollte er dem Pfarrer Korn für die treue Liebe, die derselbe ihm erwiesen, ein Denkmal setzen. So entstand der Briefwechsel zwischen Onkel Peregrin (Korn) und dessen Neffen Thomas Wendeling. Im J. 1828 erschien der erste, 1829 der zweite Band der Vorschule bei Wallishauser in Wien *).

Rasch folgten „Peregrin’s Gastmahl“, 1830, „Süd- und Nordlichter am Horizonte speculativer Theologie“, 1832, „Janusköpfe für Philosophie und Theologie“ (gemeinschaftlich mit Pabst), 1833, „Der letzte Symboliker“, 1834, „Thomas a Scrupulis“, 1835, „Die Juste-Milieus in der deutschen Philosophie“, 1838, „Eurystheus und Herakles“, 1843, die zweite bedeutend vermehrte Auflage der „Vorschule“, 1846 und 1848, und (in Verbindung mit Veith u. A.) die fünf Jahrgänge der „Lydia“, 1849–54. Eine letzte (1857 gedruckte) Schrift „Lentigo’s und Peregrin’s Briefwechsel“ ist nicht in den Buchhandel gekommen, sondern nur einigen Freunden mitgetheilt worden. Außerdem erschienen von G. in verschiedenen Zeitschriften Abhandlungen und Recensionen.

Seit dem Erscheinen der Vorschule wurde sein Name in immer weiteren Kreisen bekannt, und immer mehr wuchsen sein Ansehen und sein Einfluß. Görres spricht sich in einem Briefe an ihn vom 20. April 1828, worin er zugleich bemerkt, daß er schon seit zehn Jahren seine Aufsätze mit wachsendem Interesse gelesen habe, sehr anerkennend über die Vorschule aus, die „einem großen Bedürfnisse der Zeit entgegenkomme“; prophezeit ihm aber auch schon am 4. Juli 1830: „Das Anfeinden wird nicht ausbleiben … Unter der Jugend des katholischen Deutschlands aber wird Ihr Bemühen allmählich durchschlagen. Was diesen Durchbruch einigermaßen erschwert, ist Ihre Mittheilungsweise; die Sprossen in Ihrer Gedankenleiter stehen für noch nicht ganz ausgewachsene Beine zu weit auseinander, auch fehlt bisweilen eine in der Mitte, wo die Uebergänge liegen; da werden die Leser dann irre und wissen nicht, ob sie weiter hinauf oder wieder hinunter sollen. Da hat Ihnen Pabst einen rechten Liebesdienst gethan durch die geistreiche Paraphrase, in der er Ihren Ideengang ergänzt. Nun werden Manche schon eher den Eingang finden …“ Veith, sein ehemaliger Commilitone an der philosophischen Facultät zu Prag 1804–6, mit dem G. die alte Verbindung wieder anknüpfte, als derselbe aus der Congregation der Redemptoristen wieder austrat, empfiehlt ihn dem Staats- und Geheim-Rathe Freiherrn v. Stifft zu einer Professur der Philosophie an der Wiener Universität. Am 23. Mai 1831 und wieder am 31. December fordert Görres ihn auf, er möge sich zur Uebernahme der erledigten Professur der theologischen Moral in München bereit erklären, daneben könne er lesen, was er wolle. Auch Bischof Sailer schrieb im Auftrage des Königs am 28. December 1831 und am 16. Januar und wieder am 28. Januar 1832 deshalb an ihn. Umsonst. Zu derselben Zeit, am 29. November 1831, bietet ihm Schmedding in Berlin, im Einverständnisse mit Minister Altenstein und unter Zustimmung des Kölner Erzbischofs Spiegel, die durch den Tod des Hermes erledigte Professur der Dogmatik in Bonn an; wenn er aber die Oder dem Rheine vorziehe, so könne er auch eine mit einer Dompräbende verbundene Professur zu Breslau erhalten. – [154] Ein Hauptmotiv, warum G. sich nicht entschließen konnte, die genannten sowie später an ihn ergehende Berufungen anzunehmen, war die Besorgniß, durch den Vortrag seiner speculativen Theologie vom Katheder herab in Collision mit seinen Specialcollegen und insbesondere mit der Hierarchie zu kommen und dadurch die Zukunft seiner Philosophie zu gefährden. Andererseits vermochte er die Hoffnung nicht aufzugeben, eine Professur in Wien zu erhalten, wozu auch die Staatsregierung wiederholte Anläufe machte, die aber durch seine Gegner immer von Neuem vereitelt wurden. Inzwischen gewann er auch ohne Katheder eine von Jahr zu Jahr wachsende Schaar von Schülern; so in Oesterreich Hock, Croy, Ehrlich, Zukrigl, Löwe, Karl Werner, Trebisch, Georg Schmidt, Hörfarter, Pogazhar, Auer, Bruno Schön, W. Gärtner u. A.; in Deutschland Schlüter, Merten, Knoodt, Aloys und Joh. Mayer, Spörlein, Baltzer, Abt Gangauf, Elvenich. Wortführer in der Wissenschaft und in der Kirche näherten sich ihm freundschaftlichst; außer den schon genannten (Görres und Sailer) Döllinger, Möhler, Staudenmaier, v. Lasaulx, Droste-Hülshoff, die Kirchenfürsten Diepenbrock und Arnoldi, Geh. Rath Brüggemann; auch Harleß, Erdmann, Tholuck, Hinrichs und viele Andere. Treue und stets hülfsbereite Liebe bewährte ihm Cardinal Fürst Schwarzenberg. Die theologische Facultät zu München schickte ihm 1833 das Doctordiplom; die dortige Akademie der Wissenschaften ernannte ihn 1852 „in Anbetracht seiner großen Verdienste um die speculative Philosophie“ zu ihrem auswärtigen Mitgliede für die philosophisch-philologische Klasse. Allein schon hatten auch die Anfeindungen begonnen, so katholischerseits von Singer, Hast, Volkmuth, Dieringer, Clemens (ein Schüler der Jesuiten, der sich 1843 als Privatdocent in Bonn habilitirt hatte), Oischinger, Mattes, Michelis, protestantischerseits von Drobisch und Baur. Ja, die Wiener Redemptoristen bemühten sich schon in den vierziger Jahren, Günther’s Schriften auf den römischen Index zu bringen. Und immer ungünstiger für die Freiheit der philosophischen Forschung wurden die Zustände innerhalb der katholischen Kirche, immer bedrohlicher zog sich das jesuitisch-römische Gewölk zusammen. 1845 schon sieht sich G. zu der Aeußerung veranlaßt: „Wehe, wenn die Hierarchen der Wissenschaft noch ganz den Maulkorb anlegen! Nie und nimmer werde ich einstimmen in den Toast, den man der Irrationalität vielleicht nur zu bald auszubringen gesonnen ist.“ Inzwischen bestiegen einzelne Schüler Günther’s den Katheder. So wurde Merten 1843 Professor der Philosophie am Priesterseminar zu Trier, Knoodt 1845 Professor der Philosophie an der Universität Bonn, Zukrigl 1847 supplirender Religionsprofessor in Wien und 1848 Professor der Apologetik und Philosophie an der theologischen Facultät zu Tübingen, nachdem G. und Knoodt den Ruf dahin abgelehnt hatten. Mayer und Spörlein docirten in Bamberg, Abt Gangauf in Augsburg, Löwe als Professor der Philosophie zuerst in Salzburg, dann in Prag, Ehrlich in Krems, dann in Gratz und zuletzt als Professor der Fundamentaltheologie in Prag; Elvenich und Baltzer und Reinkens wirkten an der Universität zu Breslau. In dem Maße aber, als die Günther’sche Speculation eine immer weiter um sich greifende mächtige Schule zu werden begann, mehrten sich die heimlichen und öffentlichen Angriffe; insbesondere konnten die Jesuiten nicht dulden, daß ihr wissenschaftliches Monopol in der römischen Kirche ernstlich gefährdet werde.

Da kam das Jahr 1848, eingeläutet durch die Reformen Pius’ IX. Nun schrieb mir G.: „Jetzt kann doch Niemand mehr der katholischen Kirche nachsagen, daß sie eine abgesagte Feindin alles Fortschritts sei“; und nun hoffte er auch auf „Befreiung der Wissenschaft von den hierarchischen Sclavenketten“. Allein in demselben Jahre erhielt Erzbischof Geißel die Weisung aus Rom, die Philosophie zu überwachen. Ferner wurde wie in Mainz so auch in Wien ein Katholikenverein [155] (in Wien unter dem Namen „Severins-Verein“) gegründet. Und wie dort schlossen sich hier auch solche katholische Gelehrte an, denen es um ein reges und freies wissenschaftliches Leben zu thun war; aber bald zogen sie sich, Einer nach dem Anderen, bitter enttäuscht, von den Katholikenversammlungen zurück. So hatte auch Veith die Redaction des „Aufwärts“, des Organs des Severinsvereins, woran selbst G. sich anfangs durch mehrere Aufsätze betheiligte, übernommen, dann aber von einem Unternehmen, das unter den veränderten Verhältnissen den gehofften Erfolg nicht hatte, sich zurückgezogen. G. aber urtheilte über die Katholikenversammlungen: „die Früchte derselben sind grasgrün und eben darum von der Art, lange Zähne demjenigen zu machen, der sie in den Mund nimmt.“ Persönlich hatte für ihn das Jahr 1848 die Folge, daß er seine Stelle als k. k. Censor verlor, weshalb er jetzt Unterstützungen seiner Freunde, insbesondere des Cardinals Schwarzenberg, annehmen mußte. Die Aussicht aber auf eine Professur in Wien, die sich ihm (und auch dem Canonicus Veith) eröffnete, scheiterte daran, daß er das Resultat des Ausgangs vom Ich für das Dogma ausgebeutet hatte. Deshalb hielt man, in Geltendmachung des alten credo ut intelligam, seine Anstellung für eine chose dangereuse. Ebenso hintertrieb Fürstbischof Milde in Wien, der den Fürstbischof Diepenbrock mit seinem Anhange „Wühler und kirchliche Demokraten“ nannte, die Berufung Ehrlich’s nach Wien und verlegte die theologische Facultät ins erzbischöfliche Seminar, damit sie fern von dem Umgange mit den anderen Facultäten nicht aus der Art der Alten schlage. „Wenn aber (schreibt G.) die theologischen Facultäten bischöfliche Hausanstalten werden, dann lebe wohl theologische Wissenschaft“. Dagegen schickte die Prager Universität ihm das philosophische und theologische Doctordiplom.

In Folge der mit dem J. 1849 beginnenden kirchlichen und politischen Reaction wurde die Hetze gegen G. und seine Schüler immer stärker. „Der Absolutismus (schreibt mir Croy aus Wien) schleicht sich hüben und drüben ein und mit ihm die alten unheilvollen Zustände“, und: „Nicht Wenige gründen ihre Hoffnung auf die Machtentwicklung der freier gewordenen Kirche, und glauben auf dem Gefühlswege und durch Missionen aufhelfen zu können.“ Um dieselbe Zeit bemerkt Erzbischof Geissel in einem Briefe an mich: „Unsere h. Kirche ist die Trägerin der Grundsätze der Philosophie.“ So wurde denn Günther’s Stimme des Rufenden in der Wüste den kirchlichen Machthabern unerträglich. Um dieselbe verstummen zu machen, veranlaßten sie einen combinirten Angriff gegen ihn von Wien und Gratz aus. Den einen wagte Schwetz, Prof. der Dogmatik in Wien, den andern Ildephons Sorg, ein Benedictiner. Doch bald wurden beide durch Croy, Ehrlich und Zukrigl mundtodt gemacht, während Dr. Trebisch den G. gegen Lieber vertheidigte, aber in seiner Schrift einen so großartigen geschichtlichen Anlauf nahm, daß die Polemik in den Hintergrund trat. Aber der redemptoristische Zelotismus wurde unter dem Clerus immer mehr angefacht. „Es ist unglaublich (schreibt G. an Veith), welcher Haß gegen alle Wissenschaft von Zeit zu Zeit zum Ausbruche kommt.“ Und mir schreibt er: „Welche Zornesschalen wird die Vorsehung noch über die Kirchenfürsten ausschütten müssen, um sie zur Besinnung zu bringen? Das ist es, was meinen Geist am meisten drückt. Alles andere Ungemach, das mich seit der Märzrevolution am meisten heimgesucht, hat ein Blick auf die wunderbaren Wege, welche Gott seit meiner frühesten Jugend mich geführt, mir tragen helfen. Renovabitur iuventus tua! Und fürwahr, ich bin gesünder als je, vielleicht gerade deshalb, weil ich nicht einmal ein halbes Seidel Wein für den Tag mir spenden kann. Und was über Alles geht, habe ich die Feder in der Hand oder ein Buch, so kann ich darüber die ganze Welt vergessen, mit Ausnahme der Kirche, dieser Säule und Grundfeste der Wahrheit.“ Im J. 1852 verbreitete [156] sich das Gerücht, daß der Indicirungsproceß gegen G. in Rom anhängig gemacht sei. Veranlassung hierzu gab die Abschiedsaudienz des Bischofs Arnoldi beim Papste, in welcher dieser jenem erklärte, daß die Schriften seines Professors Merten würden verdammt werden. Und aus den weiteren Aeußerungen des Papstes schloß Arnoldi, daß auch die Indicirung der Günther’schen Schriften bevorstehe. Und da die schlimmen Gerüchte sich mehrten, auch in öffentlichen Blättern, so wendeten sich die Cardinäle Schwarzenberg und Diepenbrock in einem ausführlichen Promemoria zu Gunsten Günther’s direct an den h. Stuhl. Von dieser Eingabe durfte man hoffen, daß dadurch wenigstens für die Dauer des Pontificats Pius IX. ein Damm aufgerichtet sei, gegen welchen die im Hinterhalte aufgepflanzten Geschosse der Gegner nicht aufkommen könnten. Auch antwortete ihnen der h. Vater: Alles, was in dieser Angelegenheit etwa geschehe (ea omnia, quae ad hanc rem pertinere poterunt), solle ihnen mitgetheilt werden. Auch wurde wiederholt aus Rom nach Wien berichtet: „eine Verdammung sei nicht mehr zu befürchten, seitdem Schwarzenberg und Diepenbrock für G. eingetreten seien“, zugleich aber auch, „daß die Anklagen vom Rhein her mit dem Urtheile der beiden Cardinäle über Günther’s Philosophie nicht übereinstimmten.“ Und in der That verdoppelten jetzt Günther’s Gegner ihre Anstrengungen. Insbesondere war es Dr. Clemens in Bonn, der sich von den Jesuiten vorschieben ließ. Am Aschermittwoch 1853 erschien seine Schrift „Die speculative Theologie A. Günther’s und die katholische Kirchenlehre“. Und bald darauf brachte die „Deutsche Volkshalle“ die Nachricht, Günther’s Schriften seien auf den Index gesetzt. Da schrieb mir G.: „Ist denn meine Philosophie deshalb so gefährlich, weil sie zwar für die Thatsachen des Christenthums, nicht aber für alle Deutungen desselben, insbesondere die scholastisch-mittelalterlichen einsteht?“ Der Papst aber erklärte auf eine Anfrage: die Indexgeschichte sei eine arge Täuschung, der Güntherianismus sei ja etwas ganz Anderes (prorsus alia res) als der Hermesianismus. Und die Deutsche Volkshalle mußte schon am 30. April ihre Hiobspost widerrufen; und G. schreibt mir: „Haben etwa die Jesuiten aus der Schule geredet, weil der Papst unterschreiben müsse, was die Indexcongregation beschließt?“ Doch immer wieder und immer stärker tauchen die Gerüchte auf, die Indicirung stehe nächstens bevor. Ja, obwol P. Stöger aus Rom dem G. das Wort des Papstes überbringt: „es ist nichts zu fürchten, ich weiß schon (nihil est, quod timeatis, ego iam scio)“, erscheint die Gefahr doch so groß, daß innerhalb der Günther’schen Schule der Vorschlag auftaucht, eine Adresse an den deutschen Episcopat zu richten. G. aber will nichts davon wissen, weil er eben so wenig von dem Episcopate als von der römischen Curie und den Jesuiten etwas hofft. „Die Bischöfe (schreibt er mir) sehen ihre Mitra an, wie die Küchengärtner den irdenen Topf auf den Spargelpflanzen; diese gedeihen nur unter jenem Präservativ, so auch die Gedanken der Mitraträger. Diese Herren vermögen nicht einzusehen, daß das Christenthum aufgehört hat eine Gedankenmacht zu sein; sonst würden sie nicht Hegelthum in meiner Creationstheorie wittern, unter welcher nota ignominiae sie doch nichts Anderes verstehen als den dialektischen Prozeß, wodurch dieselbe den dreieinigen Gott und die eindreiige Welt darstellt. Der Unglaube aber muß überhand nehmen, wenn er keine Gedankenmacht mehr zu fürchten hat … Die römische Curie will nur St. Petrum mit seinen Schlüsseln, nicht St. Paulum mit dem Schwerte des Worts, das durchdringt bis zu Scheidung der Seele vom Geiste. Und doch war es Paulus, der uns zuruft: semper gaudete, sine intermissione orate! … Wie sieht es überhaupt mit der römischen Auctorität aus, die von jeher mit dem Absolutismus gemeinschaftliche Sache gemacht hat? … Was habe ich endlich von den Jesuiten zu erwarten, seitdem mein Gönner und Beschützer [157] P. Landes, der Assistent des Generals für die deutsche Zunge, gestorben ist? Sie streben ja nichts Geringeres an als eine völlige Restauration des Mittelalters, wie in der kirchlichen Musik und der Baukunst so in der Wissenschaft. Es soll wieder angeknüpft werden an das 14. Jahrhundert, und die vier letzten sollen als Ausgeburten der Lüge ausgestrichen werden. Und ich sitze mitten unter denen, die alle Hände voll tragen theils zum Bauen theils zum Steinigen … Wer ausschließlich für den Thomismus einsteht, kann es nicht für den durchgeführten Cartesius. Was habe ich daher von den Jesuiten zu erwarten, aus deren Gesellschaft ich ausgetreten bin?“ Seine einzige Hoffnung setzt G. noch auf die Person des Papstes Pius. Der Abt von St. Paul, Pappalettere, hatte ihm nämlich am 15. April geschrieben, daß Pius ihm mit väterlicher Liebe zugethan sei und den lebhaften Wunsch hege, ihn persönlich kennen zu lernen; er möge daher nach Rom kommen, aber schon jetzt an den h. Vater schreiben, was nicht wenig zum Siege über seine Gegner beitragen werde. Und als Pappalettere wiederholt und immer dringender dieselbe Bitte an G. stellte, schrieb dieser sowohl an den Abt als den h. Vater. Aber auch Schwarzenberg nahm aus einem rühmlichen päpstlichen Anerkennungsschreiben seiner Vorarbeiten zur Reform der Klöster in Oesterreich Veranlassung, die Sache der Günther’schen Speculation dem h. Vater noch einmal warm ans Herz zu legen. Am 23. Juli antwortete ihm der Secretär der Indexcongregation, der Dominicaner Modena, daß am 26. April Einer, der Günther’s Sache zu vertreten habe, den Consultoren zugesellt worden sei, daß aber auch G. selber oder Einer seiner Schüler nach Rom kommen könne, um gehört zu werden; und er fügte hinzu, daß der h. Vater sich über Günther’s Brief sehr gefreut habe. Sofort wurde G. von seinen Gönnern und Freunden bestürmt, nach Rom zu reisen. Und als er das ablehnte, weil er „durch seine einfältige Persönlichkeit die Sache der Wissenschaft nicht gefährden wolle“, forderte Schwarzenberg die beiden Professoren, Domcapitular Baltzer und Abt Gangauf, dazu auf. Beide kamen am 10. November in Rom an, traten in die Commission ein, und noch zwei Andere, der Irländer P. Smith und der Servitengeneral Patscheiter, wurden ihnen zugesellt. Am 21. November schrieb mir Baltzer: der Präsident der Indexcongregation, Cardinal Andrea und auch der h. Vater seien günstig für G. gestimmt, die Jesuiten aber sähen es als eine Ehrensache an, daß die Günther’sche Philosophie verurtheilt werde, ja sie lediglich seien unsere Gegner, und viele in Rom würden sich freuen, wenn sie das Spiel verlören. Später schrieben Baltzer und Gangauf nur sehr magere und nichtssagende Briefe, weil sie eidlich gebunden seien. Im Mai 1854 erklärte der Wiener Nuntius Viale Prela dem Grafen Taaffe [WS 1]: davon, daß Günther’s Schriften je auf den Index kämen, könne keine Rede mehr sein, ja die darüber eingeleitete Untersuchung würde wohl schon abgeschlossen sein, besorgte man nicht, daß seine Schule sofort ein Triumphgeschrei erheben würde, wodurch seine Gegner, darunter namhafte öffentliche Lehrer, zu sehr blamirt würden. Aber zur selben Zeit schrieb mein Schüler, Dr. Nickes (der in den Orden der Benedictiner eingetreten war) aus Rom an G.: Pappalettere fürchte, unsere Sache dürfte Rom „nicht ganz mit heiler Haut passiren“, wahrscheinlich würden „gewisse, bestimmt formulirte Sätze verworfen werden“, worauf G. ihm antwortete: „Wenn mein Bart Haare lassen soll in Rom, so müssen meinen Gegnern beide Ohren abgeschnitten werden.“ Auch gelang es letzteren, den Papst um- und gegen G. zu stimmen; und Abt Gangauf wurde zu Ostern bei seiner Abschiedsaudienz ungnädig von ihm entlassen. Nun verlangte Baltzer von mir, daß ich nach Rom komme, um einige Hauptanklagepunkte zu bearbeiten. Ende August kam ich in Rom an und wurde am folgenden Tage als Mitglied der Commission vereidet. Ende November waren wir mit unserer schriftlichen Vertheidigung fertig, gaben dieselbe an die Indexcongregation [158] ab, und wurden vom h. Vater, der uns sogar seinen apostolischen Segen für G. mitgab, huldvoll entlassen. Mit den besten Hoffnungen kehrten wir unmittelbar vor der Proclamation des Dogmas von der immaculata conceptio nach Deutschland zurück. Hatten ja auch die Kirchenfürsten Schwarzenberg, Förster von Breslau, Tarnotzi von Salzburg und Arnoldi von Trier ein neues Promemoria zu Gunsten der Günther’schen Speculation an Pius IX. geschickt. Und jetzt, wo es schien, daß G. siegreich aus dem Kampfe hervorgehen werde, wurde die Nachricht verbreitet, die Jesuiten seien nicht mehr seine Feinde. G. aber sagte: „credat Judaeus!“ Erzbischof Rauscher aber arbeitete wie früher so auch bei seinem längeren Aufenthalte in Rom 1854 und 55 dem Cardinal Schwarzenberg entgegen. Er äußerte gegen Flir, Director der Anima: „Das Günther’sche System bedürfe zu seiner Unschädlichmachung eines starken Aderlasses“, und später sogar: „diese bis ins Innerste vergiftete Doctrin müsse zertreten werden“; wozu G. meinte: „jener Aderlaß würde nur durch meine Enthauptung zu Stande kommen, denn ich müßte es dahin bringen, dem menschlichen Geiste, wie Rauscher es in seiner zu Rom gehaltenen Dreikönigspredigt gethan, alle Gewißheit abzusprechen, die ihm nur zu Theil werde, wenn er glaube, welcher Glaube nur Sache des freien Willens sei.“ Dennoch sprach Schwarzenberg nach seiner Rückkehr aus Rom im Frühjahr 1855 die besten Hoffnungen in Beziehung auf den Ausgang der schwebenden Untersuchungen aus; auch werde er über den Gang derselben in Kenntniß erhalten werden. Allein was die Jesuiten thaten, erfuhr er nicht. So schickten dieselben, als Baltzer’s, Gangauf’s und meine Ausarbeitungen gedruckt waren, ein Exemplar an Geissel, damit derselbe eine Widerlegung unserer Rechtfertigung Günther’s besorge. So wurde der der Güntherschen Speculation nicht abgeneigte Jesuit Passaglia aus der Indexcongregation entfernt und Perrone an seine Stelle hineingebracht. Im December 1855 schrieb mir Baltzer aus Rom, wohin er auf den Rath seiner Aerzte gereist war, daß Rauscher wegen seiner Verdienste um das Concordat mit Oesterreich nächstens den Cardinalshut erhalten würde; und daß Modena ihn ersucht habe zu veranlassen, daß die günstig gesinnten deutschen Bischöfe ihr Urtheil über die Günther’sche Schule an ihn oder an Andrea einschicken möchten. Es sei das von Wichtigkeit, denn auch bei Rosmini’s Prozeß habe der Umstand den günstigen Ausgang herbeigeführt, daß viele Bischöfe sich zu seinen Gunsten verwendet hätten. Ueber die Schüler Günther’s aber seien fast nur ungünstige Berichte von Seite des deutschen Episcopats eingelaufen. Dies hatte zur Folge, daß Arnoldi 1856 in einem längeren Schreiben an Modena Beschaffenheit und Bedeutung der Günther’schen Speculation darlegte, und daß Schwarzenberg eine eingehende Schilderung der wissenschaftlichen Zustände in Deutschland und des hohen Werthes der Philosophie Günther’s nach Rom schickte. G. aber schreibt: „Wenn die Indexcongregation in der dualistischen Angelegenheit die Stimmen zählt, anstatt sie zu wägen, so wird sie sich durch die vier Bischöfe, welche günstiger darüber urtheilen als der neue Cardinal Reisach und seine Gesinnungsgenossen von der Verurtheilung nicht abhalten lassen.“ Gerade von Reisach, dem eifrigen Freunde und Förderer der Jesuiten, welcher Cardinal und Vertreter der deutschen Interessen in Rom geworden, mußte G. das Schlimmste befürchten. Er gibt jetzt alle Hoffnung auf: „man will ja in Rom des Thomas wissenschaftliche Auctorität nicht aufgeben“. Auch Pappalettere spricht die Furcht aus, daß Günther’s Schriften an der Indicirung nicht vorbeikommen würden. Und doch schien die Angelegenheit, wie weitere Briefe aus Rom meldeten, wieder eine günstige Wendung zu nehmen, namentlich durch Schwarzenberg’s Eingabe, wodurch Reisach sich veranlaßt sah, nach Wien zu schreiben, man möge Gegenvorstellungen nach Rom befördern, um der Günther’schen Philosophie „den Garaus zu machen“. Inzwischen waren Günther’s intime Freunde, Dr. Glücker [159] am 26. November, Croy, der ihm eine Jahresrente von 500 Gulden vermachte, am 19. December 1855 gestorben, weshalb er sich von Wien fort nach dem Rheine sehnte.

Am 23. Januar 1857 erhielt G. durch Vermittelung Rauscher’s ein vom 13. Januar datirtes Schreiben des Präsidenten der Indexcongregation, Cardinals Andrea, worin er aufgefordert wurde, vor der Publication der geschehenen Indicirung seiner Schriften sich dem Urtheilsspruche zu unterwerfen. Er that’s, aber so, daß er wegen der in seinem Unterwerfungsschreiben gemachten Unterscheidung zwischen einer „Unterwerfung des Willens und der Einsicht“ befürchtete, „ein Noli me tangere sich in Rom zuzuziehen.“ Jedoch Pius IX. „freute sich höchlich“ über dieses Schreiben, welches dem Schreiber selber das Herz gebrochen hat. Wohl tröstete letzterer sich mit dem Gedanken: „die Indexcongregation sammt dem Papste ist nicht die Kirche“; fügt aber seufzend hinzu: „der Priester, welcher philosophirt, bleibt ein geschlagener Mann, so lang er unter der Hierarchie steht … In Rom wird der Glaube der Politik zum Opfer gebracht.“ Und dann sucht er sich wieder aufzurichten mit den Worten des Herrn: „Selig sind die Trauernden, denn sie werden getröstet werden; selig sind, die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen, denn ihrer ist das Himmelreich!“

Aber durch die Indicirung der Schriften Günther’s ohne Formulirung bestimmter Sätze konnte seine Philosophie nicht mundtodt gemacht werden. Darum ruhten die Bemühungen der Gegner nicht, mit einem härtern Schlage den alten Meister und seine Schüler zu treffen. Dieser Schlag erfolgte durch das aus Bologna den 15. Juni 1857 datirte und am 1. September veröffentlichte päpstliche Schreiben an Cardinal Geissel, worin behauptet wird, daß die Günther’sche Speculation nicht frei sei von Rationalismus, weil sie die Philosophie nicht als Magd der Theologie anerkenne: und insbesondere wurden darin Günther’s Lehren von der Trinität, der Persönlichkeit des Menschen und Christi, so wie von der Creation beanstandet. Es waren aber die Cardinäle Rauscher und Viale Prela, welche, unterstützt durch ein Schreiben Geissel’s, den Papst, als er auf einer Rundreise durch den Kirchenstaat nach Bologna kam, zu diesem Breve bestimmten. Zwar wurde uns sofort aus Rom geschrieben, „dieses extra muros Romae und ohne Wissen und gegen den Willen der Indexcongregation erlassene Breve sei nur ein Privatschreiben, durch das nichts entschieden sei, so daß alle bezeichneten Punkte vor wie nach für die Wissenschaft offen blieben“; zugleich aber wurde hinzugefügt: „dasselbe beabsichtige, das Vortragen der Günther’schen Lehre zu verhüten.“ Und nun handelte es sich den Jesuiten um die Verdammung auch der Schriften von Günther’s Schülern. Schon am 24. Aug. 1857 schreibt Dr. Nickes: „Die Gegner haben den unbeugsamen Willen, Alles aufzubieten, bis die Schriften aller Güntherianer, selbst die Veith’s nicht ausgenommen, auf dem Index stehen. Alle äußern Posten sind besetzt, Wien, München, Paris; im Innern sieht’s noch schlimmer aus, aber es läßt sich nicht Alles schreiben.“ Das Widerstreben der Indexcongregation, insbesondere ihres Präsidenten Andrea, wurde endlich überwunden, und die betreffenden Schriften eines Schülers Günther’s nach dem anderen, ausgenommen die von Veith, wurden indicirt. G. aber schrieb mir: „Man sollte bei den gegenwärtigen politischen Zuständen meinen, daß den Römern das Indiciren bald verleidet würde; es sei denn, daß dasselbe als das einzig übrig gebliebene Lebenszeichen von Roms Herrschaft noch im Gange gehalten werden soll. Schrieb doch Mazzini im J. 1848 an den Papst: der Glaube ist todt in Europa; es ist dies theils durch die Tyrannei der hohen Hierarchie auf katholischem Boden, theils aber auch durch die Anarchie auf protestantischem Boden geschehen.“ Stolz erklärt 1859 Pater Schrader in Wien: Germanicum theologum nullum agnosco, während G., dem über seinen Studien nicht selten das Tageslicht das Licht seiner [160] Lampe ausgelöscht hatte, im December desselben Jahres klagt: „Ich habe mich in gesunden Tagen zu Schanden geschrieben, und zwar in jeder Hinsicht“; und im Hinblicke darauf, wie schauerlich es gegenwärtig mit der Wissenschaft auf katholischem Boden bestellt sei: „wo soll da der Muth und die Erkenntniß herkommen, um römischen Uebergriffen Grenzen zu setzen? Im Gegentheile, nichts wäre dieser verrotteten Pfäfferei lieber, als wenn ein Dogma von der Infallibilität des Papstes durch consensus unanimis vel tacitus zu Stande käme? Und was Alles ist nicht heutzutage möglich! Doch, Gott sei Dank, das Alles kümmert mich wenig. Transit figura huius mundi, sagt St. Paulus, und wir können hinzufügen: sammt jener Stadt, die sich orbis nannte. Auf der neuen Erde, auf der die Gerechtigkeit wohnt, werden wir erst in Erfahrung bringen, was das Wort des Apostels sagen wolle: non sunt condignae passiones huius temporis ad futuram gloriam, quae renovabitur in nobis, die wir an Christum geglaubt und ihn erkannt und ihn geliebt haben, ohne ihn gesehen zu haben. Diesen wiederzugewinnen auf dem Wege der Wissenschaft, auf dem ich ihn verloren hatte, war das Bestreben des Jünglings. Und ich habe es erreicht, und kann ausrufen: scio, cui credidi, und mit dem Dichter singen: wenn ich ihn nur habe, wenn er mein nur ist, weiß ich nichts vom Leide, fühle nichts als Andacht, Lieb’ und Freude.“

Im December 1860 schrieb mir G., der fast in keinem Briefe unterließ, mich einen Blick auf seinen Schreibtisch thun zu lassen, der nie leer war von den neuesten Produkten der philosophischen, theologischen und naturwissenschaftlichen Litteratur: „Ob und wann ich von meinen Grübeleien Gebrauch machen werde, weiß der Himmel; einstweilen schreibe ich an meiner Selbstbiographie.“ Und Anfang 1861, da seine und seines treuen Freundes Greif Kräfte immer mehr abnahmen: „Es ist Jedem Glück zu wünschen, den der Herr zu sich ruft. Wir haben hienieden nichts mehr zu erwarten als das Ende von einem Liede, das schon vor der Reformation angestimmt wurde, Reform an Haupt und Gliedern. Zur Stunde aber wird diese Reform in der Restauration des Thomismus gefunden, der in der antiken Speculation den Schlüssel zum Verständniß des positiven Christenthums erblickt d. h. in einer Philosophie, die von der Creation keine Ahnung hatte; sonst hätte sie an die Stelle des Weltschöpfers nicht den fabricator mundi gesetzt. Nach P. Kleutgen aber sind Aristoteles und Plato eigens von der göttlichen Vorsehung auserwählt, um die Heidenwelt in das Christenthum hinüberzuleiten.“ Und am 12. April 1862: „Geht es im zweiten Halbjahre mit meiner Gesundheit nicht besser als im ersten, so werde ich das Bett hüten müssen. Dem sei, wie Gott will. Das Wort des Apostels liegt mir schon seit Jahren auf der Zunge: cupio dissolvi et esse cum Christo. Was ich und die ganze Menschheit an ihm besitzen, das hat mich die Wissenschaft (Wissen und Gewissen) gelehrt; alles Andere ist, wenn nicht vom Uebel, doch nicht viel werth. Deo gratias!“ Doch vermochte er am 29. Juli einer Einladung des Barons Hock auf sein Fliederschlößchen bei Salzburg zu folgen, wo auch ich Mitte August eintraf. Acht Tage später, innerhalb deren wir auch eine Fahrt auf dem Königssee machten, fuhren wir über Pechlarn, wo wir einen Tag bei Prof. Gärtner zubrachten, nach Wien. Hier verweilte ich noch einige Wochen bei G., und ließ von Professor Radnitzky seine Büste anfertigen. Nicht blos seine körperlichen sondern auch seine geistigen Kräfte nahmen merklich ab; wenn man aber auf Philosophie zu reden kam, war er noch immer der alte klare Denker. Am 13. Jan. 1863 erhielt ich den letzten Brief aus seiner Hand, und am 23. Febr. schrieb man mir: „G. ist seit gestern schwer erkrankt. Sonntag den 15. konnte er schon nicht mehr das h. Meßopfer darbringen, für Sonntag den 22. ließ er ebenfalls absagen, machte sich aber doch auf den Weg aus Rücksicht [161] auf „„die armen Polizeisoldaten““, für welche die Messe bestimmt war. Während derselben fragte er einmal den Kirchendiener: „„wo bin ich denn?““ las aber bis zu Ende, frühstückte und blieb allein in seiner Stube. Um 1/212 Uhr kam sein Arzt Dr. Schmidt und fand ihn zurückgelehnt auf seinem Sopha, ein zerknittertes Papier in seiner Hand; es war Ihr Brief, den er, wie er dem Can. Greif gesagt, beantworten wollte; ein Schleimschlag hatte ihn getroffen. Dörfler von St. Peter ertheilte ihm bei voller Bewußtlosigkeit die h. Oelung. Später bemühte er sich, dem Can. Veith gar Vieles zu sagen, aber die Laute, die er vorbrachte, waren völlig unverständlich. Dann blieb er ruhig und so liegt er noch da. Heute in der Frühe fand Dr. Schmidt eine Lähmung der rechten Seite. Seine Züge haben einen überaus freundlichen und lieblichen Ausdruck, er liegt da wie ein angenehm Träumender.“ Am 25. Februar zeigten zwei Telegramme mir an, daß G. am 24. Abends 7 Uhr verschieden sei. Am 1. März theilte Greif mir mit: „Die Fürstin Bretzenheim wollte das Begräbniß besorgen, aber Cardinal Schwarzenberg telegraphirte: er wird auf meine Kosten begraben. Alle seine hiesigen Freunde waren am Sterbebette erschienen. Ein Fleischhauer aus der Leopoldstadt, Wagenleitner, bat sich die Ehre aus, auf seine Kosten einen Zinksarg als ein Zeichen seiner langjährigen Verehrung anfertigen zu lassen. Derselbe fiel höchst geschmackvoll aus. Das Leichenbegängniß zeichnete sich durch die große Zahl der Geistlichen aus; jeder Orden und jedes Stift hatte zwei Vertreter geschickt, und so viele Weltpriester waren erschienen, daß es fast wie eine Demonstration aussah. Veith und ich waren die ersten, die dem Sarge folgten, dann die zahlreichen Freunde des Verewigten; auch an weinenden Frauen fehlte es nicht. Ein Sectionschef, General Graf Huyn, der in seiner Uniform bei der Einsegnung zugegen war, antwortete auf die Frage eines ihm nahe Stehenden, ob er den Verstorbenen persönlich gekannt habe: „„ich kenne seine Werke, die ich studirt habe, und denen ich meinen Glauben verdanke: deshalb wollte ich ihm die letzte Ehre erweisen.““ Ein anderer hoher Herr verlangte seine Leiche zu sehen, da er den Mann, über welchen er so Vieles pro und contra gehört, im Leben nicht gesehen habe.“

Und nun erübrigt noch, die Günther’sche Philosophie selber, und zwar in ihrem organischen Zusammenhange, in wenigen Strichen zu zeichnen, denn der Raum erlaubt nicht eine ausführliche Skizzirung, geschweige eine solche Darlegung derselben, wie sie in den Günther’schen Schriften vorliegt, wo sie aus der Kritik zahlreicher Philosopheme der alten, mittlern und neuesten Zeit allmählig und ohne systematischen Zusammenhang sich herausgestaltet hat. Eine ziemlich ausführliche systematische Darstellung derselben habe ich aber im Brockhaus’schen „Jahrbuch zum Conversationslexikon, Unsere Zeit, 1857. S. 609–632“ gegeben. Und aus dieser Darstellung ist das Folgende größtentheils ein Auszug und zwar deshalb, weil G. sie vor dem Drucke gelesen und als richtig approbirt hat.

G. unterzog sich, nachdem er zum christlichen Offenbarungsglauben gekommen, der mühevollen Arbeit, die gesammte bisherige Philosophie kritisch zu beleuchten, um die Mißgriffe derselben aufzudecken und auf dem Schutte ein neues Fundament zu legen, auf welchem der Nachweis geführt werden könne, daß die Welt von Gott geschaffen und die gefallene Menschheit von Christus erlöst worden sei. Deshalb machen auch den wesentlichsten theologischen Theil seiner Speculation die Creations– und Incarnationstheorie aus. Denn diejenige Lehre der Offenbarung, auf welche alle andern sich stützen, ist nach ihm keine andere als diejenige, womit die heiligen Schriften anheben: „im Anfange schuf Gott Himmel und Erde.“ Für diese Lehre war daher zunächst das Zeugniß der Vernunft [162] zu suchen. Und aus diesem Bestreben, die christliche Schöpfungslehre auch in der Wissenschaft festzustellen, erklärt sich vorzugsweise Günther’s Polemik gegen die Adoration der antiken christlichen Speculation, sowie der mittelalterlichen Scholastik, sofern dieselben durch Adoption theils der platonischen theils der aristotelischen Philosophie mit den metaphysischen Voraussetzungen der Schöpfungslehre in Widerspruch kommen mußten, und nicht weniger gegen Kant’s Verhältnißbestimmung zwischen dem erkennenden Subject und dem zu erkennenden Object, die theils zur metaphysischen und speculativen Nichtswisserei theils zum Anticreatianismus (eines Fichte und Schelling, Hegel und Herbart) führte. Steht denn aber wirklich die Vernunft mit ihrem Zeugnisse dafür ein, daß die Welt durch Realisation der Idee von solchem, was Gott seiner Wesenheit nach nicht ist, zum Sein gekommen, oder daß sie geschaffen sei? Indem G. Umschau hält, um zu erfahren, was für die Beantwortung dieser Frage schon geleistet sei, bleibt er bei dem scio me esse des Augustinus und dem cogito ergo sum des Cartesius stehen. Denn nur das Selbstbewußtsein könne das eigene Sein und dessen Beschaffenheit erkennen, und nur von ihm aus könne die Realität und Qualität alles Andern festgestellt werden; nur an ihm habe daher die Philosophie den voraussetzungslosen Anfang, den sie verlangen müsse. Die Selbstbewußtseinstheorie ist somit die Grundlage der Philosophie Günther’s. Mit ihr müssen wir die Skizzirung derselben beginnen.

Im Selbstbewußtsein ist das Ich Object seines Wissens, aber nicht unmittelbar; denn das unmittelbare Object der inneren Wahrnehmung sind die Zustände des Ich. Alle Zustände, in welche das Ich eintritt, sind ferner das Resultat sowohl eines recipirenden (passiven) als eines spontan reagirenden Verhaltens. Deshalb sind Receptivität und Spontaneität die Kräfte und zugleich das unmittelbare Object des Ich im Sichwissen. Und das Beziehen dieser beiden Kräfte auf das Eine Princip derselben ist der Ichgedanke. Sofort legt sich dem auf gründliche Selbsterkenntniß ausgehenden Ich die Frage zur Beantwortung vor: was ist das Ich vor dem Eintritte in seine Doppelkräftigkeit? Und die Antwort fällt dahin aus: weder recipirend noch reagirend, ein bewußtloses, blos potentielles Sein. Diese Entdeckung, welche G. an zahllosen Stellen gegen alle Angriffe sicher zu stellen sucht, daß nämlich das Ich primitiv kein Ich, sondern ein blos potentielles Sein sei, erscheint ihm von so hoher Bedeutung, daß keine andere auf dem Gebiete der Metaphysik ihr an die Seite gestellt werden könne. Denn durch sie habe das Princip der neueren Philosophie, das Cogito ergo sum, seine unerschütterliche Fundamentirung erhalten. Weiter stellt sich heraus, daß das Selbstbewußtsein, als die Affirmation des eigenen Seins im Dasein, nicht, wie Cartesius meinte, eine einfache unmittelbare Anschauung, und also auch das Gewißheitskriterium nicht die clara et distincta perceptio eius quod affirmo sei, wodurch Cartesius zur Aufstellung seiner ideae innatae kam, sondern daß es ein Schluß sei, aber nicht ein logischer sondern ein metalogischer, nicht ein begrifflicher sondern ein ideeller Schluß. Denn geschlossen wird hier von den unmittelbar wahrgenommenen inneren Erscheinungen als solchen auf das als solches nicht wahrnehmbare Sein. Diesen Schluß, welchen der Geist nicht würde machen können, wenn er nicht in differenten Erscheinungsmomenten (den beiden Kräften) sich aufschlösse, und wenn letztere nicht so beschaffen wären, daß er sich dazu als Sein in Gegensatz zu stellen vermöchte, was selber wieder dadurch bedingt ist, daß er in der Reaction seine Selbstheit affirmirt, diesen metalogischen Schluß enthüllt und in seiner Eigenthümlichkeit und wesentlichen Verschiedenheit vom logischen Schlusse festgestellt zu haben, ist Günther’s unsterbliches Verdienst. Denn hierdurch hat er, der Erste, das ideelle (im Seinsgebiete sich ergehende) Denken von dem (im bloßen Erscheinungsgebiete befangenen) begrifflichen Denken [163] gründlich ausgeschieden, die Scheidewand, welche Kant zwischen der Welt der Erscheinungen und dem Ding an sich aufgerichtet, niedergerissen, eine genetische Ableitung der allgemeingültigen Erkenntnißformen (Kategorien) ermöglicht und das Fundament zu einem neuen Aufbau der Metaphysik und zum vollständigen Umbau der Logik, ja der gesammten Philosophie gelegt. – Wenn aber der Ichgedanke ein Schluß ist, so ist alles Wissen und alle Gewißheit vermittelt, und können überall die Realitäten nur erschlossen werden, jedoch nicht in der logischen Weise des Begriffs, sondern in der ontologischen der Idee. Soll daher das Ich, von dem allein alles Wissen und alle Gewißheitserklärung ausgeht, nicht blos seiner selbst sondern auch andern Seins gewiß werden, so ist das nur dadurch möglich, daß entweder Erscheinungen sich in ihm einstellen, die es nicht auf sich allein als Ursache derselben beziehen kann, also auch auf anderes ursachliches Sein beziehen muß, oder daß es an seinem Sein eine Beschaffenheit entdeckt, die es nöthigt, über dasselbe hinauszugehen und anderes Sein dem eigenen vorauszusetzen. – Indem ferner der Geist die Kategorieen, als die constitutiven Momente seines Selbstbewußtseins, erheben, und ihnen gemäß sich in sich unterscheiden kann, ist er befähigt, auch im fremden Sein die Bestimmung nach Wesen und Form und alle die andern kategorischen Bestimmungen, wodurch die Erkenntniß desselben bedingt ist, mit gleicher Gewißheit und Sicherheit vorzunehmen, als er sie in sich gemacht hat. Somit ist die Einsicht in Wesen, Form und Gesetz des Selbstbewußtseins oder die Selbsterkenntniß der Brennpunkt alles wissenschaftlichen Verständnisses.

Nach dieser Darlegung der Selbstbewußtseinstheorie Günther’s gehen wir zu seiner Naturphilosophie und Anthropologie über. Wenn festgestellt ist, daß der Geist ein Sein ist, welches an und in sich selber sein unmittelbares Object gewinnt, so kann das Verhältniß des Geistes zur Natur nicht mehr als ein Verhältniß des Subjects zum Object, der Form zum Inhalt, des Prädicats zum Subject (des Urtheils), überhaupt nicht als ein Verhältniß des Denkens zum Sein angesetzt werden. Kann aber der Geist von der Philosophie nicht mehr als bloses Subject bestimmt werden, so hört auch die Natur auf, bloses Object zu sein. Auch ihr muß eine selbsteigene und von der geistigen unabhängige Subjectivität eignen. Sie findet sich in den animalischen Individuen, in denen die Organisation der Materie ihren Höhepunkt erreicht. In ihnen stellen sich Sinnesempfindungen ein, und auf dem Grunde derselben Sinnesvorstellungen, sowohl im Einzelnen als im Allgemeinen d. h. sowohl als Einzel- wie als Gemeinvorstellungen, wodurch auch schematische Urtheile und Schlüsse ermöglicht werden, die unleugbar in der höheren Thierwelt vorkommen. In diesem schematischen Denken der Thierwelt erringt die Natur ein solches Verständniß ihrer selbst, als einem Sein zu erringen möglich ist, welches mittels Materialisation (objectiver Veräußerung) und Organisation der Materie zur subjectiven Verinnerung vordringt. Der Nachweis dessen füllt einen nicht geringen Theil der Günther’schen Schriften aus; wir müssen ihn hier übergehen und uns darauf beschränken, einen der wichtigsten Punkte in Günther’s Naturphilosophie anzudeuten. Stoff und Kräfte sind die erscheinende Natur und haben daher das Naturprincip, als beider reale Potenz, zur Voraussetzung. Dieses Princip bethätigt sich in seinem Leben nirgends als ein numerisch ungebrochenes: die Natur existirt nur wie in Polarität der Kräfte so in Getheiltheit und Theilbarkeit der Substanz. Die Vernunft kann aber das Naturprincip nicht als in ursprünglicher Getheiltheit und Differenz befindlich denken. Ursprüngliche Getheiltheit der Substanz wäre ja keine Getheiltheit, weil jeder sogenannte Theil in Wahrheit nicht Theil, sondern als Primitives ein Princip an sich (Monas) wäre; und ursprüngliche Differenz wäre keine Differenz, weil die [164] sogenannten differenten Kräfte nicht Momente der Selbstbekräftigung Eines Princips, sondern selber Realprincipien wären. Theile können vielmehr nur durch einen Theilungsact, differente Kräfte nur durch einen Differenzirungsact eines eben deshalb primitiv ungetheilten und indifferenten Seins entstehen. – Zwischen diesem unbestimmten Sein der Natur und ihrem bestimmten Dasein, zwischen dem Naturprincip in seiner ursprünglichen numerischen Realeinheit und Potentialität und demselben in seiner gegenwärtigen numerischen Vielheit und Mannigfaltigkeit muß daher der Vorgang des Uebertritts aus jenem indifferenten in diesen differenten Zustand oder ein Differenzirungsact liegen. Und letzterer muß so beschaffen gewesen sein, daß das Princip selber (und nicht wie beim Geiste in blosen formalen Momenten) different d. i. substantiell zertheilt und in diesen substantiellen Theilen gegensätzlich wurde.

An die Naturphilosophie schließt sich die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Natur und Geist, die Feststellung des Günther’schen Dualismus an. Natur und Geist haben a priori die Bestimmung zum Denken; aber die Prozesse zur Erreichung dieser Bestimmung sind so verschieden, daß der Geist zu einem Wissen um sich als Sein (um das unsichtbare Innere), die Natur zum Wissen um ihre Erscheinungen (um das sichtbare Aeußere) kommt, weshalb auch jener als wesentliche Qualität die Freithätigkeit, dieser die Nothwendigkeit gewinnt. Und nun weist G. nach, daß demgemäß das Verhältniß des Geistes zur Natur in einer neuen Weise zu bestimmen sei, nämlich als Verhältniß der Idee zum Begriffe. Denn nicht nur bewegt sich das Naturleben auf allen seinen Stufen, und sowohl in seiner objectiven als subjectiven Sphäre, in dem begrifflichen Gegensatze von Allgemeinem und Besonderem und dessen Vermittelung, sondern es macht sich auch in der vom Geiste vorgenommenen reinen Begriffsbildung kein anderes Denkgesetz geltend, als auch in der schematisirenden Thätigkeit, worüber blose Naturindividuen nicht hinaus kämen, nämlich das Gesetz der Abstraction oder der begrifflichen Identität. Dagegen bewegt sich das geistige Denkleben als solches in den gegensätzlichen Momenten von Sein und Erscheinen, und zwar jenes als Grund und als Ursache von diesem als Folge und Wirkung. Und das darin hervortretende Gesetz ist das von der begrifflichen (logischen) Identität wesentlich verschiedene ideelle (ontologische) Identitätsgesetz oder das Causalitätsgesetz.

Durch diesen Dualismus zweier Denkmächte, einer begrifflichen und einer ideellen ist nun aber nicht nur die Wesensverschiedenheit von Geist und Natur festgestellt, sondern auch der Schlüssel zur Erklärung der Wechselwirkung und formalen Einheit beider Lebensmächte im Menschen gefunden. Hiemit sind wir bei der Anthropologie Günther’s angelangt. Beide Weisen des Bewußtseins kommen im menschlichen Bewußtsein vor. Und da beide so beschaffen sind, daß jede auf ein anderes Princip hinweist, so muß der Mensch als die Synthese von zwei qualitativ verschiedenen Lebensprincipien gedacht werden. Alles Weitere – über die Möglichkeit, daß zwei qualitativ verschiedene Wesenheiten sich zu Einer Lebenseinheit verbinden, über die wechselseitige Bedingung und Verdingung dieser beiden Factoren des Menschenlebens, wodurch dieses eine so reiche und von dem reinen Natur- und Geistesleben verschiedene Gestaltung gewinnt, über die Geschöpflichkeit des Geistes eines jeden Menschen, über Abstammung der Gesammtmenschheit von Einem Urmenschen, über die Existenz eines reinen Geisterreichs etc. übergehend, weisen wir noch darauf hin: daß mit der formalen Synthese (Mensch) der beiden Factoren der Antithese (Geist und Natur) der Kreis der bedingten Realitäten erschöpft ist. Darüber hinaus ist nur noch das unbedingte Lebensprincip denkbar, zu dessen Besprechung wir jetzt übergehen.

Das Verdienst des Günther’schen Gottesbeweises liegt darin, daß er ein doppeltes Deficit des (Anselm-Thomistisch-Cartesischen) ontologischen Beweises [165] entfernt hat. Das eine Deficit besteht darin, daß in diesem Beweise die Idee Gottes als des vollkommensten Wesens, aus welcher die reale Existenz Gottes gefolgert wird, selber als eine reale nicht festgestellt ist. Dieses Deficit beseitigt G. dadurch, daß er nicht von der Idee Gottes, sondern von der Realität des eigenen Ich ausgeht. Nach Feststellung dieser Realität weist er nämlich die Bedingtheit derselben nach. Bei diesem Gedanken aber, bedingt oder nicht schlechthin zu sein, kann das Ich nicht bestehen bleiben; denn die Gewißheit von der Realität meines eigenen Seins in Verbindung mit der Gewißheit von der Nichtschlechthinigkeit dieser Realität nöthigt mich, meinem Sein ein anderes Sein vorauszusetzen, und dieses als das jenes bedingende anzusetzen. Sofort schlägt G. auch über die Natur und den Menschen den Weg zu Gott ein, und erweist dadurch die Gottheit als die unbedingte Bedingung alles bedingten Daseins. Das andere Deficit des ontologischen Beweises ist der Abgang der Schöpfungsidee. In der Idee Gottes als des vollkommensten Wesens ist nämlich so gewiß nichts von Schöpfung enthalten, als in der Schöpfungsidee etwas Anderes liegt, als in der Idee vom Wesen Gottes, weil ein formaler Gedanke mit negativem Inhalte, der zur realen Position gekommen. Nur mittels der Idee der Causalität für nichtabsolute Realitäten kann die Idee des Schöpfers erhoben werden. Deshalb denkt im Günther’schen Gottesbeweise die Vernunft das Absolute zunächst nicht in seiner Selbstbestimmtheit, sondern in seiner Schöpferthat, somit aber auch als persönliches Wesen. Und erst durch diese Idee von Gott als persönlichem Weltschöpfer ist die Möglichkeit, aber auch die Nöthigung gegeben, zu dem Gedanken von Gott ohne die und vor der Welt überzugehen. Die Offenbarung des persönlichen Gottes durch Schöpfung hat die Offenbarung seiner als absoluten Princips zur Voraussetzung. – Diese Erhebung und Erhärtung der Schöpfungsidee ist im Systeme Günther’s von so durchgreifender Bedeutung, daß er um ihretwillen seine Philosophie auch Creatianismus genannt hat.

Wir sind bei einem weiteren Cardinalpunkte angelangt, bei der Lehre von Gott. Kann die Persönlichkeit desselben näher bestimmt werden? Der Geist findet sich als ein nichtabsolutes Sein. Diese Negativität muß er so gewiß negiren, als er sich trotz derselben nicht als Sein negiren kann. Und die Idee, die er auf diesem Wege doppelter Negation gewinnt, ist die des rein affirmativen oder schlechthinigen Seins. Wie sind nun die näheren Bestimmungen dieses Seins zu gewinnen? Dadurch, daß die wesentlichen Bestimmungen (Kategorien) des nichtabsoluten Sein aufgesucht werden und das Moment der Negativität, welches an jeder derselben vorkommen muß, negirt wird; dadurch also, daß die Kategorien, unter Negation ihrer Negativität, auf Gott übertragen werden. Ist ja auch schon die Idee Gottes als des absoluten Seins nichts anders als die Uebertragung der Kategorie des (geistigen) Seins auf Gott mit gleichzeitiger Verabsolutirung derselben. Die in gleicher Weise modificirte Uebertragung aller weiteren Kategorien ist daher nur die Fortsetzung und Durchführung jener Uebertragung. Indem so die Weise des Fortschritts Günther’s von der Idee des Endlichen zur Idee des Unendlichen auch die Weise des Fortschritts von den Bestimmtheiten des Endlichen zu den Bestimmtheiten des Unendlichen ist, schlägt er den Weg der ideellen Negation ein. Diesen Weg enthüllt und den toto coelo verschiedenen Weg der begrifflichen Negation (als bloser Abstraction) verlassen zu haben ist ebenfalls ein nicht hoch genug anzuschlagendes Verdienst Günther’s. Wir übergehen diese Bestimmungen des Unendlichen (als trinitarischer Persönlichkeit) und beschränken uns auf die eine Bemerkung, daß auf Günther’s Weg der Transcendenz vom Selbst- zum Gottesbewußtsein sich herausstellt, wie der Grund davon, daß die Vernunft, Gott zu [166] erkennen vermöge, nicht darin liege, weil Göttliches das Göttliche, Gleiches das Gleiche erkennen könne, sondern darin, daß das Ungleiche das Ungleiche bezeugen und ins Bewußtsein rufen könne. Und dadurch ist der Standpunkt des wahren Rationalismus gewonnen.

Die weiteren für Günther’s Creatianismus sich aufdrängenden Fragen, insbesondere, wie Gott zur Weltidee komme, und wie es sich mit der Realisation derselben verhalte, finden eine derartige Beantwortung, daß sich herausstellt, wie die zwei Offenbarungen Gottes (in deren erster Gott als das absolute Princip sich selber offenbar wird, und zwar durch die Momente absoluter Entgegen- und Gleichsetzung, in denen es sich ewig personificirt, während in der zweiten Gott als diese Persönlichkeit sich offenbart, und zwar in der Setzung von Lebensprincipien, die, ohne aus seinem Wesen zu sein, durch seine persönliche Willensthat sind) nicht in völliger Trennung von einander aufgefaßt werden dürfen. Und dadurch hat er auf dem Standpunkte des Dualismus (von Geist und Natur) die Einheit alles Seins und Lebens in der Persönlichkeit Gottes nachgewiesen, und also der höchsten Forderung der Vernunft genügt, ohne die Wesensverschiedenheit von Gott und Welt negiren zu müssen.

Hiemit haben wir Günther’s Theorie des Wissens, anhebend mit dem Selbstbewußtsein, fortschreitend zum Welt- und Gottesbewußtsein, und abschließend mit der Ableitung der Welt aus der Selbstbezeugung des absoluten Seins, in ihren Hauptzügen charakterisirt. Aber damit schließt seine Speculation nicht ab; vielmehr ist seine Bewußtseinstheorie nur der Unterbau für seine Religions-, Moral- und Rechtsphilosophie, für die Aesthetik, Politik und Sprachwissenschaft und Philosophie der Geschichte. Zwar hat G. diese philosophischen Disciplinen so wenig als die Logik, Metaphysik und Psychologie für sich und in systematischer Abrundung ausgearbeitet, wol aber hat er für sie die Grundsteine gelegt, die Umrisse zum Aufbau gezeichnet und einzelne der wichtigsten Punkte auch ausführlich behandelt. Ganz besonders aber ist es die Theologie, welche er speculativ bearbeitet hat. Denn es war sein lebhaftester Wunsch, daß „seine wissenschaftlichen Leistungen geeignet sein möchten, zur Restauration der Speculation in der Theologie, und hiedurch zur Ehre Gottes und der Kirche Christi Einiges beizutragen.“ Dabei dreht sich alles Einzelne um den Nachweis, daß das Christenthum Neuschöpfung auf dem Grunde der alten Schöpfung sei. Und deshalb erscheint in Günther’s Schriften (mittels des gewonnenen Verständnisses der menschlichen Persönlichkeit in ihrer lebensvollen synthetischen Einheit der antithetischen Weltfactoren) der Gottmensch in einem Reichthume der Bezüge und in einer Großartigkeit des Wirkens, daß vor ihm, als dem Träger der gesammten Weltgeschichte, als dem Fundamente nicht nur des kirchlichen, sondern auch des staatlichen Lebens, auch die Wissenschaft ihr Knie beugen muß. Wo daher G. auf die welthistorische Bedeutung Christi zu reden kommt, da nimmt sein Geist den höchsten Aufschwung, und da reißt er den Leser zu staunender und anbetender Bewunderung mit sich fort. Großartig und farbenreich sind die Züge, mit denen er den Eintritt des göttlichen Logos ins Gewissen des (in seiner Fortpflanzung auf ihn gegründeten) Geschlechts, seinen stufenweis aufsteigenden, aber zugleich durch das freie Verhalten der Menschen modificirten Fortschritt durch die verschiedenen Menschenalter und Völker, Heiden und Juden, seine Offenbarung als Jehova in der Gesetzgebung, im Opfercultus, König- und Prophetenthum, dann in der Fülle der Zeiten seine Menschwerdung, und endlich sein Wirken in der Kirche schildert.

Ich schließe mit der Bemerkung, daß wenn G. auch selber in Folge der Enthüllungen, die wir seit seinem Tode den in staunenswerthem Fortschritte begriffenen [167] kirchenhistorischen, naturwissenschaftlichen und anthropologischen Studien verdanken, sich wol veranlaßt sehen würde, gegenwärtig manches Einzelne, was er gelehrt hat, zu ändern, er doch (und zwar, weil er über der vernünftigen und freien Causalität nicht die natürliche Bestimmtheit der Menschen, und über den creatürlichen Factoren der Weltgeschichte nicht den mitbestimmenden absoluten Factor, und über dem zweiten nicht den ersten Adam und umgekehrt übersehen hat) im Großen und Ganzen die die menschliche Gesellschaft bestimmenden, organisirenden und fortbildenden Auctoritäten richtig gezeichnet habe.[1]


[153] *) Hier schließt die noch nicht im Druck erschienene Autobiographie Günther’s, aus welcher das Vorhergehende (mit unbedeutenden Abänderungen) ein Auszug ist. Das Folgende habe ich vorzugsweise aus zahlreichen Briefen von und an G. entnommen.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 167. Z. 9 v. o.: Vgl. P. Knoodt, Anton Günther, eine Biographie. 2 Bde. Wien 1881, Braumüller. [Bd. 13, S. 793]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Ludwig Graf Taaffe († 1858), Vater von Eduard Graf Taaffe