ADB:Schweitzer-Allesina, Johann Baptist von

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Artikel „Schweitzer-Allesina, Johann Baptist von“ von Gustav Mayer (Historiker) in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 197–203, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Schweitzer-Allesina,_Johann_Baptist_von&oldid=- (Version vom 19. März 2024, 09:39 Uhr UTC)
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Schweitzer *): Johann Baptist von Sch.-Allesina, geboren am 12. Juli 1833, † am 28. Juli 1875 am Gießbach in der Schweiz, war der Sohn einer jener Frankfurter Patricierfamilien italienischen Ursprungs, die schon wegen ihres von ihnen stark betonten katholischen Glaubens innerhalb der protestantischen freien Reichsstadt einen abgeschlossenen Kreis bildeten. Mit der für unser Culturleben am bedeutendsten gewordenen dieser Familien, mit den Brentanos, waren die Schweitzer-Allesina eng verschwägert. Johann Baptist’s Vater, in der Jugend Officier und Kammerjunker Karl’s von Braunschweig, später ohne Beruf, und seine Mutter Emilie, die Tochter von Karl Peter Berly (s. A. D. B. II, 408) und dessen Gattin Juliane geborene Pilgram, hatten vier Kinder, von denen er der älteste war. Aber bei ihrem lebenslustigen und oberflächlichen Wesen zogen sie es vor, ihre Kinder in auswärtigen Erziehungsanstalten aufwachsen zu lassen. Die frühesten geistigen Anregungen erfuhr Johann Baptist im Hause der Großeltern Berly; die Großmutter, eine Verwandte Jean Paul’s, vermittelte ihm die ersten Eindrücke der deutschen classischen Dichtung, und Berly wird den Keim des politischen Interesses in dem begabten und frühreifen Kinde geweckt haben. Bald finden wir den zwölfjährigen Knaben auf der Lateinschule in Aschaffenburg, er ist dort urkundlich von 1845 bis 1851 nachweisbar. Das Abiturientenexamen [198] bestand er, wie seine bei den Acten der Heidelberger juristischen Facultät aufbewahrte kurze Selbstbiographie lehrt, im October 1852. Während des größten Theils der in Aschaffenburg verbrachten Jahre wohnte der Knabe in einem anscheinend von Jesuiten geleiteten Studienseminar. Von 1852 bis 1855 studirte Sch. abwechselnd in Berlin und in Heidelberg Jurisprudenz. Nach Berlin zog ihn besonders die Verwandtschaft mit Friedrich Wilhelm Krummacher (s. A. D. B. XVII, 243), dessen Gattin eine Schwester seiner Großmutter Berly war. Wie Goethe einst im Hause der Familie Schweitzer-Allesina die katholische Geistlichkeit aus der Nähe kennen lernte, so erhielt der Sohn der streng katholischen Patricierfamilie im Pfarrhause an der Dreifaltigkeitskirche eine genaue Kenntniß der protestantischen Geisteswelt. Vielleicht wurde schon dem Studenten, der außer Gneist an der Berliner Universität auch F. Julius Stahl hörte, bei diesem Verwandten die Gelegenheit geboten, gewisse der Redaction der „Kreuzzeitung“ nahestehende, aber vorwiegend nichtadlige Kreise aus der Nähe zu beobachten. Manches in seinen ersten Broschüren deutet darauf hin.

Am 6. August 1855 promovirte Sch. in Heidelberg zum Doctor juris, und im J. 1857 ließ er sich in seiner Heimathstadt als Rechtsanwalt nieder. Vor der Oeffentlichkeit trat er anfänglich mit dramatischen Productionen auf. Im J. 1858 erschien das wohl schon früher verfaßte Hohenstaufendrama „Friedrich Barbarossa“, das trotz seines litterarischen Unwerths durch die Contrastirung des erlebenden Helden Heinrich’s des Löwen und des nacherlebenden Historikers Otto von Freising einen biographischen Reiz besitzt. Technisch reifer, aber auch für die Ankerlosigkeit von Schweitzer’s ethischem Empfinden charakteristisch ist das Lustspiel „Alkibiades“, das seinen Stoff aus Plato, Thukydides und Aristophanes schöpft und auf dem Hintergrunde des bekannten Hermenfrevels den Gegensatz der Liebe von Mann und Weib in Alkibiades und Aspasia verkörpern möchte. Doch das Jahr 1859 warf Sch. gänzlich in die Politik. In Uebereinstimmung mit den Traditionen seiner Familie und mit den Gesinnungen der großen Mehrheit der süddeutschen Bevölkerung nimmt er in zwei Broschüren für die Unterstützung Oesterreichs durch den deutschen Bund und gegen Frankreich Partei. Die erste der Schriften erschien anonym, ihr Titel erklärt hinreichend den Inhalt: „Oesterreichs Sache ist Deutschlands Sache“, ein „Beitrag zur Befestigung der öffentlichen Meinung in Deutschland“; die zweite kam mit dem vollen Namen des Autors und nannte sich „Widerlegung von Carl Vogts Studien zur gegenwärtigen Lage Europas“. Großdeutsch war die Tendenz dieser Broschüren und auch noch conservativ, insofern wenigstens, als sie die Festhaltung der Bestimmungen der Wiener Verträge von 1815 für das einzige Mittel ansahen, um Europa vor unabsehbaren Wirren zu bewahren. Aber die Schwäche Oesterreichs und die Unentschlossenheit Preußens, im Bunde vielleicht mit Einflüssen, deren Kenntniß nicht mehr zu erlangen ist, vernichteten schon im folgenden Jahre 1860 das Vertrauen Schweitzer’s zu den deutschen Regierungen. In seiner gedankenreichen Broschüre „Der einzige Weg zur Einheit“ entsagt er endgültig allen Hoffnungen, die er als Patriot auf die Dynastien gesetzt hatte, bekennt sich als Demokrat und Republikaner und erwartet die Herstellung der deutschen Einheit hinfort nur von der revolutionären Initiative des Volkes. Der bestimmende Einfluß Niccolo Macchiavelli’s auf dieses Nachfahren politische Denkrichtung tritt von jetzt an in deutlicher und eingestandener Form zu Tage.

Die inzwischen erfolgte Begründung des Nationalvereins führte Sch. noch weiter in den politischen Tageskampf hinein. Vorher aber wäre seines wissenschaftlichen [199] Hauptwerkes zu gedenken, das 1861 bei Otto Wigand in Leipzig erschien und das den Namen führte: „Der Zeitgeist und das Christenthum“. Nicht mit Unrecht hat Fr. Albert Lange dieses Buch als ein in seiner Art bedeutendes charakterisirt. Der Einfluß Schopenhauer’s, mit dem Sch. in dessen letzten Lebensjahren in persönlichem Umgang stand, erstreckt sich mehr auf den Stil und auf Einzelheiten als auf den eigentlichen Kern des Werkes. Ist doch das Buch von einem beinahe unkritischen optimistischen Glauben an den Geist des Fortschritts erfüllt! Der Verfasser erklärt hier das Christenthum, gleichviel ob Katholicismus oder Protestantismus, als mit dem siegreich vorrückenden modernen Zeitgeist, der eine von ihm specifisch verschiedene Culturmacht sei, für schlechthin unvereinbar, Dabei ist sein Ausgangspunkt weniger ein religiös-philosophischer als ein politischer, indem er den Zeitgeist mit den modernen demokratischen Ideen identificirt, die das in jedem Offenbarungsglauben enthaltene Autoritätsprincip ausschlössen. Ohne Offenbarung gebe es keine positive Religion und es sei deshalb durchaus verkehrt, wenn man noch heute allgemein menschliche Tugenden als wahrhaft christliche in Anspruch nehme. Nun ist die christliche Religion das stärkste Bollwerk aller Autorität in unserer modernen Zeit, und nach der Ansicht des Verfassers wird ihr Sturz auch die anderen conservativen Mächte, besonders die Monarchie, in den Abgrund ziehen. Die Verbesserungsbedürftigkeit der Lage der niederen Volksclassen wird in diesem Werke bereits anerkannt, aber noch ist Sch. weit davon entfernt, auch das Eigenthum jenen dem Untergang geweihten conservativen Mächten beizurechnen!

Zum activen Parteipolitiker entwickelte sich Johann Baptist im Kampfe gegen den Nationalverein, dessen kleindeutsche und preußenfreundliche Tendenzen dem großdeutschen Demokraten ein Dorn im Auge sein mußten. Vor dem Ausbruch des preußischen Verfassungsconflicts stand im Frankfurter Stadtstaat die gesammte liberale Bürgerschaft bis in die Kreise der Demokratie hinein der neuen Parteigründung freundlich gegenüber. Da sich Sch. auf die clerical gesinnten Elemente nicht stützen konnte, so kam es ganz von selbst, daß er auf die Arbeiterkreise aufmerksam wurde, die, politisch angesehen, einen jungfräulichen, von kleindeutschen Bestrebungen unberührten Boden darstellten. Diese Annäherung vollzog sich besonders innerhalb des Turnvereins, der hauptsächlich aus Arbeitern bestand und dessen erster Vorsitzender Sch. war. Eine bedeutende Rolle spielte Sch. gleichzeitig in der Schützenbewegung, er wirkte an hervorragender Stelle bei der Begründung des deutschen Schützenbundes mit, in dessen leitenden Ausschuß er eintrat, und bei dem großen Frankfurter Schützenfest im Juli 1862 war er der Schriftführer des Centralcomités und der Redacteur der Festzeitung. Mit Ernst II. von Coburg kam er bei solcher Wirksamkeit in nahe Berührung. Als im November 1861 in Frankfurt ein Arbeiterbildungsverein erstand, wurde Sch. zum Präsidenten gewählt. Das Vorgehen des Nationalvereins, der durch die Entsendung von Arbeitern zur Londoner Weltausstellung sich in deren bis dahin von ihm vernachlässigten Vereinen Sympathien verschaffen wollte, gab Sch. den Anlaß zu einer entschieden socialistischen Stellungnahme. Er warf jetzt dem Nationalverein vor, daß sich in ihm speciell das Capital organisirt habe. Von Schweitzer’s Rede auf dem Arbeitertag vom 25. Mai 1862 muß man den Beginn der modernen socialdemokratischen Bewegung im Maingau datiren. Es ist zweifellos, daß ihm bereits damals die Gründung einer besonderen Arbeiterpartei als Ziel vorschwebte. Aber ein Sittenvergehen, das er sich im August 1862 in Mannheim zu Schulden kommen ließ und das ihm 14 Tage Gefängniß eintrug, setzte für das erste allen seinen politischen Bestrebungen ein Ziel.

[200] Das Auftreten Lassalle’s im Frühjahr 1863 kam Sch. wie gerufen. Durch die Abfassung seines dreibändigen Agitationsromans „Lucinde oder Capital und Arbeit“ führte er sich bei dem Agitator ein, in dessen Anhang die wirklichen Intelligenzen erst spärlich vertreten waren. In seiner Heimathstadt war Sch. seit seinem Mannheimer Vergehen bis in die Kreise des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins hinein so unmöglich geworden, daß es selbst Lassalle’s Bemühen nicht gelang, ihn dort wenigstens bei den Arbeitern zu rehabilitiren. So mußte der ehrgeizige, aber stark declassirte Adlige jetzt alles daran setzen, um an einem anderen Orte ein Bethätigungsgebiet mit großzügigen Aussichten zu gewinnen. Er wollte der Herausgeber eines Parteiorgans der jungen Lassalleanischen Partei werden. Kurz vor Lassalle’s Tode erreichte er auf einer Vergnügungsreise in die Pfalz dessen Zustimmung. Er siedelte im Juli 1864 nach Berlin über und ließ sich dort naturalisiren. Mit großem Geschick gelang es ihm, auch nach dem Ableben seines Gönners das Zeitungsproject zum glücklichen Abschluß zu bringen. Im December des Jahres konnte in Berlin die erste Probenummer des von ihm zusammen mit seinem unbedeutenden Freunde J. B. v. Hofstetten – der das Geld hergab – redigirten „Socialdemokrat“ erscheinen. Als Redacteur des officiellen Parteiorgans wurde Sch. mit einem Schlage zu einem Hauptfactor in der noch kleinen und ungefestigten Arbeiterpartei. Für sein Unternehmen hatte er sich nicht nur die Mitarbeit von persönlichen Freunden und Gesinnungsgenossen Lassalle’s, wie von Herwegh, Rüstow und Moses Heß, gesichert, auch mit Joh. Phlipp Becker und den Führern der rheinländischen socialistischen Bewegung von 1848/49, mit Marx und Engels in London und ihrem deutschen Vertreter Liebknecht, war er in Berührung getreten.

Diese Männer hatten sich, wie man weiß, von Lassalle’s Schilderhebung fern gehalten. Sch. hatte sogar mit kluger Berechnung unmittelbar nach Lassalle’s Tode Marx zu bestimmen gesucht, das Präsidium des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins zu übernehmen! Aber das Einverständniß zwischen Sch. und den Gründern der Internationalen Arbeiterassociation währte nur Wochen. Die von Anbeginn ab vorhandenen tiefen principiellen Gegensätze enthüllten sich an dem brennendsten Problem jener Tage, an der deutschen Frage. Ueber diesen Gegenstand, der ihn innerlich viel stärker erfaßte als die erst später in seinen Gesichtskreis getretene sociale Frage, hatte Sch. am Anfang der Jahre 1862 und 1863 unter den Titeln „Zur deutschen Frage“ und „Die Oesterreichische Spitze“ Broschüren veröffentlicht, in denen sich besonders eine starke Verachtung für die Schwächlichkeit der deutschen Politik Preußens ausprägte. Doch seither war das Phänomen Bismarck vor Sch. aufgestiegen, und im October hatte er in der Leipziger Gemeinde des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins in seiner Rede „Die Partei des Fortschritts als Trägerin des Stillstands“ bereits dem Gedanken Ausdruck geliehen, daß eine Einigung Deutschlands nur noch von deutschen Proletarierfäusten oder – von preußischen Bajonetten zu erwarten stünde. Jetzt nun in der Zeit von Ende Januar bis zum 1. März 1865 wiederholte er in einer Artikelserie des „Socialdemokrat“ über das Ministerium Bismarck diese Ansicht in einer Form, die seine große Bewunderung für den preußischen Minister gar zu deutlich durchblicken ließ. Gleichzeitig hatte der „Socialdemokrat“ bei Gelegenheit der Koalitionsdebatten im preußischen Abgeordnetenhause eine von Bismarck gehaltene arbeiterfreundliche Rede, die staatssocialistische Maßnahmen in sichere Aussicht stellte, wohlwollend beurtheilt. Diese Anlässe reichten hin, um nicht nur Marx und seinen Anhang, sondern auch Johann Philipp Becker, Herwegh und Rüstow zum Bruch mit einem Manne zu bestimmen, dessen angetasteter [201] Leumund den über ihn verbreiteten Gerüchten von Verrath und Bestechung einen Widerstand nicht entgegensetzte. Gleichzeitig drohten schlimme innere Wirren den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, das Werk Lassalle’s, völlig aufzulösen.

In diesen überaus schwierigen Verhältnissen glückte es Schweitzer’s großer politischer Begabung, nicht etwa nur seine eigene Stellung zu befestigen, sondern auch die Sache seiner Partei in werthvoller Weise zu fördern. Nach Lassalle’s Vorbild nutzte auch er den Verfassungsconflict zwischen der Krone und den Liberalen nach Kräften aus. Aber das Verbot des Abgeordnetenfestes in Köln bot ihm gleichzeitig einen Anlaß, um durch eine energische Agitation für das verletzte Vereinsrecht jene zu widerlegen, die ihn als einen Söldling der Reaction hinstellten. Mit den bis dahin dem Socialismus feindlichen Arbeitermassen Berlins bahnte er bei dieser Gelegenheit eine erste Fühlung an. Vom November 1865 bis kurz vor Ausbruch des Krieges saß Sch. wegen Preßvergehens im Gefängniß. Nach seiner Befreiung begann er sofort eine umfassende Agitation, in der er die Gewährung des allgemeinen gleichen und geheimen Wahlrechts mit Diäten als die Bedingung hinstellte, unter der die Arbeiterschaft für die Sache Preußens eintreten könne (vgl. Gustav Mayer, Die Lösung der deutschen Frage im Jahre 1866 und die Arbeiterbewegung in der Festschrift zu W. Lexis’ siebzigsten Geburtstag, Jena 1907). Die Umstände, unter denen der Norddeutsche Bund zu Stande kam, machten allen Hoffnungen auf eine revolutionäre Volksbewegung und auf eine demokratische Gestaltung von Deutschlands staatlichem Leben auf Menschenalter hinaus ein Ende. Das sah Sch. sofort ein. Er trug des halb auch kein Bedenken, den Norddeutschen Bund als den Rahmen für eine jede künftige politische Wirksamkeit zu acceptiren. Er war es denn auch, der jetzt nach dem Scheitern aller revolutionären Aussichten im Gegensatz zu Liebknecht während der nächstfolgenden Jahre die deutsche Arbeiterbewegung nachdrücklich auf das parlamentarische und das gewerkschaftliche Schlachtfeld verwies, auf denen sie sich ihre spätere bedeutende Machtstellung erkämpft hat. Im Mai 1867 wurde Sch. auf der Generalversammlung zu Brauschweig zum Präsidenten des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins gewählt, dessen thatsächliche Führerschaft er schon vorher besessen hatte. Bald darauf gelangte er als Vertreter von Elberfeld-Barmen in den Norddeutschen Reichstag, dem er bis 1871 angehörte. Er benutzte seine Stellung nicht nur wie Liebknecht zum Protest gegen die bestehenden politischen und socialen Zustände, sondern er entschloß sich zur positiven Mitarbeit bei den einzelnen den Arbeiterstand interessirenden Fragen, und auch hierin wirkte er bahnbrechend für die spätere Taktik der socialdemokratischen Partei. Ein von ihm ausgearbeiteter Gesetzentwurf zum Schutze der Arbeit gegen das Capital, der das Verbot der Kinderarbeit und des Trucksystems, den zehnstündigen Arbeitstag für Erwachsene und Fabrikinspectoren forderte, kam wegen mangelnder Unterstützung überhaupt nicht zur Verhandlung.

Das Jahr 1868 bedeutete den Höhepunkt von Schweitzer’s politischem Einfluß; auf einem von ihm und Fritzsche zum 27. September nach Berlin einberufenen Arbeitercongreß waren bereits 142 000 deutsche Arbeiter durch 206 Delegirte vertreten. Hier erfolgte die Gründung eines Allgemeinen deutschen Arbeiterschaftsverbands, der in der gleichen straff centralistischen Gestalt wie der Allgemeine deutsche Arbeiterverein die politische Classenbewegung organisirte, die gewerkschaftliche Bewegung zusammenfassen und fördern sollte. Da aber gleichzeitig Max Hirsch und Franz Duncker liberale Gewerkvereine gründeten und auch Bebel und Liebknecht, die inzwischen den Kampf gegen [202] Sch. begonnen hatten, sich in der gleichen Richtung bemühten, so trat alsbald eine Zersplitterung der Kräfte ein, die eine langjährige Hemmung unserer wirthschaftlichen Arbeiterbewegung zur Folge hatte. Durch die Gewinnung Bebel’s und der von diesem geführten Mehrzahl der in einem ziemlich losen Verbande zusammengeschlossenen deutschen Arbeiterbildungsvereine war es Liebknecht geglückt, compakte Arbeitermassen um die Fahne der internationalen socialen Demokratie zu sammeln. Bei jenem mit ungeheurer Erbitterung geführten Zwist zwischen der Partei Schweitzer’s und der entstehenden Partei Liebknecht’s und Bebel’s waren die sachlichen und persönlichen Motive auf eine nicht leicht entwirrbare Weise mit einander verquickt. Da es sich für Sch. in erster Reihe um die Aufrechterhaltung seiner Dictatur im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein handelte, so hielt er den Massen gegenüber selbst noch nach der 1869 in Eisenach erfolgten Gründung der socialdemokratischen Arbeiterpartei die Fiction aufrecht, daß sein Verein die einzige wirkliche, auf dem Boden des Classenkampfes stehende socialistische und proletarische Partei Deutschlands sei. Aber der vorausgegangene Abfall einer Reihe seiner einflußreichsten und talentvollsten Anhänger wie Bracke, Yorck, Geib und Spier und dann die im Umlauf befindlichen aber nie bewiesenen Gerüchte über seine angebliche politische Ehrlosigkeit hatten seiner Position bereits einen scharfen Stoß versetzt. Als er dann nach dem Kriege von 1870/71 bei der Reichstagswahl in Elberfeld in der Minorität verblieb, entschloß er sich zu einem gänzlichen Verzichte auf die Fortsetzung einer politischen Carriere, die ihm noch mehr durch die Feindschaft innerhalb der socialdemokratischen Partei als durch die der politischen Arbeiterbewegung überaus ungünstige Constellation nach dem Kriege verleidet worden war. Erleichtert wurde ihm dieser Schritt fraglos durch die Erfolge, die er inzwischen als Dramatiker erzielt hatte, und die ihm in pekuniärer Hinsicht, bei seiner überaus reichen Productionskraft, ganz andere Aussichten versprachen als die Politik, in deren Dienst er nichts als Schulden angesammelt hatte. Im J. 1872 verheirathete sich Sch. dann noch mit seiner langjährigen Braut Antonie Menschel aus Frankfurt (geb. 1834).

In Berlin, wo er seinen Wohnsitz behielt, entfaltete er während seiner letzten vier Lebensjahre eine schier unverständliche dramatische Fruchtbarkeit. Die historischen Schauspiele „Canossa“, „Bei Leuthen“ und „Scepter und Schwert“, waren offenbar erst jetzt herausgebrachte Jugendarbeiten. Diese Stücke sind heute mit Recht vergessen. Ein reelleres Talent, dem auch der Erfolg nicht versagt blieb, entfaltete Sch. in der Posse, im Schwank und im Lustspiel. Stücke wie „Die Darwinianer“, „Epidemisch“, das den Gründungsschwindel lustig geißelte, und „Großstädtisch“ gingen über fast alle deutschen Bühnen. Doch auch „Die Nichte des Millionärs“, „Das Vorrecht des Genies“, „Die Eidechse“, „Theodolinde“, „Comtesse Helene“, „Die drei Staatsverbrecher“ u. a. sind sehr viel gespielt worden. Sch. wurde bei seinem frühen Tode als einer der erfindungsreichsten und bühnenkundigsten deutschen Lustspieldichter gefeiert. Es ist bedauerlich, daß eine überhastete Productionsweise ihn zu keiner Individualisirung der Charaktere durch die Sprachebehandlung gelangen ließ. Der Spannung der Situation werden bei ihm alle litterarischen Ambitionen zum Opfer gebracht. Für eine Menschengestaltung aus dem Vollen war sein seelisches Erleben nicht reich genug. So ist keine der zahllosen Personen, die Sch. auf die Beine gestellt hat, aus einer saftvollen Anschauung entflossen, sie bleiben Marionetten, die ein abgefeimter Bühnenpraktikus bei oftmals glänzender Situationskomik am Drahte tanzen läßt.

Die geschichtliche Bedeutung dieses Mannes für die Nachwelt liegt unzweifelhaft in seiner politischen Wirksamkeit. Mußte es sich auch als unmöglich [203] erweisen, eine proletarische und demokratische Massenbewegung über die ersten Anfänge hinaus mit den Mitteln eines bonapartistischen Cäsarismus dictatorisch zu leiten, so hat Sch. doch als Organisator und Agitator die deutsche Arbeiterbewegung in zahlreichen Fragen so nachwirkend beeinflußt, wie außer Lassalle und Marx höchstens noch sein erbitterter Gegner Wilhelm Liebknecht.

Eine eingehende Biographie Schweitzer’s aus meiner Feder wird voraussichtlich 1909 [WS 1] erscheinen. Ueber sein Leben bis zur Uebersiedlung nach Berlin liegt bis dahin keinerlei Darstellung vor; für seine Wirksamkeit in der socialdemokratischen Partei vgl. Mehring, Zur Geschichte der deutschen Socialdemokratie, Magdeburg 1877; ders., Die deutsche Socialdemokratie. Ihre Geschichte und ihre Lehre, Bremen 1879, und ders., Geschichte der deutschen Socialdemokratie, 3. Aufl., Stuttgart 1906.

[197] *) Zu Bd. LIV, S. 282.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Johann Baptist von Schweitzer und die Sozialdemokratie: Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Jena, Fischer 1909.