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BLKÖ:Rieder, Ambros

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Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich
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Rieder, Edmund
Band: 26 (1874), ab Seite: 100. (Quelle)
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Rieder, Ambros (Tonsetzer, geb. zu Döbling nächst Wien 10. October 1771, gest. zu Perchtoldsdorf bei Wien 19. November 1855). Sein Vater war Schullehrer in Döbling, und da der Knabe große musikalische Anlagen zeigte, kam er zu seinem Großvater nach Wilfersdorf, der eine ordentliche Chormusik leitete und wo er neben dem Unterrichte in den gewöhnlichen Schulgegenständen auch noch jenen im Gesange, auf der Violine und dem Clavier erhielt. Der Knabe machte die schönsten Fortschritte, welche durch sein ungewöhnliches musikalisches Talent noch mehr hervortraten. Nun gab ihn sein Vater zu dem damaligen Regenschori im Lichtenthal, Karl Martinides, [101] der ihn im Generalbasse und in der Compositionslehre unterrichtete. Erst 13 Jahre alt, schrieb er bereits eine Messe, deren Aufführung und beifällige Aufnahme ein wahres Freudenfest für ihn war. Als er in dieser Zeit den damaligen Domcapellmeister bei St. Stephan, Leopold Alois Hoffmann [Bd. IX, S. 161], kennen lernte, fand er nun Gelegenheit, seine theoretischen Kenntnisse unter Anleitung dieses erfahrenen Musikers, sowie durch fleißiges Studium des „Gradus ad Parnassum“ von Fux weiter auszubilden und zu vervollkommnen. Durch Hoffmann machte er auch Bekanntschaft mit dessen Nachfolger in der Domcapellmeisterstelle, mit dem berühmten Contrapunctisten Albrechtsberger, dessen mehrjähriger Umgang, wie das gründliche Studium der classischen Schriften von Kirnberger, Türck[WS 1] und des Handbuches beim Generalbasse und der Composition von Marpurg seine musikalische Ausbildung vollendeten. Dabei hatte er noch das seltene Glück, die beiden Heroen der Tonkunst, Wolfgang Mozart und Ludwig Beethoven, persönlich zu kennen und die unmittelbaren Eindrücke ihrer unsterblichen Leistungen in sich aufzunehmen. Seit dem Jahre 1787 war Rieder im Schulfache, und zwar zu Döbling, wo sein Vater als Lehrer gewirkt, thätig; Im Jahre 1799 bat er den Cardinal und Wiener Erzbischof Grafen Migazzi um die Schullehrer- und Regenschoristelle im Markte Perchtoldsdorf nächst Wien, welche ihm auch verliehen wurde. Ungeachtet seiner Ernennung und seiner verdienstlichen Leistungen im Schulfache und als Organist protestirte der Magistrat von Perchtoldsdorf gegen seine Berufung und reichte den Recurs gegen dieselbe ein. Drei Jahre mußte R. mit dem von der Landesstelle bestätigten Decrete in der Tasche auf das Ende dieses Processes warten, bis ihm die höchste Hofentscheidung dieselbe sicherte und er endlich am 8. Februar 1802 seinen Dienst antreten konnte. Die Anfangs freundlichen Verhältnisse gestalteten sich jedoch nach dem Einfalle der Franzosen im November 1805, welche den Markt Perchtoldsdorf stark heimsuchten, sehr traurig; er verlor den größten Theil seiner Habe, erlitt noch weitere Verluste bei dem zweiten Einfalle im Jahre 1809 und das Finanzpatent vom Jahre 1811 gab ihn förmlichem Nothstande Preis. Als dann noch die Hunger- und Mißjahre 1813–1819 folgten und die Verarmung des Bauers sich auch für den auf ihre Naturalleistungen damals zunächst angewiesenen Schullehrer fühlbar machte, befand sich R. in den drückendsten Verhältnissen, aus denen ihn nur die Musik, der er mit verdoppeltem Eifer oblag, herausriß. In jener traurigen Zeit entstanden namentlich seine schönen, von dem Geiste wahrer Andacht durchwehten Kirchencompositionen, von denen viele im Stiche erschienen sind. Dieselben bestehen aus einer großen Zahl von Offertorien, Gradualen, Tantum ergo’s, Hymnen u. s. w., aus mehreren kleinen, eigens für Landkirchen componirten und äußerst populären Messen und dann mehreren größeren, für die berühmte Capelle des Fürsten Eßterházy geschriebenen, worunter die große, in C-dur im Jahre 1811 componirte sich besonderen Beifalls erfreute. Ein summarisches Verzeichniß seiner sämmtlichen Werke folgt auf Seite 102 und 103. Auch veröffentlichte R. mehrere sehr geschätzte theoretische Werke, darunter: „Anleitungen zum Präludiren und Fugiren für die Orgel“, Op. 84 (Diabelli, 1826) und Op. 95 (ebd.); – einen „Generalbass in [102] Beispielen“, Op. 103 (ebd. 1833); – ein, „Anleitung zur richtigen Begleitung der Melodien (der umgeschriebenen Kirchengesänge) zum Generalbass, Präludiren und Fugiren“, Op. 105 (Haslinger 1831). Ein besonderes Verdienst erwarb sich R. durch seine zahlreichen und trefflichen Präludien und Fugen für die Orgel und das Clavier, deren classischer Styl und kunstreicher Satz von Kennern bestätigt wird. Diese in ihrer Art einzigen Arbeiten sind zum Theile durch den Druck bekannt, denn von 68 Präludien sind 45, von 129 Fugen und Fughetten sind 75 im Stiche veröffentlicht und in den meisten Kirchen Wiens und Oesterreichs, denen sie unentbehrlich sind, ja selbst in Deutschland bekannt und gesucht. R., der auch ein tüchtiger Violinspieler und Quartettist war, wirkte in den seiner Zeit berühmten Augarten-Concerten und in den späteren, von Schuppanzigh veranstalteten Quartett-Productionen mit. Jedoch blieb die Orgel sein Lieblingsinstrument, und mit seinem Freunde Hummel [Bd. IX, S. 419], so lange dieser als Concertmeister der Fürst Eßterházy’schen Capelle in seiner Nähe sich befand, schloß er sich nicht selten in der Perchtoldsdorfer Kirche ein, um mit ihm viele Stunden im begeisterten musikalischen Wettkampfe zuzubringen. Ungeachtet dieser Vorliebe für die Tonkunst, der er sich mit Begeisterung hingab, vernachlässigte er aber sein Lehramt nicht im geringsten und war als tüchtiger, sorgfältiger, liebevoller Lehrer von Alt und Jung geachtet und geliebt. In vorgerückterem Alter traf ihn das für den Musicus doppelt empfindliche Loos der Schwerhörigkeit, die allmälig in völlige Taubheit überging. Ungeachtet dieses traurigen Geschickes blieb R. doch unaufhörlich thätig. Aus seinen späteren Jahren stammen die zahlreichen Uebersetzungen von Fugen, Fughetten und und Chorälen alter Meister wie Teleman (1837 für Haslinger), Gottlieb Muffat (für Ebendenselben), Joh. Jos. Fux (1839), ferner die von ihm besorgte Uebersetzung und Herausgabe von 30 Versetten und 8 Fugen von Albrechtsberger (1835, für Ebendens.), dann die Durchsicht und Correctur von 89 Gradualien und eines Buches Responsorien Hebdom. sanctae von Mich. Haydn (1830, bei Diabelli). Im Jahre 1845 verlor R. seine Gattin, mit der er seit seinem 19. Jahre in der glücklichsten Ehe gelebt und im Jahre 1840 noch die goldene Hochzeit gefeiert hatte. Er selbst starb nach einer 67jährigen Lehramtsthätigkeit! im hohen Greisenalter von 85 Jahren, ohne irgend ein äußeres Zeichen für sein doppeltes verdienstliches Wirken erhalten zu haben. Von seinen Kindern ist sein zweitältester Sohn Wilhelm August ein ausgezeichneter Maler, dessen Biographie in einem besonderen Artikel S. 107 mitgetheilt wird. Die Zahl der sämmtlichen Werke Rieder’s erhebt sich nach Aufschreibungen seiner an den Perchtoldsdorfer Schullehrer Rupp verheiratheten Tochter auf die ansehnliche Zahl von 427, ist aber, da unter einer Nummer oft mehrere Compositionen inbegriffen sind, noch bedeutend höher und umfaßt im Ganzen 512 Nummern, welche nach ihrem Charakter sich folgendermaßen gruppiren:

  Im
Stich erschienen
Im
Manuscript
Zwanzig Messen, von denen 4 16
Zwei Requien 1 1
Eine Litanei 1
Einundvierzig Offertorien 20 21
Achtzehn Gradualien 6 12
Dreizehn Tantum ergo, Veni
Sancte Spiritus, Asperges,
Benedictus
u. s. w.
6 7
[103] Im
Stich erschienen
Im
Manuscript
Eine Oper: „Der Traum im
Walde“ (1804)
1
Neunzehn Cantaten und Chöre 19
Achtunddreißig vierstimmige
Hymnen und Gesänge, darunter
vierzehn Trauergesänge
1 37
Achtunddreißig Gesänge mit
verschiedener Begleitung
13 25
Zwei Trauermärsche 2
Ein Streichquintett 1
Zehn Streichquartetten 6 4
Vier Violin-Duetten 3 1
Eine Sonate für Violine, Clavier
und Violoncell
1
Acht Sonaten für Clavier und
Violine
5 3
Neun Variationen und Uebungen
für Clavier (eigentlich
aber 40 Nummern)
9
Achtundsechzig Präludien für
Orgel oder Clavier (eigentlich
92, davon 65 im Druck
und 27 im Manuscr.)
45 23
Einhundert und neunundzwanzig
Fugen und Fugetten
(eigentlich 154, davon 87 im
Druck, 67 im Manuscr.)
75 54
Vier theoretische Werke 4
  199 228
     oder im Ganzen 512, u. z. 262 250

Von den meisten Compositionen befinden sich die Partituren und Auflagstimmen in Perchtoldsdorf, viele aber in Währing, wo Rieder’s ältester Sohn Johann seit Jahren als Schullehrer thätig ist. Schließlich sei noch erwähnt, daß Rieder seine letzte Composition als Greis von 84 Jahren, anderthalb Jahre vor seinem Tode, geschrieben hat; es ist ein Singquartett, betitelt „Sein Bild“ und dem ehemaligen Dechant von Himberg gewidmet; sie trägt, da R. seinen Werken erst seit dem Jahre 1814 die Opus-Nummer beizufügen pflegte, die Opus-Zahl 170. Was die künstlerische Bedeutung R.’s anbelangt, so möge hier nur eine, aber eine Fachstimme angeführt stehen, und diese lautet: „Ambrosius Rieder ist eine von jenen Ehrfurcht gebietenden Gestalten, die nur noch aus dem Boden des deutschen Vaterlandes hervorwachsen, die nichts von dieser Welt verlangen noch erhalten, Alles nur sich selbst verdanken und mit dem bescheidensten Loose zufrieden sind, auf Geistiges im Leben concentriren, auf eine Wissenschaft oder Kunst, aus deren Höhe sie das Elend der Erde nicht einen Augenblick herabziehen kann“. So die „Rheinische Musik-Zeitung“ im IV. Jahrgang, Nr. 39, über Rieder. R. hinterließ außer den oben angeführten Composition auch ein Tagebuch, welches Urtheile über Albrechtsberger, Beethoven, Haydn, Mozart, die er ja alle persönlich kannte und mit ihnen verkehrte, enthält. Daß dasselbe wirkliche Bedeutung besitzt, erhellet aus dem Umstande, daß Otto Jahn in seinem herrlichen Werke über Mozart Rieder’s begeistertes Urtheil über Mozart’s Improvisationen mittheilt.

Neue Wiener Musik-Zeitung, herausg. von Franz Glöggl (4°.) V. Jahrg. (1856), Nr. 25 u. 26: „Nekrolog“. – Allgemeine Wiener Musik-Zeitung, herausg. von Dr. Aug. Schmidt (4°.) I. Jahrg. (1841), Nr. 130: „Gallerie jetzt lebender, um die Tonkunst verdienter Schulmänner. X. Ambros Rieder“. – Gaßner (F. S. Dr.), Universal-Lexikon der Tonkunst. Neue Handausgabe in einem Bande (Stuttgart 1849, Frz. Köhler, Lex. 8°.) S. 722. – Neues Universal-Lexikon der Tonkunst. Angefangen von Dr. Julius Schladebach, fortgesetzt von Ed. Bernsdorf (Dresden 1857, R. Schäfer, Lex. 8°.) Bd. III, S. 332. – Niederrheinische Musik-Zeitung, Jahrg. 1856. – Schilling (G. Dr.), Das musikalische [104] Europa (Speyer 1842, F. C. Neidhard, gr. 8°.) S. 281. – Gerber (Ernst Ludw.), Neues historisch-biographisches Lexikon der Tonkünstler (Leipzig 1813, A. Kühnel, gr. 8°.) Bd. III, Sp. 858. – Oesterreichische National-Encyklopädie von Gräffer und Czikann (Wien 1835, 8°.) Bd. IV, S. 387. – Schriftliche Mittheilungen des Herrn Dr. Lorenz aus Wiener-Neustadt.

Anmerkungen (Wikisource)