Der Dienst des Pfarrers/Die Seelsorge

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Der Dienst des Pfarrers
Die peripherischen Arbeiten des Pfarramtes »
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Kapitel IX.
Die Seelsorge.
 1. Die Sorge für die eigne Seele. Je mehr der Diener der Kirche zu geben und zu leisten hat, desto mehr achte er darauf, daß er nicht innerlich verarme. Denn der berufsmäßige Umgang mit dem göttlichen Worte läßt die Schärfe dieses nach beiden Seiten schneidenden Schwertes leicht gewohnt werden und sie Tag um Tag gegen die andren richten, um sich innerlich von ihm ferne halten zu können. Es kann ein korrektes, bekenntnisgemäßes Lehrsystem in Predigt und Unterricht, ja ein Eifer um Reinheit der Lehre, sogar des Lebens wohl Raum neben innerer Erstorbenheit haben: Du hast den Namen, daß du lebst und bist tot (Offbg. 3, 1). Selig ist nicht der Knecht, den der Herr, wenn er kommt, träumend, sondern nur der, den er wachend findet (Luk. 12, 37). Schließlich hört in dieser Gleichförmigkeit die Umsicht für| die Heiligung des eignen Lebens auf, man wird lässiger und gibt sich nach, beschönigt bei sich aus den Begleitumständen heraus, was man bei andern scharf verurteilen würde und hart verurteilt, um ja vor der Welt rein dazustehen (Röm. 2, 21). Man predigt von dem Ernste des Gerichts und spricht sich ein, es werde so ernst nicht werden, geht den einmal eingeschlagenen Weg und läßt sich die innere Verarmung nicht dauern. Und doch stellt der Erzhirte so viel Mahnzeichen uns an den Weg! Die Gemeinde wird im Gottesdienste schlaff, die Ernsten in ihr ziehen sich zurück. Suche nur keiner zunächst die Schuld in der Sucht nach Abwechslung, die der gewohnten Speise überdrüssig mache. Frage vielmehr jeder, ob er noch sein Herz in die Predigt lege und wie sein Herzensacker beschaffen sei. Viel Predigen hat nicht nur den Leib müde, sondern auch das Herz kalt und hart gemacht. Denke an deine Seele! Du übersiehst einen arbeitsreichen Sonntag. Wie viele Kinder hast du getauft, wie vielen das heilige Nachtmahl gereicht! Hast du bei jedem Kinde das große Geheimnis bedacht und betrachtet, in das du es hast einsenken dürfen, bei jedem Abendmahlsgast die Bitte innerlich emporgesendet, daß der Herr ihn erquicken möge, so daß deine Seele noch in gesammelter Andacht stand, als die letzte Reihe der Gäste kam? Oder liegt all dieses wie eine rein mechanische Handlung hinter dir, die eindruckslos an dir vorüberging? Der Kranke verlangte sehnlich nach dir, du aber schobst den Besuch auf gelegenere Zeit auf. – Und in der Nacht ist er gestorben. Diese Arme wollte diesmal keine irdische, sondern eine himmlische Gabe, sie wollte nur deine Zeit und Gehör für ihre| Klagen. Du aber fertigtest sie kurz ab, weil ein Buch dich fesselte. – Es ist gnadenvoll von Gott, daß er dem Diener die Reue so schnell erweckt. Die Seele aber spreche: Was hilft mir Ehre und Einfluß, Gewinn und Ansehen, wenn ich an mir selbst verkümmere! Die Stille der Abendstunde nach schwerem Tagewerk treffe uns bei der Buße, die in die Vergebung flüchtet. „Allen Seelenschaden deck’, Jesu, nun in Gnaden mit deinem Purpurmantel zu!“ Und aus der Reue komme das Gebet: Mache dem Gedanken bange, ob das Herz es redlich mein, ob ich treulich dir anhange, ob ich scheine oder sei. –
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 2. Die Seelsorge in der Gemeinde, a) bei den Gesunden. Ziehet an, Heilige und Geliebte, herzliches Erbarmen. (Kol. 3, 12). Das ist die Rüstung, die einzige, welche der Herr seinen Knechten für das schwerste Amt mitgegeben hat, wie er sie selbst trug, als ihn das Volk jammerte (Matth. 9, 36). Aus diesem Mitleide hat er jede Frage angenommen und jeder Klage sich erbarmt, ob auch die Trauer um vergebliche Arbeit über ihn kam und er denken mußte, umsonst gearbeitet zu haben. Aus diesem Mitleide hat er als sein letztes seelsorgerliches Wort vor Gethsemane gesprochen, in das er das Ergebnis aller seiner Beobachtungen und die Begründung seiner Arbeit gelegt hat: In der Welt habt ihr Angst. Von dieser Voraussetzung soll der Seelsorger ausgehen, ob er in die geringe Hütte oder in den glänzenden Palast eintritt: – Hier ist Welt, so oder anders geartet, und wo Welt ist, da ist Angst und Enge, Bedrängnis und Drangsal. – Auf dem Dorfe sollte der Pfarrer alle Jahre seine Gemeindeglieder besuchen und| sich Weg und Wetter nicht verdrießen lassen, auch zu den Unkirchlichen, ja gerade zu ihnen zu gehen, Anknüpfung suchen, zum Besuch einladen und kein Mittel unerprobt lassen, das seines Herrn Absichten fördern könnte. Der Bauer will verstanden sein; bei seinem tiefeingewurzelten Mißtrauen gegen alle Höheren, bei der Rückhaltigkeit und Verschlossenheit seines Wesens ist ihm schwer beizukommen. Er hört an, scheint zuzustimmen, bleibt aber bei seiner Meinung. Da gilt es die Kunst, ihn reden zu lassen und von ihm zu hören, seine Sorgen und Gedanken zu vernehmen und aus ihnen zu lernen. Es kommen Gelegenheiten herauf, die ein Gotteswort ihm näher bringen. Hat er nicht noch Erinnerungen an bessere Tage, kennt er nicht noch Höheres als den mühsamen Erwerb? Durch die Schule wird auch in der Großstadt manches Haus geöffnet. Der Besuch bei den Eltern der Kinder, der Konfirmanden, in Kasualfällen tut manche Türe auf. Von Anfang an die Pflicht unerfüllt und die Mühe unversucht lassen ist freilich einfach, bewahrt vor vielen unangenehmen Erfahrungen, ist aber Versäumnis und bringt Schuld. Gerade in den Häusern, zu denen man sich’s am wenigsten versehen hat, bei den kleinen Leuten, den Arbeitern findet man am ehesten Eingang. Wer das Herz des Kindes sucht, findet das der Eltern. – Wenn schweres Unrecht, lange gepflegte und genährte Feindschaft, böse Gerüchte, insonderheit von Sünden gegen das 6. und 7. Gebot an den Pfarrer herandringen – er aber hüte sich, Zuträger heranzuziehen und Zuträgereien zu glauben – dann gehe er unverzagt dem Strafamte nach. Das rechte Wort wird nicht dem Erschrockenen gegeben, sondern dem, der| sich nicht fürchtet, weil das Amt seines Herrn und das Werk seines Gottes ist. Aber er komme nicht bloß mit dem Gesetze, sondern weise hin auf das Weh, das der Mensch sich selbst bereitet: Israel, du bringst dich selbst ins Unglück, denn dein Heil steht allein bei mir! Die Lindigkeit werde, schreibt derselbe Apostel, der so scharf und schneidend die Sünde straft, allen Menschen kund (Phil. 4, 5), die nachgehende, eingehende Liebe, die auch in Sünden noch das Bild des Königs sucht: Audi, quomodo amatus es amandus, audi, quando amatus es turpis (Röm. 5, 6). Welche Sünder auch dem Seelsorger unterkommen, die ausbrennende Sünde der Sinnlichkeit, die ausdörrende des Geizes, die lähmende der Streitsucht, immer sehe er auf die Gebundenen – (Hebr. 13, 3). Dabei bewahre er, was Vorbedingung der Seelsorge ist, die Kraft gelassen zu bleiben, auch bei persönlichen Angriffen, und die Verschwiegenheit, welche der Ungerechtigkeit sich nicht freut. Man kann niemanden zu Geständnissen zwingen und soll es nicht. Wenn aber aus der Tiefe des Herzens Vergangnes, Begangnes heraufkommt und Sündenabgründe sich erschließen, vor denen du erbebst, dann danke Gott für solche Erfahrungen: dum confessio in ore, sanatur vulnus in corde. Zwischen dem, der den Mut fand zu bekennen, und dir wird, wenn du recht achtest, ein Verhältnis werden, das die Zeit überdauert. Du kannst den nimmer lassen, der in dir den Arzt begehrte und fand. Räume darum die Anstöße aus dem Wege, laß dich Zeit und Mühe und saure Gänge nicht reuen. Seelsorgerliche Gänge bringen für Herz und Amt großen Gewinn.
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|  Es ist wohl bekannt, welchen Rumor die auf Harleß zurückgeführten Anweisungen – sie waren nicht von ihm ausgearbeitet – über Kirchenzucht erregten! Und doch waren es nur seelsorgerliche Meinungen und Mahnungen, für welche freilich die Zeit nimmer oder noch nicht geeignet war. Aber es wird besser sein, diese Fragen alle mehr in die Treue und Fürsorge des einzelnen Pfarrers zu legen, der immerhin seine Beratung sich suchen mag, als allgemeine Vorschriften zu geben. Wie gut wäre es, wenn die Einzelbeichte – das Wort Privatbeichte ist aus der rationalistischen Zeit hereingekommen – nicht als lästiger Zwang, sondern als seliges Recht da und dort wieder geübt würde! Sie bringt, ernst gebraucht und geübt, vielen Segen, kann Richtung geben, die feste Schritte tun läßt, heimlichen Bann brechen, kräftige Demütigung schenken, denn es ist demütigend, einen Menschen zum Mitwisser seines Unrechts zu haben. Jedes seelsorgerliche Gespräch aber sei solch eine Beichte, die freilich viel Zeit kostet, aber auch viel Siege bringt!
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 3. Die Seelsorge bei den Kranken. Soll man unaufgefordert oder erst gerufen zu den Kranken gehen? Auf dem Lande erwarten die Leute den Besuch ihres Pfarrherrn, der es ja am leeren Kirchenplatz sehen soll, daß jemand krank ist, wenigstens fragen müßte, warum er fehlt. Andrerseits herrscht gerade auf dem Lande der Aberglaube, daß der Tod nahe, wenn der Geistliche kommt. In der Stadt gehe man, wo und wenn man gerufen wird, am besten aber und zu den Armen ungerufen. Es wird sohin wohl das Geratenste sein, in gewissen Zwischenräumen von der Kanzel bekanntzugeben,| daß man die Kranken anzeigen solle, weil der Geistliche sie besuchen wolle, und dann hinzugehen, wo eben Kranke und Arme sind. Denn das Armenhaus soll dem Pfarrer nicht eine Stätte sein, die er nicht kennt und darum meidet, sondern ein Ort, da er fleißig einkehrt, um Fürsorge zu treffen und Licht und Hilfe zu bringen. Die Gemeinde wird es dem Pfarrer danken, wenn er dahin geht, wo ihr Elend, auch das verschuldete, haust. – Der Krankenbesuch sei durchweg kurz und lediglich auf den Zweck gerichtet. Zu Unterhaltungen ist die Zeit des Pfarrers nicht gegeben. Nicht jeder Besuch ende mit Gebet, aber jeder bringe ein (vorbereitetes) Gotteswort, deren man die Fülle auswendig kennen muß. Das Vorlesen schadet der Unmittelbarkeit des Verkehrs. Beten wird der Geistliche mit dem Kranken erst auf dessen Bitte hin, und das auch erst, wenn er den Zustand des Betenden kennt. Es ist nicht wohlgetan, die Perlen gleich auszustreuen und zu beten, ehe man mit dem Andern eins geworden ist. Die Gedanken aber des Gebets soll der Kranke geben. Die Sprüche und Verse, welche man jeweils darbietet und auf dem Wege zum Kranken bewegt hat, soll sich der Geistliche aufzeichnen, damit er wieder auf sie zurückgreifen kann. Und wenn er an ein andres Krankenbett tritt, soll er vom ersten nimmer reden. Der Besuch werde fleißig wiederholt, wenn das Ende naht, wohl öfter des Tages, immer um die Seele für die Heimat zu bereiten. Auch den abweisenden Kranken? Wenn er sich den Besuch geradhin verbittet, nein. Denn das Herrenwort Luk. 14, 23 ist nicht also gemeint, daß man die Gnade aufdrängen| soll, welche dann nimmer als Gnade empfunden würde. Wenn der Arzt es verbietet, weil der Kranke „aufgeregt wird“, da suche der Geistliche zu beweisen, daß er nicht aufregen und verunruhigen, sondern Frieden bringen wolle. Wenn aber die Abweisung bleibt, so bete er, weil er mit dem Kranken zu beten verhindert ward, desto ernster für ihn. Er selbst aber ist der Verantwortung los. – Die Seelsorge selbst wird nur zwischen den beiden Polen von Sünde und Gnade sich bewegen müssen, sei es der Einzelsünde, die das Leiden herbeiführt, sei es der Sünden, die das Leiden erkennen lehrt, sei es, und das wird zunächst das Rätlichste sein, zwischen der Gottesferne und den vielen in ihr zugebrachten Zeiten und der Bedürftigkeit und Hilflosigkeit, der nur die Gnade steuern kann. Es sei aber die Seelsorge maßvoll, nicht treiberisch: siehe, der Sämann wartet, er ist geduldig darüber (Jak. 5, 7)! Sie rede auch nicht zu schnell vom Tode noch zu leichthin von der nahen Besserung, wie überhaupt der Geistliche trotz aller „Pastoralmedizin“ und den Ratschlägen unsrer alten Kasuisten ängstlich und ernstlich sich hüten soll, in Gebiete überzugehen, die er nicht übersieht und nicht zu verstehen braucht. Wenn aber der Tod näher kommt – der erfahrene Seelsorger kennt die Zeichen seiner Nähe eben aus der Beobachtung heraus –, scheue er sich nicht, auf den Ernst der Lage hinzuweisen, und sei es nur in der Mehrung der Besuche und in dem Ton, den die Gebete treffen. Dabei aber vergesse er nicht, daß der Gott noch lebt, der dem todkranken Hiskia Zulage von fünfzehn Jahren gab, und Wunder tun kann, wenn| er will, und es diensam ist. Das heilige Abendmahl den Kranken aufzudrängen, empfiehlt sich ebenso wenig als es unrichtig ist, das Verlangen nicht zu erwecken. Nur, daß nicht ein Gottesurteil von seinem Genuß erwartet werden darf, wie auf dem Lande der Entscheid zur Besserung oder Verschlimmerung des Befindens erhofft wird. Daß bei dem Kranken die heilige Handlung, soweit es mit ihrer Würde sich verträgt, abgekürzt wird, ist ein Werk der Barmherzigkeit.

 Wenn der Kranke den Beistand des Seelsorgers, mit dem, wenn alles rechter Art ist, ihn ein Vertrauensband verbindet, für die Todesstunde erbittet, so stelle sich der Geistliche gerne bereit. Es wird bekannt werden, daß er zu den Sterbenden geht und sie stärkt, und wird Vertrauen finden. Er sorge dafür, daß um den Sterbenden kein Getümmel sei (Mark. 5, 39), die Menge der Leute weiche, die nicht die Heilsbegierde, kaum die Teilnahme hergeführt hat, bete nicht viel, aber kräftig mit dem Kranken, sage ihm kurze stärkende Worte, am besten längst vertraute Liederverse und segne beim Herannahen der Todeszeichen auf dem Antlitz den Kranken mit einem unsrer alten, majestätischen Valetsegen aus, danke dann für die Erlösung und spreche wohl ein kurzes Wort der Tröstung und Mahnung an die Hinterbliebenen. Gut wird es sein, und wäre es nur fürs eigne Sterben, wenn der Pfarrer über die Beobachtungen am Sterbebett sich Aufzeichnungen macht. –

 Daß mit diesen kurzen Worten die unübersehbare Menge von Fragen, die jeder Krankenbesuch anregt, nicht berücksichtigt sein kann, ist zutage. Aber einige Winke| mögen auf einzelne Krankheitsbilder hinweisen. Die chronisch Kranken werden leicht mißmutig und verdrießlich. Sie zur Geduld zu ermahnen ist ein leichtes Wort und eine schwere Sache, der gesunde Mann, als welcher der Seelsorger doch zumeist vor den Kranken tritt, ist für diesen an sich eine Anfechtung. Da fasse man sich selbst in Geduld und habe Zeit, die immer wiederkehrenden Krankenklagen anzuhören, bringe wohl auch eine gute Erzählung mit, suche den Kranken von sich abzulenken, besuche ihn immer zu bestimmten Zeiten, auf die er zählen und sich freuen kann, und gebe ihm die Überzeugung ins Herz, daß, wenn schon schwache Menschen seiner gedenken, der gnadenreiche Gott ihn gewiß nicht verlassen werde. Zuweilen bringen kleine Aufgaben, Bibelstellen, Liederverse auswendig zu lernen, wohltätige Anregung und Wirkung. – Was aber für alle Kranken gilt, das gelte bei dieser Art von Kranken zumeist, der Geistliche darf nicht scheusam sein. Es ist nicht leicht, bei Krebskranken sitzen und vielleicht, weil das Gesicht verbunden ist, nahe an sie heranrücken zu müssen. Wer aber hier flieht oder sich weigert, der macht seinem Herrn Unehre. Es ist wohl auch schwer, die Luft bei Lungenkranken einzuatmen, aber Gott schützt, und die Liebe überwindet. Der Kranke will nicht gemieden, sondern besucht sein. Daß auf dem Lande die Neigung besteht, seine Wunden und Gebrechen zu zeigen, sei angemerkt. Der Anfänger soll hier, nicht um der äußeren Ansteckung willen, sich Gott befehlen. Bei Gemütskranken, wo Rat und Hilfe am teuersten sind, lasse man immer wieder die Aussprache gewähren, gehe auf die Vorstellungen,| so weit die Wahrheit es erlaubt, ein, lasse auch, weil die Liebe es verstattet, sich über seine Verständnislosigkeit schelten und suche das Vertrauen zu gewinnen. Der Geistliche ist ja nicht dazu berufen, krankhafte Vorstellungen zu bannen noch sie zu verstärken, wohl aber zu trösten soweit er kann. Man lächelt oft über die Hysterischen, diese armen und gebundenen Menschenkinder, bei denen Krankheit und Wahn, Offenheit und Verschlagenheit, schwermutvoller Ernst und gesuchte Freundlichkeit schwer aneinandergrenzen. Sie gewähren dem unerfahrenen Seelsorger stets ein andres Bild, sprechen sich aus und hängen sich an jedes Wort des andern, um es zu drehen und zu deuteln, reizen und beleidigen, um Verzeihung erbitten zu können, reden Böses, um die Lust gestraft zu werden, genießen zu dürfen. In diesen wechselvollen Spielen armer Gefangener ist nur Nüchternheit und Ernst von Segen. Beides muß gewahrt bleiben und hilft den Kranken, die sich erkannt sehen und doch nicht verstoßen wissen. Die leidenschaftlichen Selbstanklagen, in denen diese Armen sich immer genug tun, die fortgesetzten Bekenntnisse von unerhörten Sünden, die sie nicht sagen könnten, die sofortige Hinweisung auf unvergebbare Sünde, der Wechsel zwischen Mangel und Überfülle von Energie, ihre Beobachtung, ob sie Eindruck machen, dies alles will als Kreuz erfaßt und in dieser Erkenntnis getragen sein. Gemeiniglich wird darum die Seelsorge bei den akuten Kranken leichter sein, die Zeit ist kürzer zusammengedrängt, das Bild einfacher. Darum aber auch die Pflicht drängender, dem besonders Genommenen besonders zu dienen. –| Die Krankenhäuser bedürfen regelmäßiger Fürsorge, ob viele oder wenige Kranke, schwere oder „nur“ leichte vorhanden sind. Wer diese Gelegenheit zu spezieller Seelsorge verabsäumt, hat sie nicht verdient. Es wird dann gut sein, wenn der Geistliche in den Sälen von Bett zu Bett geht, ohne daß er erst sagen muß, er sei der Pfarrer, und etwa in der Mitte des Saales einen kurzen Gottesdienst hält, die Schwerkranken wird er ja einzeln sprechen können und müssen und an ihnen handeln, als besuchte er sie zu Hause. Freilich muß er ein gutes Gedächtnis haben – wer Interesse hat, hat auch Gedächtnis, – damit er die Kranken in Erinnerung behält. Die kurzen Andachten mit Gesang und Gebet, nie über eine halbe Stunde, – wollen gut vorbereitet, auf der Losung des Tages, auf einem Worte aus dem Sonntagsevangelium aufgebaut, aber nicht an fortlaufende Texte gebunden sein, weil der Krankenstand und mit ihm die Zuhörerschaft wechselt.
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 Einer Abteilung sei besonders gedacht. Zu den geschlechtlich kranken Männern gehe der Geistliche jedenfalls, um ein kurzes Zeugnis wider die entnervende und entmännlichende Gewalt dieser Sünde abzulegen. Er weise nicht zuerst und zunächst überhaupt nicht auf das Unrecht gegen Gott hin, sondern gegen Volk und Vaterland, gegen das eigne Leben und seine Zukunft. Er schone nicht und biete Gottes Wort weiter nicht dar, erst wenn er gebeten wird, und dann nicht gleich mit dem Sündentrost. Anders steht es bei den gefallenen Mädchen. Hier mag besonders der Anfänger sich fragen, ob er zu diesen Kranken, die in ihm nur den| Mann sehen, gehen soll. Wenn ihm Gott Festigkeit, die sich nicht beirren noch verirren läßt und brennende Sünderliebe geschenkt hat, daß er das rechte strafende und aufrichtende Wort findet – und Er gibt es denen, die ihn darum angehen, – dann trete er auch bei diesen ein, sie gehören ja doch auch zum Volke der Erlösten, nur lasse er nicht von den oft reichlich strömenden Tränen sich betrügen, – die Sünde macht weichlich, nicht weich – noch von dem höhnenden Lächeln sich abschrecken. Erst wenn der äußere Anstand und die Ruhe weichen, bleibe er weg.
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 4. Die Seelsorge bei den Gefährdeten, für die Verirrten und Gefallenen, bei den Gefangenen. Es wird das Anliegen des Pfarrers sein müssen, die Innere Mission, diese freie und gesegnete Gehilfin des geistlichen Amtes, deren Anliegen es, wenn sie rechter Art ist, sein muß, sich möglichst überflüssig zu machen und das Außerordentliche wieder in die Ordnungen zurückzuführen, möglichst spät und möglichst wenig in Anspruch zu nehmen. Darum geht er selbst den Gefährdeten nach und sucht die, die ihn nicht mehr suchen, wie es sein Meister getan hat, der neunundneunzig ließ, um eine Seele zu finden. Er besucht die einsame Fabrikarbeiterin, die Ladnerin, die Kellnerin, die so verlassen in der Stadt dem sich anschließen, willenlos und wahllos, der ihnen Hilfe verspricht, er habe gerade für diese Armen Sprechstunden nicht bloß zwischen „zwei und drei“, wo sie nicht kommen können, auch nicht in den großen Sprechstunden, die meist mit äußeren Fragen und Anliegen ausgefüllt sind, sondern auch am Abend, wenn für| diese Vielgeplagten endlich die Ruhestunde gekommen ist. Mehr als die wöchentlichen Andachten, deren Bedeutung nicht unterschätzt werden soll, aber leicht überschätzt wird, da die sie Besuchenden meist auf guten Wegen sind, während die Verirrten ihnen ferne bleiben, nützen und fördern die Aussprachen, die zu manchem Gang und vielen Bitten und Briefen führen, aber wenigstens die Beruhigung in die Seelen bringen, daß die Kirche sie nicht verstoßen noch verlassen habe. Es soll der Ehrentitel des Pfarrers sein, der Armeleutepfarrer zu heißen. „Versammle alle Armen und Geängsteten und Vergessenen in deines Herzens Spittel und dann erbarme dich über sie (Tauler)“! Man fürchte nicht, in der Seelsorge sich zu zersplittern und für das Amt nötige Kräfte zu vergeuden. Die Gefahr der Zersplitterung droht von andrer Seite. – Wenn aber der Geistliche rechter Art ist, sollten sich dann nicht in der Gemeinde guttätige Leute finden, die ihm mit Geldmitteln beistehen, um dort ein Fortkommen, weg von der gefährdenden Umgebung, zu ermöglichen, hier ein Obdach zu bieten? Es ist so viel Verlangen einzelstehender Frauen nach Berufen, es werden Vereine gebildet und Kongresse beschickt. Hier wäre die schönste und der Natur des Weibes angemessenste Betätigung, den gefährdeten Geschlechtsgenossinnen Herz und Haus aufzutun. Fürsorge für Kinder, auf daß sie der Verwahrlosung nicht anheimfallen, für die entlassenen Gefangenen, daß sie Arbeit finden; wo nur Not herrscht, trete die Seelsorge ein, die auch mit äußeren Mitteln helfen soll (Jak. 2, 16). – Wir fassen zusammen: Das Pfarrhaus sei für alle Not zu allen Stunden offen, die Teppiche| und Portieren, die Vorhänge und die Ausstattung sollen den Zugang nicht wehren. Sozial ist der Pfarrer erst dann, wenn er die Elenden seine Seele finden läßt, eine Seele voll Erbarmens. Gerade jetzt, wo der Humanitarismus die Fragen alle lösen will, welche Not und Elend, Krankheit und Leid erwecken, wo für Kranke und Heimatlose, für Fürsorgezöglinge Großes geschieht, soll die Kirche sich nicht lässig oder auch nur zögernd finden lassen: denn jene Arbeit sieht doch nur unmittelbar auf das Notwendigste und kann wohl auch nicht eine Arbeit der Kirche ab- und annehmen, wohl aber, ohne es zu wollen, die Kirche verdrängen.





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