Die Gartenlaube (1858)/Heft 2

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1858
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 2. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Das selbstbewußte Weib.
(Schluß.)


Mit Bernhardinens Brief war auch einer von Madame Alster gekommen. Mechanisch erbrach er diesen und las, aus jedem Worte Gift saugend, Folgendes:

„Ich hoffe, Dein Geschäft hat einen günstigen Fortgang und daß die alles verwirrenden Advocaten nicht endlich weiter mehr im Stande sind, eine so einfache Frage wie diese unverständlich zu machen. Wir werden alle froh sein, wenn Du wieder zu Hause bist, obgleich ich eben nicht sagen kann, daß Deine Frau aus Sehnsucht nach Dir eine Thörin geworden wäre, wie ich wirklich anfangs vermuthet hatte. Im Gegentheil, sie ist lebhafter denn je und jeder Tag scheint ihr Glück zu vermehren. Sie machte sogar mich lachen, obschon ich, wie Du wohl weißt, eben nicht sonderlich dazu geneigt bin; aber sie war seit den letzten drei Tagen so unwiderstehlich komisch, wenn sie Deines Schweigens erwähnte, daß ich nicht anders konnte, ich mußte in die allgemeine Heiterkeit mit einstimmen. Ich finde, sie würde eine gute Actrice abgeben. So stellte sie unter anderm einen Mann dar, der aus Eifersucht an gräßlichen Kopfschmerzen leidet. Sie wußte die komische Seite einer solchen Situation so vortrefflich hervorzuheben, daß ich meinte, Alphons werde vor Lachen bersten; es war aber auch gar zu drollig. Ich lasse ihr mit Willen diese Freiheit, damit ich dadurch Gelegenheit gewinne, ihren Charakter zu studiren, und ich glaube, ich weiß nun, was ich zu wissen wünschte. Dein Urtheil über Fräulein Waldheim war, wie ich fürchte, richtiger als das meinige. Sie ist in Wahrheit eine Statue. Als Bernhardine ihre mimischen Talente zum Besten gab, saß sie auf der Ottomane mit mürrischem und verächtlichem Blick, sprang dann auf und las hochmüthig Deiner Frau, wegen ihrer Leichtfertigkeit und ihres Mangels an Gefühl, tüchtig den Text. Alphons nahm Bernhardinens Partei und er und Fräulein Waldheim geriethen ziemlich hart an einander. Am Schlusse des Streites reichte Bernhardine Alphonsen die Hand und sagte ihm, er dürfe sie küssen, da er seine Vasallentreue bewährt habe. Doch das schien mir zu weit zu gehen und ich verhinderte es. Ich wünsche, daß Du davon weiter keine Notiz nimmst. In dem Verhalten Deiner Frau liegt nichts Tadelnswerthes und nur Fräulein Waldheim findet bei ihrer übertriebenen Prüderie darin etwas Unpassendes. Da ich nichts darin zu tadeln finde, so brauchst Du auch gar nicht beunruhiget zu sein.“

Aber gerade der letzte Satz zerriß das Gewebe der Madame Alster. Sie vergaß, daß, wenn sie den Verdächtigungen, die sie blos anregen wollte, eine fühlbare Form gab, sie selbst das Spiel aus ihren Händen ließ. Arthur verließ die Hauptstadt noch denselben Abend, ohne sich weiter um sein Geschäft zu bekümmern, das nun wieder die Advocaten aufnahmen und noch weiter zur Füllung ihrer Börsen benutzten.




IV.

Am andern Morgen saßen die in Distelfeld ruhig beim Frühstück, als Arthur mit zornigen Augen und verwirrten Mienen in das Zimmer trat. Er war bleich und der innere Grimm lag deutlich auf seinen Zügen. Als Bernhardine ihn erblickte, sprang sie mit einem Freudenschrei auf und stürzte in seine Arme, nichts von den wilden Blicken wahrnehmend, die von ihr auf die Gesellschaft und wieder zu ihr zurückschweiften. Alphons stand auf, halb verlegen und halb amüsirt von dem, was da kommen sollte, denn Arthurs Augenbrauen verkündeten Sturm, dessen Veranlassung er als Mann von Welt sogleich instinctmäßig erkannte. Madame Alster fühlte zum ersten Male in ihrem Leben sich geprellt. Sie hatte auf Arthurs Zurückhaltung gerechnet und nicht minder auf Bernhardinens timides Wesen, und nun sah sie mit einem Blick, daß es zu einer Erklärung kommen würde.

Nach dem in mürrischem Schweigen verzehrten Frühstück forderte Arthur seine Frau auf, ihm in den Garten zu folgen. Dies geschah in einem so befehlenden Tone, als ob sie eine Sclavin oder ein Kind wäre.

„Laß mich zuerst mit Dir sprechen,“ sagte Madame Alster in einem Tone, der gebieterisch sein sollte, aber nur den Versuch dazu ausdrückte.

„Nein,“ antwortete finster Arthur; „was ich zu sagen habe, habe ich meiner Frau zu sagen.“

„Und Deinem Cousin ebenfalls, vermuthe ich,“ murmelte Alphons in sich hinein.

Schweigend ging Arthur an der Seite seiner Frau in den Garten und einer Laube zu, während diese gleich einem vertrauenden, aber auch fürchtenden Kinde sich an ihn schmiegte. Beide ließen sich auf der Bank der Gartenlaube nieder. Obgleich fest entschlossen, noch heute Alles zu Ende zu bringen, wußte er doch nicht recht, wie er beginnen sollte. Bernhardine sah so liebend und vertrauend auf ihn, und er war ein junger Ehemann und dies die erste Zusammenkunft nach einer dreiwöchentlichen Trennung. Sie war so unverkennbar erfreut gewesen über seine Ankunft und das sah doch nicht aus wie Kälte gegen ihn. Auch hatte Cousin Alphons nicht ausgesehen wie einer, der durch seine Ankunft sich genirt oder schuldig fand. Nicht minder hatte er, trotz seiner scharfen [18] Beobachtung, auch nicht einen Blick des Einverständnisses wahrgenommen; sie hatten sich Beide zu einander benommen, wie sehr gute Bekannte und nicht mehr. Was war also hier eigentlich das Tadelnswerthe? Wie sollte er beginnen?

Bernhardine riß ihn aus dieser Verlegenheit; sie sprach zuerst.

„Arthur, zwischen uns ist etwas nicht recht!“ sagte sie, zwar rasch, aber doch mit etwas zitternder Stimme.

„So ist es, Bernhardine.“

„Bist Du unzufrieden mit mir?“ und ihre Hand fuhr sanft an seiner Wange herab.

„Ja wohl, und nur mit Dir!“

„Warum siehst Du mich nicht an, während Du das sagst?“ sagte sie und schmiegte sich noch inniger an ihn an.

Er wendete sein Auge auf sie. Ihre Augen sprachen nur Liebe und ihr ganzes Wesen kindliche Hingebung. Sein Herz vermochte nicht die eifersüchtigen Einbildungen festzuhalten; diese zerflossen wie fieberische Träume beim Erwachen. Er nahm ihre Hand in die seinige und blickte fixirend und liebend, aber auch traurig in ihre Augen.

„So schön und so falsch!“ sagte er halblaut. „Kann sie denn wirklich treulos sein mit Augen so voll von Liebe und Unschuld? Und doch! – hat mich meine Mutter belogen?“

„Warum sprichst Du so leise, Arthur? Ich verstehe Dich nicht. Sage mir offen, was ist es, das Dein Herz beschwert? Was hast Du gegen mich? Was es auch sei, sag’ es frei heraus und ich will Dir antworten aus vollem Herzen, wie ich es stets gethan. Ich habe Dich nie betrogen, nie getäuscht, Arthur; und heute bin ich noch weniger geneigt, den Weg der Falschheit und der Heuchelei einzuschlagen,“

„So lies das. Ich kann Dir nichts weiter sagen.“ Mit diesen Worten legte Arthur die Briefe seiner Mutter in Bernhardinens Hand.

Bernhardine las sie durch, und deren waren eine gute Anzahl. Ihre Farbe wurde immer blässer, ihre Augen immer finsterer, aber sie las sie durch, ohne ein Wort zu sagen. Mit derselben natürlichen Stille gab sie ihm dieselben zurück, blieb noch einen Augenblick sitzen, stand dann auf und sagte:

„Arthur, Du mußt mit mir zu Deiner Mutter kommen und Dein Cousin wie Fräulein Waldheim müssen ebenfalls dabei sein.“

„Unsinn, Bernhardine,“ sagte Arthur, der von Natur einen Abscheu vor Demonstrationen hatte. „Ich will keine thörichten Scenen, die man hernach rundumher zum Gegenstande des Gespräches macht. Was wir zu thun haben, muß mit Ruhe gethan werden und zwischen uns allein. Alphons und Fräulein Waldheim! wozu diese! Ich will nichts hören von dieser Thorheit.“

„Ich bestehe darauf!“ rief Bernhardine mit tiefer und entschiedener Stimme.

„Ich bestehe darauf? Bernhardine, das ist eine sonderbare prache von Dir zu mir!“

„Die Veranlassung ist sonderbar, Arthur. Ach,“ fügte sie bitter hinzu, „und auch Du hängst an dem alten blinden Vorurtheile. Weil ich anspruchslos bin und nicht rücksichtslos, wenigstens in meinem täglichen Leben, und, ich gestehe es, von Natur timid und leicht eingeschüchtert, so meint ihr, ich ließe mir Alles gefallen, hätte keine Selbstachtung und keine Festigkeit. Wenn Du Dich in diesem Irrthume befindest, so sollst Du heute Dich von dem Gegentheile überführen. Komm, diese Angelegenheit leidet keinen Aufschub.“

„Aber, Bernhardine –“

„Bist Du mit Deiner Mutter im Bunde, um meinen guten Ruf zu untergraben?“ sagte Bernhardine, während ihre Lippen bebten und ihre Augen fast Feuer sprühten. Arthur nahm die Hand, welche sie auf seinen Arm gelegt hatte, weg und schritt finstern Blickes an ihrer Seite dem Hause zu.

An der Hausthüre trafen sie mit Fräulein Waldheim zusammen, welche eben angekommen war, um Bernhardinen und Alphons auf ein benachbartes Gut zu begleiten. Alphons hatte das Fräulein vom Pferde gehoben und stand an dessen Seite.

„Ach, Sie sind noch nicht bereit,“ rief die Waldheim Bernhardinen zu. „Ah, Herr Alster! Wann sind Sie angekommen?“

„Diesen Morgen,“ erwiderte dieser in mürrischem Tone.

Fräulein Waldheim, betroffen von diesem Tone und Benehmen, nahm ihr Augenglas und beäugelte ihn und Bernhardinen mit jener affectirten und unverschämten Weise, die ganz geeignet ist, eben nicht phlegmatische Personen ärgerlich zu machen.

„Ich sehe, Sie haben einen Familienhandel abzumachen,“ sagte sie hierauf. „Ich bin im Wege.“

„Nein, ich bitte, Fräulein Waldheim,“ rief rasch Bernhardine. „Sie sind nothwendig hier und auch Sie, Cousin Alphons.“

Fräulein Waldheim bewegte kaum wahrnehmbar ihre Augenbrauen und verbeugte sich leicht. Cousin Alphons warf seinen Kopf nach hinten, strich seinen Schnurrbart, zeigte seine weißen Zähne und lachte recht lustig, aber doch nicht ganz mit dem Selbstvertrauen und der Heiterkeit wie gewöhnlich. Hierauf begaben sich Alle in das Wohnzimmer der Madame Alster. Bei ihrem Eintritt wußte diese auch schon, was da kommen sollte. Sie sah blaß aus und ihr Blick war noch härter und finsterer, denn sonst. Gewohnt, durch das erschreckende Feuer ihrer Augen Bernhardinen beben zu machen, that sie auch jetzt so. Doch diese hatten auf einmal ihre Macht verloren; ruhig, ja mit einem Anflug von Verachtung erwiderte sie der Gegnerin Blick. Madame Alster erkannte, daß das Scepter ihrer Macht ihrer Hand entfiel.

„Was soll das bedeuten, junge Frau?“ fragte sie. „Was soll das lächerliche Air, das Sie sich heute zu geben belieben? Können Sie diese Komödie erklären, Fräulein Waldheim?“

„Gewiß nicht,“ erwiderte diese, indem sie ihr Reitkleid zusammenschürzte, sich voll Grazie auf das Sopha setzte, ihr Augenglas ergriff und auf die Anwesenden blickte, als ob diese die chauspieler und sie das Publicum des Theaters wäre.

„Das heißt,“ begann Bernhardine mit vor Aufregung bebender Stimme, „Sie haben an meinen Mann über mich Dinge geschrieben, welche vor allen hier gegenwärtigen Personen aufgeklärt werden müssen; zwei von Ihnen werden Zeugniß abzulegen haben.“

„Guter Himmel, Arthur, wie kannst Du es dulden, daß diese niedrig denkende junge Person Dich herabsetze, Dich einen Mann von Ehre in Gemeinschaft bringen lassen mit so Gemeinem und Unverständigem!“ sagte Madame Alster ärgerlich. „Gab es jemals ein so schlecht erzogenes Mädchen, das stets bereit ist, Scandal zu machen?“ fügte sie hinzu, als ob sie zu sich selbst redete.

„Lassen Sie die Frage über Gemeinheit hübsch unberührt,“ sagte Bernhardine in einem Tone, den Madame Alster noch nie von ihr gehört hatte, im Tone des Befehls. „Lassen Sie die Frage über Gemeinheit hübsch unberührt und gehen wir über zur Frage nach der Wahrheit. Ich will sprechen,“ fuhr sie fort, ihre Hand zu Madame Alster erhebend, welche sie unterbrechen wollte. „Ich habe ein Recht dazu und ich will und werde es gebrauchen.“

„Auf mein Wort, das ist ein Naturphänomen,“ schnarrte Madame Alster und fixirte, so scharf es ihr möglich war, Bernhardinen. Doch diese war viel zu sehr aufgeregt, um auch nur ihre Blicke zu beachten. Sind aber einmal timide Personen in diesem Seelenzustande, so sind sie gewöhnlich rücksichtsloser und unbedachtsamer wegen der etwaigen Folgen, als Leute, die von Natur Herzhaftigkeit und Zuversicht besitzen; so war es mit Bernhardinen; ihre bisher verborgen gewesene Willenskraft war auf einmal zu solcher Entschlossenheit erweckt und erregt worden, daß sie der trotzigsten Opposition der Madame Alster glücklich zu widerstehen vermochte.

„Sie schrieben diese Briefe,“ fuhr Bernhardine fort und wies mit ihrem Finger auf ein Paquet, das Arthur in feiner Hand hielt. „Da Sie darin von Fräulein Waldheim und Cousin Alphons gesprochen haben, so wünsche ich, daß diese Arthurn die Geschichten, deren Sie erwähnen, nach ihrer Weise vortragen. Fräulein Waldheim,“ fuhr sie fort, sich zu dieser wendend, „haben Sie jemals mir Vorwürfe gemacht über meine unschickliche Familiarität mit Cousin Alphons?“ Und nun las sie aus dem Briefe die betreffende Stelle laut vor.

„Ich kann mich nicht erinnern, über so etwas jemals gesprochen zu haben,“ erwiderte das Fräulein bedachtsam, und wischte ihr Augenglas. „Aber das habe ich allerdings zu Madame Alster erwähnt, daß ich es nicht für schicklich hielte, daß Sie so viel mit Ihrem Cousin ausritten, und um Ihnen die Wahrheit zu sagen, schloß ich mich in letzter Zeit geflissentlich Ihren Ausflügen an, um Sie vor dem Gerede der Leute zu bewahren. Ich dachte, Sie seien mit unsern Gebräuchen nicht bekannt, und konnte auch Ihre Mutter nicht begreifen, wie sie Sie ohne Warnung lassen mochte.“ Alles das sagte das Fräulein in einer Weise, wie sie etwa über ein neues Kleid oder über die Stimme einer Sängerin gesprochen hätte.

„Madame Alster,“ rief Bernhardine, und wendete sich mit [19] sprühendem Auge zu ihrer Schwiegermutter. „Waren Sie es nicht, die, als ich mich weigerte, mit meinem Cousin allein auszureiten, mich ausschalt, daß ich es wagte, etwas für unschicklich zu finden, das Sie nicht so fanden? Sagten Sie nicht, ich sollte Cousin Alphons wie einen Bruder betrachten und ihm mein Wohlwollen ohne Zurückhalt beweisen?“

„Tante Alster, ich fürchte, Sie haben ein doppeltes Spiel gespielt,“ meinte Alphons, dessen heitere, offene, männliche Stimme wie ein Zauber die fieberhafte Aufregung der Dame unterbrach. „Arthur,“ fuhr er fort, „komm mit mir; Deine Frau wird schon mit Fräulein Waldheim Stand halten. Nun, bei allen Männern, die jemals dem Glück in der Ehe nachjagten, Mann!“ rief er, als sie aus dem Zimmer getreten waren, „wie konntest Du so schwach sein und an solche offenbare Verleumdungen glauben? Deine Frau und ich haben nie auf anderem als auf freundlichem Fuße gestanden. Wozu nun solchen Lärm? Als ich ankam, sah ich, daß sie systematisch seit ihrer Verheirathung ausgezankt worden war; ich nahm daher ihre Partie und that Alles, was mir zustand, um ihr Selbstvertrauen einzuflößen. Aber ich bin, so hoffe ich zu Gott, kein so schlimmer Bursche, um die Unschuld eines so jungen Wesens anzutasten, oder gar als Gast eines Verwandten zur Schande und Schmach der Familie zu complottiren. Deine Mutter übergab Bernhardinen meinem Schutz. Entschuldige mich, Du weißt, wie ich lebe; ich war daher auch anfangs erstaunt darüber; aber ich habe nicht umsonst meine Tante Jahre lang studirt, um fähig zu sein, sie jetzt richtig zu würdigen. Bald argwöhnte ich, es müsse etwas im Werke sein, da sie gegen mich, den sie niemals hatte leiden mögen, gar so sehr gütig war und Bernhardinen[WS 1] schmeichelte, die sie doch, wie ich wohl merkte, haßte. Es dauerte nicht lange, und ich hatte entdeckt, was sie beabsichtigte. Aber sie verlor ihr Spiel, denn Bernhardine hatte nicht die mindeste Neigung, mit mir zu coquettiren, noch hatte ich Lust, mit ihr davon zu laufen.“

Hier lachte er, als wenn er Wunder was für einen guten Witz gesagt hätte, und fuhr mit seinen Fingern durch fein schönes Haar in einer Weise, wie eitle Menschen zu thun pflegen. „Der ganze Unsinn von Bernhardinens Betragen ist nichts als Erfindung. Sie war sehr ängstlich um Dich besorgt, als Du nicht schriebst, und sprach alle Befürchtungen aus, deren die Tante erwähnt; aber in Besorgniß und nicht im Scherz, und Fräulein Waldheim ärgerte sich über ihr thörichtes Aengstigen. Die Arme that mir leid, und ich vertheidigte sie, aber die Waldheim sprach mich nieder.“ Hier lachte er wieder. „Bernhardine kam wirklich vom andern Ende des Zimmers zu mir, legte ihre Hände in die meinigen und sagte: „Ich danke Ihnen, Cousin Alphons,“ aber ihre Augen waren voll Thränen, und ihr kleines Herz brach fast um Deinetwillen.“

„Alphons,“ sagte Arthur, „ich sehe, ich war ein Thor.“

Der Cousin sah ernst darein und hatte keine Lust zum Widerspruch.


V.

Arthur fühlte sich zwar gedemüthigt, war aber doch großherzig genug, seinen Irrthum anzuerkennen. Zwar vermochte er es nicht über sich, gegen Bernhardine sich zu entschuldigen und in eine lange und breite Vertheidigung einzulassen, aber als er ihr im Corridor des Hauses begegnete, streckte er seine Arme nach ihr aus, rief sie beim Namen und drückte sie zärtlich an sein Herz, wobei er ihr in’s Ohr flüsterte:

„Wird mein treues Weibchen mir verzeihen?“

Bernhardine erhob ihr Gesichtchen, und stellte sich auf die Zehen, um ihm näher zu sein. Arthur hatte nicht nöthig, wieder zu fragen, ob sie ihn liebe und ihm verzeihe.

Arthurs Privatzusammenkunft mit seiner Mutter war heftigerer Natur. Die Leidenschaften Beider waren aufgeregt und gingen in Aufstand über. Er beschuldigte sie geradezu der Falschheit und beantwortete ihre Vorwürfe auf eine sie tief verwundende Weise; doch waren sie nicht ungerecht, wenn auch mit harten Worten ausgedrückt, die ihm allerdings nicht zustanden. Dagegen verlor aber auch Madame Alster bei dem Streit an Würde, Selbstachtung und mütterlichem Gefühl. Sie wechselte mit Hohn und Schmeichelei in einer Weise, daß des Mannes Blut erstarrte, und sagte sogar, Arthur müsse für seine Gattin eine andere Heimath ausfindig machen.

Unglücklicherweise trat in eben diesem Augenblicke Bernhardine ein und hörte diese Worte.

„Madame,“ sagte sie leidenschaftlich, „ich werde dieses Haus nicht verlassen. Distelfeld gehört meinem Mann, und ich bin somit die gesetzliche Besitzerin davon. Sie sind mein Gast, nicht ich der Ihrige.“

„Bernhardine, Bernhardine!“ rief mahnend Arthur.

„Still!“ rief die junge Frau befehlend. „Diese Angelegenheit ist die meinige, und ich erwarte nicht, daß Du mich gegen Deine eigene Mutter vertheidigest; ich muß mich selbst vertheidigen.“

Mit diesen Worten drehete sie sich um und ging.

„Sie haben ganz Recht, Bernhardine,“ sagte Fräulein Waldheim, welche im Nebenzimmer das Gespräch gehört hatte. „Gehen Sie weg von Distelfeld, so schaden Sie Ihrem Charakter und dürfen sich weder hier noch in der Umgegend wieder sehen lassen.“

„Ich werde es gewiß nicht verlassen, darauf schwöre ich!“ rief Bernhardine.

„Meine Frau hat die Wahrheit gesagt, Mutter,“ sagte Arthur. „Ich würde es nicht gesagt haben, selbst jetzt nicht; aber es ist die Wahrheit.“

„Muß ich das erleben, Arthur?“ schnarrte Madame Alster. „Muß ich Distelfeld verlassen wegen eines solchen unwürdigen Geschöpfes, das Du Dein Weib nennst? Befriedige Dich nur mit dem Gedanken, mein Junge, denn so wahr ich lebe, es wird Dir nichts anderes übrig bleiben, als – der Gedanke.“

„Ich werde mich aber nicht mit dem Gedanken, sondern einzig mit der That befriedigt finden!“ sagte Arthur. „Vergessen Sie nicht, daß ich das, was ich einmal beschlossen habe, auch ausführe. So verstehen Sie mich denn: da Sie nicht mit meiner Frau, wie es sich gebührt, leben, so werden Sie uns verlassen. Sie haben kein Recht, sie von hier zu vertreiben, und ich werde nie mehr Ihr bisheriges Betragen gegen sie gestatten. Das ist Alles, was ich Ihnen zu sagen habe, und ich verlasse Sie, damit sie darüber nachdenken können.“

Arthur zog sich in das Nebenzimmer zurück.

So sich selbst überlassen, stürmte die Leidenschaft der alten Frau ohne Schranken und Maß durch die Seele. Die Scene bot einen schreckenerregenden Anblick dar. Heftig, das Zimmer mit verschränkten Armen, aufgeschwollenen Adern und zusammengebissenen Zähnen auf- und abgehend, oft schwer und tief stöhnend und von Wuth entbrannte Blicke umherwerfend, glich sie mehr einem von Hunger wüthend gewordenen Panther, der auf Raub ausgeht, als einem menschlichen Wesen. Unerträglich war ihr der Gedanke, von einem Wesen, wie Bernhardine, überwunden worden zu sein; daß ihre Macht, ihr Wille, ihre Pläne, ihre Worte gleich einem Stück Zeug in Fetzen zerrissen und dem Winde Preis gegeben werden sollten, und zwar durch das simple Wort einer Person, die sie noch immer für eine Schwachköpfige hielt, das, ja das war zu viel für die hochmüthige Seele.

Plötzlich hörten die drei Personen im Nebenzimmer einen schweren Fall; Arthur und Bernhardine stürzten in das Gemach. Sie fanden die Mutter sprachlos auf dem Boden liegen; ihre große Aufregung hatte ihr eine Ohnmacht zugezogen. Nach und nach kam sie zu sich. Während Bernhardine und Arthur sich um sie bemüheten, ruheten ihre Augen einmal auf diesem, das andere Mal auf jener. Sie versuchte zu sprechen, es gelang ihr aber nicht, obwohl sie mehrfach den Versuch erneuerte. Endlich stieß sie einen eigenthümlichen, ganz unnatürlichen Ton aus, und sagte dann mit ihren immer noch feurigen und abschreckenden Augen, ihren kühnen, schwarzen, ebenfalls noch aufgeschwollenen Augenbrauen:

„Nun ja, ich sehe wohl, Sie sind nicht so einfältig, als ich Sie mir vorgestellt habe; – – ich habe beinah Respect vor Ihnen.“

Madame Alster erholte sich nie mehr von dem Anfall. Sie starb zwar nicht, aber sie war eine Andere geworden, wie die Dienerschaft behauptete. Sie war gezwungen, ihre Schwiegertochter schalten und walten zu lassen im Hause; denn sie selbst brachte ihr Leben hülflos und unthätig in einem Rollstuhle zu. In jeder andern Beziehung blieb sie die alte, die abschreckende, grausame, leidenschaftliche Frau, ihre Schwiegertochter aber behandelte sie mit Achtung, denn Bernhardine hatte eine Lection erhalten, die sie nie mehr vergaß. Während diese ihren Pflichten freundlich und besonnen nachkam, ließ sie sowohl ihren Gatten als auch die Schwiegermutter [20] fühlen, daß in ihrem Innern etwas erwacht und thätig war, das neue Versuche, sie zu unterdrücken, unmöglich machte. Es ist zweifelhaft, ob Arthur sie jetzt so liebte, wie damals, als sie noch furchtsam und unterwürfig war; aber er achtete sie mehr und behandelte sie mit größerer Rücksicht. Er war der treue Sohn seiner Mutter und erbte ihre Natur und ihr Temperament, wenn es auch in milderer und veränderter Form auftrat, so daß es keinem Zweifel unterworfen blieb, Bernhardine würde, hätte sie sich nicht, wie gezeigt worden ist, geändert, von ihm ebenso niedergehalten worden sein, wie es seine Mutter gleich anfangs gethan hatte. Jetzt ist Alles in bester Ordnung. Madame Alster steht nie an, zu bekennen, sie habe sich in Bernhardine geirrt, und Arthur hat nie mehr Anfälle von Eifersucht, trotzdem Cousin Alphons sehr häufig in Distelfeld sich aufhält und seine Frau lachen macht, daß die Thränen von den Wangen herubterrollen; denn er – Alphons nämlich – ist der glückliche Gatte des Fräulein Waldheim.




 Des Pfalzgrafen Buhle.

„Hier, setzen wir uns auf den Baumstumpf nieder,
„Die Beere ladet gastlich uns zum Mahl,
„Und meine alten frostdurchbebten Glieder
„Erwärmen sich am milden Sonnenstrahl;
„In einem Winkel auf dem Stroh geboren,
„Vom Licht gemieden, von dem Glück gefloh’n,
„Ein Leben lang gehungert und gefroren,
„Bettl’ ich als Greis mit meines Sohnes Sohn,
„Ich bin am Ziel, Du wirst mich bald verlieren –
„Und einsam weiter hungern, weiter frieren.

„Dein Vater war ein trotziger Geselle,
„Da Deine Mutter Dich gebar im Schnee,
„Schoß einen Hasen er, in seinem Felle
„Wollt’ er Dich bergen vor des Winters Weh’ –
„Der Pfalzgraf mußte just im Forst sich laben,
„Der ließ ihn schmieden auf den stärksten Hirsch,
„Und hussah! hollah! über Busch und Graben,
„Es war, bei’m Himmel! eine lust’ge Birsch!
„Ich scharrt’ ihn ein, nicht durft’ ich ihn beklagen –
„Was wollt’ er auch des Grafen Hasen jagen!

„Und Deine Mutter spann ein köstlich Linnen,
„Es nahm der Graf sie in der Mägde Troß;
„Der frühe Morgen traf sie schon beim Spinnen,
„Die späte Nacht noch nicht ihr Auge schloß;
„Wie eine Blume ohne Sonne schwindet,
„So siechte sie in dumpfer Kammer hin,
„Zu rechter Zeit – sie war ja fast erblindet
„Und fortgejagt, die faule Bettlerin,
„Mit ihrem Blute näßte sie die Spule –
„In ihrem Linnen prangt des Grafen Buhle.

„Ein Kind noch hatt’ ich – meine Thränen thauen –
„Von meinem Weibe sterbend mir geschenkt,
„Könnt’ ich die Tochter einmal nur noch schauen,
„Eh’ man zur Mutter mich hinuntersenkt!
„Der Sonnenstrahl, der auf dem Blatt sich schaukelt,
„Das rothe Wölkchen, das am Himmel zieht,
„Der Falter, der die Rose dort umgaukelt:
„So schön ist nichts, was auch Dein Auge sieht –
„Nach dürrem Laube schickt’ ich einst die Kleine,
„Die seither als verloren ich beweine.“

Der Greis verstummt, auf’s Herz die Hände preßt’ er,
Es ballt der Enkel still die kleine Faust –
Da plötzlich horcht’ er, zittert, schmiegt sich fester:
Auf Rosseshufen kommt’s von fern gesaust,
Wie jähe Pfeile von der Sehne schnellen,
So stürmt’s einher, daß bang’ die Erde dröhnt,
Ein muthig Wiehern, einer Dogge Bellen,
Die Blätter rascheln, und der Grashalm stöhnt:
Ein stolzes Paar sprengt an auf hohen Rossen,
Es hält der Schreck des Knaben Mund geschlossen.

Voran auf schwarzem Roß ein schwarzer Reiter
Mit wildem Bart und buschig finstern Brau’n,
Wohl blickte nimmer dieses Auge heiter,
Und wo es blickt, wach ruft es Schreck und Grau’n;
Der Pfalzgraf ist’s, er denkt im Forst zu jagen,
Zurück ließ er die Meute und den Troß,
Mit seiner Buhle seitwärts sich zu schlagen,
Die seines Waidwerks einziger Genoß;
Jetzt sieht die Bettler er – mit wildem Grimme
Hebt er den Arm zum Schlag, zum Fluch die Stimme.

Da drängt die Maid, die seitwärts ihm geritten,
Den weißen Zelter zwischen sie voll Hast,
Des Grafen Zorn weicht ihren stummen Bitten,
Sie wehrt dem Hund, der nach dem Knaben faßt –
Der Sonnenstrahl, der auf dem Blatt sich schaukelt,
Das rothe Wölkchen, das am Himmel zieht,
Der Falter, der die Rose dort umgaukelt:
So schön ist nichts, was auch sein Auge sieht –
Die Hände faltet er und steht geblendet:
Es ward ein Engel ihrer Noth gesendet.

Sie aber schaut hernieder auf den Alten,
Ihr Busen wogt, ihr Auge blickt verwirrt,
Als wolle fest sie ein Erinnern halten,
Das dunkel jetzt durch ihre Seele irrt,
Sie sucht und forscht, ob sich der Faden findet,
Daran sich weiter das Gewebe spinnt,
Es ist umsonst, das flücht’ge Bild entschwindet,
Der Zelter scharrt, des Herrn Geduld verrinnt,
Ein tiefer Seufzer – Alles ist beendet,
Den schweren Beutel sie dem Bettler spendet.

Der wacht jetzt auf aus seinem dumpfen Brüten,
Gebeugt stand er, das schwere Haupt gesenkt,
Wohl mußte sorglich er sein Auge hüten,
Daß nicht voll Haß es sich zum Grafen lenkt,
Er blickt sie an, und sprengt sie auch von hinnen,
Der eine Blick macht Alles schnell ihm klar.
Er bricht zusammen, seine Thränen rinnen,
Und jammernd rauft er sich das weiße Haar:
„O, wehe mir! Der Alles mir genommen,
„Hat meinen Schatz in seine Hand bekommen!


[21]

„In’s Dorf, mein Knabe, mußt Du eilig laufen –
„Laß mich allein, ich sterbe sanft und lind –
„Von diesem Gold sollst Du den Sarg mir kaufen,
„Mein einzig Bett schenkt mir mein einzig Kind –
„Wie soll in ihm die lange Ruhe laben! –

„Hast morgen Du geweint an meinem Grab,
„Dann geh’ aufs Schloß – brauchst keine Angst zu haben –
„Und sage ihr, die mir den Beutel gab:
„„Der Bettler, dem so freundlich Du begegnet,
„„Dein Vater war’s, der sterbend Dich gesegnet!“
 Albert Traeger.

[22]

Die Erkältung und ihre Folgen.

Hast Du Dich erkältet?“ so fragt man Dich, – „jedenfalls habe ich mich erkältet!“ so sagst Du, wenn Deine Gesundheit irgend wie gestört ist. Huste oder niese, leide an Brechen oder Durchfall, am kalten oder hitzigen Fieber, friere oder schwitze, habe Schmerzen im Kopfe, im Kreuze oder in den Beinen, klage über Sausen vor den Ohren oder über Flimmern vor den Augen, immer mußt Du Dich erkältet haben. – Wacht Einer, der in kalter Nacht aus der Bier- oder Weinstube etwas angesäuselt nach Hause ging, am andern Morgen mit Kopfweh oder Uebelsein auf, so will er sich an einer zugigen Straßenecke erkältet haben. – Wird Jemand, dessen Mund voll von hohlen Zähnen und Zahnwurzeln ist, von Zahnschmerzen heimgesucht, so tauft er diese Schmerzen Zahnreißen und schreibt sie einer Erkältung zu. – Tanzt ein bleiches, festeingeschnürtes, wespentailliges Fräulein wie rasend die ganze Nacht hindurch und hustet am nächsten Tage Blut, so behauptet sie, sich in der Garderobe verkühlt zu haben. – Wollen bei einem jungen Wüstling die Beine nicht mehr recht fort, so muß gewöhnlich eine Erkältung in Folge langen Stehens in der Kälte die Schuld davon tragen. – Kurz! welche Beschwerden und Krankheiten rührten, nach der Ansicht der Laien und Aerzte, nicht von Erkältung her?

Was ist denn nun diese Erkältung oder Verkühlung, welche eine so große Rolle unter den Krankheits-Ursachen spielt? Es ist eine die mannichfachsten Beschwerden (rein örtlicher oder allgemeiner Natur) nach sich ziehende, plötzliche oder dauernde Einwirkung der Kälte auf die Haut, und zwar entweder auf die Haut des ganzen Körpers oder nur einzelner Körpertheile. – Die äußere Haut ist also zunächst das Organ, welches erkältet. Eine solche Abkühlung bringt nun aber um so mehr Nachtheil, je bedeutender der Wärmeunterschied und je plötzlicher der Temperaturwechsel, je mehr die Haut erhitzt war und schwitzte, und je empfindlicher dieselbe ist.

Wollen wir also die nachtheilige Wirkung der Kälte auf die Haut, soweit dies zur Zeit möglich ist, erklären, dann müssen wir uns zuvörderst des Baues und der Thätigkeit dieses Organs erinnern (s. Gartenl. 1854. Nr. 44 und Nr. 46.). Vor Allem ist festzuhalten, daß die Haut sehr reich an Blutgefäßen ist, und daß hier das durch diese Gefäße rinnende Blut eine Menge schlechter Bestandtheile, als Hautausdünstung und Schweiß, von sich wirft, demnach sich auf diese Weise reinigt. Werden diese schlechten Blutstoffe im Blute zurückgehalten, so muß sich dieses natürlich verschlechtern. Durch die Erkältung, vorzüglich aber durch eine länger dauernde, wird nun die Schweißabsonderung gestört und gehemmt, also das Blut verschlechtert. Leider existiren zur Zeit noch keine befriedigenden chemischen Untersuchungen eines solchen schlechten Blutes. Es scheint anfangs röther und gerinnbarer (faserstoffreicher), später dunkler und dünnflüssiger (venös) zu werden. Man schreibt dieser Blutverschlechterung (Schweißdyskrasie) die Entstehung der Rheumatismen zu. Dafür spricht allerdings das gleichzeitige oder successive Vorkommen rheumatischer Krankheitsproducte an verschiedenen Stellen des Körpers, die Aehnlichkeit des Verlaufes mit andern Blutentartungen, wie mit der Gicht (Verschlechterung des Blutes durch Harnsäure), sowie mit den Muskel- und Gelenkleiden bei Verschlechterung des Blutes durch Jauche (Pyämie) und metallische Gifte, der reichliche saure Schweiß und Harn, und das nachfolgende üble Aussehen des ganzen Körpers.

Bei dem großen Gefäß- und Blutreichthum der Haut kann nun aber eine Erkältung auch insofern schädlich wirken, als die Adern durch die Kälte zusammengezogen werden (weshalb die Haut kühl und blaß wird) und so das am Einströmen in die Hautgefäße verhinderte Blut sich in andern innern Organen anhäuft, hier aber zur Entzündung und Blutung Veranlassung gibt. Die so häufig bald nach starken Erkältungen, zumal der erhitzten Haut, auftretenden Entzündungen (des Herzens, des Herzbeutels, der Lungen und Lungenfelle u. s. w.) und die sogenannten acuten Rheumatismen (besonders der Gelenke, Muskeln und Knochenhaut), sowie auch die Katarrhe, dürften ihren Ursprung wohl mehr dieser Blutanhäufung als jener Blutverschlechterung verdanken. Doch läßt sich dies nur vermuthen.

Es ist die Haut nun aber nicht blos sehr reich an Blutgefäßen und Blut, sondern sie besitzt auch einen sehr großen Reichthum an Nerven und zwar an Empfindungsnerven, welche sich entweder unmittelbar oder mittelbar, durch Nervenknoten, und das Rückenmark, in das Gefühls- und Bewußtseinsorgan, nämlich in das Gehirn, einsenken. Da nun ein Nervengesetz (d. i. das Gesetz der Ueberstrahlung, des Reflexes, der Sympathie oder der Synergie) existirt, nach welchem ein gereizter Empfindungsnerv seine Reizung innerhalb der Nervenmittelpunkte (des Gehirns, Rückenmarks und der Nervenknoten) auch auf andere, besonders benachbarte Nerven und Nervengruppen, zumal auf solche Nerven, welche Bewegungen veranlassen (d. s. Bewegungsnerven), übertragen und diese zum Thätigsein anregen kann, so ist es nicht unmöglich, daß eine Erkältung auch mit Hülfe dieses Nervenreflexes krankhafte Erscheinungen nach sich zieht. – Durch eine solche Ueberstrahlung läßt sich z. B. auch erklären, wie bei plötzlicher Einwirkung von Kälte auf die Haut starkes Herzklopfen, beklommenes und seufzendes Athmen, Drang zum Uriniren u. s. w. eintritt. Ja man hat auf diesem Wege schon oft Starrkrampf in Folge der Einwirkung kalten Wassers auf die Haut entstehen sehen.

Nach dem Gesagten lassen sich also drei Wege denken, auf welchen eine Erkältung der Haut schädlich wirkt: durch Verschlechterung des Blutes in Folge der Unterdrückung der Hautausdünstung und des Schweißes, durch Störungen im Blutumlaufe und durch den Nervenreflex. Es dürfte übrigens wohl in wenig Fällen von Erkältungskrankheiten möglich sein, anzugeben, wie die Erkältung gerade gewirkt hat. Vielleicht geschieht dies gleichzeitig auf verschiedene Art. – Die Blutverschlechterung kommt wahrscheinlich durch eine andauernde, langsam wirkende (chronische) Erkältung zu Stande, wie dies bei allzu leichter Bekleidung und zu dünner nächtlicher Bedeckung, bei dauerndem Aufenthalte in kalten, feuchten, nach Norden gelegenen, kellerartigen Wohnungen, bei kaltem Fußboden und längerem Arbeiten in feuchter Kälte u. s. w. der Fall ist. – Die Störung im Blutumlaufe verdankt dagegen ihr Entstehen wohl mehr einer schnell erzeugten (acuten) Erkältung, wie durch Zugluft, zumal bei schwitzender Haut. – Am meisten zur nachtheiligen Erkältung geneigt sind: die Füße (zumal schwitzende), die Achselhöhlen, der Rücken und der Bauch. Zugige Abtritte sind gar nicht selten Ursache von Unterleibsleiden, vorzüglich beim weiblichen Geschlechte. Und wie viele kleine Kinder starben nicht schon am Brechdurchfalle, welcher durch Erkältung des warmen Bauches hervorgerufen wurde. Von den vielen Katarrhen nach kalten nassen Füßen will ich gar nicht sprechen. Deshalb lobe und preise ich aber auch die wollenen Strümpfe und das Jäckchen auf dem bloßen Körper, und lache über die Abhärtungsfanatiker mit ihren öfteren Katarrhen und Rheumatismen. Doch soll damit ja nicht etwa gesagt sein, daß die Jugend schon verzärtelt werden und daß man seine Haut nicht allmählich gegen äußere Kälte unempfindlicher machen solle.

Die Erfahrung hat nun gelehrt, daß nicht nur verschiedene Personen eine sehr verschiedene Empfänglichkeit für Erkältungskrankheiten besitzen, sondern daß auch ein und dieselbe Person zu verschiedenen Zeiten oder unter sonst verschiedenen Verhältnissen in nicht minder verschiedener Weise, bald mehr bald weniger den nachteiligen Folgen der Erkältung ausgesetzt ist. Die Erfahrung lehrt aber auch ferner, daß es in verschiedenen Personen bald das eine bald das andere Organ ist, das durch eine und dieselbe Erkältungsursache krankhaft ergriffen wird, daß bei dem Einen Schnupfen, böser Hals, Lungenkatarrh (Husten) u. s. f. entsteht, während der Andere vom Durchfall und andern Verdauungsstörungen befallen wird. Alle diese Verschiedenheiten, welche die Erkältungskrankheiten in ihrer Entstehung wie in ihren Folgen darbieten, lassen sich zur Zeit nicht genau erklären.

Eine Anlage zur Erkältung dürfte wohl nicht wegzuleugnen sein, da dieselben schädlichen Einwirkungen bei manchen Menschen Erkältungskrankheiten hervorbringen, bei vielen andern dagegen nicht, und da Manche sehr oft und bei den geringsten Veranlassungen oder Witterungswechseln in Krankheit verfallen, während Andere fast immer davon frei sind. Diese Anlage ist wohl in einer entweder sehr zarten oder sonst für äußere Einflüsse krankhaft übermäßig empfindlichen Haut begründet. Sie kann vielleicht angeboren sein, häufiger ist sie aber wohl erworben: durch Hautkrankheiten, Verzärtelung, allzuwarme oder die Haut reizende Bekleidung, durch Mißbrauch warmer und heißer Bäder oder schweißtreibender Mittel, [23] und überhaupt durch eine Lebensart, bei welcher der Körper blos an Stubenluft gewöhnt, vor jedem Witterungswechsel aber allzuängstlich behütet wird. – Beide Geschlechter sind den Erkältungskrankheiten gleichförmig stark ausgesetzt; die Frauen mehr wegen Zartheit der Haut und Unvorsichtigkeit (dünne Strümpfe und Schuhe, leichter Bekleidung), die Männer häufiger wegen ihrer rauhen, keine Schonung zulassenden Beschäftigung oder wegen Verweichlichung.

Die Erkältbarkeit läßt sich auf zweierlei Weise bekämpfen: mit Schutzmitteln gegen die Erkältung und mit Abhärtung der Haut. Das schützende Verfahren verlangt, daß Patient eine trockene, sonnige, gut heizbare Wohnung und Schlafstelle habe, kalte Morgen- und Abendluft, besonders aber Zugwinde vermeide, sich warm kleide, insbesondere wollene, seidene oder baumwollene Unterkleider auf der bloßen Haut trage, bei Neigung zu kalten und schwitzenden Füßen die wollenen Strümpfe öfters wechsele und warmes Schuhwerk anziehe. Die Haut ist öfters zu baden, zu waschen und derb abzureiben; manchmal schützen auch Fett- und Oeleinreibungen, über den ganzen Körper gemacht, gegen Erkältung. – Allmählich (ja nicht plötzlich) gehe man zur Abhärtungscur über, indem man sich nach und nach immer kälter wäscht und badet, nachher alle Mal derb abreibt, in die freie frische Luft geht, leichtere Bedeckung und dünnere (leinene) Kleider trägt, turnt, Garten- und Landarbeiten, Fuß- und Gebirgsreisen vornimmt und die Erkältungsfurcht fahren läßt.

Um den üblen Folgen einer Erkältung vorzubeugen, bringe man die Haut sobald als möglich in Schweiß, entweder mittels stärkerer Muskelanstrengungen (tanzen, turnen, laufen) oder durch innere und äußere Wärme (reichliches Trinken heißen Wassers oder Thees, Dampfbad, Einhüllen in warme Betten oder Decken). Ist nach einer Erkältung schon irgend ein Krankheitsproceß eingetreten, so lasse man das Schwitzen sein, denn dann ist die einmal entstandene Erkältungskrankheit nach ihrer besondern Natur zu behandeln.

Bock.




Besuch eines Kohlenbergwerks in Süd-Wales.

In England sind die Leute, welche Geld und Geschäfte haben, fast immer auf Reisen. Die Kaufleute der City, selbst Arbeiter, fahren jeden Morgen in’s Geschäft und um fünf Uhr zurück. Jeder, der Zeit und Geld sparen will, fährt in London mit Eisenbahn, Dampfschiff, Omnibus, auch wenn er keinen ganzen Fetzen am Leibe hat. Die Aristokratie reiset immer zwischen ihren verschiedenen Wohnungen umher. Nach dem Parlamente im August fliegt Alles, was respectabel sein will, aus nach Schottland, Wales, Spanien, an den Rhein, am Nil hinauf, nach Amerika, in eine der vielen Inseln und Colonien u. s. w., und darf sich respektabler Weise nicht eher wieder in London sehen lassen, als um die Zeit, wann das Parlament wieder eröffnet wird. Wer eher zurückkommt, gehört nicht zu den „obersten Zehntausend“ und ist kein „Gentleman“ ersten Ranges. Das Reisen ist nach englischen Begriffen im Durchschnitt sehr billig, und wird durch keine Spur von Paß und Polizei belästigt. Dies kommt Jedem und dem ganzen Lande zu Gute, da Bewegung Leben und Gesundheit ist, und alle Locomotivinstrumente und Wagen in dichten Reihenfolgen und Begegnungen Menschen und Waaren lustig durcheinander mischen, und Geld und Gut in stets frischem Flusse von Hand zu Hand strömen. In England bleiben die Leute ruhig, weil sie sich ohne Paß und Polizei frei bewegen können. Anderswo sucht man durch Erschwerung und Controle der ruhigen Bewegung böses Blut und unzufriedene Köpfe in einer Art von Gefangenschaft zu halten, und gibt dadurch Veranlassung zu allgemeiner Unzufriedenheit auch der gutgesinnten Bürger, hindert und hemmt dadurch die leichte Circulation der Säfte, welche auch böses Blut absorbirt und so just die öffentliche Ruhe und Zufriedenheit fördern würde. Daß die englische Politik in dieser Beziehung die praktischere ist, begreift sich leicht und wird durch Thatsachen, durch die ganze Geschichte bestätigt.

Ohne irgend Jemanden zu fragen, als meine Casse, fuhr ich eines Morgens auch davon nach Wales hinüber, wo ich schon einmal gewesen, wie eine frühere Nummer der Gartenlaube beweist, um zwischen den Gebirgen und Tiefen dieser romantischen Gegenden auf bessere Gedanken, in bessere Luft, zu stärkeren Nerven zu kommen, und zugleich eine Höllenfahrt 10 bis 15 Millionen Jahre tief in die Geschichte der Erde zu machen. Zu letzterer führte mich freilich blos ein Zufall; doch halte ich diese Fahrt so sehr für das Haupterlebniß meines Ausflugs, daß ich sie ausschließlich zu schildern versuchen will. Nicht Jeder kann sich so tief in die geologischen Geschichtsschichten der Erde versenken, so daß eine imaginäre Fahrt mit Hülfe meiner Schilderung einen Ersatz für die wirkliche bieten mag.

Die Kohlenminen von Süd-Wales sind weltberühmt, sowohl wegen ihrer Tiefe, als ihres reichen Ertrags und der meisterhaften Technik ihrer Bearbeitung, so daß Explosionen und sonstige Unglücksfälle, in andern Kohlendistricten noch so häufig, hier seit Jahren nicht mehr vorkommen. Mit einem hohen Grade von Zuversicht zogen wir uns deshalb die Uniform der Unterwelt an, die man uns bot: starkes blauwollenes Zeug vom Kopfe bis zum Fuße. Auf die Frage, warum wir diese wollene Uniform anziehen müßten, hieß es: sie brennt nicht so leicht im Falle eines Feuers, einer explodirenden Gasmasse. – Wir sahen uns gegenseitig etwas bedenklich an, doch wollte Niemand Mangel an Muth verrathen, so daß wir kühn vor die Haupthöhle schritten und unsere Davy-Lampen in Empfang nahmen. Ich fragte unsern Führer, ob Explosionen noch sehr häufig vorkämen.

„Kein Gedanke,“ antwortet er, und bleibt vorwurfsvoll stehen. „Jede Minute ziehen 90,000 Cubikfuß frische Luft durch die ganze Mine in zehn besonderen Zügen ein und aus. Jedes Winkelchen und Ritzchen wird fortwährend rein ausgefegt, so daß keine Spur bösen Wetters sich irgendwo festsetzen kann.“

Dadurch etwas getröstet, bleiben wir am Haupteingange stehen, in welchem dicke Lederriemen sich mit furchtbarer Schnelligkeit bewegen, und große Käfige oder Tramen im Nu hier herauf-, dort hinunterrollen. Dies wechselt fortwährend alle Minuten, hier Leute und Kohlen herauf an’s Tageslicht reißend, dort erstere eben so schnell versenkend. Wir sind reisefertig und treten in den stillhaltenden Käfig. Unser Führer schreit etwas Unverständliches, und wir stürzen in den Abgrund mit Eisenbahngeschwindigkeit. Es donnert und wirbelt und saust um unsere Ohren, wir fühlen einen stark zunehmenden Druck gegen Augen, Nase, Kopf, den ganzen Körper, so schnell nimmt die Dichtigkeit der Lust zu. An uns vorbei sausen Leute in die Höhe (über 300 täglich auf und ab), schwere Kohlenlasten und fürchterliche Schreckbilder, die uns grimmig von allen Seiten anzustarren scheinen. Nach etwa einer Minute, eine furchtbar lange Zeit für uns – geht unser Korb oder Käfig plötzlich langsamer und hält mit leisem Stoße auf dem Boden unten, der vor so und so viel Millionen Jahren einst üppig waldige Erdoberfläche war. Feuer- und Wassereruptionen und in’s „Meer der Ewigkeit“ fluthende Zeitströme liefen und lagerten sich darüber hin und drückten die colossalen Farrenwälder zu Steinkohlenschichten zusammen, aus denen die gegenwärtige Menschheit Leucht-, Heiz- und Maschinentriebkraft bezieht.

Wir sind auf dem Abgrunde angekommen, einem großen, hallenartigen Raume mit unheimlich aus der Dunkelheit flickernden Wänden und verschiedenen Thüren und Oeffnungen. In eine derselben weiter geführt, passiren wir Züge von Kohlen auf Schienen und leere Wagen in entgegengesetzter Richtung, die sich in der Mitte unter dem schnurgerade heruntersteigenden Hauptschacht in aufsteigende Luftwaggons entluden. Letztere rollen ununterbrochen nach der Oberfläche, während dieselbe Dampfmaschinenkraft stets ebenso viele leere herunterwirbelt. Das unheimliche, dunkele, von einzelnen Lampen strichweise beleuchtete Donnern und Hämmern, Rollen und Rutschen, wovon man die Triebkräfte nicht sieht, und das sich doch so sicher und ordentlich abwickelt, veranlaßt uns zu der Frage:

„Wie viel Kohlen schafft Ihr täglich hinauf?“

„Durchschnittlich 12,000 Centner täglich,“ antwortete der Führer.

„Und wie groß ist das offene Aderwerk hier unten?“ „Voriges Jahr waren’s 200 Morgen, jetzt aber bedeutend mehr.“

Dabei werden wir in eine Art von Kajüte mit Stühlen ringsum geführt und gebeten, uns niederzulassen, bis wir „unsre Augen [24] wieder bekommen“, wie sich der Mann ausdrückt. Um dabei auch etwas wissenschaftliche Einsicht zu bekommen, fragen wir den Mann bald nach Diesem, bald nach Jenem.

„Wie macht ihr’s eigentlich, um aus diesen engen Gängen und Schluchten jährlich beinahe 2000 Tonnen Kohlen zu ernten?“

Er zeigt mit dem Daumen rückwärts auf einen eckig hervorragenden Felsen und erwidert:

„Wir treiben durch die verschiedenen Strata (geologischen Schichten) und durchschneiden dabei die einzelnen Kohlenbetten. In der jetzigen Tiefe haben wir 21 solcher Betten innerhalb einer Dicke von 600 Yards durchschnitten. Dies sind die weit berühmten unteren Lager von Süd-Wales, mit welchen alle die großen Kohlen- und Eisenbetten von Wales parallel liegen. Hier haben wir bis jetzt Kohlenschichten von 72 Fuß Durchmesser zusammen; 61 Fuß davon vertheilen sich in Betten von je 3 Fuß und mehr. Jeder Fuß Kohle, über einen Morgen ausgedehnt, enthält ungefähr 1500 Tonnen. Zwar sind sie nicht alle verwerthbar, wenigstens bis jetzt nicht, doch sind’s immer Kohlen, die mit wohlfeileren Erhebungsmitteln noch verkäuflich sein werden. Wenn die Lager oder Betten sich gut flach und eben ausbreiten, so daß wir gleich nach allen Richtungen hineinarbeiten können, bekommen wir auch manchmal 1000 Tonnen los und in die Höhe.“

Auf die Frage, wie es mit der Unverwerthbarkeit mancher Kohlenbetten stehe, gibt er mir folgende Auskunft:

„Für unsereinen hier unten sind sie alle so ziemlich gleich, aber oben beim Verbrennen nicht. Da hab’ ich ein Bischen weiter oben ein Bett, das hat eine zu feste Decke, die nicht losläßt von den Kohlen. Wenn die Leute oben nun Kohlen aus diesem Stratum bekommen, so schreiben sie: I, da habt ihr mir ja nichts geschickt, als Steine! Andere Kohlenschichten enthalten zu viel Schwefel, die, in Haufen gelassen, sich leicht von selbst entzünden. So müssen wir sie liegen lassen. Wenn nicht, schreibt uns der Händler oder Consument: Na, da habt ihr mir ja Kohlen geschickt, die rosten wie ein altes Hufeisen und fortwährend begossen werden müssen, um sie schwarz zu halten. Ein Anderer drückt sich manierlicher aus und schreibt: Sie haben mir keine Kohlen geschickt, sondern Schlacken! – Kohlen aus wieder andern Betten geben zu viel Asche, noch andere sind zu „frei“ und wollen nicht zusammenhalten, wieder andere haben Scheiden in sich. Kurz, Gentlemen, Sie können’s mir glauben, die rechte Sorte von Ding ist nicht so leicht zu haben.“

„Was sind das für Scheiden, die manche Lager in sich haben?“

„Scheiden, Sir? Ja, daran erkenne ich die Ansicht der Oberwelt. Sie denkt, die Kohlen liegen so nur eben da, solid und einig. Weit davon wird’s erst richtig. Es gibt sehr selten Schichten ohne dazwischen sich hinziehende andere, fremde Substanzen, größtentheils parallel mit deren Ebene und durchweg, manchmal blos ’n Messerrücken dick, manchmal ’n Fuß oder ’n Zoll, wie’s sich eben findet. Dann kommen auch mitten in der Schicht Eisensteine und „shale“[1] vor und dann verkaufen sie sich besonders schlecht. Manche Scheidungen sind klafterndick und machen aus einem Bett zwei. So hat unsere Arbeit manche Schwierigkeit.“

„Und wie arbeitet man denn nur eigentlich?“

„Das ist verschieden, Gentlemen! Hauptsächlich doppelt, nämlich: „stall and pillar“ das ist eine Art, und dann „long wall“. Die Abstallungs- und Säulenmethode (stall and pillar) besteht darin, daß man blos einen Theil der Kohlen aushackt und die übrigen in Säulen und Abtheilungen zur Tragung der Erdrinde darüber stehen läßt, bis rückwärts gearbeitet wird. Dann schlägt man nämlich das Säulen- und Tragewerk los und läßt, retirirend, die ausgebeuteten Höhlungen zusammenfallen. Solche Districte heißen dann goafs. Die Lange-Wand-Methode (long wall) schafft die benutzbaren Kohlen alle auf einmal weg, so daß auf beiden Seiten lange Wände entstehen, welche die Höhlung in natürlichen Bogen tragen. Für beide Arten der Bearbeitung ist es nothwendig, den Boden in ebenen Driften zu halten, mit Eisenschienen zu belegen und die Kohlen so zu entfernen. Diese ebenen Driften sind zugleich Luftwege der ganzen Mine, neben welchen die Wasserwege besonders angelegt werden.“

Unser Mentor und Führer, der während der Zeit fast stets an dem Dochte seiner Davy-Lampe herumdoctert, fordert uns nun auf, ihm weiter zu folgen, da er voraussetzt, daß wir nun unsere Augen für die Unterwelt bekommen haben. Ganz gewiß. Wir hätten eine Nadel auf dem Boden gesehen. Wir folgen ihm gebückt.

„Keine Furcht für den Kopf,“ ruft er. „Wir haben hier 10 Fuß Höhe und 7 Breite. Das ist unsere Hauptluftstraße, durch welche jede Minute so etwa 70,000 Cubikfuß Luft passiren, auch unsere Hauptstraße durch die Strata und an ihnen entlang. Die Luft wird von hier aus in verschiedene Districte abgeleitet, hindurchgetrieben und durch den Luftschornstein wieder nach oben geführt. Jeder District hat am Ende einen Regulator oder eine Fallthür, durch deren Oeffnung oder Schließung mehr oder weniger Luft von der Hauptstraße weg eingesogen wird.“

„Nun beachten Sie die verschiedenen Strata. Auf dem Wege durch diese Drift können Sie nicht weniger als 133 verschiedene Blattungen derselben bemerken, außerdem 21 Kohlenadern innerhalb 320 Vertical-Yards des Bodens. Die Hauptbestandtheile zwischen diesen Adern nennen wir Clift, der, pulverisirt und dem Wetter ausgesetzt, zu thonigem Schmutz wird. Dazwischen kommt Gestein vor, das, seiner Bindemittel beraubt, zu Sand zerfällt. Auch ziehen sich Betten von Eisengestein hindurch und jedes Kohlenbett steht überall auf einer Schicht von Feuerthon, worin man überall Fossilien findet, die unter dem Namen stigmaria bekannt sind. Das ganze Kohlengebiet hier ist nach Ermittelung der Geologen 2000 Klaftern dick; doch enthält es in den oberen Lagen zu viel Clift, in den mittleren zu viel Sandstein.“

Während dieses Vortrages sind wir mitten in das eigentliche, bearbeitete Kohlenlager gekommen und bemerken mit Staunen dessen ungeheuere Dicke, die sich durch ein glitzerndes Meer von schwarzem Glanze abzeichnet. Zwölf Fuß dick solide Steinkohle. Die Pickäxte der Arbeiter ertönen daran wie lustige Hochzeitsglocken, so metallisch dicht ist die ehemalige grüne Vegetation krystallisirt und zusammengedrückt worden. Man mißt uns die volle Dicke des Lagers, zeigt uns die Scheiden, Geklüfte und Geschiebe dazwischen, das Dach oben und das Thonbett unten. Die „Verdienste“ des Lagers werden geschildert, wie Tugenden eines lieben Freundes, doch wird das benachbarte Lager, obwohl nur 8 Fuß dick, nicht vergessen. Man räumt ihm sogar einige Vorzüge vor seinem dickeren Nachbar ein. In den verschiedenen Driften umherwandelnd lernten wir auch manche Abstallungen und Brattices kennen. Letztere bestehen aus Röhren von zusammengenagelten Bretern, durch welche die Luft gezogen und gedrückt wird, um sie in die fernsten Winkel zu leiten und jedes böse Wetter im Entstehen zu verjagen. Endlich stehen wir vor einem ungeheuern Feuer.

„Wie,“ rief Einer von uns, „fürchtet man sich nicht, mit dieser mächtigen Flamme die Kohlen zu entzünden?“

„Hat nichts zu sagen, unsere Luftwege und Gegenbogen sind Schutzes genug.“

Wir können’s kaum vor dem Feuer aushalten: ein Stück Dante’sche Hölle, ein Meer von Flammen und dicken Rauchwallungen in unbekannte Finsternisse verzinkend und grimmig hineinleuchtend in dicke Nacht der tiefen Unterwelt, aus einem gemauerten Ofen mit einem Schaft von 500 Fuß Höhe. Das so im schärfsten Zuge weißglühende Feuer ist der eigentliche Ventilator und zieht stets fabelhafte Massen Luft aus der Oberwelt hinunter durch alle Adern und Driften und mit allen Spuren gefährlichen Gases wieder herauf. Mit Stolz und Freude zeigt man uns an der Hoflosigkeit um enthüllte Davy-Lampen, daß die Luft nicht „geladen“ ist und also auch nicht losgehen kann. In einem entlegenen Winkel wird uns der „Hof“ um die geschirmten Flammen gezeigt und unser Freund ruft in die unheimlich umdunkelte Flamme hinein:

„Nun, Gentlemen, sehen Sie, was eine Davy ist. Ohne diese Umschirmung der Lampe wären wir jetzt schon versengte und verstümmelte Leichen.“

Das klingt sehr ungemüthlich, so daß wir eilen, wieder in einen der fortwährend auf- und abschnurrenden Tramen zu kommen und mit sausender Geschwindigkeit emporzufliegen auf die Erde und ihr herrliches Tageslicht, an welches wir uns freilich auch erst wieder gewöhnen mußten, so sehr drückte dessen helle Fluth auf unsere Augen und alle Nerven.

[25]
Ein unaufgelöstes Räthsel.

In dem Orte Weiskirchen, drittehalb Stunden von Offenbach entfernt, wurde am 14. November 1853 eine Unbekannte, welcher alle Legitimationspapiere fehlten, angehalten, verhaftet und am 15. dem großherzoglich hessischen Kreisamte Offenbach vorgeführt. Nach der Bekanntmachung des Kreisamtes war dieses Mädchen „ungefähr 22 bis 24 Jahre alt, 6 Fuß 4 Zoll großherzoglich hessischen Maßes (rheinisch: 5 Fuß 4 Zoll) groß, hat blonde Haare, eine hohe und breite Stirn, blonde Augenbrauen, blaugrüne Augen, eine gebogene Nase, einen breiten Mund, ein ovales Gesicht, breite, etwas hervorstehende Backenknochen, eine gesunde Gesichtsfarbe, ist von mittlerer Statur und ohne besondere Kennzeichen. Bei seiner Verhaftung trug dasselbe ein kattunenes, roth und weiß carrirtes Halstuch, roth gezeichnet Carolina B., eine Kontusche von schwarzem Orleans, eine bunte kattunene Schürze, einen kattunenen gestreiften Rock, einen grauen Unterrock von Sackzwillich, einen wattirten Unterrock, ein grobes leinenes Hemd, bis an die Hüfte aufgerollt, über demselben ein weiteres Hemd von Shirting. Ferner trug dasselbe einen Fingerhut, etwas Garn, Seife und einen Kamm in einem Säckchen bei sich, welch’ letzteres das Mädchen auf seinem Leibe verborgen hatte. Alle angestellten Versuche, sich mit gedachter Person verständlich zu machen, blieben lange fruchtlos, weil sie die bekannteren neueren Sprachen entweder nicht versteht oder nicht verstehen will; endlich wurde aber ermittelt, daß sie der ungarischen Sprache mächtig ist. In letzterer sagte sie nunmehr, daß sie in ihrem fünften Lebensjahre von einem Manne, Namens Eleasar, ihrer Mutter genommen und in ein in tiefem Walde gelegenes Haus gebracht worden sei, wo ein Mädchen, Namens Bertha, sie in weiblichen Handarbeiten unterrichtet habe. Kurze Zeit, bevor sie in der Nähe von Offenbach angehalten worden sei, habe sie das Haus im Walde mit der Bertha verlassen, sei mit derselben mehrere Tage hindurch in einem Glaswagen gefahren; endlich seien sie in einem Wirthshause in der Nähe des Ortes, in welchem sie am 14. November v. J. (1853) verhaftet wurde, eingekehrt, hätten hier übernachtet und des anderen Tages habe sie Bertha verlassen. Die gehegte Vermuthung, daß gedachte Person mit einem k. k. österreichischen Militairtransporte in hiesige Gegend gekommen sei, hat sich nicht bestätigt. Dieselbe ist angeblich des Schreibens unkundig und ohne alle Religion, dagegen im Stricken von Strümpfen und Decken geschickt, äußerst reinlich und verschämt. „Da bisher alle Bemühungen“ – so heißt es am Schlusse jener Bekanntmachung – „den Namen, die Herkunft und die sonstigen Verhältnisse der oben signalisirten Person zu ermitteln, fruchtlos geblieben sind, so werden alle Polizei- und Gerichtsbehörden, welche über solche etwa Aufschluß ertheilen können, ersucht, desfallsige Mittheilungen hierher gelangen zu lassen.“

Diese Aufforderung hatte keinen Erfolg, von keiner Behörde kam dem Kreisamte Nachricht über die Unbekannte zu. Man hegte gegen die Fremde anfänglich Argwohn, hauptsächlich darum, weil sie des Schreibens unkundig sein wollte, sich einer unverständlichen Sprache bediente, wie dies von Betrügerinnen, welche näheren Nachforschungen ausweichen wollen, mitunter geschieht, und eine ihr nicht passende, für ihren Körper zu weite Kleidung trug. Unter dem Eindruck dieses Argwohns führte man sie in das Offenbacher Kreisgefängniß. Der Aufseher desselben machte an ihr aber so auffallend günstige Wahrnehmungen, daß er sie in seine eigene Familie aufnahm. Caroline, wie die Fremde von nun an genannt wurde, zeigte sich als willig und sanft, überhaupt als in jeder Beziehung gutartig, schien von unsittlichen Gesinnungen oder gar Handlungen gar keine Ahnung zu haben, war sehr schüchtern und in hohem Grade reinlich. Im Lesen, Schreiben und Rechnen war sie gänzlich unerfahren, so daß sie nicht einmal wußte, daß es Zahlen und Buchstaben gebe, in der Religion kannte sie die Grundbegriffe nicht. Als sie bereits Unterricht empfangen hatte, fragte sie den Lehrer noch: „Wer ist Gott und wo ist Gott?“ und hörte den Erläuterungen, welche sie darüber erhielt, mit sichtlicher Aufmerksamkeit zu. Den ungarischen Ausdruck: Ischtéman (mein Gott)! brauchte sie allerdings oft, aber nur um damit Schrecken oder Verwunderung auszudrücken und ohne an Gott zu denken. In der Verrichtung häuslicher Arbeiten war sie so unerfahren und ungeschickt, daß sie nicht einmal Kartoffeln schälen konnte. Lehren, die man ihr in dieser Beziehung gab, nahm sie begierig an und verrieth alle Zeit den Trieb, in Stube und Küche nützlich zu sein. Nach den ersten Anweisungen legte sie für alle Hausarbeiten ein wahres Talent an den Tag. In einer war sie von vornherein auffallend geschickt – im Stricken. Sie verfertigte mit der Stricknadel baumwollene Decken von tadelloser Güte und in einer Nacht, ohne Licht, zwei blaue wollene „Stauchen“ (Pulswärmer?) mit braunen Rändern. Auf alle Menschen, welche sie sahen, machte sie den Eindruck eines ganz unschuldigen Kindes, das in tiefer Einsamkeit ohne allen Unterricht aufgewachsen und in geistiger Hinsicht auf der untersten Stufe der Entwickelung zurückgeblieben sei.

Als man sich überzeugt zu haben glaubte, daß man keine Betrügerin, sondern ein höchst unglückliches Mädchen vor sich habe, konnte man Caroline im Gefängniß nicht länger lassen. Der Stadtrath von Offenbach berieth am 19. April 1854 über ihr ferneres Schicksal und beschloß einstimmig, daß für ihre Unterhaltung und Ausbildung so lange Sorge getragen werden solle, bis sie im Stande sei, sich selbst auf eine ehrbare Weise zu ernähren. Die hierzu erforderlichen Geldmittel sollten durch freiwillige Beiträge zusammengebracht und die etwa fehlende Summe aus der Stadtcasse ergänzt werden. Man beschloß endlich, falls sich Caroline bis zu der Zeit, wo sie sich selbst zu ernähren im Stande sei, musterhaft betrage, ihr das Heimathsrecht in der Stadt Offenbach zu verleihen. Das Ministerium des Innern genehmigte diese Beschlüsse und Caroline wurde aus dem Gefängnißhause zu einer achtbaren Familie gebracht, um dort die zu ihrem spätern Fortkommen dienlichen häuslichen Arbeiten zu erlernen und im Bügeln und Nähen besonderen Unterricht zu empfangen. Sehr schwer und unter vielem Weinen trennte sie sich von der Familie des Gefängnißaufsehers. Nachdem sie in der neuen Umgebung längst heimisch geworden war, äußerte sie noch häufig den Wunsch, ihre „Deutsch-Mama“ (die Frau des Aufsehers) besuchen zu dürfen. Ein Lehrer der Offenbacher Volksschule, Friedrich Eck, wurde beauftragt, ihr Unterricht in der deutschen Sprache und, sobald sie darin die nöthigen Fortschritte gemacht habe, in der Religion, im Rechnen und Schreiben zu ertheilen.

Die gerichtliche Aufforderung zu Mittheilungen über Carolinen hatte, wie wir bereits wissen, keinen Erfolg gehabt. Spuren, welche auf ein bestimmtes Land, dem die Unbekannte angehören müsse, hinwiesen, waren vorhanden. Die Stelle der Aufforderung des Offenbacher Kreisamtes, worin gesagt wird, man habe ermittelt, daß sie der ungarischen Sprache mächtig sei, kennen wir. Diese Behauptung beruhte auf der Aussage eines Unbekannten, der ein gebildeter Mann gewesen sein soll und mit Carolinen im Gefängniß ungarisch gesprochen hatte. Im Verlaufe der beiden nächsten Jahre (1854 und 1855) stellten sich noch zwei andere Ungarn ein, ein Lieutenant und ein Professor, die sich mit ihr in ihrer Sprache, allerdings nur schwer, verständigen konnten. Caroline erklärte, daß sie immer, wenn einer dieser Herren bei ihr gewesen sei, unwillkürlich an ihre Mutter erinnert worden sei, denn jeder habe so gesprochen wie diese. Durch die Ermittelungen des Sprachforschers Lorenz Diefenbach erhalten diese Worte Bedeutung. Danach ist nämlich das Ungarische (Magyarische) Carolinens vielfach von der Schriftsprache abweichend und einigermaßen mit fremden Wörtern gemischt, die indessen meistentheils in Ungarn verbreiteten Sprachen angehören. So scheint es also mit Gewißheit (von Carolinens Erzählung sehen wir vorläufig ab) angenommen werden zu können, daß ihre Mutter die reine Schriftsprache geredet hat und ihr eigener verdorbener Dialekt mit ihrer spätern Umgebung in Verbindung steht.

Als die Unbekannte der deutschen Sprache hinreichend mächtig war, theilte sie sich über ihr früheres Leben mit. Ihre Erzählung ist in zusammengedrängter Form folgende. Bis zu ihrem fünften Jahre lebte sie bei ihrer „Mama“ in einem großen einsam gelegenen Gebäude, welches in Form eines Vierecks einen Raum (Hof) einschloß. Dieses Gebäude hatte nur einen einzigen Eingang, ein bogenförmiges Thor mit zwei Flügeln, dem zur Rechten und Linken hallenförmige Räume lagen, durch die man in das Gebäude selbst gelangte. Der Eingang zur Linken führte blos in das Erdgeschoß; wollte man in die obern Stockwerke gehen, so mußte man sich rechts wenden, wo es eine sehr hohe und breite Wendeltreppe gab. In das Erdgeschoß konnte man auch auf dieser [26] Seite gelangen; man mußte dann an der Wendeltreppe vorbeigehen. Vom Hofraume aus führte kein Eingang in das Gebäude. Auf dem Vordergebäude über dem Thorbogen stand ein runder dicker Thurm, 20 bis 25 Fuß hoch, das Hintergebäude-hatte zwei Thürme von derselben Form und Höhe. An den Fenstern des Gebäudes waren grüne Läden angebracht. Das Gebäude hatte viele Stuben, die Küche befand sich im hintern Bau.

In diesem einsamen Gebäude wohnte die Mutter Carolinens mit ihr selbst, einer Gesellschafterin und einigen Dienstmädchen. Sie hatte die Gemächer rechts inne, links wohnte zuweilen ein „Ongkar“ (Oheim) Carolinens mit seinem Sohne Henrik (Heinrich). Von einer Mutterschwester „Xantlu“ (Tante) hörte Caroline, sah sie aber nie. Von einer männlichen Bedienung der Mutter oder des Oheims hat sie nie gesprochen. In der Waldwohnung, wo sie ihre späteren Jahre verlebt haben will, hat sie noch gehört, daß der Vater von ihrer Mutter „Katana“ (in der ungarischen Schriftsprache Katona, Soldat) gewesen sei. Dieser Großvater hat einmal fortgemußt, wo böse Menschen waren (wahrscheinlich in den Krieg) und hat bei seiner Rückkunft zur Mama ein böses Bein gehabt. Auch ihr eigener Vater ist Officier gewesen. Sie erinnert sich aus ihrer Waldwohnung des Bildes eines Mannes mit einem weißen Kleide und mit drei Sternen auf der Brust, von dem ihre Wärterin ihr gesagt habe, daß es ihren Vater vorstelle. Als sie in Offenbach einen österreichischen Officier in Uniform sah, sagte sie: „So hat mein Papa auf dem Bilde, ein weißes Kleid an.“ Darauf beschränken sich alle ihre Erinnerungen und Aussagen von ihrer Familie. Nur ein einziger Ortsname tritt dabei hervor: Temewar (doch wohl Temesvar), wohin Carolinens Mutter nach der Erzählung der Wärterin in der Waldwohnung mehrmals mit dieser in einem Wagen gefahren ist.

Der Hofraum des einsamen Schlosses war gepflastert und in der Mitte befand sich ein runder verdeckter Brunnen, auf dem das Wasser mittelst eines Rades heraufgezogen wurde. Der linke Seitenflügel des Hauptgebäudes grenzte an der Außenseite an einen großen Garten, der sich über das Gebäude noch hinauserstreckte. In diesen Garten gelangte man durch eine Thür links vom Vordergebäude, und diesem Eingange gegenüber standen drei kleine, etwa dreißig Schritte von einander entfernte Häuser, wo die Leute wohnten, die in dem Garten zu arbeiten hatten. Zu dem Thore des Hauptgebäudes führt ein breiter, theilweise gepflasterter und von hohen Bäumen eingefaßter Weg. Von diesem Hauptwege führte „zu jedem der drei kleinen Häuser“ ein Nebenweg. Nicht fern vom Hauptgebäude standen viele Bäume, die man von den Fenstern aus sah.

Caroline wohnte in diesem Gebäude etwa bis zum vollendeten fünften Jahre. An einem Morgen nach dem Kaffee führte ihre Mutter sie in den linken Seitenflügel zum Oheim, küßte sie und fuhr anscheinend heiter in einem Wagen fort. Ihre Gesellschafterin nahm sie mit, die Dienstmädchen blieben zurück. Sie hatte sich oft entfernt und Caroline ahnte daher nichts Schlimmes. Sie blieb bei ihrem Oheim bis gegen Mittag, zu welcher Zeit sie in den Garten geführt wurde, Henrik wollte sie begleiten, mußte aber auf Befehl des Vaters zurückbleiben. Bei dieser Gelegenheit erfahren wir, daß ihr Spielgenosse acht Jahre alt war. Sie ging allein in den Garten und hatte sich dort kaum in der Nähe des Wassers niedergesetzt, als ein großer Mann mit einem starken, über die Brust herabfallenden Barte sie auf seine Arme nahm und forttrug. Sie weinte und schrie, bis der Fremde ihr den Mund mit einem Tuche verschloß und sie endlich ganz ermattet auf seinem Arme einschlief. Wenn sie erwachte, fühlte sie sich noch immer fortgetragen. Wie lange dies dauerte, ob es inzwischen Nacht wurde und ob ihr Träger mit ihr durch eine Stadt oder ein Dorf ging, hat sie nicht bemerkt. Alles, was sie weiß, ist, daß sie in eine unterirdische, in einem großen Walde liegende Wohnung getragen und dort einer Frau von 40 bis 45 Jahren, der einzigen Bewohnerin der Höhle, übergeben wurde.

In dieser Wohnung hat die Unbekannte lange Jahre verlebt und sie daher mit der größten Genauigkeit beschreiben können. Der oberste Theil derselben lag mit dem Waldboden in derselben Linie. Den Eingang bildete eine Fallthür „von der Größe einer gewöhnlichen Stubenthür“, die mit Gras bewachsen war, daß man sie von dem Boden des Waldes nicht leicht unterscheiden konnte. Unter dieser Fallthür befand sich eine Treppe mit 15 bis 18 Stufen von Holz und so schmal, daß immer nur eine Person auf ihr gehen konnte. Auf diese Treppe folgte unten ein gerade fortlaufender Gang, zehn bis zwölf Fuß hoch und so breit, daß zwei Personen neben einander gehen konnten. „Seine ganze Länge hat Caroline nie gesehen, ist ihr also unbekannt.“ Außer diesem Gange befanden sich in der unterirdischen Wohnung zwei Stuben, eine Küche und ein Keller. Vielleicht waren noch andere Räume vorhanden, aber die erwähnten waren die einzigen, welche Caroline zu sehen bekam. Die beiden Stuben und die Küche waren Räume von zehn bis zwölf Fuß Höhe und alle drei mit einer verschließbaren hölzernen Thür versehen. In dreien befand sich in der Mitte der Decke ein kreisrundes Fenster von 1 1/2 Zoll im Durchmesser. Durch diese Oeffnung drang nicht so viel Licht ein, wie in gewöhnlichen Stuben, aber doch so viel, daß Handarbeiten möglich waren. Die Decke der Fenster bildete wie bei der Thür ein Deckel von Holz, der niedergelegt werden konnte und dann, da er mit Gras bewachsen war, ein Entdecken der Fenster verhinderte.

Der ganze unterirdische Raum war weder gedielt, noch mit Tapeten versehen, noch mit weißer Farbe angestrichen. Alles befand sich im Naturzustande und trug die schwarze Farbe der Erde. Die eine der Stuben lag links, die andere rechts von dem Gange. Die Stube links bewohnte Caroline. Sie war mit einem Ofen versehen, der nach der Beschreibung aus Ziegelsteinen, Thon oder dunklem Porzellan bestanden haben wird. Ein Ofenrohr hat Caroline nicht gesehen, wie sie auch in den andern Räumen von keinen besondern Oeffnungen oder Anstalten zum Hinauslassen des Rauches weiß. Links neben Carolinens Zimmer befand sich die Küche und unter dieser lag, mittelst einer Fallthür zugänglich, der Keller. Die sehr in’s Einzelne gehende Beschreibung des Hausgeräthes in den Stuben und der Küche übergehen wir; alle Stücke waren so einfach wie möglich. Von Interesse ist nur, daß eine Kommode in Carolinens Stube außer ihren Kleidern ein Paar gelbe (goldene) Ohrringe und ein weißes (silbernes) Medaillon enthielt. An jedem der beiden Ohrringe war ein Plättchen befindlich, „auf dem etwas stand.“ Als Caroline in Offenbach die Buchstaben kennen lernte, von denen sie früher keine Ahnung gehabt hatte, erklärte sie, daß es Buchstaben gewesen wären. Auf dem Medaillon, das die Größe eines Halbenguldenstückes hatte, war eine Frau mit hoher Stirn und hellem Haar abgebildet, Carolinens Mutter, wie ihr von ihrer Wärterin gesagt wurde. Ueber der Kommode hing jenes Bild ihres Vaters, welches bereits früher erwähnt wurde.

Wasser drang in die unterirdische Wohnung nicht, so stark es auch regnen mochte. Schnee sah Caroline nie. Es war im Winter nicht so kalt, wie im südlichen Deutschland, und die Kälte hielt nicht länger an, als acht bis zehn Wochen. Während der übrigen Jahreszeit war es mitunter ziemlich warm, doch ließ der Wald eine drückende Hitze nicht aufkommen.

Acht Jahre lang etwa wohnte Caroline mit ihrer Wärterin hier allein. Diese Frau hieß Bertha und ihre Pflegbefohlene wurde von ihr Karlinka genannt. Von Zeit zu Zeit erschien der Mann, der Carolinen in die Waldwohnung getragen hatte und ihr mit dem Namen Eleasser (Eleasar) bezeichnet wurde. Er kam nicht ganz regelmäßig, bald nach fünf oder sechs, bald nach acht oder auch zwölf Tagen. Der Zweck seiner Besuche bestand nicht blos darin, Lebensmittel zu bringen, er wollte auch, wie aus Carolinens Erzählung mittelbar hervorgeht, die Wärterin beaufsichtigen und ihr ihre Pflichten einschärfen. Er blieb mindestens zwei bis drei Tage, zuweilen noch länger. Entfernte er sich, so nahm er die fertigen weiblichen Arbeiten, Strümpfe und Decken, falls sie sich einigermaßen angehäuft hatten, mit sich fort. Bertha benahm sich gegen ihre Gefangene stets wohlwollend und freundlich, Eleasar war rauh und vermied mit ihr zu sprechen. Er begrüßte sie bei seiner jedesmaligen Ankunft mit möglichster Kürze und sprach dann nur noch mit Bertha, aber auch nicht in der Gegenwart der Gefangenen. Wenn diese letztere doch behaupten kann, daß Eleasar und Bertha sich einer ihr unbekannten Sprache bedient hätten, so wird ihr dies dadurch möglich, daß beide oft hinter der verschlossenen Thür von Bertha’s Stube sehr laut mit einander sprachen. Eleasar zankte dann mit Bertha, wie diese hinterher erzählte. So lange er anwesend war, blieb Caroline Tag und Nacht in ihrer Stube eingeschlossen. Er trat sehr leise auf und sie merkte oft nur daran, wenn ihre Thür wieder geöffnet wurde, daß er gegangen sei.

Bertha sprach mit Carolinen anfangs in der (ungarischen) [27] Sprache, welche die Mutter derselben geredet hatte. Nach und nach ging sie zu dem Dialekt über, in dem die Unbekannte bei ihrer Ankunft in Offenbach sich ausgedrückt hatte, und die letztere vergaß die magyarische Schriftsprache ganz. Unterricht in der Religion, im Lesen und Schreiben u. s. w. erhielt sie gar nicht. Als sie an den häuslichen Arbeiten des Kochens, Waschens u. s. w. theilnehmen wollte, versagte ihr Bertha ihren Wunsch. Daß sie, wenn Bertha in der Küche das schmutzige Geräth reinigte, in ihre Stube eingeschlossen wurde, was sonst, außer bei Eleasars Anwesenheit, nie geschah, sollte ihr vielleicht die Lust an dem Erlernen solcher Arbeiten benehmen. Das Stricken durfte sie erlernen und, brachte es darin, obgleich ihr nie eine Aufgabe zugewiesen, auch kein Zwang irgend einer Art gebraucht wurde, zu der großen Geschicklichkeit, die in Offenbach so viel Aufsehen erregte. Vom Nähen lernte sie nur so viel, als man zu wissen braucht, um Hefteln und Häkchen befestigen zu können. Auch Bertha beschäftigte sich nicht mit Nadelarbeiten, aber die nöthigen Kleider waren immer zur rechten Zeit da. Caroline vermuthet daher, und gewiß mit Recht, daß Eleasar, der auch die zum Stricken nöthige Wolle und Baumwolle besorgte, sie gebracht habe.

So außerordentlich Carolinens geistige Entwickelung vernachlässigt, ja geflissentlich gehemmt wurde, so gewissenhaft wurde für ihre körperliche Pflege gesorgt. Bertha hielt sehr auf Reinlichkeit, in den Zimmern so gut wie bei ihrer Pflegebefohlenen. Wöchentlich zweimal mußte diese das Taghemd und einmal das Nachthemd wechseln, alle acht Tage badete sie in einer hölzernen, von breiten und schwarzen (eisernen) Reifen umgebenen Bütte. Ihre Nahrung war reichlich und gut, wenn auch nichts weniger als fein. Ihr Frühstück bestand jeden Tag in Schwarzbrod und Schweinefleisch mit Babrika (paprika, spanischem Pfeffer) und war so reichlich, daß sie es niemals verzehren konnte. Was übrig blieb, behielt sie in ihrer Stube und konnte davon während des ganzen Tages nach Belieben genießen. Die Mittagskost bestand in Suppe, Gemüse und Fleisch, gewöhnlich Hammelfleisch. Das Abendessen war entweder der Rest des am Mittag Uebriggebliebenen oder frische Suppe und Fleisch. Als Getränk diente Wasser, das Bertha über der Erde holte. Thee und Kaffee wurde ihr nicht gereicht, Milch selten und dann stets gekocht. Quantität und Qualität ihrer Nahrung wußte Caroline in Offenbach nicht genug zu rühmen. In der kalten Jahreszeit wurden lebende, zur Nahrung bestimmte Thiere in die Waldhöhle gebracht. Es waren Gänse, welche dort, um sie fett zu machen, mit „Kukeriza“ (Kukoricza, Mais) gestopft (genudelt) wurden. Bei diesem Geschäft durfte Caroline hülfreiche Hand leisten. Das Fett brauchte Bertha zum Schmalzen der Speisen, das Fleisch salzte sie roh ein, damit es später gekocht verzehrt werde.

Die Tagesordnung war, wie sich leicht denken läßt, die einförmigste von der Welt. Caroline stand sehr früh auf, um vier Uhr, nach ihren Offenbacher Gewohnheiten zu schließen. In ihrer Höhle kannte sie die Stunden nicht, obgleich in Bertha’s Stube eine Wanduhr hing und im Gange erhalten wurde. Sie glaubte, daß diese Uhr, deren schwingender Pendel ihr viele Freude machte, lediglich um dieser schönen Bewegung willen gehalten werde. Nachdem sie aufgestanden war, wozu Bertha durch Klopfen an die Thür das Zeichen gab, zog sie sich an. Die Wärterin brachte dann eine brennende Oellampe von weißem Blech und Waschwasser, worauf sie, wenn es kalt war, den Ofen heizte. Hatte Caroline sich gewaschen, so kämmte, flocht und ordnete Bertha ihr das Haar. Die letztere machte dann das Bett und reinigte die Stube. Caroline begann nun zu stricken und setzte diese Beschäftigung den ganzen Tag fort. Die gewöhnlich vorkommenden Abwechselungen waren das Aufheben und Zulegen des Deckels über dem Fenster, das Auslöschen und Anzünden der Oellampe, wenn der Tag erschien oder verschwand, und die verschiedenen Mahlzeiten. Einige Stunden nach der letzten entkleidete sich Caroline und ging zu Bett.

Da Bertha nur in den Zeiten, wenn Eleasar zugegen war, Carolinen in ihrem Zimmer eingeschlossen hielt, so hatte sie ohne Zweifel den Befehl, dies immer so zu halten. Ihr gutes Herz, das sich in ihrem ganzen Benehmen kundgibt, ließ sie von dieser Weisung abgehen. Ihr Ungehorsam hatte aber seine Grenzen. Daß Caroline den Gang, zu dessen Seiten die beiden Zimmer lagen, weiter verfolgte oder den Keller betrete, litt sie nicht. Wenn ihre Pflegebefohlene etwas in den Keller zu reichen hatte, mußte sie auf der halben Treppe stehen bleiben. Auf der andern Seite verließ sie mit Carolinen an manchen Tagen die unterirdischen Gemächer, um unter Gottes freiem Himmel Luft zu schöpfen. Diese Aufgänge wurden bei gutem Wetter an jedem Nachmittage unternommen, nachdem Bertha mit ihren häuslichen Arbeiten fertig war. Wurde Eleasar erwartet, so waren die Spaziergänge von kurzer Zeitdauer, anderen Falles währten sie länger. Weit haben sie, nach allen Mittheilungen zu schließen, an keinem Tage geführt. Etwa fünfzig bis sechzig Schritte von der Waldwohnung entfernt trat eine Quelle hervor, aus der Bertha das Trinkwasser schöpfte. Etwas weiterhin standen drei große Aepfelbäume mit vielen und dicken Aepfeln, von denen Caroline nach Belieben essen durfte. Mehrere hundert Schritte von der Wohnung entfernt lag ein langer Stein, auf den die beiden Spaziergängerinnen sich zuweilen setzten und ihr unaufhörliches Stricken fortsetzten. Jene Aepfelbäume waren die einzigen, welche Caroline jemals blühen sah. Erschienen die Blüthen, dann sagte Bertha: „Nun bist Du ein Jahr älter geworden!“ Außer der grünen Erde, dem Wald und dem Himmel sah die Gefangene nichts, weder ein Feld, noch eine Wiese, noch ein Haus. Aber Vögel verschiedener Art nahm sie wahr, auch kleine rothe Geschöpfe, die schnell auf die Bäume und von einem Baume zum andern sprangen, also Eichhörnchen, zuweilen noch größere graue Thiere mit vier Beinen, vermuthlich Rehe und Hirsche. Bertha hatte außerdem einen Hund, den sie Uedusch rief, und drei graue Katzen.

Der Aufenthalt Carolinens in der unterirdischen Wohnung hatte ungefähr sieben bis acht Jahre gedauert, als sie Gesellschaft erhielt. Eines Tages brachte Bertha auf einem Tragkissen einen Knaben, den sie Adolf nannte, in ihr Zimmer. Wahrscheinlich hatte Eleasar den Knaben, der zwei bis drei Monate alt gewesen sein soll, gebracht. Er bewohnte mit Carolinen dieselbe Stube und wurde so gut wie sie, natürlich seinem Alter angemessen, verpflegt. Bertha fütterte ihn in der ersten Zeit mit „Speise, von Mehl gekocht“ und ließ ihn aus einem länglichen Saugglase Milch trinken. Jetzt brannte die ganze Nacht ein Licht, das nicht hell war, wie die Oellampe. Caroline wurde mit seiner besondern Wartung beauftragt und trug ihn Nachts, wenn er schrie, im Zimmer herum. Als er älter geworden war, erhielt er statt der Wiege ein Bett und dieselbe Speise wie Caroline. Wenn diese mit Bertha in den Wald ging, war Adolf immer dabei. Sie beschäftigte sich sehr gern mit ihm, so lange er ein kleines Kind war, später wurde er ihr gleichgültiger und sie strickte nun wieder lieber.

Sechzehn Jahre mochte Caroline unter der Erde gelebt haben, als ihr Schicksal plötzlich eine andere Wendung erhielt. Bertha schnitt ihr das Haar ab, das sehr lang geworden war, da man dasselbe nicht ein einziges Mal gekürzt hatte. Acht Tage später legte die Wärterin wärmere Kleider als die gewöhnlichen für sie zurecht, mit dem Bedeuten, daß sie dieselben am andern Morgen anziehen solle. Dann wurde sie mit Adolf eingeschlossen, weshalb sie vermuthete, daß Eleasar anwesend sei. Am andern Morgen wurde früh geklopft, und Bertha, ebenfalls wärmer gekleidet, trat in’s Zimmer. Diese sagte ihr: „Komm’, liebe Karlinka, wir gehen zur lieben Mama, wovon ich schon immer gesagt habe.“ Caroline, die sich noch immer nach der Mutter sehnte, hatte sich bereits angekleidet und erhielt von der Wärterin noch die beiden Ohrringe und das Medaillon aus der Kommode. Bertha ergriff eine mit Kleidern gefüllte Reisetasche und so verließ man die Wohnung; Adolf, von dessen fernerem Schicksale Caroline nichts weiß, blieb zurück.

(Fortsetzung folgt.)


Die Berliner Wasserwerke.

Wer in dem heutigen Berlin durch eine der vielen Straßen wandert, hat wohl keine Ahnung, daß unter dem Steinpflaster ein vollständiges System von Canälen und Röhren verborgen liegt, die gleich den Adern und den übrigen wunderbaren Gebilden des menschlichen Körpers den größten Anspruch auf unsere Bewunderung haben. Die große Stadt gewinnt dadurch immer mehr das [28] Ansehen eines vollendeten Organismus; sie hat ihr Nervensystem, den Telegraphen, welcher mit der Schnelligkeit des Blitzes den Gedanken trägt und die entferntesten Theile miteinander verbindet, ihre Blutgefäße, ihre Arterien und Venen, in denen das Gas und das zu ihrem Leben so nothwendige Wasser von einem Ende zum andern strömt. Nur wenn eine nothwendige Reparatur vorgenommen und das Steinpflaster aufgerissen wird, erblickt man diese verborgenen Geister, welche in der Tiefe der Erde ihre geheimnisvolle Wirksamkeit entfalten. Da liegen friedlich die eisernen Röhren neben einander, in denen die gebändigten Kräfte der Natur dem Menschen dienen.

Durch die neuen Wasserwerke, welche eine englische Compagnie unter dem Schutze und hauptsächlich auf Veranlassung des verstorbenen Polizeidirectors von Hinkeldey eingeführt, hat der städtische Organismus gleichsam seinen Abschluß erhalten. Die Nothwendigkeit einer gleichmäßigen und allgemeinen Wasservertheilung stellte sich schon längst als ein sich täglich steigerndes Bedürfniß heraus. Zwar besitzt Berlin eine hinlängliche Menge von Brunnen und die Spree gewährt den vollkommen ausreichenden Zufluß für Fabriken und industrielle Unternehmungen aller Art; aber das Wasser selbst ist, wie die chemische Analyse nachweist, theils durch fremde Bestandtheile häufig so sehr verunreinigt, daß es der Gesundheit und dem Betriebe gewisser Gewerbe geradezu nachtheilig wird, theils so schwer in die höher liegenden Wohnungen zu bringen, daß dadurch die größten Uebelstände herbeigeführt werden. Bei der Reorganisation der „Berliner Feuerwehr“ stellte sich die Nothwendigkeit einer allgemeinen Wasserleitung noch dringender heraus; ja, die Erstere war ohne die Letztere gar nicht denkbar. Als sich daher eine Compagnie von Capitalisten in London gebildet hatte, um Berlin mit Wasser zu versehen, so wurde derselben von der Regierung gern jeder Vorschub und jede mögliche Begünstigung gewährt. Immer mehr findet diese Gesellschaft ihre Rechnung, da die Zahl der Häuser, welche sie jetzt mit Wasser versorgt, täglich zunimmt. Fast kein neues Gebäude entsteht, das nicht sein Wasser von der Compagnie bezieht. Bis in die höchsten Stockwerke wird das freundliche Element emporgeleitet. Diese Einrichtung schützt den Eigenthümer bei Feuersgefahr, erleichtert den Dienstboten ihre schwere Last, befördert die zum Leben so nöthige Reinlichkeit und ist für alle Classen der Bevölkerung mit gleichen Vortheilen verbunden, so daß sich Hauswirthe und Miether den daraus erwachsenden, verhältnißmäßig unbedeutenden Kosten gern unterwerfen.

Das Hauptwerk, welches die ganze große Stadt Berlin mit Wasser speist, liegt vor dem Stralauer Thore. Wir erreichen dasselbe von dem Mittelpunkte der Stadt aus in einer Droschke, wenn wir ungefähr drei Viertelstunden fahren. Dabei berühren wir den vorzugsweise Gewerbe treibenden Theil der Stadt, welcher sich an der Spree hinzieht. Fabrik erhebt sich neben Fabrik, bald eine riesige Färberei, bald Zuckersiederei oder Spinnerei. Dazwischen liegen die großen Holzplätze mit ihren Vorräthen an Nutz- und Brennholz. Endlich gelangen wir vor das Thor, welches nach den beliebten Spazierorten Treptow und Stralow führt. Hier zieht ein neues Gebäude von elegantem Aeußern unsere Aufmerksamkeit auf sich. Man wäre geneigt, es für einen freundlichen Privatsitz, für die Villa eines reichen Eigenthümers zu halten, so zierlich, nett und einladend sieht es aus. Nichts deutet seine eigentliche Bestimmung an, außer der 145 Fuß hohe Schornstein, der aus bunten Ziegelsteinen wie ein Thurm oder, besser noch, wie das Minaret einer türkischen Moschee emporsteigt. Wir befinden uns an Ort und Stelle, vor den „neuen Wasserwerken.“ Ein höflicher Portier fragt nach unserer Einlaßkarte, die wir zuvor in dem Bureau der Gesellschaft bereitwillig und unentgeltlich auf unser Gesuch erhalten haben. Derselbe Mann bietet sich zu unserem Führer an und von ihm geleitet betreten wir das Kesselhaus. Hier liegen zwölf riesige Dampfkessel, von steter Gluth genährt, neben einander und entwickeln die nöthigen Dämpfe zum Betriebe des ganzen Werkes. Schon an diesem Orte, der einem großen Saale gleicht, fällt uns die ausnehmende Reinlichkeit um so mehr auf, da man sie in dieser Riesenküche am wenigsten zu erwarten berechtigt ist. Unsere größte Bewunderung erregt aber der eiserne Dachstuhl, aus der Fabrik des Herrn Wöhlert hervorgegangen, so leicht, luftig und gefällig, wie ein Spinnengewebe und dabei doch fest und stark, zugleich vollkommen feuersicher. Wir steigen eine steinerne Treppe empor und gelangen in das höher gelegene Stockwerk, wo die Maschinen unablässig mit ihren eisernen Armen arbeiten. Acht Dampfmaschinen und zwar vier zu zweihundert, vier zu hundert Pferdekraft setzen sechzehn Pumpen in Bewegung, welche das Wasser in die Röhren treiben und durch die ganze Stadt vertheilen. Dies geschieht so geräuschlos, gleichmäßig und mit solcher Leichtigkeit, daß man sich kaum von dem interessanten Schauspiel losreißen kann. Von den sechzehn Pumpen schöpfen zwölf ihren Vorrath aus dem Bassin, das wir später noch genauer schildern wollen, vier direct aus der naheliegenden Spree. Der Dampf setzt das mächtige Schwungrad in Bewegung, das mit den Hebeln der Pumpen in Verbindung steht. Diese treiben das Wasser durch das Hauptrohr, welches einen Umfang von fünf Fuß besitzt und selber einem stattlichen Canale gleicht. Das Ganze ist mit einer Raumersparniß, einer Zweckmäßigkeit und Einfachheit eingerichtet, die von Neuem die praktische Geschicklichkeit der englischen Ingenieure beweist. Dagegen können wir Deutschen stolz auf die schönen, musterhaften Maschinen sein, welche sämmtlich aus der Fabrik des Herrn Borsig hervorgegangen sind und wohl kaum ihres Gleichen haben dürften. Wenn man die Thätigkeit dieser eisernen „Riesen“ längere Zeit mit anschaut, so glaubt man wirklich lebende und mit Vernunft begabte Wesen zu sehen. Die Zahl der menschlichen Arbeiter, welche zur Bedienung der Maschinen nöthig sind, ist äußerst gering und beläuft sich in Allem nur auf sechs Mann, welche bei dem ganzen ungeheuren Werke verwendet werden. Diese Angabe klingt wie ein Märchen und ist doch vollkommen wahr.

Wir gelangen über eine Treppe, die uns herabführt auf den freien Platz, wo die Bassins liegen, welche aus der Spree durch unterirdische Röhren ihr Wasser beziehen. Dieselben dienen zur Aufbewahrung und Reinigung; indem das Wasser über Kiessand, geleitet wird, setzt es alle organischen Unreinigkeiten ab, so daß es vollkommen geläutert in die Stadt zum Gebrauch gelangt. Derartige Bassins sind vier Stück vorhanden, von denen das größte 196 Schritt lang und gegen 80 breit sein dürfte; die Tiefe beträgt 8 Fuß, doch erreicht das Wasser darin gewöhnlich nur eine Höhe von zwei Fuß. Zwei Mal im Jahre werden die Bassins abgelassen, der zur Reinigung gebrauchte Kies sorgfältig gewaschen und von allem Schmutz befreit. Man kann sich bei einer Wanderung nach den verschiedenen Bassins am besten davon überzeugen, wie das zuerst getrübte Spreewasser nach und nach immer heller und klarer wird. Die Beamten und das übrige Personal genießen kein anderes Getränk und befinden sich sehr wohl dabei, wie die Erfahrung lehrt. Das so gereinigte Wasser wird nun durch die bereits angegebenen Pumpen in die eisernen Röhren getrieben, welche in gerader Linie ungefähr einen Weg von fünfundzwanzig Meilen beschreiben würden. Dieselben variiren in ihrem Umfange von dreißig Zoll bis zu zwei Zoll und sind sämmtlich in der Fabrik des Herrn Freund in Berlin gegossen. Die Leitung geht durch alle Straßen der Stadt und versorgt diese mit dem nöthigen Wasser. Für drohende Feuersgefahr ist die Residenz in gewisse Bezirke eingetheilt und in jeder Straße befinden sich an bestimmten Häusern mit rother Farbe numerirte Marken, welche die Stellen andeuten, wo die Röhren sich öffnen. Durch Einschränkung eines Schlauches wird sodann alsbald das nöthige Wasser an Ort und Stelle für die Spritzen und Eimer auf die leichteste Weise herbeigeschafft. Aus diesen Ventilen strömt auch das zur Straßenreinigung und Sprengung gewünschte Wasser. Auch die in Berlin mit Recht verrufenen Rinnsteine werden auf diese Weise gereinigt und von dem mephitischen Schmutz befreit, welcher sonst die Residenz verpestete. Der Nutzen für die allgemeine Gesundheit ist einleuchtend genug; es ist statistisch festgestellt, daß in Städten mit Wasserleitung die Gefährlichkeit der Epidemieen in auffallender Weise abgenommen hat, der Gesundheitszustand der Einwohner ein besserer und das Mortalitätsverhältniß der Einwohner ein weit günstigeres geworden ist.

Außerdem tragen die neuen Wasserwerke durch Einrichtung von öffentlichen Fontainen und privaten Wasserkünsten wesentlich zur Verschönerung der Residenz und zur Verbesserung der Atmosphäre bei.

Ein besonderes Verdienst sind jedoch die damit verbundenen Bäder und öffentlichen Waschanstalten, die vorzugsweise von den mittleren und unteren Volksclassen wegen des beispiellos billigen Preises benutzt werden, und Reinlichkeit, Sauberkeit und Behaglichkeit in allen Ständen verbreiten helfen. Durch die Wasserleitung erhält das ganze Hauswesen eine wesentlich wohlthätige Umänderung. [29] Ein Druck auf den Hahn, und es strömt in die Küche so viel Wasser, als man braucht, und zwar das reinste und beste. Das Dienstmädchen hat nicht mehr nöthig, zwei, selbst drei und vier Treppen hoch die schweren Eimer keuchend hinaufzuschleppen; ärmere Familien können selbst ohne jede Bedienung und reichere mit geringerem Personal auskommen. Wie viel wird nicht an Zeit und Geld dadurch erspart?

Die Wohnungen erhalten ein comfortableres Ansehen, die Straßen werden durch Sprengen von dem lästigen Staube befreit. Der Werth der Häuser steigt, die Feuersgefahr vermindert sich, wie die statistischen Berichte nachweisen, und somit müssen mit der Zeit auch die Versicherungsprämien geringer werden. Der Nutzen für die allgemeine Gesundheit ist aber die Hauptsache, und das ganze gefürchtete Heer der Epidemieen verliert dadurch viel von seinen Schrecken, da notorisch Schmutz, Unsauberkeit u. s. w. zu ihrer Verbreitung das Meiste beitragen.

Die Berliner Wasserwerke.

Durch die bald allgemein eingeführten Wasserclosets wird ein Quell von thierischen Efflurien, deren Schädlichkeit hinlänglich nachgewiesen ist, vollkommen beseitigt, abgesehen von den übrigen daraus erwachsenden Annehmlichkeiten. Ebenso kann jetzt auch der minder Wohlhabende die Bequemlichkeit einer eigenen Badestube sich weit leichter und ohne allzu große Opfer verschaffen; ein Vortheil, den der Reiche früher nur allein für sich beanspruchen durfte.

Die Kosten der Wasserleitung für ein Haus betragen vier Procent von dem jährlichen Miethsertrage desselben. Das Wasser zur Besprengung von gepflasterten Straßen kostet für jede hundert Quadratfuß Flächenraum jährlich vier Silbergroschen; die Lieferung für Gärten wird mit sechs Thalern zwanzig Silbergroschen für den Morgen Land berechnet, besonders groß ist aber der Nutzen des Wassers für die Gewerbtreibenden, welche früher genöthigt waren, ihre Wohnungen deshalb an bestimmten Orten zu nehmen, oder nur mit bedeutenden Kosten ihren Bedarf herbeizuschaffen. Diese zahlen für 100 Cubikfuß=2700 Quart den Preis von 3½ Sgr., der bei einem täglichen Mehrverbrauch, als 300 Cubikfuß, auf 2 Sgr. ermäßigt wird.

Außer dem beschriebenen Werke vor dem Stralauer Thore hat die Gesellschaft zur Aushülfe noch ein großes Wasserreservoir auf dem Windmühlenberge angelegt, von wo dasselbe durch sein eigenes Gefälle nach der Stadt strömt, so daß unter keiner Bedingung, selbst nicht beim niedrigsten Wasserstande, ein Mangel eintreten kann. – Wenn auch gegenwärtig in Berlin noch viele Häuser dieser großen Wohlthat entbehren, so dürfte bald der Zeitpunkt nicht mehr fern sein, wo jedes Gebäude mit der Wasserleitung versehen sein wird, da die Vortheile sich immer mehr auch selbst denen aufdrängen, welche gewöhnlich jede Neuerung mit Mißtrauen und Vorurtheil begrüßen.

Max Ring.




Die Braut der „schwarzen Gesellen“.


I.

Es war im Jahre des Herrn 1813, Februar. Nach langem, schmachvollem Druck waren die Völker bereit, gleich Rächerschaaren aufzustehen, wenn nur ein Zeichen ihrer Fürsten ihnen bekunden würde, daß für den blutigen Dienst ihnen der Lohn werde, den sie fordern konnten. Die Freiheit, das freie Leben und Denken sollte man ihnen versprechen. – Genug, es war im Jahre des Heils 1813, als Friedrich Wilhelm III. die nach Rache brennende Jugend zu den Waffen rief, und wer weiß es nicht, wie opfermuthig, wie titanenhaft diese Jugend, das ganze Volk aufstand, um den Thron des Königs zu erobern. Ein Wink des Königs – und hunderttausend Menschen standen auf, dem Vaterland die neue, verheißene [30] Zukunft zu erobern. Jeder, der eine Waffe tragen konnte – Knaben, die kaum der Last des Gewehres gewachsen waren; Jeder, der hassen konnte und Begeisterung kannte, der die Größe der Nation mit seinem Blute bezahlen wollte, hatte er gleich Weib und Kind, kranke Eltern oder Geschwister; Jeder, der noch auf Versprechen baute, – zog in’s Feld, um den König zu retten, sein Vaterland zu befreien, der versprochenen Freiheit sich werth zu machen, denn Freiheit ist ein ehrenwerthes Ding.

Nicht Blei genug konnte es geben, nicht Fahnen, nicht Banner genug, um die große Schande auszuwetzen: – wer weiß es nicht? Die ritterliche Jugend Preußens an der Spitze, schaarten sich alle Stämme, alle Völker des zertrümmerten deutschen Kaiserreiches hinter ihr auf. Man hatte nichts als Muth, Begeisterung und seine Ehre den schlachtgewohnten Garden und Kriegern des Cäsars entgegenzusetzen; aber man siegte, wie die Wahrheit siegt, man schlug, wie freie Helden schlagen, man stürmte, man jauchzte durch den Pulverdampf der Kanonen, von denen jeder Schuß die Morgenröthe einer Freiheit – zuschoß; man rang, man bezwang, und von der Katzbach bis zum Rhein, von Weiler zu Weiler, von Stadt zu Stadt, bis zur Notre-Dame von Paris erbebte das donnernde deutsche Victoria!

Nun – es war in diesem Jahre 1813, als ein junger Major mit seinem schönen Weibe in einer elenden Schenke von Breslau wohnte, wo der erste Waffenplatz der ausgestandenen Völker war. Der junge Major war eine echte offene Soldatenfigur, Treue, Bravheit und Muth sprachen aus seinen Augen, und sein Name war durch seine Wunden, die er bei Kolberg erhielt, von hellem Klange. Das war Adolf von Lützow. - Seine Gattin war eine geborene Dänin, eine Gräfin Ahlefeldt, aber ein echt deutsches Kind, begeistert für die Sache der Freiheit, der Schutzengel Lützow’s. Sie war damals 23 Jahre alt, schön, daß jedes Männerauge sich daran entflammte, geistvoll und vom glühendsten Vaterlandsgefühl beseelt. Sie sollte, eine schwärmerische Gattin Lützow’s, eine geliebte Braut jener wilden, verwegenen Jagd werden, die unter Lützow’s Führung sich mit unvergänglichem Ruhme zu den Thaten des Befreiungskrieges drängte.

Während Lützow’s Geschäfte ihn außerhalb des Hauses in Anspruch nahmen, übertrug er Elisen, seiner Gattin, die sich zum Kriegsdienst meldenden Freiwilligen anstatt seiner zu empfangen, und sofort anzuwerben. In einer elenden Bierstube, mit hölzernen Bänken, nahm die edle Frau jene stürmische Jugend auf, die sich zum Befreiungskampf herandrängte. In der ärmlichen Umgebung erschien den jungen Leuten die schöne, von hochherzigen Gefühlen beseelte Frau wie ein höheres Wesen, von dem sie bezaubert wurden, ja wie der Genius der Freiheit selbst, der ihnen ihre Bahn anwies, und ihnen Todesmuth und Opferfreudigkeit verlieh. Elisens ganzes Wesen war in jener, ach! so kräftigen Zeit wie von einem ungewöhnlichen Glanze verklärt; sie liebte ihren Gatten treu und warm, aber jene höchste Höhe feurigster Leidenschaft und glühender Begeisterung, die sie damals an den Tag legte, konnte ihre große Seele nie für einen einzelnen Menschen, sondern nur für ein mächtiges Weltgeschick, für Vaterland, für Freiheit und Poesie empfinden. Hier floß Alles in einem Brennpunkte zusammen, die Geschichte selbst schien einer wunderbaren Dichtung gleich, die Dichter griffen mit zum Schwerte, und der Donner der Schlachten vereinigte sich mit den enthusiastischen Vaterlandsgesängen feuriger, um die heiligste Manneszier streitender Männer. Auch Theodor Körner ließ sich von so schöner Hand anwerben, und wer kennt nicht seine glühenden Gesänge, diese Leyer der deutschen Jugend, die ihre Schwerter flammen machte?[2]

So, von Elisa’s Hand geworben, entstand endlich die berühmte Freischaar, diese wilde, verwegene Jagd von Lützow’s schwarzen Gesellen. Es ist wahr, daß Durst nach Rache, nach Freiheit und Thaten zuerst jene jungen Krieger zusammengeführt hatte, aber der Einfluß, den Elise auf die ganze Freischaar übte, war ein ungeheurer: sie war die Braut der schwarzen Gesellen, das Herz dieses Rächercorps, eine verehrte Königin dieser „Poesie des ganzen Heeres.“ Man versteht erst recht den Geist, welcher diese jungen feurigen Helden beseelte, die aus Künstlern, Aerzten, Geistlichen, Dichtern, Lehrern und Naturforschern, aus Vornehmen und Geringen seltsam gemischt waren, diese Verbrüderten, die zum großen Theil jenem deutschen Bund angehörten, der mit kühnen Plänen umging, diese Schwarzen, welche keine andere Farbe trugen, weil sie damit ausdrücken wollten, daß das deutsche Leben noch verfinstert sei, – diese ganze Gestaltung versteht man erst recht, wenn man daran denkt, daß eine reizend schöne, von den kühnsten Idealen beseelte Frau ihren Mittelpunkt bildete, und die Herzen entflammte. Darum waren die Schwarzen ebenso gesittet, als tapfer, ebenso gefühlvoll als hartnäckig im Kampf. Heute huschen alle jene Gestalten dieses schwarzen Gesellencorps wie düstere Rachegeister an unserer Phantasie vorüber; sie haben für uns etwas märchenhaft Gespenstisches, wie sie, den Todtenkopf am Czako, den Säbel in der Faust, die Rache um den Schimpf deutscher Schmach, die Hoffnung auf die Freiheit im Herzen, den alten Erbfeind aufzustöbern suchten. Rom und Griechenland und die kräftige Ritterzeit waren keine Märchen mehr; alles Größte strahlte wiedergeboren in hellem, frischem Lichte. Und wenn diese todesmuthigen Jünglinge die dumpfe Trommel horten, und das Signal zum Angriff vernahmen: – ein kurz Gebet, „Herr, Dir befehl’ ich meine Seele!“ – dann ein Blick auf die milde Schönheit der verehrten Corpsbraut, ein Wink von Lützow’s Säbel – und in den Pulverdampf hinein raste die verwegene Jagd; die Schwerter klirrten, und die jungen Feuermänner Lützow’s schlugen dem Vaterland zu Ehre, der schönen Geliebten zu Liebe. Sie begeisterte hundert Herzen, und wenn sie bluteten, vom Schuß der feindlichen Schaaren getroffen, dann quoll ein edler Tropfen Herzblut auch für die Braut der Freischaar. Und Elisa selbst saß dann unter dem Donner der Kanonen, unter dem Geknatter der Gewehre, und die Brust wollte ihr zerspringen, wenn sie die bange Nacht im einsamen Zimmer zubrachte, und die Binden zuschnitt, welche das Blut aus der Treuen Wunden hemmen sollte. Sie pflegte, wenn ihr Gemahl verwundet worden, diesen mit aufopferndster Treue – und das kam häufig vor. Lützow holte sich fast in jedem Gefecht eine Wunde für das Vaterland; er ward zerhackt und wieder geflickt, aufgetrennt und wieder zusammengeleimt. Wenn er ging, so wackelte er wegen seiner vielen Wunden, wie ein Invalide; stieg er zu Pferde, so bedurfte er ihretwegen einiger Hülfe – aber saß er einmal im Sattel, so war er das Muster eines Husarenofficiers, ein Ritter ohne Furcht und Tadel. Aber auch viele der andern Verwundeten pflegte die Braut des schwarzen Gesellencorps mit ihren eigenen Händen, und erschien bei den leidenden Kriegern wie ein hülfreicher Genius, voll zarter Sorgfalt, tröstend und wohlthuend. Wie sie die Lebenden zu begeistern vermochte, so verstand sie die Gefallenen zu betrauern.

So sehr strebten aber auch die wilden Jäger danach, Elisa ihre Hingebung zu bezeigen, daß viele Siegesbeuten, die gemacht wurden, ihr als Zeichen der Verehrung geschenkt wurden. Lützow selbst gab ihr solche Trophäen; noch im letzten Feldzuge 1815, als nach der Schlacht von Belle-Alliance der Lieutenant Leo Palm der Erste war, der in den eroberten Wagen des flüchtenden Kaisers hineinstieg, verschmähte er, von den vielen darin befindlichen Schätzen etwas für sich zu nehmen, aber zwei Gläser und ein paar Handschuhe Napoleon’s überbrachte er der Lützower Braut als Andenken. Sogar ein auf dem Schlachtfeld gefundener großer Hund von seltener Schönheit wurde ihr geschenkt, und ist viele Jahre lang ihr treuer Begleiter geblieben.

Und ein schöner Ehrenplatz war es auch, den Elisa von Lützow als Braut dieser tapferen Schaar inne hatte. War doch Freiheit, Patriotismus und Poesie das Gebiet, dem sie wie eine milde Fürstin vorstand! Regierte sie doch über Herzen, über Schwerter und Leyern von reinstem Gehalt! Da war der wunderliche Alte im Bart, der Turnerkönig Friedrich Ludwig Jahn, der „erste deutsche Freiwillige“, wie er genannt wurde, mit seiner Devise: „Frisch, frei, fromm, fröhlich!“ Da, war Theodor Körner, der glühende Sänger,

… Krieger, oder Dichter, beides auch,
Ein Schwanensang war seiner Seele Hauch;
In Lorbeer kämpfte er, in der Begeist’rung Feuer,
Ein Hymnus deutscher Liebe klang von seiner Leyer!

Da war der mehr als siebenzigjährige Rittmeister von Fischer, die komische Figur unter ihnen, der die Schlauheit des Odysseus geerbt hatte und der mit einem alten Richtschwert umherzog, weil ihm keines für die deutsche Sache groß genug war; dann Peter [31] Beuth in seiner curiosen Rüstung, Lützow’s Brüder Leo und Wilhelm, sein Schwager Graf zu Dohna, die braven Petersdorff’s, Palm, Tümmel, Ennemoser, Friedrich Förster, Meckel, August v. Vietinghoff und endlich Friedrich Friesen, der edle, schöne, blonde Jüngling, mit den feinen, fast mädchenhaften Zügen, welcher von allen, die ihn kannten, heißgeliebt wurde, „an Leib und Seele ohne Fehl, voll Unschuld und Weisheit, beredt wie ein Seher, eine Siegfriedsgestalt von großen Gaben und Gnaden,“ wie ihn Jahn beschreibt, „ein lichter Schönheitsstrahl,“ wie Arndt ihm gesungen. Früh raffte ihn der Tod in den Ardennen dahin, und Elisa klagte lange um dieses edlen Lützower’s Verlust, der ihr mehr als alle Anderen lieb gewesen war. – O, dies war eine große Erscheinung in jener großen Zeit, und wir wollen hoffen, daß sich in Zeiten der Gefahr wieder freie Lützower finden und ein Weib, das sie zu edlen Thaten begeistert!


II.

Der Befreiungskampf war aus; ein Freiheitskampf war es nicht gewesen! Aus war es mit dem Klang der Schilde und der Schwerter, mit glühenden Liedern, mit Begeisterung und Hoffnung! Das Volk flickte seine Wunden zu und brütete; man dankte in schönen Erlassen und freute sich, daß die Throne wieder fest standen.

Die Gattin Lützow’s, die Braut der verwegenen Jagd, sehnte sich nach einem anderen Ideal, als nach dem begrabenen; eine glühende Liebe bildete sich bei Immermann für sie heran, und allmählich ward ihr das Verhältniß zu ihrem Gatten zu prosaisch. Lützow selbst, vielfach zurückgesetzt und verstimmt über den Undank des Staates, dem er gedient, sah in seinem Weibe nicht mehr die hochherzige, schwärmerische Geliebte von ehemals; eine Spannung beider trat ein, und die beiden Gatten ließen sich 1825 scheiden, ohne jedoch die freundschaftlichen Beziehungen zu einander abzubrechen. Lützow, im Grame um den Leichtsinn, mit dem er sich von Elisa hatte scheiden lassen, starb 1834.

Seine Gattin nahm nach der Scheidung ihren Familiennamen, Gräfin von Ahlefeldt, wieder an, und wurde die treue Freundin des deutschen Dichters Immermann, des Verfassers von „Münchhausen.“ Immermann, der durch der Geliebten Nähe einen reichen Dichterfrühling gefunden hatte, bot der Theuren wiederholt seine Hand an; aber sie konnte sich zu einer zweiten Ehe nicht entschließen, und blieb dem Dichter eine liebende Freundin, eine treue, sorgende Gefährtin, eine reiche, anregende Muse. Sie war mehr phantastisch, als leidenschaftlich, und dachte es sich schön, einem begabten Dichter in seiner Art sein Dasein zu versüßen. So lebte sie mit Immermann zu Düsseldorf in einem reizenden genußvollen Stillleben. Aber diese ihres Zieles verfehlende Liebe, konnte Immermann auf die Dauer nicht genügen; er lernte ein anderes Mädchen kennen und verheirathete sich endlich mit demselben. Bitter getäuscht, schied nun die Gräfin Ahlefeld aus seinem Hause. Immermann selbst aber starb in der besten Kraft bald nach dem Verlassen seiner Muse.

Gräfin Ahlefeldt lebte nach einer italienischen Reise bis zum März 1855 in Berlin, und hielt dort einen jener literarischen Cirkel, die das Geistesleben geistreicher und edler repräsentirten, als die Mode gewordenen cominerzienräthlichen Soireen. Ueber Vieles enttäuscht und oft von ihrer Phantasie und ihren Idealen betrogen, starb dies seltene, hochherzige und geistvolle Weib am 20. März 1855, betrauert von Vielen als edles Gebild der Weiblichkeit und als die frühere schöne Braut des schwarzen Gesellen-Corps.

E. Schmidt-Weißenfels.




Blätter und Blüthen.


Carnevale. Vor einigen Jahren wurde das Lesezimmer der Bibliothèque Royale in Paris von einer Person häufig besucht, deren seltsame Tracht die Aufmerksamkeit eines jeden Gegenwärtigen auf sich zog. Sie war einmal in rothes, das andere Mal in blaues oder gelbes Tuch vom Kopfe bis zu den Füßen gekleidet, um den Hals hing eine Schnur mit einem Orden und der Hut war geschmückt mit künstlichen Blumen, Perlen und anderem Flitter. So oft diese Person kam, setzte sie sich an einen besondern Platz und schien voll Aufmerksamkeit zu lesen. Es war ein Mann, der sich dem Greisenalter näherte, und die Furchen seines Gesichts erzählten von tiefem Leid, das die Neugierde, wer er wohl sei, steigerte. Fragte man, so war die kurze Antwort: „Es ist Carnevale“ Denn die gewöhnlichen Besucher der Bibliothek meinten, seine Geschichte sei aller Welt bekannt,

Carnevale war aus einer sehr achtbaren Familie in Neapel. Im Jahre 1826 kam er als junger, hübscher und sehr wohlhabender Mann nach Paris. Mit solchen Vortheilen fiel es ihm nicht schwer, in der Gesellschaft Zutritt zu erlangen, und seine Landsleute empfingen ihn mit offenen Armen. Plötzlich jedoch verschwand er, Niemand wußte, wo er war, bis man später entdeckte, daß er ein Mädchen liebe und sich zurückgezogen habe, um unbelästigt ihre Gesellschaft zu genießen. Doch sein Glück war von kurzer Dauer, das Mädchen starb und ihr Tod raubte dem Armen nicht blos das ihm Theuerste, sondern auch den Verstand.

Als er sich einigermaßen von dem heftigen Schlage erholt hatte, ging er täglich zum Grabe und weinte und betete. Der Wächter des Kirchhofs bemerkte, daß er bei jedem Besuche ein Papier in Form eines Briefes hervorzog und unter den Stein legte. Dies wurde den Freunden Carnevales bekannt, einer von ihnen ging zum Grabe und fand fünf Briefe, gerade so viel, als Tage seit dem Begräbnisse verflossen waren. Der letzte lautete:

„Theuerste! Du antwortest mir nicht und doch weißt Du, daß ich Dich liebe. Hast Du mich vergessen in Mitte der Beschäftigungen im Jenseits? O, das wäre ungütig, sehr ungütig! Aber fünf Tage, fünf lange Tage sind verflossen ohne Antwort, ohne Nachricht von Dir. Ich kann nicht schlafen, und schließe ich die Augen auf einen Augenblick, so träum’ ich von Dir.

Warum ließest Du nicht Deine Adresse zurück? Ich würde Dir Deine Kleider und Bijouterien senden. – Doch nein, schicke nicht nach ihnen; aus Erbarmen lasse sie mir. Ich habe sie auf Stühle gelegt und bilde mir ein, Du seiest im Nebenzimmer und daß Du bald eintrittst, um Dich zu kleiden. Außer diesen Sachen, die Du getragen hast, ist auch mein kleines Zimmer durchduftet; und das macht mich glücklich, wenn ich eintrete. – Ich wollte, ich hätte Dein Bildniß so recht ähnlich, so daß es wetteifern könnte mit dem, das ich schon habe. Dieses ist in meinen Augen und kann nie sich ändern Ob ich die Augen offen oder zu habe, ich sehe Dich stets. Heißgeliebte, wie geschickt ist der Künstler, der mir dieses Bildniß ließ. – Lebewohl, Einzige! Schreibe mir morgen oder heute, wenn Du kannst. Bist Du sehr beschäftigt, so schreibe mir wenigstens eine Zeile oder auch nur drei Worte. Sage mir, daß Du mich liebst.“

Seine Freunde meinten, er sei nur von tiefer Melancholie ergriffen, die mit der Zeit schwinden würde, und ersuchten den Wächter des Kirchhofs, die Briefe sogleich wegzunehmen, so bald Carnevale sie hingelegt haben würde; aber das Resultat war ein anderes, als sie erwartet hatten. Er fiel in. düstre Verzweiflung, als er von der Geliebten keine Antwort erhielt, und besuchte nicht weiter den Kirchhof.

Um diese Zeit war es, daß er auf den Boulevards bei einem Tuchhändler allerlei Tuch von Heller Farbe bemerkte. Er lächelte, trat in den Laden und kaufte mehrere Ellen von jeder Sorte Tuch. Eine Woche darauf erschien er in den Straßen völlig in Roth gekleidet; Hut, Rock, Weste, kurz alles war roth und von phantastischem Schnitt. Viele Leute sammelten sich um ihn und wohl fünfhundert Personen hängten sich an seine Fersen. Am nächsten Tage betrat er die Straße in Kleidern von gelber Farbe, einen Tag später in hellblau, stets gefolgt von einer gaffenden Menge. Doch bald wurden die Pariser seines Anblicks gewohnt und zuletzt sahen nur Fremde auf ihn. Man bemerkte jedoch, daß er sich nach der Stimmung seines Geistes zu kleiden schien; in der rothen Farbe erschien er immer am heitersten.

Während der Revolution von 1830 hätte seine sonderbare Kleidung ihm bald den Tod zugezogen. Da er nie eine Zeitung las, nie auch mit Andern sich in Gespräch einließ, so wußte er auch von der ganzen Bewegung nichts. Als er am 28. Juli längs den Quais ging, traf er mit Insurgenten zusammen, die ihn für einen fremden Prinzen hielten, wegen des Ordens an seiner Schnur. Schon faßte man ihn, um ihn in die Seine zu werfen, als Jemand ihn erkannte und befreite. Es fiel schwer, ihm verständlich zu machen, in welchem Zustande Paris sich befände und daß er sich anders zu kleiden habe. Als er sich aber wieder schwarz trug, verfiel er auch wieder in Trauer. Er fühlte sich wieder beunruhigt, erinnerte sich wieder des Verlustes seiner Geliebten und seine Vernunft, die er täglich mehr schwinden fühlte, gab ihm ein, sich nach dem Hospital von Bicêtre zu begeben und der Behandlung der Aerzte zu unterwerfen. Diese erstaunten nicht wenig, den Wahnsinnigen so ruhig über seinen Zustand reden zu hören.

„Schicket nach meinen hellen Kleidungsstücken,“ sagte er eines Tages.

Man that es, und sobald er seine Kleidung wieder an hatte, erlangte er auch wieder seine alte Heiterkeit.

„Die schwarzen Kleider machten mich krank,“ sagte er. „Welche Thoren seid Ihr, solcher häßlichen Mode zu huldigen. Was mich betrifft, so bin ich am heitersten in Roth, es steht mir so gut und außerdem wissen meine Freunde, was das zu bedeuten hat. Sehen sie mich in Roth, sagen sie: Carnevale ist heute gut gelaunt; bin ich das nicht, so kleide ich mich gelb, das sieht auch hübsch aus; fühle ich mich jedoch etwas melancholisch, so ziehe ich mich blau an.“

Als er das Hospital verließ, fand er, daß sein Vermögen sich gemindert [32] habe, weshalb er sich entschloß, Stunden in Italienisch zu geben. Es fehlte ihm nicht an Schülern, denn seine Geschichte gewann ihm so manchen Freund. Die Art des Unterrichts war sehr gut; nie machte er seinen Schülern Vorwürfe. Hatten sie gelernt, so versprach er, am nächsten Tage in seiner apfelgrünen Kleidung zu erscheinen, war er nicht zufrieden, so sagte er: morgen muß ich in meinem kaffeefarbigen Kleide kommen. Solche Strafe oder Belohnung war ihm leicht, denn er hatte wohl mehr als sechzig Anzüge von verschiedener Farbe, zu denen Niemand als er Zutritt hatte.

Seine Bekanntschaften waren sehr zahlreich Seine freundlichen Manieren, seine harmlose Excentricität ließen ihn überall gern gesehen sein. Den Armen gab er seinen Mitteln nach reichlich und kein armer Italiener sprach ihn jemals vergeblich an; vielen leistete er erfolgreiche Dienste, da er einflußreiche Freunde besaß; beim neapolitanischen Gesandten speiste er fast täglich.

Seine Gewohnheiten waren sehr einfach. Um fünf Uhr stand er von seinem Lederstuhle auf, denn in einem Bette wollte er nicht schlafen. Zum Frühstück aß er gewöhnlich Kartoffeln, die er sich zubereitete. Den Tag widmete er zumeist seinen Schülern oder der Bibliothek und endete ihn mit einem Spaziergange auf die Boulevards. Traf er da einen Bekannten, so schloß er sich ihm an und schwatzte über Italien, Musik und andere Lieblingsthemata. Dabei aber bildete er sich ein, daß die Person, mit der er so zusammentraf, Bellini, Napoleon, Malibran oder eine ähnliche berühmte Person sei. Diese Einbildung war für ihn eine Quelle großen Vergnügens. Umsonst sagte man ihm, Napoleon, Malibran u. s. w. wären todt. Darauf antwortete er gewöhnlich:

„Für Sie wohl, das geb’ ich zu, aber nicht für mich. Ich bin mit Sinnen begabt, die Sie nicht besitzen. Ich versichere Sie, sie sind nicht todt und lieben mich und meine Gesellschaft.“

Armer Carnevale! Möge die Sonne freundlich auf Dein Grab scheinen!




Gerstäcker, von dem wir in letzter Nummer einen Artikel über die Pirschpfade der Gemsjagd brachten, arbeitet, wie wir hören, an einem neuen Romane, der vielleicht noch im Laufe dieses Winters erscheinen wird. Sein Buch über die Gemsjagd (in prachtvoller Ausstattung, mit 34 Holzschnitten und 12 größeren Lithographien), aus dem der „Pirschpfad“ nur theilweise entlehnt war, findet eben so viele Leser wie Beschauer und liefert zugleich den wiederholten Beweis, daß Gerstäcker ein eben so vortrefflicher Schilderer der Natur, wie passionirter und glücklicher Jäger ist.



Allgemeiner Briefkasten.


F. L. in N. Ihr Artikel: „der Mittelstand“ enthielt manches Wahre, aber auch viele Angriffe nach rechts und links, die wir nicht vertreten möchten. Es ist ebenso wenig wahr, daß hohe Stellung im Leben hart und fühllos mache, wie es richtig ist, wenn Sie den weniger gebildeten Classen Habsucht und Mitleidlosigkeit vorwerfen. Die wahre Bildung, die des Herzens, schlägt überall ihre Werkstatt auf und nur in der Brust des Geldmenschen der Neuzeit, der seine Reichthümer nicht durch Arbeit, sondern im Taumel der Speculation und des Spiels gewinnt, findet sie kein Plätzchen. Dieser beweist seine Bildung durch äußern Glanz, durch feine Soupers, durch Pferde und anrüchige Liebschaften und auf ihn paßt, was Börne sagt: „Reichthum macht das Herz schneller hart, als kochendes Wasser ein Ei.“ und just der Mittelstand liefert zu dieser Sorte Menschen ein reiches Contingent. Deshalb ist Ihr Artikel nur halb wahr und Ihre Verurtheilungen nach Oben und Unten unbegründete. Erlauben Sie mir Ihnen durch einige Beispiele zu beweisen, wie ungerecht es ist, den Stab über gesellschaftliche Schichten im Allgemeinen zu brechen.

Die Frau Hauptmann L., eine Wittwe, arm und nur mit einer kargen Pension bedacht, war gezwungen, um sich und ihren einzigen Sohn zu ernähren, für fremde Leute zu arbeiten und sie that das, obwohl’s ihr in der Wiege nicht gesungen war, doch gern und willig und mit Anstrengung aller ihrer Kräfte. Sie lebte still und zufrieden, ihre einzige Freude bestand in den Briefen ihres Sohnes, der sich auf einer Schule in der Residenz zum Techniker heranbildete. Bei ihrem Fleiß und der großen Genügsamkeit, mit der sie wirthschaftete, war ihr Budget stets in Ordnung und nur, als der Sohn gezwungen war, zu seiner weiteren Ausbildung eine größere Reise anzutreten, fehlten ihr die nöthigen Mittel, so daß sie sich genöthigt sah, Freundeshülfe in Anspruch zu nehmen. Betteln wollte sie nicht, sie versuchte es Geld zu leihen, aber überall fand sie nur schöne Reden und bedauerndes Achselzucken, nirgends eine offene Börse. Da entschloß sie sich, ihrem Sohne zu lieb, das letzte theure Andenken ihres Gatten, eine reichbesetzte Uhr, zu verkaufen. Vor einigen Monaten begab sie sich zu einem Juwelier in der X-Straße und trug ihm die Uhr zum Kauf an, der auch nach langem Handeln und nachdem sie unter Thränen die Veranlassung des Verkaufs erzählt hatte, zu Stande kam. Zitternd überreichte sie dem Juwelier das Erbstück. In dem Momente aber, als sie sich unter Schluchzen von dem theuren Andenken trennen wollte, näherte sich ihr eine junge anwesende Dame. „Bitte, geben Sie mir die Uhr,“ sagte sie rasch, bezahlte den Preis und verließ dann eilig das Gewölbe. Erstaunt sahen sich der Juwelier und die Hauptmännin an. Weder er noch sie kannten die Dame und die arme Wittwe verließ endlich den Laden, ohne zu wissen, in welche Hände das theure Stück gekommen war.

Als sie die Straße betrat, dämmerte es schon. Sie war kaum einige Schritte gegangen, als sich ihr eine elegante weibliche Gestalt näherte, in der sie sofort die Dame aus dem Laden erkannte. In demselben Augenblicke fühlte sie auch ihre Hand erfaßt und eine zitternde, von Rührung übermannte Stimme redete sie an. „Nehmen Sie, nehmen Sie,“ drängte die Dame „Sie sollen sich nicht von der letzten Liebesgabe Ihres Mannes trennen. Mein Gott, wie schwer muß Ihnen dieser Gang geworden sein!“ Dabei drückte sie der erstaunten Hauptmännin etwas in die Hand und ehe sich diese noch besinnen konnte, was das Alles zu bedeuten habe, war die Dame verschwunden. Als die Wittwe das Papier öffnete, fand sie ihre Uhr.

Lange forschte sie vergebens nach, erst vor Kurzem, und nur durch einen Zufall hat sie erfahren, daß die unbekannte Dame die Gräfin B…g, war.

Das war die Aristokratin!

Ich habe einen armen Gesellen gekannt, der sich durch Fleiß und Arbeiten nach Feierabend nach und nach fünfzig Thaler erspart hatte. Er war ein tüchtiger, wackrer Mensch und liebte ein Mädchen aus der Nachbarschaft mit der ganzen Gluth eines unverdorbenen Herzens. Lange trug er seine Neigung mit sich herum, endlich eines Tages nahm er all’ seinen Muth zusammen und gestand dem Mädchen seine Liebe. Es war die glücklichste, aber auch die schwerste Stunde seines Lebens. Das hübsche Kind hörte ihn ruhig mit an. Dann gab sie ihm treuherzig die Hand. „Ich weiß es, Meyer,“ sagte sie mit thränendem Auge, „ich weiß es seit langer Zeit, daß Sie mich wohl leiden mochten, und mir stets nachgefolgt sind, wenn ich die Straße hinab ging, und ich darf es Ihnen jetzt wohl gestehen, daß es mich immer gefreut hat, daß solch ein ordentlicher Bursche mich armes Mädchen gern gehabt. Aber Gott hat es nicht gewollt.“ – Und nun erzählte sie ihn, mit zagender Stimme, daß er eben zu spät komme, denn sie liebe seit Jahren schon einen anderen Gesellen, der sie auch heirathen werde, sobald es die Umstände und seine Mutter gestatteten. Diese Mutter aber wolle von der Heirath nichts wissen, weil sie doch ein gar zu armes Mädchen sei und nicht einmal eine kleine Ausstattung mitbringe in die neue Wirthschaft, „Freilich,“ schloß sie mit einem tiefen Seufzer, „wenn ich nur 50 Thaler hätte, könnte ich recht glücklich werden“ –

Der arme Geselle, obwohl er sehr bleich geworden, hat sie ruhig aussprechen lassen und dann Abschied von ihr genommen – auf immer! „Behüt’ dich Gott, Gretchen“ – mehr konnte er nicht sagen – „und vergiß mich nicht ganz“ – Er hatte sie geliebt, so sehr und wahrhaftig geliebt, daß er schon glücklich war sie glücklich zu wissen, wenn ihm selbst auch dabei das Herz fast brach.

Acht Tage später ist aus der fernen Stadt L. ein Schreiben an das Mädchen gekommen, darinnen stand geschrieben und von einem Rechtsanwalt unterzeichnet und besiegelt, daß ein entfernter Anverwandter gestorben sei und ihr 50 Thlr. vermacht habe, die sie zu ihrer einstigen Ausstattung benutzen solle. Das Mädchen hat zwar verwundert den Kopf geschüttelt und sich durchaus nicht auf den Verwandten besinnen können, aber die fünfzig Thaler waren eben da und zwei Monate später ist sie mit ihrem Wilhelm vor den Altar getreten. Sie hat es niemals geahndet und weiß es jetzt noch nicht, daß der arme Geselle, der sie so lieb hatte, sein ganzes Eigenthum hingegeben – um sie glücklich zu wissen.

Das that ein gewöhnlicher Arbeiter, dem Sie Eigennutz und Habsucht vorwerfen!



L. Wbr. in Wien und Egb. Gtz. in Königsberg. Es hat sich herausgestellt, daß Marine-Aquarien nur in Seestädten möglich sind und deren Anschaffung aus England mit so viel Schwierigkeiten und Unkosten verbunden sein würde, daß wir kaum noch dazu rathen können. Ueber Süßwasser-Aquarien gibt das Roßmäßler’sche Buch vollständige Auskunft.



F. B. in Paris. Ihr Artikel über den Herzog Karl von Braunschweig kann keine Aufnahme finden. Wie das Unglück auch auftritt, im Herzogsmantel oder im abgeschabten Flaus des Flüchtlings – es ist Pflicht der Presse, es zu ehren und zu schützen und, selbst wenn einzelne Extravaganzen vorkommen, in der mildesten Weise darüber zu richten. Dem heimathlosen Verbannten gegenüber hört jede Rache auf. Wir finden es deshalb auch mindestens unzart, wenn man auf dem herzoglichen Schlosse in Blankenburg den Fremden einen prachtvoll gearbeiteten Stammbaum des Welfenhauses zeigt, auf dem alle Namen des erlauchten Stammes von Beginn ab bis zum jetzigen regierenden Herrn angegeben sind, nur der des Herzogs Karl nicht. Er war doch der Sohn eines Welfenvaters, war einst regierender Fürst und bleibt – wenn auch in der Fremde als Flüchtling – doch immer Bruder des Herzogs Wilhelm. Wir können nicht glauben, daß der Herzog von dieser Kriecherei irgend eines unterwürfigen Menschen weiß, und müssen nur bedauern, daß der Cavalier, welcher die Aufsicht über die herzoglichen Schlosser hat, eine solche Taktlosigkeit zuläßt.


Die Kräftigungs-Tinktur von Laurentius,

welche dummen leichtgläubigen Schwächlingen gegen vorherige Einsendung von vierzig Thlr. zugeschickt wird, gehört zu den Beutelschneider-Charlatanerien und besteht der Hauptsache nach in einer alcoholischen Lösung von Chinin und Eisen, die sich Jeder selbst für einige Groschen bereiten kann. – Obschon ich dies in der Gartenlaube Jahrg. 1855. Nr. 47. deutlich genug auseinander gesetzt zu haben glaubte, so werde ich doch noch immer brieflich über die Laurentius’sche Kräftigungskur um Rath gefragt. Ich verbitte mir alles Ernstes derartige Briefe für die Folge.

Bock.

  1. Ich habe vergessen, was er damit meinte, und fand auch unter Engländern der Oberwelt keine klare Auskunft darüber.
  2. Wir machen hierbei auf das von der Nichte Varnhagen von Ense’s, Ludmilla Assing, unlängst erschienene Werk: „Gräfin Elisa von Ahlefeldt, die Gattin Adolf von Lützow’s, die Freundin Karl Immermann’s,“ (Berlin, Franz Duncker), aufmerksam, dem der Stoff dieses Artikels entlehnt ist.
    Der Verfasser.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Berhardinen