Die Gartenlaube (1870)/Heft 24
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No. 24. | 1870. |
Der Bergwirth.
Lautes Lachen des Wirths unterbrach die Rede Falkner’s, aber das Lachen war kein freudiges und vergnügtes. Der junge Mann, der das verhaßte Wort aussprach, war der Retter seiner Tochter; darum lachte er nur bei seiner Rede, jedem Andern hätte er mit einem wilden Ausbruch seines Zornes geantwortet, der noch vernehmlich genug aus seinem Gelächter herausklang. „Eisenbahn?“ schrie er und schlug, um den verbissenen Groll an etwas auszulassen, seinen Strohhut um die Tischecke, daß die Trümmer davon herunterhingen. „Wie man sich in den Leuten irren kann! Der Herr schaut ganz reputirlich aus und wie ein vernünftiger Mensch, und jetzt kommt er mir auch mit solchen Narreteien daher! Eine Eisenbahn bei uns – über unsere Berge! Man möcht’ aus der Haut fahren, wenn man nur gleich eine andere hätt’ zum Hineinfahren …“
„Nun, über die Berge soll die Bahn so eigentlich nicht gehn,“ erwiderte Falkner, der das Gebahren des Wirths verwundert betrachtete, „aber an denselben, in Einschnitten kann sie sehr wohl geführt werden; man will eben daran gehn, das Nivellement in den Wasserschluchten des Westerbergs aufzunehmen …“
Der Wirth hörte ihn nur halb, er lachte immer lauter, immer zorniger. „Dummheiten über Dummheiten, nichts als Dummheiten!“ rief er. „Zu was brauchen wir eine Eisenbahn; die Straßen, die unser schweres Geld kosten, haben seit vielen hundert Jahren gut gethan und werden noch tausend Jahr’ gut thun, ohne die neumodischen Sachen, von denen wir nichts wissen wollen! … Wir bleiben beim Alten, das wir kennen, wir Bauern da in den Bergen herinnen! Also die Schluchten am Westerberg sollen gemessen werden? Nur zu; ich wünsch’ alles Glück; werden schon darüber kommen, was ihnen der Berg für Nussen zum Aufbeißen geben wird! Und der Herr will vielleicht auch noch bei mir logiren, damit ich den Gift und die Gall’ jeden Tag frisch zu schlucken bekomm’? Nur zu, ich mach’ mir nichts daraus; ich kann’s abwarten und aushalten denk’ ich! Freilich, ein Anderer, wenn mir so gekommen wär’, dem hätt’ ich den Fleck gewiesen, wo der Zimmermann das Loch gelassen hat; aber bei Ihnen, da muß ich schon eine Ausnahm’ machen und ein Aug’ zudrücken – wegen meiner Tochter, der Juli. Also bleib’ der Herr nur da und logir’ er bei mir und mess’ er, so viel er will … ich will zuschaun und mir den Buckel voll lachen, wenn ich seh’, wie einmal Alles drunter und drüber geht wie beim babylonischen Thurm!“
Juli’s Rückkehr unterbrach das Gespräch zu geeigneter Zeit; zugleich kam auch der Postillon heran, der sich ebenfalls anschicken wollte, seinen Ritt fortzusetzen. „Da hat mir der Posthalter ein Lesen mitgegeben, das ich Euch bringen soll, Bergwirth,“ sagte er und reichte ihm ein Schreiben … „ich hab’s in der Taschen gehabt und hätt’ schier ganz darauf vergessen …“
Der Wirth nahm das Schreiben und trat, es öffnend, bei Seite, während der Postillon zu Pferde stieg und bald am jenseitigen Abhange verschwand; sein Gruß war unbeachtet geblieben, denn der Wirth hatte das Papier kaum entfaltet, als er es mit einem halblauten Fluche auseinanderriß und die zusammengeballten zerknitterten Fetzen ingrimmig zu Boden schleuderte.
„Ihr Vater scheint üble Nachrichten bekommen zu haben!“ sagte Falkner, indem er dem unwillig Hinwegeilenden nachsah; das Mädchen aber suchte betroffen die weggeworfenen Stücke zusammen und faltete eines derselben wieder auseinander.
„Was muß denn nur das sein …“ sagte sie, „so auseinander hab’ ich den Vater nit gleich gesehn. … Aha, jetzt glaub’ ich’s wohl!“ fuhr sie fort, als sie einen Blick hineingeworfen hatte … „das ist ihm das Allerbitterste … ‚die Errichtung einer Posthalterei zu Westerberg betreffend‘ … und da steht wieder … ‚kann sein Gesuch einer Würdigung um so minder unterstellt werden, als die in nächste Aussicht gerückte Erbauung einer Eisenbahn‘ … Jetzt begreif’ ich Alles!“
„Ich fange ebenfalls an zu begreifen,“ sagte Falkner, „und sehe nur zu wohl, daß Ihr Vater ein Feind neuer Einrichtungen ist …“
„Ja,“ sagte Juli wie begütigend, „die Posthalterei, die wär’ seine einzige Freud’ gewesen – jetzt ist’s vorbei damit – er hat bis jetzt von der Eisenbahn nichts hören wollen … da wird jetzt dem Faß vollends der Boden aus sein …“
„Das sind schlimme Aussichten für mich – noch ehe ich ahnen konnte, daß ich Sie hier wiedersehen würde, hatte ich mir vorgenommen, hier meinen Wohnsitz zu nehmen und lange Zeit zu bleiben … nach Allem, was ich nun weiß, muß ich Ihrem Vater ein sehr unwillkommener Gast sein – mein Geschäft gehört zu den Vorarbeiten des ihm so verhaßten Unternehmens …“
„Haben Sie deswegen keine Sorge,“ rief das Mädchen rasch, „der Vater ist außerdem die gute Stund’ selber. Sie werden sich schon mit ihm vertragen … wenn Sie wollen,“ setzte sie etwas leiser und langsamer hinzu.
[370] „Ob ich will?“ entgegnete Falkner, dessen Blick mit jedem Pulsschlage wärmer wurde. „Ich will es Ihnen beweisen! Aber wie wird es mit Ihnen sein? Würde es Ihnen jetzt, da Sie mich kennen, nicht doch lieber sein, wenn ich ein Maler wäre? Werde ich Ihnen auch jetzt noch willkommen sein?“
Fragend streckte er ihr seine Hand entgegen, fragend haftete sein Auge auf ihrem erröthenden Angesicht; sie schlug die ihrigen nicht auf, aber sie wehrte ihm nicht, als er ihre Hand ergriff und einen raschen Kuß darauf drückte. …
„Ich muß fort – in die Küche …“ stammelte sie sich losreißend, und flog dem Hause zu – von drüben aber aus dem Bergthale ertönte auf den Fittichen der leise heranschwebenden Dämmerung der verhallende Ruf des Posthorns:
Ich will dich etwas fragen,
Herzliebstes Schätzel mein –
Die Bäume thun ausschlagen,
Ich will dich etwas fragen:
Wann soll die Hochzeit sein?
Wenige Wochen später ging es in dem einsamen Bergwirthshause wohl auch laut und lebhaft her, aber das Laute war nicht so angenehm und die Lebhaftigkeit nicht so erfreulich, als an dem Abende, da der unerwartete Gast im Hause eingezogen.
Es war viel anders geworden seitdem.
Die kühle klare Morgenluft ließ durch ihre in solcher Höhe doppelt fühlbare Frische spüren, daß mit dem September der Herbst eingezogen war, und wer noch gezweifelt hätte, den mochte der eisig schimmernde Reif überzeugen, der an der offenen Nordseite des Hauses auf dem Rasen niedergeschlagen war. Vor dem Hause stand ein leichtes offenes Wägelchen, in der geöffneten Stallthür gegenüber aber lehnte wartend ein Knecht und horchte nach dem Hause hin, aus welchem die laute befehlende Stimme des Bergwirths ertönte. Am Brunnen, der in einen langen Holztrog niederrauschte, stand eine Dirne und war emsig beschäftigt, die kupfernen Reifen an einem Milchkübel blank zu scheuern, während der Ochsenknecht seinen Thieren das Joch auflegte, um mit dem Pfluge in das Kleefeld zu fahren, das umgeackert werden sollte. Demungeachtet fanden die Magd und der Ochsenknecht Zeit, wie Jener auf das zu hören, was im Hause vorging, und darüber ihre Bemerkungen zu tauschen.
„Sacra,“ sagte die Dirne, „heut’ muß er schon mit dem linken Fuß aufgestanden sein, es ist jetzt schon bald eine halbe Stund’, daß er so herum rebellt im Haus. … Heut’ thu’ ich auch schon wieder lieber meine Kübel waschen, als mit der Juli tauschen! Was er nur haben mag, der alte Zornnickel? Und was bedeut’t denn das Schweizerwägerl? Wer will denn verreisen? …“
„Wer sonst als der Bergwirth selber,“ entgegnete der Knecht. „Heut’ ist ja die große Versammlung drunten im Posthaus in Steindorf – da kommen die Bauern aus der ganzen Gegend zusammen, da soll’s ausgemacht werden von wegen der Eisenbahn ...“
„Ja, ja, da geht mir freilich ein Licht auf, wie eine Stalllatern’!“ sagte der Ochsenknecht lachend, indem er seine zögernden Thiere antrieb, sich in Bewegung zu setzen. „Es ist völlig zum Lachen, wie der Mensch so verbeint sein kann, aber von der Eisenbahn will er halt durchaus nichts wissen! Wenn er nur das Wort sagen hört, ist er wie ein Indian, dem man ein rothes Tüchel vorhalt’. … Vor ein paar Tagen bin ich so unter der Lichten vor’m Haus’ gesessen und hab’ nur gehört, wie ein reisender Handwerksbursch von Amerika erzählt hat, daß man dort gar nimmer anders fahrt, als mit Dampf, und daß sich ein Jeder, der’s ein bissel vermag, seine eigene kleine Eisenbahn baut, bis an seine Hausthür hin – der Kerl hat gelogen, daß man’s hat mit Händen greifen können, aber das hat den Bergwirth nichts gekümmert; wie er mich hat stehen sehen, ist er wie ein Drach’ auf mich losgeschossen und hat mich angeschrieen, ob ich nichts Besseres zu thun hätt’, als Maulaffen feil haben … er hätt’ mir schon ein paar Mal angemerkt, daß ich auch Einer von denen sei, die überall dabei sein müßten, wo was Neues den Kopf in die Höh’ reckt … solche Leut’ könnt’ er nit brauchen, und wenn ich so fort machen wollt’, könnt’ ich auf Michaeli meinen Bündel schnüren. … Es ist aber ein guter Platz in dem Bergwirthshaus – also ist es mir ganz recht, daß ich auf’s Feld hinaus muß, denn wer ihm heut’ in die Hand hinein lauft, kann leicht was lösen.“ …
Er eilte den Ochsen, die sich schon langsam auf den Weg gemacht hatten, nach, die Dirne verschwand im Stall, der Knecht aber führte ein Paar schon angeschirrte Pferde heraus, denn die Stimme des Wirths, die eine Weile verstummt gewesen, ließ sich wieder hören und er selber, von Juli begleitet, erschien unter der Thür, zur Abfahrt bereit. „Hab’ mir’s ja gedacht, daß ich wieder warten muß!“ rief er dem Knechte zu. „Könnte schon lang’ eingespannt sein, wenn Du thätest, was ich sag’ … aber in dem Haus thut Alles, was es will, und ich bin der Gar-Niemand …“
„Der Hies ist ja schon fertig mit dem Anspannen, Vater,“ sagte das Mädchen ruhig. „Ihr dürft nur einsitzen – der Morgen ist frisch, er wird gemeint haben, die Ross’ sollen nit so lang’ da stehen in der Kühle …“
„Ja, das hab’ ich mir denken können, daß Du eine Entschuldigung für ihn hast!“ rief der Wirth, in der Thür sich nochmals umwendend. „Du bist die vierzehnte Nothhelferin! Ich kann das nit vertragen, sag’ ich Dir – was ich will, das soll man thun, und das merk’ Dir auch für Dich und halt’ mir gut Haus, bis ich wieder komm’!“
„Das will ich, Vater,“ entgegnete Juli, indem sie ihn freundlich ansah und ihm die Hand zum Abschied hinhielt, „aber ein bissel müßt Ihr mir auch meinen Willen thun. … Versprecht mir, um was ich Euch gebeten hab’, versprecht mir, daß Ihr nicht zornig werden wollt in der Versammlung. Ihr werdet da allerhand hören müssen, was Ihr nit gern hört, und ich hab’ Sorg’ …“
„Ich könnt’ auch den Anderen allerhand sagen, was sie nit gern hören – meinst? Du hast so Unrecht nit, aber ich will nit zornig werden, ich versprech’ Dir’s … ich kann’s auch leicht versprechen, weil ich doch weiß, was bei der ganzen Versammlung herauskommt! Das ist so gewiß, als zwei mal zwei vier … die Projectenmacher mögen sagen, was sie wollen, sie müssen doch abziehen und ich laß’ mir’s dann nit wehren, daß ich sie auslach’, so recht von Herzensgrund … das hab’ ich schon lang’ ausgemacht mit den Bauern in der ganzen Gemeind’ – keiner will was hören von der Eisenbahn und keiner giebt ein Stück Grund und Boden her, und wenn’s auch nit größer wär’, als man mit einer Hand zudecken kann …“
„Wenn sie nur auch dabei bleiben, Vater,“ fuhr Juli fort, „es heißt ja, die den Bau führen, sollen für den Grund weit mehr geben, als er werth ist … ich hab’ sagen hören, es wär’ gar ein großer Vortheil für die ganze Gegend, weil man das Vieh viel leichter hinausbringen und verkaufen könnt’ und das Holz und …“
„So? Hast Du das sagen hören?“ rief der Bergwirth im zürnenden Spott. „Und hältst Du mich für so dumm, daß ich nicht errathen sollt’, von wem Du das gehört hast? Ich will Dir dafür was Anderes sagen … wenn der Bau wirklich ausgeführt wird, dann geben auf dem Westerberg heroben die Füchs’ und Hasen einander Gutenacht, dann kann ich mein Wirthshaus zusperren und die Bettelumkehr ist fertig … Das ist der Vortheil, der dabei heraus schaut! Holz und Vieh hinausbringen –! es ist bis jetzt auch hinaus gekommen, was man gebraucht hat, und Jedes hat bestehen können dabei. … Das merk’ Dir, Juli, und gieb’s zur Antwort, wenn Du wieder so was sagen hörst. … Ich weiß ja doch, daß es niemand Anderer ist, als der verflixte Feldmesser, von dem ich auch wollt’, er wär’ geblieben wo der Pfeffer wächst, statt daß er in mein Haus gekommen ist! Aber da ist nichts daran schuld als meine dumme Lieb’ zu Dir, und daß ich viel zu gut bin … ich hätt’ den saubern Mosje gleich gar nit herein lassen sollen …“
„Vater, redet nit so – Ihr wißt doch, was ich ihm zu verdanken hab’ …“
„Ach was,“ rief der Wirth und suchte ärgerlich seine von Juli gefaßte Hand zu befreien, „die dumme Hundsgeschicht’ kann ich mir doch nit ewig aufmutzen lassen – überall muß ein End’ hergehen und ich hoff’, es ist schon eins hergegangen für alle Zeit! Der Herr Feldmesser ist fort, er hat’s wohl merken können, daß ich seinen Rücken lieber gesehn hab’ als sein Gesicht – und so wird er wohl auf’s Wiederkommen vergessen. … Wenn er’s aber doch thät’, dann steh’ ich nit gut, ob ich’s nit probiret’ und ließ den Tiras von der Ketten …“
„Vater,“ rief Juli entsetzt, „wie könnt Ihr so was nur denken …“
Der Knecht aber riß ungeduldig an den Zügeln der stampfenden [371] Thiere und brummte: „Jetzt ist schon so lang’ eingespannt und es geht doch nicht fort – ich will keine Schuld haben, wenn die Ross’ verschlagen in der Kälten …“
„Es ist auch wahr,“ sagte der Wirth, sprang in den Wagen und ergriff Zügel und Peitsche. „Wär’ schon der Müh’ werth, wenn wegen dem Gered’, das keine Heimath hat, meinen Rossen was zustoßen thät’! Was hab’ ich denn so Besonderes gesagt? Der Mosje kann ja so gut umspringen mit den Hunden … möcht’ wirklich sehen, ob er mit dem Tiras auch fertig werden thät’ …“
Die letzten Worte verklangen fast im Rasseln des Wagens, denn der Wirth hatte auf die Pferde gehauen, daß sie in raschem Lauf dahin flogen, als ginge es in sicherer Ebene fort und nicht einen langen steilen Berg hinunter; kopfschüttelnd sah der Knecht dem tollen Beginnen nach und wandte sich dann mit unwilligem Murren dem Stalle zu: „Ist das ein Uebermuth!“ sagte er. „Den Berg so anzufahren … hoffentlich halten die Bräuneln an, da ist es wieder einmal gut, wenn das Vieh gescheider ist als der Mensch.“ …
Auch Juli sah dem enteilenden Fuhrwerk nach und starrte noch geraume Zeit, als dasselbe schon verschwunden war, in den sich rasch umwölkenden Himmel hinein. Das Wetter schien umzuspringen und ein kalter Westwind trieb dichte Wolkenmassen heran, die sich schon in einzelnen großen Tropfen zu entladen begannen. Sie gewahrte es nicht, denn ihre Augen waren trübe; sie war auf den ersten Anblick ganz dasselbe liebliche anmuthig-kindliche Mädchen, das sie gewesen, als nebenan im Gärtchen noch die Rosen geblüht – jetzt waren diese abgefallen und wer sie näher in’s Auge faßte, mochte wohl gewahren, daß ein ernster herbstlicher Hauch auch über ihr Antlitz dahingegangen war; in den Augen wohnte noch der frühere Glanz, aber diesmal waren es Thränen, die ihn hervorbrachten.
Sie fuhr aus ihrem Sinnen auf, als wieder ein Windstoß durch die Obstbäume am Hause stürmte und ihr klatschend etwas vor die Füße warf – es war ein halbreifer vom Aste gerissener Apfel. Sie hob ihn auf und ein Zug tiefster Betrübniß ging über das hübsche Gesicht. „Ein schöner Apfel,“ sagte sie halb in sich hinein, „groß und voll und an der einen Seite fängt er schon an, roth zu werden – es muß eine der schönsten Blüthen gewesen sein, aus der er geworden ist, und doch ist er abgefallen – er hat nicht reif werden können, weil ihm der Wurm im Kernhaus sitzt.“ … Sie wollte ihn wegwerfen, hielt aber inne. „Nein,“ sagte sie, „ich will dich auf das Sims über meinem Bette legen und dich anschauen, wenn mir das Herz gar zu schwer wird – ich sorg’, es wird mir gehn wie dir, ich hab’ auch den Wurm im Kernhaus sitzen …“
Sie eilte die Stiege hinan, ihre vorstürzenden Thränen vor der herankommenden Magd zu verbergen.
Trübselig ging der Tag dahin, außer dem Hause, denn der Himmel richtete sich immer mehr zu einem kalten langwierigen Landregen ein, und in demselben nicht minder, denn bei dem schlechten Wetter blieben Gäste fern und der Zeiger der großen Standuhr in der Zechstube wollte nicht von der Stelle rücken, als ob es ihn verdrösse, in solcher Oede allein weiter zu wandern. Auch Juli spürte es heute, trotz aller Arbeit, die sie unternahm, doppelt, wie ihr das Haus so einsam geworden, in dem sie sonst sich so wohl und daheim gefühlt hatte, als wäre darin die ganze Welt umschlossen und alles Glück der Welt – beim Aufschlagen der Augen hatte sie es mit einem Lächeln der Freude begrüßt, um sich beim Schließen derselben auf das Wiedererwachen und den nächsten Tag zu freuen! Und als nun vollends der wohlbekannte Fremde von der Fraueninsel darin eingezogen, mit welchem Entzücken hatte sie immer seiner Rede zugelauscht!
Sie freute sich Morgens dem Augenblick entgegen, wo sie beim Frühstück dem lieben Gaste begegnete, und sehnte sich der Abendstunde zu, wo er, nachdem er den Tag über seinem Geschäfte nachgegangen, wiederkam und es ihr vergönnt war, ein Stündchen ihm gegenüber am Tische zu verplaudern und seinem Gespräche zu lauschen, denn er wußte so viel, daß sie eine Art Ehrfurcht vor ihm empfand, und doch war Alles, was er sagte, so klar und verständlich, als habe sie Alles das längst auch gedacht und gewußt und als sei es in ihr nur erst aufgegangen wie in der Erde der Keim, wenn ihn die Frühlingssonne belebt. Es wäre ihr nicht schwer geworden, ihm die halbe Nacht zuzuhören, aber es ging nicht an, des Vaters wegen, der wohl in den ersten Tagen dieselbe Freundlichkeit zeigte wie beim Empfange, dem man aber bald genug anmerken konnte, daß in dem gleichen Grade, in welchem die Thätigkeit des jungen Technikers sich entwickelte und bewährte, seine Theilnahme für ihn erkaltete und allmählich in unverhehlte Abneigung überging. Anfangs hatte er gelacht, wenn er der Neugier halber den Berg hinabgegangen war, um den Vorarbeiten und Vermessungen durch die Schluchten zuzusehen, weil er überzeugt war, daß sich gleich beim ersten Angriff die Thorheit und Unmöglichkeit des Unternehmens schlagend ergeben müsse; als er aber sah, wie vor dem richtigen Blick des gewandten Meßkünstlers die größten anscheinenden Schwierigkeiten sich in nichts auflösten, wie das Ausstecken der Bahnstrecke immer weiter in den Schluchten vordrang und zuletzt auch dem unkundigsten und hartnäckigsten Zweifler sich die Ueberzeugung aufdrängte, daß es nur einiger verhältnißmäßig unbedeutender Durchlässe, Abstiche und Einschnitte bedurfte, um das als unmöglich verschrieene Werk zu vollenden: da kam der Bergwirth nicht mehr, er hatte die Lust verloren, den Arbeiten zuzusehen. Er ward immer wortkarger, immer schroffer in seinem Benehmen gegen den Gast, und wenn er ihn eine Weile doch noch gegrüßt und hier und da ihm eine verbissene spöttische Bemerkung zugeworfen hatte, grüßte er ihn halb gar nicht mehr und schien zuletzt seine Anwesenheit gar nicht mehr zu gewahren.
Wohl that Juli, deren geschärftem Auge nichts entging, Alles, was in ihren Kräften stand, die drohenden Gewalten auseinander zu halten, aber sie war klug genug, um einzusehen, daß das auf die Dauer unmöglich sein werde und der Zusammenstoß jeden Augenblick erfolgen könne; dennoch war sie wie vom Donner gerührt und fühlte das Herz still stehen, als Falkner eines Abends nach dem Essen ihr die Hand reichte und mit einem Tone, der ihr noch in den Ohren fortklang, mit einem Blick, den sie nicht wieder aus den Gedanken brachte, ihr die Mittheilung machte, daß seine Arbeiten nunmehr seine vollständige Anwesenheit bei denselben erforderten, daß er daher diese Nacht zum letzten Male ihr Gast sei und künftig im Thalgrunde in der Mühle unweit der Niederpoint wohnen werde.
Dort war im Laufe des Nachmittags das gefürchtete Zusammentreffen erfolgt und hatte die vollgeladenen Minen mit Einem Schlage zur Explosion gebracht. Die Niederpoint war der letzte Abhang gegen das Wiesenthal und die Mühle hin und ein so schönes Stück Landes, daß die Vorliebe des Bergwirths für dasselbe ebenso erklärlich als natürlich war. Es war ein ungemein lieblicher Platz; in sanfter Neigung senkte sich der Hügel zu Thal, mit dem schönsten und üppigsten Rasen bekleidet, aus welchem wie in einem Garten eine Menge stattlicher Eichen sich erhob, theils einzeln, theils in Gruppen getheilt, wie keine Kunst sie anmuthiger zu formen vermocht hätte. Das Ganze war von einem schönen hochstämmigen Fichtenwalde umkränzt, der auf’s Sorgsamste gehegt war, so daß, wenn er in einem Jahrzehnt schlagbar geworden, er sogleich mit dem schönsten jungen Anfluge bestanden erschien, an dem ein kundiges Auge sich erfreuen mußte. Den Baumeistern selber that es leid, daß gerade diese schöne Stelle dem Schicksale theilweiser Zerstörung nicht entgehen konnte, denn die Bahn mußte, um eine weite und nutzlose Krümmung zu vermeiden, den Hügel fast bis zur halben Höhe hinauf anschneiden, und gerade die schönsten Bäume standen auf dem Grunde, der zu diesem Zwecke abgegraben werden mußte. Dazu kam die unvermeidliche Verwüstung des schönen Angers und der breite Durchhieb, der durch den schönen Fichtenwald zu führen war und überdies noch zur Einen Seite einen Rand liegen ließ, der forstmäßig nicht mehr zu bewirthschaften und werthlos war.
Mit schwerem Herzen, vielleicht mit einer Art Vorgefühl, ging Falkner daran, den für das Bahngebiet nöthigen Grund durch Einschlagen von Pflöcken zu bezeichnen und die Bäume anzuschlagen, welche dem Beile verfallen sollten, er hatte jedoch kaum damit begonnen, als der Bergwirth gleich einem Rasenden herbeistürzte, die Pflöcke aus dem Boden riß und ihm zuschrie, er solle die Arbeit einstellen, er dulde solchen Eingriff in sein Eigenthum nicht und werde Jeden niederschlagen, der noch mit einem Fuße seinen Grund und Boden zu betreten wage. Vergebens setzte ihm Falkner mit dem Aufgebot aller Ruhe und Besonnenheit auseinander, daß mit diesen blos vorbereitenden Arbeiten ein Eingriff in seine Rechte auch nicht entfernt beabsichtigt sei, daß aber dem Staate nach der [372] Natur und nach bestimmten Gesetzen das Recht zustehe, zu Zwecken der öffentlichen Wohlfahrt über das Eigenthum seiner Bürger zu verfügen, daß er vollkommen dafür entschädigt werde. Der Bergwirth, seiner Sinne kaum mächtig, war für Vorstellungen blind, für Gründe taub, so daß dem Bauführer, wollte er es nicht zur offenen Gewalt kommen lassen, nichts übrig blieb, als das Eigenthum des störrischen Wirths vorläufig zu überspringen und jenseits desselben mit seinen Erhebungen fortzufahren. Er ließ Abends Juli das Vorgefallene mehr errathen, als er es erzählte; sie vernahm ihn auch nur undeutlich und halb, wie durch Schlaf und Traum; Alles in ihr war übertönt von dem einzigen Worte, das den Abschied ankündigte und sich anhörte wie ein schmerzlicher, schmerzerstickter Todesschrei.
Das Scheiden war da, schneller, unerwarteter und flüchtiger, als sie gefürchtet hatte. Falkner erklärte, daß er noch vor Tagesanbruch sich auf den Weg machen müsse; sie durfte also nicht hoffen, ihn vorher noch wiederzusehen, der Vater, ganz gegen seine Gewohnheit, wich nicht aus der Nähe, wenn er auch kein Wort an Juli oder den Gast richtete; es war unmöglich, beim Abschied demjenigen Ausdruck zu geben, was in Beiden während des kurzen Umgangs aufgewacht war, was Beiden gerade im Augenblick der Trennung, wie vom Blitz erhellt, auf einmal zum vollen und klaren Bewußtsein kam und was ihnen überquellend aus dem Herzen nach den Lippen drängte, sie mußten, als es nicht länger zu verzögern war, auseinander gehen wie Fremde oder wie gleichgültige Bekannte, welche die Gewißheit haben, sich bald und freudig wieder zu begegnen, sie mußten es mit lächelnder Miene thun; ein leiser Druck beim letzten Handschlag, ein kurzer verstohlener Blick über die vereinigten Hände hin war Alles, was sie mitnehmen durften in die Trennung und Ungewißheit – und doch war es mehr, als sie je wieder zu vergessen vermochten.
Mindestens bei Juli war das der Fall.
Darum war es ihr öde geworden im heimathlichen Haus und war es heute doppelt, weil in die Gedanken an den Freund sich die nicht weichende Besorgniß wegen des Vaters mischte – mit jeder Stunde steigend, um welche die Wiederkehr desselben sich verzögerte. Wie leicht war es möglich, daß der schwer gereizte Mann seinem Zorn die Zügel schießen ließ und durch eine Handlung der Leidenschaft das Unglück auf sich und die Seinen vollends herabbeschwor! Bei der Versammlung mußte auch Falkner anwesend sein … wie nahe lag es, daß er dem Vater begegnete, daß sie aneinander geriethen, denn sie kannte nicht nur das unbändige Gemüth ihres Vaters, sie hatte oft genug gesehen, wie auch auf Falkner’s Stirn die Ader anschwoll und wie er nur um ihretwillen ein gerechtes Aufwallen seines männlichen Unmuths niedergekämpft hatte …
Immer ängstlicher schlug die Sorge die unheimlichen Flügel ihr um das Haupt, als die Nacht einbrach, ohne daß der Bergwirth oder eine Nachricht von ihm eintraf. Mehrmals lief sie unter die Thür und schaute in das Dunkel und den unablässig niederklatschenden Regen hinaus und athmete hoch auf, als endlich das Rollen eines Wagens an ihr gespanntes Gehör schlug. Wohl erkannte sie bald ihren Irrthum; der Ankömmling war der auf seinen Wanderungen oft einsprechende Viehhändler mit einem Bauern, der ebenfalls bei der Versammlung gewesen war und noch eine Strecke in die Berge hinein zu fahren hatte, während der Händler im Bergwirthshause übernachten wollte. Der Mann mit seinem rohen Wesen und seiner aufdringlichen Vertraulichkeit war ihr von jeher widerlich, dennoch ward er diesmal mit Freundlichkeit aufgenommen; durfte sie doch hoffen, von ihm über das Ausbleiben des Vaters und über den Verlauf der Versammlung Nachricht zu erhalten.
„Ob ich den Bergwirth nicht gesehn habe?“ sagte er auf Juli’s Frage, indem er den Regen vom Hute schwang und sich mit dem Bauer in der Ofenecke niedersetzte. „Freilich haben wir ihn gesehn – nicht wahr, Niederkirchner? Auf den kann die Jungfer immerhin noch eine Weil’ warten, braucht sich aber nit zu ängstigen wegen seiner – der sitzt warm und trocken im grünen Sternen und laßt sich den Ungarischen schmecken, damit er seinen Zorn vergißt …“
Juli fragte nicht weiter; ihr genügte, was sie aus diesen Worten heraushörte; sie wollte weder Unruhe noch Neugier zeigen und rechnete darauf, daß die Redseligkeit der beiden Männer, die unverkennbar dem Glase ebenfalls tüchtig zugesprochen hatten, ihr auch ungefragt mehr mittheilen würde, als ihr zu erfahren lieb war. Diese Vermuthung trog sie auch nicht, denn kaum hatte sie unweit derselben Platz genommen und, den Kopf in die Hände stützend, sich den Anschein gegeben, als ob sie ermüdet und schläfrig sei, als der Viehhändler seinen Gefährten anstieß und mit den Augen nach Juli hinüberwinkte. „Siehst Du, wie sie sich anstellt, als wenn sie schlafen thät?“ sagte er leise. „Das thut sie nur, damit sie sich nicht zu uns hersetzen und mit uns reden muß, wie es Brauch ist bei Gästen, auf die man etwas hält … ich hab’ es schon lang’ gemerkt, seit der Fremde, der Geometer in’s Haus gekommen ist, seitdem ist sie wie umgewandelt – der Discurs mit uns Leuten vom Land ist ihr jetzt viel zu dumm, jetzt steckt ihr die Stadt und die langen Stadtkleider im Kopf, und so gewiß, als der Fremde dem Bergwirth zuwider ist wie Gift und Opperment, so gewiß ist es auch, daß sich die schöne Juli in ihn vergafft hat! Ich lass’ mich hängen, wenn sie nicht jedes Wort hört, das wir reden, und will ihr den Hochmuth eintränken … Also wie ist das gewesen?“ hub er dann mit überlauter Stimme an. „Weil wir jetzt im Trocknen – sitzen, erzähl’ mir nochmal, wie’s bei der Versammlung zugegangen ist … Erzähle nur recht laut,“ setzte er wieder leiser hinzu, „ich will dann schon die richtigen Schlauderwörteln anbringen, wo sie hingehören!“
Der Bauer, wie das Landvolk meist, war gleich bereit, weil es an ein Necken, eine Fopperei ging, und begann in überlauter und weitschweifiger Weise zu erzählen, wie eigens ein Regierungsrath aus der Residenzstadt München gekommen, der die versammelten Bauern als Herren angeredet und ihnen gesagt habe, daß er blos ihretwegen gekommen sei, ein „niederträchtiger“ Herr, der mit Jedem „ganz gemein“ umgegangen wie mit seines Gleichen …
„Aha – nit wie gewisse Leut’,“ schaltete der Metzger ein, „die zu vornehm sind, daß sie Einem Bescheid thun, wenn man ihnen den Krug zubringt!“
Der Commissari, fuhr der Andere fort, habe den Männern auseinandergesetzt, daß sie die Eisenbahn so nothwendig brauchten wie das Brodessen, und daß sie zu ihrem eigenen Nutzen nichts Besseres thun könnten, als so geschwind wie möglich den Grund und Boden abzutreten, den man von ihnen verlange; da hätten die Bauern alle ein Einsehen bekommen und hätten gesagt, wenn man ihnen das früher so ausgedeutscht hätte, so wären sie nie dagegen gewesen aber sie seien eben aufgeredet worden …
„Ja, ja, es giebt schon solche Leutaufhetzer,“ rief der Viehhändler wieder, „solche Hintereinanderbringer, denen es nit wohl ist, wenn ’was zusammen geht! Man kennt sie aber ganz gut – sie sind oft so nahe, daß man sie mit Händen greifen könnt’!“
Der Bauer fand immer mehr Gefallen an dem Spiele, das ihm höchst lustig erschien; es habe aber nichts genützt, fuhr er zu erzählen fort, denn wie der Commissari zuletzt Umfrage gehalten, wer sein Grundstück abtreten wolle, da hätten Alle Ja gesagt, Alle bis auf einen Einzigen, der sei durchaus auf seinem Kopfe stehen geblieben …
„Ein Einziger gegen Alle?“ lachte der Viehhändler. „Ist denn das möglich? Kann’s denn auch einen solchen bockbeinigen Narren geben auf der Welt? Den möcht’ ich auch kennen … Weißt seinen Namen nit, Niederkirchner?“
Der Bauer zögerte mit der Antwort, aber auch ohne das wäre er nicht dazu gekommen, den Namen auszusprechen, denn plötzlich stand Juli, die geräuschlos aufgestanden, hart vor den Beiden und sah dem Händler mit durchdringendem Blick in das verdutzte Gesicht. „Der Vater ist nit zu Haus’,“ sagte sie, „der thät’ Dir vielleicht den Namen sagen, wenn Du die Schneid’ hätt’st, ihn darum zu fragen; weil er aber nit da ist, will ich für ihn reden und sage Dir, daß ich das Spotten und das Gewörtel nit leid’! Wenn Du mich vexiren willst, mußt es gescheider anfangen – über das, was mein Vater thut, kannst Du reden und föppeln, so viel Du willst, aber nit vor seiner Tochter und nit in seinem eigenen Haus’ … verstanden, Metzger-Natzi?“
„Ja – was soll denn das heißen …“ rief der Händler.
„Das soll heißen,“ entgegnete sie wie zuvor, „daß ich Dir das Maul verbiet’ – Solche ungehobelte Gäst’ brauchen wir nit im Haus’, und wem das nit recht ist, was ich sage, der kann seine sieben Zwetschgen zusammenpacken und sich um ein andres Nachtquartier umschaun!“
[373]
„Nicht ziemt’s dem Sänger, sich im Traum zu wiegen,
Nicht ziemt’s dem Sänger, müßig Tag für Tag
Im weichen Arm der Himmlischen zu liegen.
Fluch solchem Dasein! Bei dem Träumer nicht,
Nicht bei dem Schwächling wird die Muse rasten,
Doch immer gern sie dem die Kränze flicht,
Der muthig trug des Lebens Müh’ und Lasten.“
Es wird bald ein Jahr, am 18. Juli, daß ich zur sonntäglichen Nachmittagsstunde in der überfüllten Tonhalle des Johannisberges bei Bielefeld saß, entgegenharrend dem Beginne des Festes, welches der Gesangverein „Arion“ zu Ehren meines Nachbars Ferdinand Freiligrath in großartigstem Maßstabe veranstaltet hatte. Galt es doch, den aus der Verbannung Heimgekehrten auf der rothen Muttererde zu begrüßen, und war es doch ein Volksfest im eigentlichen und schönsten Sinne, denn das Volk hatte den treuen Sohn sich selber wieder eingeholt und dem Bedrängten es ermöglicht, die lang getragene Bürde schwerster Sorgenlast in der Fremde zurückzulassen. Glänzend hatte das deutsche Volk diesmal die oft wiederholte Anklage entkräftet, daß es nur um seine todten Dichter sich kümmere, und dem Liede eines Dichters war es nächst der warmen Ansprache des Comités gelungen, mit den Herzen auch den strengeren Verschluß der Geldbeutel zu öffnen. Soweit die deutsche Zunge klingt, hatte jener poetische Aufruf gezündet, der durch die Gartenlaube bis in das kleine Blättchen der deutschen Colonie auf dem Vorgebirge der guten Hoffnung seinen Weg um die Welt gemacht. Dies Alles zog mit innerem Jubel durch meine Seele, während die Klänge der Jubel-Ouvertüre um mich verhallten. Und nun sollte er den selbstgedichteten Prolog sprechen, er, der Freiligrath-Dotation verdienstvoller Förderer, mein langjähriger Freund und Gesinnungsgenosse, den ich trotzdem noch niemals von Angesicht geschaut, Emil Rittershaus aus Barmen.
Da stand er schon, vorschriftsmäßig angethan, eine hohe, kräftige Gestalt, eine westphälische Eiche im Frack, die gesammte Erscheinung vielleicht nicht im Einklange mit dem Bilde, unter welchem jugendliche Schwärmerinnen ihren Lieblingssänger träumen, aber auf den markigen Zügen den Ernst, in dem aufblitzenden Auge das Feuer des echten Mannes und Dichters. Er gewährt so ganz den Eindruck eines selbstgemachten Mannes, kernhaft Alles, auch die volltönende Stimme. Dichtung und Vortrag verfehlten [374] ihre Wirkung nicht, bis zur Begeisterung aber stieg in der gehobenen Stimmung des Bankets der Beifall, als Rittershaus in einem durch Inhalt wie Formvollendung gleich ausgezeichneten Stegreifgedichte den üppigen Damenflor feierte. Dieses augenblickliche Commandiren der Poesie, das Goethe von dem Poeten verlangt, steht Rittershaus in einer Weise zu Gebote, daß er getrosten Muthes darauf reisen könnte, und diese besondere Fertigkeit hat sich in Verbindung mit der allgemeinen dichterischen Anlage schon sehr frühzeitig entwickelt. Als der einstmals renommirte Improvisator Langenschwarz 1844 in Barmen eine seiner Vorstellungen gab, erklärte das zehnjährige Bürschchen keck: „Das kann ich auch,“ verlangte ein Thema und schrieb nach kurzem Besinnen drei achtzeilige Strophen nieder.
Die Leser der Gartenlaube erinnern sich gewiß noch des Artikels von Karl Vogt im vorigen Jahrgange über die neuentdeckte Grüner Höhle bei Iserlohn. Das darin mitgetheilte prachtvolle Gedicht hatte Rittershaus bei dem fröhlichen Mahle der aus der Unterwelt wieder Emporgestiegenen einem Höhlenfahrer in die Feder dictirt. Unter ihnen befand sich auch Wilhelm Auffermann aus New-York, der Stifter und Präsident der amerikanischen Schiller- und Humboldtfeier, der sofort den Dichter beauftragte, für letzteres Fest den Prolog zu schreiben, dessen Manuscript Rittershaus dem gleichfalls unter den Bielefelder Ehrengästen Befindlichen an jenem unvergeßlichen Tage übergab. Wie diese Dichtung, von Fanny Janauschek gesprochen, die Hörer hingerissen, und wie sie, für die neue Welt von Freiligrath’s hochbegabter Tochter, Kätchen Kroeker, englisch übersetzt, für die alte Welt aber in diesem Blatte abgedruckt, die Leser diesseits und jenseits des Oceans entzückt und begeistert, ist noch frisch in Aller Gedächtniß.
Jene staunenswerthe Befähigung der Augenblicksdichtung, mit welcher eine gleiche Herrschaft über die freie Rede Hand in Hand geht, und dazu noch eine große gesellige Liebenswürdigkeit, das Erbtheil der früh verlorenen, von dem Sohne in herzensinnigen Liedern betrauerten und verklärten Mutter, haben Rittershaus in den weitesten Kreisen seiner Heimath zu einer ebenso bekannten wie beliebten und gefeierten Persönlichkeit gemacht, wovon ich mich in Bielefeld auf das Genügendste überzeugen konnte. Daraus erklärt es sich auch, daß seit einer Reihe von Jahren fast in keinen Zeitungsberichte über irgend eine Feierlichkeit am Rhein und in Westphalen der Name Rittershaus fehlt.
Unrecht aber würde man ihm thun, deshalb ihn jenen ausschließlichen Gutheilern, Sangesbrüdern oder Schützenkönigen beizugesellen, die in ihrer eintagsfliegenhaften Begeisterung und mit mehr Durst als Witz unter der inzwischen versunkenen Festsonne ihre Luftsprünge machen. Seine ganze Thätigkeit gehört im besten und ernstesten Sinne der Oeffentlichkeit an; die Gemeinsamkeit Aller, dieses Losungswort der Einsichtigen und Ehrlichen, ist auch sein Bannerspruch. Nachdem schon der Knabe die Gluth für Freiheit und Recht in jener vormärzlich unbestimmten Wortfülle ausgesungen, trat mit der sogenannten neuen Aera der jugendliche Mann in die Reihen der Partei, und hat seitdem der Dichter den Freiheitskampf unseres Volkes unablässig mit seinen Liedern begleitet, deren viele weit über die Grenzen des Vaterlandes hinaus in deutschen Herzen eine bleibende Stätte gefunden. Aber dabei begnügte er sich so wenig wie mit Reden in Volks- und Wahlversammlungen; die bittere Enttäuschung, die jenem kurzen Rausch folgte, öffnete auch ihm die Augen über die Unzulänglichkeit rein politischer Bestrebungen und richtete seine Blicke auf die Erziehung und Bildung, auf die geistige und leibliche Förderung Derer, die ein altverjährter Mißbrauch noch immer „das Volk“ zu nennen beliebt, als das Nächstliegende und Dringlichste. Mit rastloser Selbstaufopferung ist er seit Langem für Gründung und Erhaltung von Spar-, Consum-, Arbeiterbildungs- und ähnlichen Vereinen in rheinischen und westphälischen Städten thätig, wie denn jedes auf das öffentliche Wohl gerichtete Bestreben seiner durchgreifenden Mithülfe sicher sein darf.
Und wie er so die Aufgaben unserer Zeit richtig erfaßt hat, ist er selbst zugleich ein Kind und ein Bild dieser neuen Zeit, welche, mehr und mehr von veralteten Vorurtheilen sich loslösend, nur die auf unmittelbare Ziele gerichtete Thätigkeit anerkennt, und Jeden auf dem Platze für berechtigt gelten läßt, auf dem er Tüchtiges leistet. Ganz abgesehen von den zünftigen Staatsmännern, welche durch uneingeweihte Volksvertreter und Volksredner gar oft eines Besseren sich müssen belehren lassen, greift überhaupt auch auf geistigem Gebiete die Gewerbefreiheit immer mehr Platz. Es ist noch gar nicht so lange her, daß das akademische Triennium, mochte es gleich mehr in der Kneipe und auf dem Fechtboden, als in der Hörsälen absolvirt sein, auch zur Erlangung des Bürger- und Meisterrechtes in der Literatur für unerläßlich galt, und das Aufsehen, welches die ersten Freiligrathschen Lieder machten, erhöhte sich dadurch um ein Bedeutendes, daß der Dichter „ein bloßer Kaufmannsdiener“ war. Und er blieb nicht lange vereinzelt. Im Wupperthale, diesem Sitze der großartigsten Industrie und der protestantischen Strenggläubigkeit, dessen eigenthümliche Verhältnisse schon Goethe gelegentlich seines Besuches bei Jung Stilling eingehend bespricht, erstand bald eine ganze Schule dichtender Kaufleute, die zugleich aus naheliegenden Gründen als Vorkämpfer einer freien Richtung auftraten.
Schon vor 1848 wurde der früh verstorbene Adolf Schults, später hauptsächlich durch seine gemüthvolle Familienpoesie beliebt, wegen radicaler Gedichte in der von Marx und Engels zu Paris herausgegebenen „Deutschen Zeitung“ auf Requisition des preußischen Gesandten aus der französischen Hauptstadt ausgewiesen, während er ruhig daheim als Commis am Schreibpulte saß und von da seine Brandraketen schleuderte, ward ein Heftchen socialistischer Lieder von Gustav Reinhart Neuhaus als Teufelsmachwerk von der Kanzel herab in zelotischen Predigten verflucht. Auch Friedrich Engels, der eigentliche Vater des deutschen wissenschaftlichen Socialismus, ist das Kind einer der angesehensten Familien in Barmen. Ihnen, dem begabten, nicht genug gewürdigten Dramatiker Friedrich Roeber, dem Verfasser des „Appius Claudius“, und dem sinnigen Lieder- und Balladensänger Karl Stelter schlossen sich die jüngeren, Karl Siebel, der leider 1868 in der Maienblüthe des Lebens heimgegangen, und Emil Rittershaus, auf das Innigste an, und in dem stattlichen Kreise wirkte der Maler Richard Seel, der geniale Zeichner des Deutschen Michel, als verneinender Geist, der namentlich die Heine’schen und amaranthisierenden Gelüste der Aufstrebenden mit unerbittlicher Schärfe beschnitt und immer wieder auf den gefundenen Boden der Wirklichkeit hin verwies. Ein Genosse jener Tage war auch der Leipziger Capellmeister Carl Reineke, zu dessen neuester Oper „König Manfred“ bekanntlich Friedrich Roeber den Text gedichtet hat.
Studirt hätte nun Rittershaus gern, und zwar Naturwissenschaften, deren bestimmender Einfluß auf die Umgestaltung der alten Zustände dem Frühgereiften nicht entgangen war, aber die Vermögensverhältnisse des Vaters traten dem Wunsche des einzigen Kindes entgegen. Und der junge Dichter, der in der letzten Zeit mit besonderer Erlaubniß der Lehrer die deutschen Aufsätze häufig in Versen geschrieben, auch bereits in Localblättern wiederholt sich gedruckt gesehen hatte, vertauschte die Schule mit dem Comptoir. Frischer Sinn und innere Tüchtigkeit bewahrten ihn vor weichlichen Träumereien über verfehlten Beruf, und er verstand es sehr bald, Pflicht und Neigung zu wechselseitiger Ergänzung in Einklang zu bringen. In sehr frühen Jahren selbstständig, fand er auch Gelegenheit, den alten Wandertrieb zu befriedigen und auf größeren Reisen durch Deutschland, England, Holland, Belgien und die Schweiz nicht nur für seine geschäftlichen Zwecke, sondern auch durch die Bekanntschaft mit den hervorragendsten literarischen, politischen und künstlerischen Größen für die eigene Ausbildung zu wirken.
Gesammelt erschienen seine Gedichte 1855 bei Badeker in Elberfeld, und obschon vom Publicum und der Kritik auf das Günstigste aufgenommen, gelangten sie doch, eines Verlagswechsels und anderer äußerlicher Umstände halber, erst im vergangenen Winter zur dritten Auflage (Breslau bei Trewendt). Die Jugend des Dichters liegt in diesem Buche abgeschlossen vor, und Alles, was ihn auszeichnet, findet sich hier, wenn auch nicht immer schon in der Vollendung, so doch in seinen festen Grundzügen. Vorzüglich bemerkenswerth, besonders beim Rückblick auf die Zeit, der diese Dichtungen zum allergrößten Theile entstammen, ist die Gesundheit, die frische männliche Kraft und jenes unmittelbare Erfassen der Wirklichkeit, das damals unter der Bezeichnung des Realismus noch vielfach als eine Abirrung der Poesie heftig angegriffen wird, gegenwärtig aber immer siegreicher das Feld erobert, nachdem die Poeten sich selbst und die Andern überzeugt haben, daß sie mit dem Leben rechnen müssen, wenn sie für das [375] Leben schaffen wollen, was doch schließlich Jedermanns Pflicht. Junge Dichter rechnen bekanntlich aber auch gern mit jeder Frau, daher die vielfachen Herzensbrüche, denen sie ausgesetzt sind, und die ihre Bücher zu einer Gallerie weiblicher Schönheiten machen. Davor ward Rittershaus durch seine schon in den ersten Jünglingsjahren erfolgte Verheirathung bewahrt. Hedwig Lucas ist ihm eine treue, aufopfernde Lebensgefährtin und zugleich seine einzige Muse geblieben. Daher der einheitliche Charakter seiner Liebeslieder, die den Verlust an stürmischer Leidenschaft durch eine wohlthuende und überzeugende Innigkeit ersetzen.
Bezeichnend für die Entwicklung der Zeit und des Dichters aber ist, daß gerade die dem öffentlichen Leben gewidmeten Dichtungen jenes Buches an einer Allgemeinheit leiden, die zuweilen auf der einen Seite in unklarer Phrasenschwelgerei verhimmelt und auf der anderen bis zur Nüchternheit dürrer Reflexion herabsteigt. Sie bezeichnen jenen unbestimmten Freiheitsdrang, der noch ziemlich weit über die Märztage hinaus das deutsche Volk erfüllte, bis es endlich zur Klarheit über seine eigentlichen und nächsten Aufgaben gelangte und nun mit ernstem Eifer an die Arbeit ging, die mühsam, aber sicher, auch in ihren Erfolgen, noch immer vorwärts schreitet. Und dieser Arbeit fehlt, nach echter deutscher Sitte, auch der begleitende Gesang nicht, und die wahren Sänger sind zugleich Arbeiter an dem großen gemeinsamen Werke. Kaum dürfte aber ein Zweiter dem Doppelberufe mit solcher Treue obliegen und mit solcher Auszeichnung genügen, wie Rittershaus. Keine Leitartikel in Versen und kein mit leerem Schalle verhallendes Sturmglockenläuten, erfassen die politischen und socialen Lieder seiner zweiten Periode die Fragen des Tages mit concretester Bestimmtheit, während die dichterische Auffassung und Behandlung, das Feuer der Begeisterung und der hinreißende Klang des markigen Verses ihnen zugleich allgemeine und dauernde Bedeutung verleiht. Wohlthuend dringt und klingt bei ihm auch überall das Reinmenschliche durch, vor einseitiger blinder Parteileidenschaft ihn bewahrend. Als im unseligen Kriege von 1866 das „Hie Welf! Hie Waibling!“ auch aus Dichtermunde drohend sich entgegenklang, übertönte den wilden Kampfeslärm sein herzerschütterndes „Zu Hülfe!“ und wandte sich über allen Hader hinweg an die Einmüthigkeit der barmherzigen Liebe. Fast sämmtliche deutsche Blätter der verschiedensten Färbung öffneten sich diesem Aufrufe, der auch die so ergiebige Sammlung der Gartenlaube für die Verwundeten eingeleitet hat. Rittershaus sagt darüber in einem späteren Gedichte:
„In Kampfesmitten schlug ich auf mein Zelt,
Als Heermacht wider Heermacht kämpfend rannte,
Das rothe Kreuz in einem weißen Feld,
Die Fahne war’s, der ich mich zugesellt,
Als wildes Streiten unter Brüdern brannte,
Wo jammernd sich ein Herz in Qualen wand
Und einsam litt, da hat mich's hingetrieben, –
Gern gäb’ auch ich mein Blut für’s Vaterland,
Doch, ach, mein Wahlspruch: ‚Recht und Freiheit‘ stand
Auf keinem Kriegesbanner heut’ geschrieben!“
In diesem Wort liegt zugleich ein Zeugniß dafür, daß er zu den Wenigen gehört, die unverwirrt und unentwegt auch nach jenen verhängnisvollen Ereignissen die alte Fahne hochhalten, und die ein klarer Blick und ein ehrlicher Muth davon zurückgehalten, sich selbst und Andere, bewußt oder unbewußt, zu täuschen. Auch bei ähnlichen Anlässen, so für die Hinterbliebenen Hermann Marggraff’s, die darbenden Ostpreußen, die Cholerawaisen, hat Rittershaus niemals vergeblich an das deutsche Herz appelirt, zu dessen erklärtesten Lieblingen er gehört, auch drüben im freien Amerika. Zahlreiche Beileidsbezeigungen gelangten über das Weltmeer an die vermeintliche Witwe, als vor einigen Jahren, in Folge eines schlechten Scherzes, die Nachricht vom Tode des Dichters die Zeitungen durchlief, und ein amerikanisches Blatt brachte sogar die ganz genaue Beschreibung des Leichenzuges.
Mag sich an dem Todtgeglaubten der alte Aberglaube erfüllen! Noch lebt und wirkt er in der Fülle männlicher Kraft, ungebrochen von aller Noth und Sorge, die ihm nicht erspart geblieben. Gelang es ihm auch, unverschuldete schwere Geschäftsbedrängnisse mit treuer Freundeshülfe zu überwinden und als Generalagent verschiedener Assecuranzgesellschaften eine neue und gesicherte Stellung zu erringen, so lastet doch der tägliche Beruf auf der vollen Entfaltung seines herrlichem Talentes, und nicht selten muß der treue Vater nach einem Blicke auf die emporblühenden sechs Kinder, wenn auch mit tiefem Seufzer, das Drängen des Dichters zurückweisen, um Zahlen statt Verse zu schreiben. Jetzt soll und kann dieser Druck ihm erleichtert werden. Außer einem vor Kurzem bei Findel in Leipzig erschienenen Bändchen „Freimauerische Dichtungen“ (deren Ertrag der Central-Hülfscasse deutscher Freimaurer zufließen soll), gedankenvollen, freiheit- und liebeerfüllten, schöngeformten Gelegenheitsgedichten, die nicht allein den „Bruder“, sondern jeden wahren Menschenfreund erfreuen werden, hat Rittershaus noch keine weitere Sammlung seiner Poesien herausgegeben, obwohl er auch auf anderen Gebieten, als dem des politischen Liedes, thätig gewesen und überall zu gleicher Meisterschaft sich entwickelt hat, wie zahlreiche Proben in Zeitschriften und Künstler-Albums erweisen. Daß aber die besten und gelungensten Schöpfungen seiner zweiten Periode dem deutschen Volke nicht länger vorenthalten bleiben und daß Rittershaus zugleich die wohlverdienten Früchte seines segensreichen Schaffens ernte, dafür will ein Comité Sorge tragen, welches sich aus Freunden und Verehrern des Dichters gebildet hat und in dem Männer, wie Oberbürgermeister Bredt, Franz Duncker, Ferdinand Freiligrath, Friedrich Harkort, Löwe-Calbe, Schulze-Delitzsch, Professor Virchow u. A. vertreten sind. Der ganze Unternehmergewinn der demnächst erscheinenden „Neuen Gedichte“ soll dem Dichter allein zu Gute kommen, er soll allein die Früchte seines fünfzehnjährigen Schaffens ernten.
„Der Zweck dieser Gedichtsammlung ist deshalb vornehmlich auch der, dem Dichter selbst neben der Ehre auch den Gewinn seines Schaffens zu sichern und dazu beizutragen, ihm den Kampf mit den Aeußerlichkeiten des Lebens zu erleichtern,“ sagt der Verleger in seinem Aufrufe „an alle Freunde deutscher Poesie“.
Mag dieser Aufruf reiche Früchte tragen, mag das deutsche Volk auf dem betretenen Wege fortfahren, auch dem Lebenden zu seinem Rechte zu verhelfen, und die Hülfe, die es Freiligrath erst am Abend gewährt hat, Rittershaus mitten am Tage noch leisten, und dereinst mit ihm der Ernte eines Dichters sich zu freuen, der noch am Säen ist.
Als eine Probe und zugleich als Beleg, wie reich und voll das Herz des Poeten, wie schwer es aber auch gar oft um dieses Herz ist, schließe hier:
Die Sonntagspuppe.
Es war an einem Sonntagmorgen –
Ob hell, ob düster, weiß ich nicht,
Ich weiß nur das – ich war in Sorgen,
Und finster war mein Angesicht.
Mir war die Welt voll Gram und Grauen,
Die Lust der Jugend schuf mir Pein. -
Nur helle Menschenaugen schauen
In Gottes Welt den Sonnenschein!
Ich hatte einen Freund gefunden,
Der heil’ge Treu’ mir einst gelobt. –
Nun kamen ernste, schwere Stunden,
Nun ward des Mannes Wort erprobt!
Jetzt hing mein Schiff an schlimmen Riffen!
War nicht der Freund als Retter nah?
Ich hätte gern die Hand ergriffen, –
Die Freundeshand, sie war nicht da!
Mein Aug’ ist schlecht geschickt zur Thräne;
Nicht stand ich muthlos und erschlafft,
Doch brummt’ ich knirschend in die Zähne:
„Nun wohl! Mit Gott und eigner Kraft!“
Und in den Zügen stand geschrieben,
Wie mich geschmerzt der eitle Trug,
Daß einen Namen, einen lieben,
Ich ausstrich aus des Herzens Buch.
Mit seiner Sonntagspuppe spielend,
Mein Töchterlein im Zimmer saß;
Oft sah das Kind, zur Seite schielend,
Wie ich nur fast zum Scheine las,
Wie achtlos durch die Blätter schweifend
Ich doch in schwarzen Träumen blieb,
Und wie ich sinnend, leise pfeifend
Gedankenvoll die Stirne rieb.
Ein närrisch Ding mein kleines Aennchen!
Wie ist das Fräulein sonst empört,
Wenn’s in dem Spiel mit Kaffeekännchen
Und Puppen je der Vater stört!
„Gieb einen Kuss mir!“ – „Nein, ich danke!
So laß’ mich doch in Ruh’, Papa!“
Doch heute von dem Puppenschranke
So oft zu mir die Kleine sah.
Und plötzlich kam mein Kind gegangen
Und leise sprach es drauf zu mir.
„Die Sonntagspupp’ mit rothen Wangen,
Papa, ich leih’ die Puppe Dir!
Mit ihren allerschönsten Sachen
Hab’ ich für Dich sie angethan.
Papa, nun mußt Du wieder lachen!
Nun sieh’ auch Anna freundlich an!“
Und als mir in das Auge schaute
Mein Kind wie sonn’ger Maientag,
Da fühlt’ ich, wie im Herzen thaute
Das Eis, das auf der Seele lag,
Da ward mir wieder froh zu Sinne,
Da wurde meine Stimme klar,
Und tief beschämet ward ich inne,
Wie unaussprechlich reich ich war!
An schönen sonnigen Tagen um die Mittagszeit sieht man häufig eine alte rüstige Dame in der Charles-Street und in den übrigen dem Washington-Monumente nahe gelegenen elegantesten Staßen Baltimores spazieren gehen. Ihre ganze Erscheinung ist eine eigenthümliche, auffallende. Die nicht große Gestalt ist gewöhnlich in einen kostbaren Sammetmantel gehüllt, dessen altmodische Façon ganz im Einklange steht mit einem Hute, den unsere Generation nur noch aus alten Bildern kennt. Das mit tiefen Furchen durchzogene, gelblich blasse Antlitz, welches wir unter dem Schatten jener Kopfbedeckung kaum entdecken können, bildet einen ganz frappanten Contrast zu den glänzenden klaren, mit jugendlicher Schärfe blickenden Augen, die es umrahmt.
Diese dunklen, wunderstrahlenden Augen allein sprechen noch von der Vergangenheit – jener fernen, fernen Vergangenheit, wo ihre Besitzerin den Ruf erwarb, von allen den Schönheiten, die Baltimore als jene Stadt Amerikas berühmt gemacht hat, wo man nie ein häßliches Frauengesicht erspähen könne, – die Schönste, Anmuthigste und Gefeiertste zu sein.
Das ist freilich schon lange, lange her. Seit Elisabeth Patterson die glänzendste Zierde der Gesellschaft Baltimores war, ist ein Menschenalter vergangen. Jene, die sie bewundert, geliebt und beneidet haben, sind längst begraben, – begraben auch Diejenigen, welche sie kränkten, verstießen und ihr Glück elendem, politischem Ehrgeize opferten.
Es war im Jahre 1803, als der damals erst achtzehnjährige jüngste Bruder Napoleon’s, Jerome, als Commandeur einer französischen Fregatte in dem Hafen von Baltimore landete. Den Bruder des ersten Consuls empfing man überall mit der größten Auszeichnung, und die angesehensten Familien Baltimores machten es in jenen Tagen ebenso wie in jüngster Zeit mit den englischen Prinzen, – sie kämpften förmlich um die Gegenwart Jerome’s in ihren Salons. Man überbot einander in Aufmerksamkeiten für ihn, und dem lebenslustigen, leichtsinnigen, übermüthigen Jerome behagte das ganz außerordentlich, und ohne Rückhalt und ohne Bedenken ergab er sich in toller Ausgelassenheit allen ihm gebotenen Lebensgenüssen.
Eines Abend traf er auf einem ihm zu Ehren gegebenen Balle im Hause eines der reichsten Geldfürsten zum ersten Male die Dame, der unbedingt die Krone der Schönheit und der Grazie zuertheilt wurde. Er hatte in der kurzen Zeit seines Aufenthaltes in Baltimore so unendlich viel von dieser „Perle Marylands“ reden hören, daß er sehr gespannt auf ihre Bekanntschaft war. Er ließ sich ihr vorstellen, und als Elisabeth mit dem den Amerikanerinnen eigenen königlichen Anstande seine tiefe Verbeugung nur mit einem leichten Neigen des stolzen Hauptes erwiderte und das wundervolle Auge ihn kalt und halb spöttisch musterte – hatte sie sich doch den Helden des Tages in ihrer Mädchenphantasie wie einen Halbgott vorgestellt und fand nun statt dessen einen Jüngling, den die blendende Uniform allerdings recht hübsch kleidete, der aber mit dem kaum entknospenden Bärtchen mehr noch wie ein Knabe aussah –: da war’s um Jerome’s Herz geschehen!
Er begriff ihren Blick vollkommen, und die Eitelkeit stachelte ihn an, jener stolzen spöttischen Schönheit durch den ganzen Aufwand der echt französischen Liebenswürdigkeit, durch welche Jerome berühmt wurde, zu beweisen, daß sie in ihm den gefährlichen Mann fürchten könne.
Und was so unbedacht als Spiel kindischer Einfalt begann, wurde rasch zum Ernst, für Jerome allerdings nur zum vorübergehenden, für Elisabeth aber zum lebenslangen, bitteren Ernst. Jerome mit der ganzen weltbekannten Leidenschaftlichkeit seiner Natur wurde bald von einer so wilden, ungestümen Liebe zu der reizenden Amerikanerin erfaßt, daß er nicht mehr leben zu können glaubte, ohne daß sie die Seine würde.
In South-Street, einem Theile der Stadt nahe am Strande, wo jetzt nur noch Geschäftshäuser und Waarenhäuser sind, der aber damals der aristokratische Theil der Stadt war, steht noch das Haus, welches Elisabeth’s Vater, der reiche Kaufmann Patterson, bewohnte. Zu ihm hin lenkte der unbedachte und vom Liebestaumel berauschte junge Franzose, ohne viel zu überlegen oder zu schwanken, nach wenigen Wochen eines Morgens im Jahre 1803 seine Schritte, um sich beim Vater um Elisabeth’s Hand zu bewerben.
Dieser, geschmeichelt und geblendet durch die dargebotene Verbindung mit der Familie des ersten Mannes seiner Zeit, gab ebenso rasch seine Einwilligung wie Elisabeth, die ganz und innig die schnell entflammte Neigung Jerome’s erwiderte.
Die ungestüme Heftigkeit der Bewerbung Jerome’s schlug alle Bedenken und alle Vorbereitung zur Hochzeit erfolgreich aus dem Felde, und schon am Abend vor Weihnachten wurde die Ehe zwischen Jerome und Elisabeth vom Bischof der Diöcese, Carroll, dem Bruder des berühmten Carroll von Carrollston – eingesegnet. Der Ehecontract war von Alexander Dallas, nachherigem Schatzminister der Vereinigten Staaten, entworfen und der Mayor von Baltimore und viele ausgezeichnete und bekannte Persönlichkeiten wohnten der Trauung bei.
Ein Jahr verging dem jungen liebenden Paare in ungetrübtem Glück. Da plötzlich, wie der Blitz oft aus heiterem Himmel niederzuckt, kam die gebieterische Aufforderung Napoleon’s an Jerome sofort zurückzukehren. Er war auf’s Höchste erbittert durch die Heirath Jerome’s, da sein ehrgeiziger Kopf längst Pläne geschmiedet hatte, durch eheliche Verbindungen seiner Brüder mit legitimen Fürstenhäusern die jüngst geschaffene Kaiserkrone fester auf das eigene ehrgeizige Haupt zu drücken.
Jerome, der wankelmüthige, leichtlebige Jerome, von der glänzenden Aussicht in die Zukunft geblendet – schwankte keinen Augenblick, das einst so heiß ersehnte Familienglück den politischen Interessen seines Bruders zu opfern. Denn Napoleon hatte verlangt, daß er allein zurückkehre; – und die böse Welt setzt dazu, daß Jerome gern den Befehl seines mächtigen Bruders vorschützte, um sich von der Gesellschaft seiner Gattin zu befreien. Hatte doch Elisabeth mit fester Hand den jungen, zu den größten jugendlichen Excessen und Ausschweifungen geneigten Ehemann in Schranken zu halten gewußt und alles Rütteln an der holden Fessel seinerseits war umsonst gewesen; Elisabeth besaß schon damals die sie auch jetzt noch auszeichnende Energie und die kalte, ruhige Ueberlegungskraft ihrer späteren Tage.
Sie sah deshalb voraus, daß Jerome, so lange sie ihn begleite, ihr treu und ergeben sein würde, daß er aber, einmal ihres persönlichen Einflusses beraubt, in Napoleon’s Händen wie weiches Wachs zu lenken sei. Sie hatte ihre Gründe, genau die Schritte ihres Gatten zu überwachen, und darum war es eben nicht zu verwundern, daß dieser, als er, angeblich um seiner geliebten Elisabeth den Schmerz der Trennung zu ersparen, einen Tag vor der bestimmten Abreise heimlich die ihm zu Gebote stehende Fregatte betrat und nach gegebenem Befehl zum Ankerlichten in die Kajüte hinabstieg, dort ganz unerwartet seine treue Gattin fand. Man sagt, die Vorwürfe seien von beiden Seiten mit größter Aufrichtigkeit ausgetauscht worden – doch war Jerome, sich im Unrecht fühlend, während der ganzen Seereise der liebenswürdigste und aufmerksamste Ehegatte und sein Schmerz, nachdem seiner Gemahlin in Lissabon nicht mit ihm zu landen gestattet wurde, war aufrichtig und wahr. Er trennte sich bald darauf von ihr, die ihre Niederkunft demnächst erwartete, unter Tränen und mit den heiligsten Schwüren, sich in Amsterdam wieder mit ihr zu vereinigen, nachdem er erst in Paris Alles versuchen werde, um Napoleon zu versöhnen. Die arme verlassene [377] Frau schiffte sich nun nach Amsterdam ein und, als sie auch dort nicht landen durfte, nach England. Sie ließ sich in Camberwell bei London nieder und hier wurde am 5. Juli 1805 Jerome Napoleon Bonaparte geboren.
Allein, im fremden Land mit den brennenden Schmerzen getäuschter Liebe, verlassen von ihm, der ihr noch vor wenigen Wochen mit den heiligsten Eiden geschworen, daß er unbekümmert um des Bruders Zorn zu ihr zurückkehren und ihr treu bleiben wolle, und der, kaum in den Tuilerien angekommen, vom neuen Glanz geblendet, seine Versprechungen vergessen hatte und im Taumel rauschender Vergnügungen seine Ehre, seine Frau und sein Kind opferte, suchte die arme Frau umsonst durch Briefe das Herz Jerome’s zu rühren. Umsonst – alles umsonst! Jeder weiß, was folgte: wie Napoleon’s Machtgebot bald diese Ehe löste, die der Papst trotz aller Drohungen nicht lösen wollte und auch wirklich nie gelöst hat – und wie Jerome dann die Prinzessin von Würtemberg heirathete.
Von diesem Moment an zog Haß, bittrer glühender Haß in das Herz der armen Frau ein, die nach ihren traurigen Erfahrungen freilich längst zu lieben, aber nicht zu – hoffen aufgehört hatte. Nur einmal noch hat sie den leichtsinnigen Zerstörer ihres Glückes wiedergesehen, und bei dieser Gelegenheit sprach das dunkle brennende Auge, aus dem ihm so oft der Liebe milder Strahl geleuchtet hatte, die ätzende Sprache tödtlicher Verachtung!
Es war nach vier Jahren im Palast Pitti zu Florenz. In einem der Bildersäle stand Elisabeth, deren Begleiter unfern in einer Fensternische plauderten, tief versenkt in den Anblick einer Madonna. Plötzlich hört sie den Ton einer Stimme hinter sich, der jede Fiber ihres Herzens vibriren macht; – aber trotzdem war ihr Antlitz unbewegt und kalt wie das steinerne Haupt der Medusa, als sie sich umwandte und voll und groß Jerome, an dessen Arm die Prinzessin hing, ansah. Nur das wunderbare Auge sprach – der Mund war stumm und fest zusammengepreßt, die Züge wie aus Stein gemeißelt. Jerome, als er sie so unerwartet da vor sich stehen sah, die ihm wie das verkörperte Gewissen erschien, erschrak heftig und sein Blick konnte die Flammenblitze der Verachtung, die ihr Auge auf ihn hinabschleuderte, nicht ertragen. Er senkte das seine bestürzt zu Boden und während ein heftiges Zittern seinen ganzen Körper durchflog, murmelte er einige unarticulirte Töne und zog hastig die Prinzessin, die nicht wußte, was sie aus der sonderbaren Szene machen sollte, und fragend bald ihren Gatten, bald die blasse, stolze, zürnende Frau ansah, mit sich zur Thür hinaus. Erst als er aus dem Sehkreis jener Verachtung strahlenden dunkeln Augensterne war, fand er die Sprache wieder und flüsterte:
„Jene Dame war meine erste Gattin!“
In derselben Stunde noch verließ er Florenz.
Kurz nach der Geburt ihres Sohnes ging die Verlassene nach Baltimore zurück, wo sie denn auch, ungerechnet kurzer Unterbrechungen, stets gelebt hat. Ihr Sohn besuchte, nachdem er herangewachsen war, die Universität zu Cambridge und studirte Jurisprudenz. Noch sehr jung heirathete er dann eine reiche Erbin, Miß Susan Mary Williams, und lebte mit ihr in sehr glücklicher Ehe, der zwei Söhne entsprossen. Er widmete sich hauptsächlich der Verwaltung seiner Güter und landwirthschaftlicher Unternehmungen.
Kein Mitglied der verschiedenen Familien Bonaparte hat eine solche Aehnlichkeit mit Napoleon dem Ersten als der Sohn Elisabeth’s. Diese Aehnlichkeit ist so frappanter Art, daß sowohl hier als auch in Europa die Leute auf der Straße ihm verwundert nachstarrten. Derselbe antike Kopf, dieselben hehren durchgeistigten Gesichtszüge, dieselbe blaßgelbliche Farbe, dasselbe Energie und Kraft bekundende Kinn! Selbst die hohen Schultern Napoleon’s sind ihm eigen; nur ist der Neffe viel größer und stattlicher als der Onkel. Und deshalb ist auch die Aehnlichkeit Beider am hervortretendsten, wenn Jerome, wie er das bis vor Kurzem mit Vorliebe that, sitzend in seinem Lieblingsgefährt, einem leichten von zwei prachtvollen Rappen, die er selbst lenkt, gezogenen Tilbury, im vollen Galopp die Straßen Baltimores durchjagt.
Jetzt liegt er hoffnungslos krank darnieder und sein ältester Sohn, der in der französischen Armee ist, wurde jüngst durch eine unterseeische Depesche nach Baltimore berufen. Eine Geschwulst am Halse, die er für ungefährlich hielt, verschlimmerte sich mit rasender Schnelligkeit und ist nach dem Ausspruche eines der ersten Aerzte Baltimores in jene schreckliche hoffnungslose Krankheit ausgeartet, die wir Krebs heißen.
Nach allen menschlichen Berechnungen wird also die fünfundachtzigjährige Mutter den Sohn überleben. Diese rüstige, energische Frau, die mit der Regelmäßigkeit einer Uhr jeden Morgen das Geschäftslocal ihres Banquiers, der ihr Vermögen verwaltet, zu Fuße aufsucht, um sich Bericht erstatten zu lassen, ist eine vortreffliche, klare, ihre Vortheile wahrende Geschäftsfrau. Sie ist reich, enorm reich; sie besitzt im werthvollsten Geschäftstheile der Stadt viel Grundeigenthum, dessen Werth sie genau bis auf den Heller und Pfennig kennt, und lebt dabei mit der Einfachheit einer wahren Republikanerin. Sie lebt seit dem Tode ihres Vaters in einem der freilich eleganten, aber der Gemüthlichkeit so wenig zusagenden Boardinghäuser und ist dort nur Herrscherin über zwei Zimmer. Augenblicklich beschäftigen zwei große literarische Unternehmungen ihre Zeit beinahe ausschließlich; das eine ist die Verfertigung ihrer „Memoiren“, das andere die Beendigung ihrer „politischen Reminiscenzen“.
Madame Elisabeth Patterson war gefeiert, bewundert, geliebt im Zauber der Jugend, im Alter ist sie vergessen oder – gefürchtet. Die Erfahrungen ihrer Jugend haben sie verbittert und eifersüchtig auf schroff geforderte und vom Schicksal verweigerte Rechte gemacht. Sie hat den Sohn im Haß gegen den Vater erzogen, und als dennoch Beide sich aussöhnten und der Erste den Letzteren verschiedene Male in Paris besuchte und Jahre lang ein bedeutendes Jahrgeld von ihm bezog, da war auch das frühere herzliche Einverständniß dahin, und man glaubt auch hierin die Ursache zu sehen, warum Madame Patterson nie das Haus ihres Sohnes mitbewohnte.
Madame Elisabeth macht in ihrem Auftreten durchaus nicht den Eindruck einer sehr alten Dame; sie hat in ihrem Wesen etwas Energisches, Schroffes, Protestirendes und wenig von der älteren Frauen sonst so oft eigenen, herzgewinnenden Milde. Man fürchtet den scharfen Geist mit den immer fertigen Sarkasmen.
Allein ging auch die Milde unter, so büßte sie doch sicher nicht den Frauenstolz und die Würde ein, und ihr ganzes Leben war eigentlich ein fortwährender Kampf um ihre Rechte! Sie selbst verlangte Nichts mehr für sich; nach ihrer Rückkehr von England hat sie sich nie mehr an Jerome gewandt, aber als ihr Sohn erwachsen war, mußte er in französischen Gerichtshöfen zu verschiedenen Malen seine Ansprüche geltend machen. Und obgleich von diesen natürlich die Gültigkeit seiner legitimen Erstgeburt nie anerkannt wurde, da ihm dies Vorrechte bei Hofe vor dem Prinzen Napoleon und Prinzessin Mathilde gewähren mußte, so liegt doch in der Berücksichtigung, die Napoleon der Dritte ihm stets zu Theil werden ließ, und in der Thatsache, daß dieser ihm zu wiederholten Malen den Herzogshut anbot, ein gewisses Bestreben, die Härte des Onkels wieder gut zu machen.
Es befriedigte die Mutter sehr, daß der Sohn diese Auszeichnung ausschlug, denn mit der Zähigkeit, – welche oft hart geprüften Gemüthern eigen zu sein pflegt, hält sie den Glauben an eine poetische Gerechtigkeit fest, und ist überzeugt, daß ihr Großsohn jener, der sich in Frankreich heimisch machte, doch dereinst den französischen Thron besteigen und dadurch sie an den anderen Napoleoniden rächen wird.
Sie haßte Jerome, allein sie vergaß dennoch nie die einzige glückliche Zeit ihres Lebens, in der sie ihn liebte. Sie durchwandelt jetzt noch mit Vorliebe jene Straßen, durch welche einst Jerome sie als junge Gattin führte, stolzer durch den Besitz dieser strahlenden Schönheit, als er je gewesen sein kann, nachdem die Königskrone, die er so theuer mit seiner Ehre bezahlte, den hübschen Kopf mit den frivolen und leichtsinnigen Gedanken darin zierte.
Die Erinnerung an ihn, an die romantische Episode ihrer kurzen Liebe scheint sich denn auch jetzt am späten Lebensabend mit immer neuer Kraft und Schärfe geltend zu machen. Sie wirft helle Sonnenblicke in das Herz der alten Frau, und darum ist es nur anerkennenswerth, daß sie erst jetzt ihre „Memoiren“ zu schreiben begann, nachdem die bittere Erfahrung ihrer Jugend, die sie früher oft ungerecht machte, immer traumgleicher und nebelhafter in die ferne Vergangenheit versinkt.
[378]Abermals sahen wir den ersten Schritt zu einer Menschenthat geschehen, vor welcher die Völker der Gegenwart den Hut abziehen und die Nachkommen mit Hochachtung unserer Tage gedenken werden.
Im schönsten Frühlingssonnenglanz des vierzehnten Mai feierte Wien „die Inauguration der Donau-Regulirungs-Arbeiten“, indem der Kaiser selbst den ersten Spatenstich dazu vollbrachte. Das ist eine sinnige Weihe, ganz des modernen Geistes würdig, der „die Ehre der Arbeit“ aussprach und der sie, je mehr Cultur und Humanität Siege erringen, um so ernster vor alle übrigen Ehren stellt.
Ein Blick auf unsere Illustration genügt, um unsere Leser von der Großartigkeit und Schwierigkeit des Unternehmens zu überzeugen. Es ist in der That eine kolossale Idee, die Verlegung von einem Theile des Bettes des bedeutendsten Stromes in Europa. Ein solches Beginnen mahnt an die weltbekannten Mirakel des Alterthums, und es darf uns deshalb nicht Wunder nehmen, daß man erst nach beinahe hundertjährigem Zaudern an die Ausführung zu gehen wagt.
Vergleicht man die örtliche Lage großer Städte an bedeutenden Strömen, wie z. B. die von Köln, Mainz, Breslau, Dresden, Pest etc., mit der von Wien, so findet man den sehr bedeutenden Unterschied, daß die Wassermasse ungetheilt, in voller Kraft und mit allen ihren natürlichen Vortheilen im Gefolge an den gedachten Plätzen vorbeikommt, während die Wasserkraft der Donau, durch ein Chaos wilder Gewässer netzförmig ausgebreitet, an Wien vorüberfluthet. Die Größe des Donaustromes auf diesem Theile seines Laufes entspricht beiläufig, als Fluß, derjenigen des Rheines, bevor er die Mosel aufnimmt; dagegen mögen die Hochwasser der Donau bedeutender als jene des Rheines sein, da wiederholten Messungen zufolge eine mittlere Hochfluth bei der großen Donaubrücke nächst Wien einen Abfluß von 360,000 Kubikfuß Wassermasse pro Secunde ausweist.
Dem Verluste, welchen die angrenzenden Uferlandschaften an Grund und Boden ununterbrochen erlitten haben und stündlich noch erleiden müssen, den Gefahren ausgedehnter Ueberschwemmungen, welchen die Nord- und Nordosttheile Wiens ausgesetzt sind, und dem überaus schwierigen, theilweise auch unmöglich gemachten Schiffsverkehre steht die bedeutsame Regulirungsziffer von 24,600,000 Gulden gegenüber. Jetzt, wo die Arbeiten bereits begonnen haben und der Weihespatenstich geschehen ist, sei es erlaubt, auf das Wesen der Sache etwas näher einzugehen. –
Die Regulirung des Stromlaufes wird eine Strecke von beiläufig acht Wegstunden umfassen. Der Lauf der Donau ist [379] ober- und unterhalb Wiens an zwei Stellen durch die Natur fixirt, oberhalb durch das Kahlen- und Bisamgebirge, unterhalb Wiens durch die ungarischen Grenzgebirge zwischen Haimburg und Theben. Vom Bisamberg bis Nußdorf ist der Strom am rechten Ufer durch das Kahlengebirg in seinem Lauf beschränkt. Sowie die Donau aber bei Wien in die Ebene tritt, findet sie kein von der Natur vorbereitetes Bett, sondern fließt in einem angeschwemmten gleichartigen Boden. So ist es erklärlich, daß sie sich frei überlassen, den zufällig entstandenen Hindernissen ausweichend, sich in mehrere Arme theilte, daß durch Bildung von Schotterbänken immer neue Ausartungen des Stromlaufes entstanden und bei Hochwässern ein meilengroßer Flächenraum überspült und verwüstet wurde. Unter solchen Umständen ist es natürlich, und die vorhandenen Urkunden weisen dies auch nach, daß der Hauptarm der Donau bei Wien zu verschiedenen Zeiten einen verschiedenen Lauf gehabt hat. Unstreitig ist einst der Hauptstrom von Nußdorf in der Richtung des jetzigen Donaucanals geflossen, sowie andererseits aus Urkunden hervorgeht, daß er später seinen Lauf immer mehr östlich durch die ausgedehnte Ebene des Marchfeldes genommen hat. Noch heute besitzt die innere Stadt Wien einen Stadtteil, welcher „am Gstaadt“ genannt ist und welcher seiner Zeit unzweifelhaft die Ufergrenze vom damaligen Donaustrome bildete. In der ausgedehnten Marchebene hat die Donau zwischen den beiden extremsten Stromläufen, in mehrere Arme getheilt, das Land verwüstet und der Hauptarm seine Richtung gewechselt, je nachdem ein künstlich oder vom Strome durch Ablagerung seines Geschiebes geschaffenes Hinderniß die Veranlassung zur Versandung eines Armes und zu einer neuen Stromtheilung gab. –
Diesen schweren Calamitäten gegenüber ist die Frage der Donauregulirung bei Wien im heutigen Sinne, d. h. die Zusammenfassung aller Donauarme in ein geregeltes Bett, erst seit dem Jahre 1810 in Verhandlung genommen worden. Bis dahin hatte man die Aufmerksamkeit bloß der Erhaltung der Schiffbarkeit des Donaucanals und der möglichen Verhütung einer Ueberschwemmung von Wien und dem Marchfelde durch weit auseinander liegende, verästete Dämme zugewendet. Von da ab kam die neue schwierige Frage der Erbauung einer stabilen Brücke bei Wien dazu. Bandwurmartig wand sich diese offene Doppelfrage nicht weniger als sechs Decennien hindurch. Immer schreckte das Geldopfer, welches sie auferlegte, vor der Ausführung zurück, und so blieb denn dem Jahre 1869 der definitive Anfang zur Lösung der Riesenaufgabe vorbehalten. Der Größe der Letzteren gemäß fand es die österreichische Regierung nothwendig, zu den einheimischen technischen Kräften auch die bedeutendsten Capacitäten des Wasserbaufaches im Auslande zur Ausarbeitung von Projecten und Gutachten einzuladen. Alle diese Projecte bezweckten zunächst, der Donau bei Wien in einer sanft gekrümmten Linie mittelst eines mehr oder weniger längeren Durchstichs einen regelmäßigen Lauf und eine ungefährliche Abführung der Hochwasser und des Eises zu sichern. Zu letzterem Behufe und um zugleich eine so viel als möglich gleiche Wassergeschwindigkeit herzustellen, soll das Strombett aus zwei Theilen bestehen, einem unteren für den gewöhnlichen Wasserstand und einem höheren für die Hochwasser. Das beigegebene Profil des Durchstichs zeigt dies auf’s Deutlichste. Diese Herstellung eines aus zwei Theilen bestehenden Strombettes bezieht sich auch auf die Hafenbauten bei Wien, um bei kleinerem Wasserstande die für die Schifffahrt nöthige Tiefe zu erhalten und selbst bei dem höchsten Wasserstande immer noch das Landen und Ausladen der Schiffe möglich zu machen.
Ohne Zweifel gehörte zu den wichtigen Fragen, namentlich neben der Bestimmung der künftige Trace der in ein Bett zusammengefaßten Donau, auch die: wie es zu ermöglichen sei, während der Durchstichs- und Canalisirungsarbeiten der Schifffahrt auf der Donau keine Hemmung zu bereiten. Unsere Illustration zeigt, daß auch diese Aufgabe gelöst ist, denn es kann in der unteren Donaustrecke, wo es sich nur um die Rectificirung und Eindämmung des alten Flußbettes handelt und die Schifffahrts-Stromrinne nirgends behindert zu werden braucht, selbstverständlich von einer Unterbrechung der Schifffahrt ebenso wenig die Rede sein, als in der oberen Strecke, weil der Durchstich, schon zur Gewinnung des nöthigen Anschüttungsmaterials, in der ganzen Breite des neuen Flußbettes, sowie in der Mitte desselben und an dem Landungsufer in einer solchen Tiefe ausgehoben werden muß, daß, sobald der Durchstich eröffnet werden wird, die Schifffahrt sogleich die nöthigen Wassertiefen finden kann. Bis zu seiner einstigen Eröffnung bleibt die Donau unbehelligt im alten Flußbett.
Es liegt auf der Hand, daß Hochwasser und Eis bei einem mehr geradlinigen Bett leichter abgeführt werden, als in einem gekrümmten, dabei kommt aber noch in Betracht, daß durch diesen Durchstich und die damit im Zusammenhang stehenden Correctionsarbeiten der Wasserspiegel gesenkt und damit die Geschwindigkeit des Stromes vergrößert wird. Durch diese Senkung des Wasserspiegels und die gleichzeitig eintretende vergrößerte Geschwindigkeit des Stromes wird aber offenbar die Gefahr der Ueberschwemmung wesentlich vermindert. Hauptsächlich aber wurde bei der Feststellung der Trace dieser Donau-Regulirung darauf Bedacht genommen, daß es sich weit weniger um die gewöhnliche Regulirung eines im freien Lande fließenden Stromes handle, als darum, daß dieser Strom dem Handel und der Industrie, welche ihren Sitz in einer so großen Stadt aufschlagen, dienstbar gemacht werde. Wien insbesondere hat die glücklichste Lage für einen bedeutenden Stapelplatz der Flußschifffahrt, denn während die Donau Oesterreich von Westen nach Osten durchzieht und eine vorzügliche Wasserstraße in dieser Richtung nach dem schwarzen Meere herstellt, laufen von Wien aus mehrere große Eisenbahnen nach Norden und Süden, welche ihren natürlichen Anknüpfungspunkt und den Umschlagsort für die gemeinsamen Frachten hier finden. Wenn daher die Hemmnisse von der Donau- Schifffahrt entfernt sein werden, wenn für Wien ein entsprechender Landungs- und Stapelplatz hergestellt sein wird, dann wird auch ein Schwerpunkt des Verkehrs naturgemäß sich hier an die Donau verlegen.
Theils zur Erzielung einer rascheren Ausbildung des künftigen neuen Strombettes, theils in Rücksicht auf die sofortige Benützung des Durchstichs nach seiner Vollendung durch die Schifffahrt ist als nothwendig festgestellt, das künstliche Bett sogleich auf seine ganze Breite von zweitausendzweihundert Fuß bis zum Nullwasserspiegel und weiter am rechtseitigen Ufer zwei Fuß unter dem Nullpunkte, in der Mitte aber in einer Breite von tausend Fuß und einer Tiefe von sechs Fuß unter dem Nullpunkte auszuheben. Dieser Theil der Arbeit erfordert allein eine Erdbewegung von 1,142,000 Kubikklaftern und außerdem 30,000 Quadratklaftern Steinpflasterungen.
Nach Herstellung des neuen Strombettes soll die untere Stromstrecke bis Fischamend in Angriff genommen werden. In derselben findet ein Durchstich nicht statt, da das neu festgestellte Bett größtentheils mit dem bestehenden zusammen- oder in dessen Nebenarme fällt und die Regulirung daher mehr als eine Rectification der Flußtrace und solide Befestigung der Ufer als in der Art eines completen Neubettes auszuführen sein wird.
Was die Kosten der Durchführung dieser Donauregulirung betrifft, so sind in der obengenannten Summe von 24,600,000 Gulden auch die auf beiläufig vier Millionen Gulden sich belaufenden Unkosten inbegriffen, welche zur Grundeinlösung einer am rechten Donauufer liegenden Fläche von 330,000 Quadratklaftern und zu deren Erhöhung und Planirung über den höchsten Wasserstand mittelst Zuführung von mehr als einer Million Kubikklafter Auffüllungsmaterial aus dem Durchstiche nothwendig sind.
Die Festsetzung des jetzigen Planes zur Donau-Regulirung ging keineswegs so glatt ab, wie es bisher schien, sondern das österreichische Schicksal hatte auch hier erst seine Lehre zu geben. Ursprünglich war der Plan des Ministerialraths Pasetti der begünstigte, trotzdem derselbe die Ueberschwemmungsgefahr nur verminderte, nicht beseitigte, und auf den Schifffahrtsverkehr, die Industrie und den Handel keine Rücksicht nahm, sondern den Hauptstrom der Donau von Wien entfernen, das sogenannte Kaiserwasser in einen Winterhafen umwandeln wollte und den Donaucanal mit einer Tiefe von sechs Fuß für die Schifffahrt als genügend erklärte. Dieses Project erfreute sich des besondern Beifalls der feudalen Kriegspartei, welche auf eine Befestigung Wiens im großen Styl hindrängte – und zwar 1867, also nach dem bekannten Jahre 1866 –; den Vertretern der Wiener Gemeinde und des Landes Niederösterreich wurde damals von Seiten der Regierungsorgane kurzweg bemerklich gemacht, daß dem militärischen Theil der ganzen Frage alle anderen [380] Rücksichten untergeordnet werden müßten, weil dieser das Staatswohl tief berühre.
Ohne Zweifel würden alle Anstrengungen der Volksvertreter und der tüchtigsten Fachmänner zur Abwendung dieser großen Gefahr von Wien und Niederösterreich vergeblich gewesen sein, wenn nicht zu Ende des Jahres 1867 das Bürger-Ministerium die Regierungsgeschäfte übernommen hätte und insbesondere Giskra für eine verständigere Donau-Regulirung aufgetreten wäre. Ihm allein verdankt man die Lösung der Frage im volkswirthschaftlichen, nicht im militärischen Interesse, und ihm verdankt es Wien, wenn diese Regulirung es wirklich zu einem Welthandelsplatz erhebt. – Es war daher, nach dem Sprüchwort, daß Undank der Welt Lohn sei, ganz in der Ordnung, daß beim großen Festmahle des Inaugurationstages alle nur möglichen Persönlichkeiten betoastet wurden, aber des seitdem von seinem hohen Posten zurückgetretenen Dr. Karl Giskra kein Anwesender mit einer Silbe gedachte. – Selbst vor dem größten Werke können viele Menschen nicht aufhören, klein zu bleiben.
Uebrigens ist die Arbeit, unter den durch Giskra ernannten Commissionsmitgliedern, Ministerial- und Bauräthen v. Wehli, Waniek, Wex u. A., bereits im besten Gange. Beim Inaugurationsfest im Prater, in der Nähe der Militär-Schwimmschule, konnte der Kaiser von einem Gloriett aus den ganzen durch Fahnen und Flaggen markirten Lauf des Durchstichs von Nußdorf bis Fischamend überschauen und die Thätigkeit der Doppelmaschine des „Excavateur“ beobachten, einer Baggermaschine, die sich gleichzeitig vorwärts bewegt, mit riesigen Schaufeln Erde aushebt und die Lowries eines danebenstehenden Eisenbahnzuges füllt, und zwar je eine Lowry von fünf Kubikmeter oder fünfsiebentel Kubikklafter in einer Minute. Vier Locomotiven sind fortwährend beschäftigt, das ausgehobene Material wegzuführen, und können kaum der Thätigkeit des Excavateur nachkommen. Mit solch einer Kraftmaschine, die schon beim Suez-Canal sich bewährt hat, ist dem Unternehmen zugleich ein bedeutendes Maß von Vertrauen mitgegeben, und Jedermann weiß, wie viel gerade dieses bei den Unternehmungen unserer Tage werth ist.
(Schluß.)
Die Bemannung des nunmehr in Wirksamkeit tretenden Taucherboots besteht aus acht Köpfen: zwei Taucher, zwei abwechselnd luftpumpende Arbeiterpaare, ein Mann, der die unter der Achsel der Taucher befestigten Rettungsleinen lose vor sich in der Hand hält, auf den leisesten Ruck daran achtend, und der Aufseher, welcher den gefundenen Bernstein aus der Gürteltasche des Auftauchenden in Empfang nimmt. Die Luftpumpe, welche hier die Erfindung des gelehrten Magdeburger Bürgermeisters wesentlich verbessert zeigt, besteht in zwei sauber gearbeiteten Messingcylindern (Stiefel genannt, ungefähr auch in der Größe solcher), in denen, um es kurz zu bezeichnen, ein am Boden angebrachtes Drehventil verhindert, daß der auf- und niedergehende Kolben nicht zugleich als Luftsauger wirke. Unverwandten Auges blicken die Arbeiter, während sie die Luftpumpe gleich einer Feuerspritze handhaben, auf das kleine Zifferblatt, welches wir in der Mitte des Taucherbootes über seinem Bordrand angebracht sehen. Es ist dies der Manometer (Luftdruckmesser), der vom Atmosphärendruck der durch ihn hindurch in den Gummischlauch tretenden Luftsäule Rechenschaft giebt. Ein Zuviel kann hier bekanntlich ebenso verderblich werden, als ein Zuwenig. Bei solcher Vorsicht wird es erklärlich, daß bei einem Taucherpersonal von etwa sechszig Mann und bei circa fünf Stunden unterseeischer Arbeitszeit bis jetzt nur zwei Unglücksfälle beim Tauchen in Brüsterort vorgekommen sein sollen. Freilich ist dabei die wahrhaft eiserne Natur dieser Leute wohl zunächst in Rechnung zu ziehen. Sie recrutiren zum Theil aus dem jungen Nachwuchs der umwohnenden, meervertrauten Fischerrace, ihr Hauptcontingent aber bilden jene die Küsten des kurischen Haffs umwohnenden Szamaiten, welche wir schon in Schwarzort sahen: Diese Enakssöhne, welche alljährlich manch’ baumstarken Mann zum ostpreußischen Panzer-Reiterregiment stellen, haben sich nicht nur „waterproof“, sondern oft auch als feuerfest bewährt. Die verwegensten Pascher – namentlich zu Schlitten – auf der „trocknen Grenze“ des versperrten Nachbarreichs, haben die Meisten von ihnen die Kugeln der Grenzkosaken nächtlicher Weile um ihre Köpfe pfeifen gehört, und manchen Lanzenstich mit Zinsen heimgezahlt. Hier scheinen die Riesen bei gutem Taglohn und Gewinnantheil für größere Funde mit ihrem Loose zufrieden, obgleich das Hinabtauchen in das feuchte Element bei mehreren Graden Winterkälte gewiß nicht zu des Lebens Annehmlichkeiten zählt. Und trotzdem steigen sie oft schweißtriefend aus der eisigen Fluth empor. Denn oft genug muß der Taucher zur Bewältigung der eng zusammenlastenden Steine die Hülfe starker gekrümmter Gabeln, sowie die Unterstützung seines am zweiten Schlauch desselben Boots arbeitenden Cameraden in Anspruch nehmen. Doch finden sich selbst Steinkolosse, die auch der vereinten Pferdekraft jener Athleten spotten.
„Tröstlich muß Ihnen hier wenigstens die Gewißheit sein,“ äußerten wir uns an Herrn St. wendend, „daß Sie von den so scharf controlirten Tauchern doch nicht bestohlen werden können!“
„Wo denken Sie hin!“ entgegnete er achselzuckend; „erst dieser Tage habe ich fast die Hälfte derselben entlassen müssen, weil sie – auf dem Meeresgrunde für sich statt für uns sammelten. Den durch eine Schwimmmarke bezeichneten Raub gingen sie sich bei der Nacht abholen, und nur durch Verrath bin ich dahinter gekommen!“
Als wir später des Inspectors Wohnzimmer betraten, sahen wir uns wie in Aladdin’s Schatzkammer rings von geschichteten Säcken des edlen Sonnensteins umgeben, noch ungeordnet, wie er dem Meeresschooß entrissen. Da lagen sie in buntem Gemenge friedlich bei einander! Der faustgroße hellstrohgelbe, wolkige „Bastardstein“, der, kaum beschliffen, des Seraskiers köstlichen Pfeifenschatz mehren sollte, jene knochenhell geaderten Flachstücke (Fliesen) für den classischen Weiberhals und Busen Albano’s, Frascati’s und der Ewigen Stadt selbst bestimmt, sowie auch die zahllose Menge gelb und rothblanken Corallensteins, deren weingoldigem Gefunkel gleich altem Tokayer und Malaga der dunkle Sammetnacken einer Otaheiti-, Timbuctu- oder Capland-Schönen als Folie dienen sollte.
Die geringeren Sorten zur Räucherung, zur Fabrication der pharmaceutisch verwandten Bernsteinsäure und des brillanten Bernsteinlacks kommen in Brüsterort, dem Fundort der „feinsten Waare“, wenig vor.
Zum Abschied – denn wir hatten noch den zwei Meilen entfernten Gräbereien einen Besuch zugedacht – erstanden wir ein kleines Sortiment des heimathlichen Edelsteins als Andenken, wie auch als Material, um ein paar Sächelchen daraus selbst zu fertigen. Und das giebt mir Gelegenheit, meinen schönen Leserinnen, die heutzutage ihre Laubsägen so fleißig durch die Holzplatten schwirren lassen, einen Vorschlag zu machen. Wie wär’s, wenn Sie denselben Versuch einmal mit dem werthvollen Bernstein machten?! Die Arbeit mit Säge, Feilen und Stecheisen ist durchaus nicht schwer und sehr lohnend; die Politur aber ist mittels Bimstein, Kreide und Wasser und zuletzt den eigenen zarten Daumen bald hergestellt! … Die Sortirung der Funde für den kaufmännischen Vertrieb geschieht in Königsberg in der Weise, daß von den auf langen bleigedeckten Tafeln ausgebreiteten Stücken mittels eines scharfen Spatels, ein kleines Eckstück der schwärzlich undurchsichtigen Kruste abgestoßen wird, um Farbe und Güte des Steins erkennen zu können.
Die Gräberei endlich, die letzte der noch zu nennenden Gewinnungsarten des Bernsteins, wird an verschiedenen Punkten der samländischen Nord- und Westküste betrieben, theils von den Dorfgemeinden auf eignem Grund und Boden, häufiger jedoch, da die Sache viel Anlage-Capital erfordert, für Rechnung Königsberger Firmen, worunter jetzt auch in erster Reihe die vielgenannte unsrer „Bernsteinkönige“ sich findet. Einer dieser „Gruben“, beim Stranddorf Sassan gelegen, galt unser Besuch; wir fanden einen Bergbau primitivster, kunstlosester Art.
[381] Um zur Bernsteinschicht, der gedachten „blauen Erde“ zu gelangen, werden die Uferberge, bald bloßer Sand, bald auch zäher Letten und Lehm, von oft mehreren Hundert Arbeitern, die damit im Frühjahr beginnen, in einer Länge und Breite von fünfzig bis achtzig Fuß und darüber abgetragen, das Abgeräumte sodann den Wellen zur Beute hingeschüttet.
Weil die „blaue Erde“, wie bemerkt, an den Uferrändern meist unter dem Meeresniveau liegt, so müssen die nachdringenden Wasser mittels Schöpfwerken (Pferdegöpel u. A.) oft unter großen Schwierigkeiten beseitigt werden. Ist die Schicht rechtzeitig, d. h. noch vor Eintritt der Winterstürme, welche mitunter die ganze Arbeit zu nichte machen, erreicht, so wird ihre Ausbeutung meist in wenig Wochen in folgender Weise beendet. Zwanzig bis dreißig Mann werden mit kleinen scharfen Spaten versehen auf der Decke der Schicht in einer Front aufgestellt, und stechen diese dann rückwärtsschreitend mit behutsam geführten Spatenstichen bis zu ihrer „Sohle“ aus. Der Bernstein, welcher sich durch Widerstand gegen den leise eingeführten Spaten verräth, wird dabei vorsichtig aus der umhüllenden Thonerde ausgeschält, und von den den Arbeitern vis à vis vorrückenden Aufsehern in Empfang genommen.
Der hohe Werthgehalt und die reiche Ergiebigkeit der oft nur
vier bis fünf Fuß mächtigen Bernsteinader offenbart sich wohl zur
Genüge durch die Thatsache, daß ihre Ausbeutung die dazu erforderliche
Abräumung solch gewaltiger Erdmassen (von zum
Theil über hundert Fuß Mächtigkeit) als lohnend erscheinen läßt.
Ein gediegener Fachmann, der Oberbergrath Runge in Breslau, im Jahre 1867 zur Sondirung der Bernsteinfrage nach Ostpreußen gesandt, hat nun unlängst in seinem sachlich sehr eingehend gehaltenen Exposé das Unwirthschaftliche, wenig Rationelle dieses Gräbereibetriebs zur Sprache gebracht, welcher um zweifelhafter Erfolge willen das ganze so nutzbringende, wie malerische [382] Terrain der Stranduferberge mit Verwüstung bedroht. Zugleich aber hat derselbe – und hier beginnt die Zukunftspoesie unsers Bernsteins – die praktische Ausführbarkeit eines rationell betriebenen Bergbaus beim heutigen Stande der betreffenden Technik als zweifellos, und überdem als, allem Vermuthen nach, höchst lohnend bezeichnet. Welch neue ungeahnte Perspective eröffnet sich da unsrer bisher so bodenarm geglaubten Provinz!
Vielleicht sehen wir schon in nächster Zukunft die hier nie – es sei denn als musikalische Siebenbrüder – geschauten schwarz beschurzten Gäste, die Genossen der Gnomen und Kobolde, der heiligen Anna schutzbefohlene Knappenschaar ihren Einzug halten und die jungfräuliche Samlanderde nach Schätzen durchwühlen, welche wir so lange nur als ein Geschenk der „vielbewegten“ Amphitrite anzusehen gewohnt waren!
E. Marlitt als Ehestifterin. Susanne Sophie, Freifräulein von ***, Erb-, Lehns- und Gerichtsherrin auf *** in dem als Barbarenland verschrieenen und dennoch lieben und fröhlichen Alt-Mecklenburg, erweist mir die schätzenswerthe Ehre, mich ihren Freund zu nennen.
Freifräulein Susanne Sophie, von aller Welt, welche sie kennt, nur „Frölen Kett“, respective „gnädig Frölen Kett“ (Sophie, Fiekettchen, Kettl) genannt, ist eine alte Jungfer mit wenig Bildungswitz zwar, dafür aber von der Natur desto reicher bedacht und begabt mit dem, was man Mutterwitz nennt. Liegt die alte Dame mit der deutschen Grammatik, ohne es freilich zu wissen, auch fortgesetzt in unauskämpfbarem Kampf, so hat sie dagegen das Herz auf dem rechten Fleck und die Zunge ist ihr keineswegs angewachsen. Freifräulein Kett ist eine echt in der Wolle gefärbte Aristokratin alten Schlags, aber die Biederkeit und Gerechtigkeit selbst; ein wenig derb allerdings und manchmal eigenwillig, aber dennoch voll Hochsinnigkeit und feinen Gefühls, wo es darauf ankommt, hülfbereit überall da, wo es Noth thut, und dann resolut zugreifend und nachhaltig Hülfe schaffend. Schon von ihrem vierzehnten Jahre an hatte sie, als fast unumschränkte Herrin und nahezu Alles leitende Gebieterin dem Gute, das jetzt ihr alleiniges Eigenthum ist, vorstehen müssen und daneben noch bei einer jüngeren Schwester, deren Geburt der Mutter das Leben gekostet hatte, Mutterstelle vertreten. Brüder besaß sie nicht, und ihr Vater war ein stets kränkelnder, menschenhassender Hypochonder, der kaum das Zimmer, niemals das Haus seit Jahren schon verließ.
Das Gut *** war zufällig ein Kunkellehen und darum konnte es Kett erben, aus welchem Grunde sie denn auch stets gegen einen Verkauf desselben entschieden und erfolgreich protestirte, so oft auch der Vater solchen anstrebte. Noch bei Lebzeiten des Vaters verheirathete sich die jüngere Schwester, wider Kett’s Willen, an einen bürgerlichen Justizrath, und ein Jahr nach Kett’s Volljährigkeit starb der Vater. Bewerber um die Hand der von der Natur auch äußerlich wohlbedachten Kett, der Besitzerin eines stattlichen Rittergutes, fanden sich genug, allein keiner derselben fand Gehör. Die Justizräthin war inzwischen Mutter eines Sohnes geworden, der einziges Kind blieb, und auf diesen Neffen übertrug Kett, die übrigens für eine ebenso prächtige wie originelle altjüngferliche Tante voraus bestimmt zu sein scheint, nunmehr alle Liebe, deren ihr reiches Herz fähig und bedürftig war. Dieser Sohn der Justizräthin, welche selbst bereits wieder eine fast vermögenslose Wittwe geworden ist, steht zur Zeit als Lieutenant bei den Uhlanen in *** und ist ein schöner und stattlicher Mann von vortrefflichen Gaben und vorzüglicher Bildung, ein tüchtiger Officier und dabei durchaus frei von jedem Vorurtheil seines Standes. Arthur – so mag der junge, jetzt fünfundzwanzig Jahre zählende Mann genannt sein – war von je der Tante Liebling und Erbe; sie sorgte darum auch seit seiner Geburt für ihn wie eine zweite Mutter, und hatte es schon vor vielen Jahren festgesetzt, daß er bis zu seinem siebenundzwanzigsten Jahre in der Armee dienen, dann sich, natürlich nach ihrem Geschmack und Willen und mit einer Donna vom reinsten blauen Blute, verheirathen und schließlich das Gut erhalten solle.
So war der Stand der Dinge in Kett’s Familie, als ich im Herbst des vorigen Jahres auf *** bei meiner alten Freundin Kett zu Besuch war, wo auch gerade der Neffe einen achttägigen Urlaub verlebte.
Während dieses Besuches vertraute mir der Letztere in einer stillen Stunde an, daß er sterblich verliebt sei, ein Zustand, der bei einem jungen Officier mir so alltäglich und natürlich erschien, daß ich anfangs nur mit geringem Interesse seinen Bekenntnissen horchte. Als er mich aber tiefer in sein Herz blicken ließ, steigerte sich unwillkürlich meine Theilnahme, und insbesondere bei der Schilderung, die er mir von Gretchen, dem Mädchen seiner Liebe, entwarf, war es mir, als hörte ich eine mir längst und sehr wohl bekannte Persönlichkeit schildern, obgleich ich das Mädchen niemals gesehen hatte, ja deren Familie kaum dem Namen nach kannte. Aber jede kleinste Linie des äußern und innern Bildes seiner Geliebten, das mir Arthur in Worten hinzeichnete, war mir genau bekannt, ja ich hätte sogar hier und da einige von ihm vergessene Lichter selbst noch aufzusetzen, das Portrait mit einzelnen wesentlichen Strichen noch zu vervollständigen vermocht.
„Und Sie werden wieder geliebt?“ fragte ich, als Arthur zu Ende war.
„Gretchen theilt meine Liebe mit gleicher Stärke.“
Ich schüttelte bedauernd den Kopf.
Der junge Officier verstand mich und seufzte.
Gretchen, ein so hochherziges, edelsinniges und feingebildetes Mädchen, wie sie nach des Geliebten Schilderung sein mußte, blieb trotzdem nur ihres Vaters Tochter, der nichts war als ein simpler, wenn auch äußerlich recht wohl situirter Mühlenbesitzer.
Arthur, immerhin glücklich, in mir einen Vertrauten und Helfer seiner Liebe gefunden zu haben, reiste, da sein Urlaub zu Ende war, ab, während ich noch blieb. Als später auch ich mich zur Abreise anschickte, sagte Kett zu mir:
„Hören Sie mal, liebster S., nu kommen bald wieder die langen Winterabende, schicken Sie mich doch mal wieder was Hübsches zu lesen mit raus.“
„Mit Vergnügen, Gnädige. Aber was denn so ungefähr?“
„Na, hören Sie, das müssen Sie doch besser wissen als ich!“
„Ja, ganz recht. Was meinen Sie zu einigen Bänden Gartenlaube?“
„Gartenlaube? Hören Sie ’mal, S., wie mich Frau von Pyrol gesagt hat, soll das ’n verdammt demokratisches Blatt sein, aber es schad’t nichts, schicken Sie ’s man. Was sind denn da eigentlich für Geschichten drin?“
Ich hörte kaum, was Kett sprach, denn sowie ich nur das Wort „Gartenlaube“ ausgesprochen hatte, war der nebelhafte Schatten, der nach Arthur’s Schilderung seiner Geliebten fortgesetzt vor meiner Seele geschwebt hatte, plötzlich lebendig geworden, hatte Gestalt und feste Formen angenommen, denn die Geliebte des Lieutenants war ja, zwar nicht das Urbild, aber doch das leibhaftige Ebenbild der – – –
„Na, sagen Sie mich blos, an was Sie so tief denken, daß Sie mich gar nich ’mal antworten?!“ unterbrach Kett laut lachend meine abschweifenden Gedankengänge.
„Wunderbar! Wahrhaftig wunderbar! Aber das ist eine glückliche Entdeckung, auf die sich eine Idee bauen ließe! Geht es so nicht, geht es niemals!“ murmelte ich halblaut, und antwortete dann der alten, noch immer mit verwunderter Miene mich anblickenden Dame:
„Verzeihung, Gnädige! Ich meine, das mit der demokratischen Tendenz der Gartenlaube geht so an.“
Kett schüttelte bedenklich den Kopf, murmelte etwas, was ich nicht verstand, und tippte sich, verständlich mir mit den Augen zuwinkend, mit dem Finger gegen die Stirn, was mich wider meine Gewohnheit so verwirrt machte, daß ich der alten Freundin nur hastig die Hand küßte und dann eilends in den Sattel meines schon harrenden Pferdes stieg.
Nächsten Tages sandte ich schon die beregten Bände Gartenlaube, welche unter Anderm auch E. Marlitt’s „Goldelse“ und „das Geheimniß der alten Mamsell“ enthielten, hinaus nach ***.
Bald nach Weihnachten war ich wiederum Kett’s Gast, um sie, wie ich übrigens fast mit Bestimmtheit vorhergesehen hatte, als eine begeisterte Verehrerin der Erzählungen Marlitt’s zu finden, insbesondere der „Goldelse“, was um so natürlicher erschien, als einem Charakter, wie dem Kett’s, ein so entschlossenes und selbstbewußtes, in sprödem Trotz, wie in liebender Hingebung gleich consequentes Mädchenbild voll Kraft, Leben, Seelen- und Willensstärke, wie das der Goldelse, gar nicht anders als sympathisch sein konnte. Ich nährte diese Begeisterung auf alle Weise, denn mein Plan, dem Lieutenant zu seiner Geliebten mit der Tante Segen zu verhelfen, war, in seinen ersten Umrissen wenigstens, bereits entworfen.
„Die Tante muß auf irgend eine Weise mit Ihrem Mädchen zusammengeführt werden,“ schrieb ich sofort dem Lieutenant. „Suchen Sie das zu veranstalten, lieber heute als morgen, der Zeitpunkt ist günstig. Giebt die Tante jetzt nicht ihre Einwilligung, erringen Sie dieselbe nie.“
Arthur schrieb mir voller Jubel zurück.
Auf einem Ball in ***, seiner Garnisonsstadt, sollte die Begegnung inscenirt werden, die Geliebte, nebst ihrer und Arthur’s Mutter, welche letztere in dem Landstädtchen ihren Wohnsitz hatte, und ihres Sohnes Liebe kannte und billigte, waren von meinem Plan unterrichtet, die beiden Mütter liehen ihm alle Unterstützung, auch Gretchen’s Mädchenstolz mußte sich fügen, und so galt es zuletzt denn nur noch Kett zur Reise nach *** zu überreden, welche Aufgabe die Justizräthin und ich glücklich zu Stande brachten.
Kett, die Justizräthin und ich waren schon im Ballsaal, als – es war so unter den Verschworenen verabredet – Gretchen mit ihrer Mutter eintrat, an der Thür auf’s Ehrerbietigste von den Herren des Ballcomité’s empfangen und zu einem Sitz geleitet.
Ich stand hinter Kett’s Stuhl, die Justizräthin saß neben der Schwester.
„Welche eigenartig prächtige Erscheinung, das Mädchen dort, Gnädige“! sagte ich zu Kett, als Gretchen an uns vorüberschwebte.
Die alte Dame wandte ihm ihre Blicke zu, doch kaum hatte sie das Mädchen erschaut, als sie laut und in ihrer derben Manier ausrief: „Donnerwetter! S., das is ja die reine Goldelse!“
Und wahrhaftig! das Mädchen war, in seiner äußern Erscheinung und Wesenheit mindestens, Zug für Zug das leibhaftige Ebenbild der „Goldelse!“
Arthur tanzte mit Gretchen. Die Tante folgte dem Paar mit seltsam sinnendem Blick. In einer Pause stand die Justizräthin auf und kam bald darauf mit Gretchen und deren Mutter zurück.
„Erlaube, liebe Schwester, Dir eine Pensionsfreundin, Frau Mühlenbesitzerin *** und deren Tochter Gretchen vorzustellen.“
Kett verneigte sich freundlich zwar, doch stumm, verließ aber mit keinem Blick das Mädchen, sie fixirte es, während die Justizräthin auch mich den beiden Damen präsentirte, so scharf und unausgesetzt, als wollte sie ihm bis in seiner Seele innerstes Mark schauen. Gretchen erröthete freilich bis unter die goldenen Flechten, aber mit freiestem, edelstem Anstand und mit einem köstlichen, seelenvollen Lächeln gab sie den Blick zurück.
[383] Die Tante blieb die ganze Ballnacht über sinnend und schweigsam, nur wenn Arthur mit Gretchen tanzte, was er natürlich so oft that, als es die Etikette erlaubte, und wenn das Paar an uns vorüberschwebte, leuchteten ihre Augen, und ein sonnenhelles Lächeln flog über der alten Jungfer faltiges Gesicht. Als wir gegen Mitternacht den Ball verließen, schritt Kett mitten durch den Saal auf Gretchen und deren Mutter zu, reichte Beiden die Hand und sagte zu ersterer mit schelmischem Lächeln: „Auf baldiges Wiedersehen! – Jungfrau – Goldelse!“
Wie’s nun weiter kam? Nun, die Leserin kann’s sich wohl denken. Arthur und Gretchen sind ein glückliches Brautpaar und im Oktober werden sie Mann und Weib werden. Kett aber, die alte Jungfer, ist noch einmal wieder jung geworden im Glück jener Glücklichen, denn jedes rein menschlichem Empfinden entsprießende und entsprossene Glück verjüngt auch den, der nur mittelbar daran Antheil hat.
Was nun mich betrifft, so bin auch ich Gretchen-Goldelse’s Freund geworden, werde auch auf ihrer Hochzeit tanzen, wohl aber werde ich mich hüten, nachdem die Gartenlaube diese kleine wahrhaftige Geschichte wird abgedruckt haben, meiner alten Freundin Kett sobald wieder vor die Augen zu treten, denn Frau von Pyrol, ihre Nachbarin, welche die Gartenlaube ständig liest, wird sich, sobald sie diese Geschichte findet, beeilen, der guten alten Jungfer mitzutheilen: „daß ich ihr habe drucken lassen!“ und auf den Strafsermon, der danach meiner harrt, bin ich gerade nicht sehr begierig. Freilich, allzuschlimm wird er in keinem Falle werden, denn Kett besitzt neben ihren vielen anderen Tugenden auch die ausgezeichnete und rühmenswerthe: Spaß zu verstehen.Auskunftsmappe der Gartenlaube. Auf unsere öffentlichen Anfragen bezüglich der „vermißten Landsleute jenseits des Oceans“ sind uns folgende Nachrichten zugegangen:
1. Emil Steger (Nr. 11 unserer Liste der Vermißten). Ueber ihn giebt uns die Wittwe Frau Marie Schäfer in Sorau folgende – leider traurige Nachricht, die einem Briefe ihres ältesten, 1863 ausgewanderten Sohnes entnommen ist. Er schrieb während des Bürgerkrieges aus dem Feldlager zwischen Alexandria und Colpepper am 5. October 1863: „In der Gegend von Görlitz soll ein Prediger Namens Steger sein, dessen Sohn war hier bei unserem Regiment, wurde in einem kleinen Treffen verwundet, wo wir die Verwundeten in einen nahegelegenen Wald trugen. Der Feind beschoß nachher den Wald und der junge Mann hat dort, nebst vielen Anderen, seinen Tod gefunden. Ist es Dir möglich, die Familie zu erfragen, so theile dies ihr mit.“ Nähere Auskunft würde durch den norddeutschen Consul in New-York oder die Gesandtschaft in Washington – durch Anfrage im Kriegsdepartement – um so leichter zu ermitteln sein, als man sein Regiment genau kennt: es war das 52. New-Yorker Volontair-Regiment, 2. Armeecorps, Washington, District Columbia, Compagnie B.
2. Albert Schröder (Nr. 1 unserer Liste). Frau Sophie Sommerschu in Corydon, Wayne County, Iowa, schreibt uns: „Ueber Herrn Albert Schröder aus Mühlberg an der Elbe, der das letzte Mal 1856 von Indianopolis aus schrieb, kann der unglücklichen Mutter vielleicht ‚Herr Adam Kistner, Eigenthümer des California Haus, Nr. 136 Illinois-Straße, Südwest-Seite (nahe dem Union Depot) in Indianopolis, Indiana, U. St. of America‘ irgendwelche Auskunft ertheilen. Indianopolis war 1856 noch ein sehr kleiner Ort, in welchem sämmtliche Bewohner recht gut einander kennen konnten, und Herr Kistner hat schon zwanzig Jahre dort seinen Wohnsitz.“
3. Karl Schmidtgen (Nr. 2 der Liste). Ueber ihn sind drei Briefe eingegangen. Die ohne Zweifel interessanteste Mittheilung auch für unsere übrigen Leser ist ein Brief des ehemaligen Commandanten des s. Z. vielberufenen Caperschiffes Alabama. Durch Herrn John Ruhm, Notary public und Attorney at Law in Nashville, Tenn., dazu veranlaßt, schreibt er:
Herrn John Ruhm in Nashville, Tenn.
Werther Herr! Ich habe Ihren Brief vom 28. v. M., worin Sie Auskunft über einen gewissen John Schmidtgen verlangen, erhalten. Wie Sie schreiben, diente der Genannte früher einmal auf dem Schiff ‚Emily Farnum‘. Die Auskunft, welche ich Ihnen geben kann, ist sehr spärlich. Ich erinnere mich, daß ich im October 1862, als ich die Alabama commandirte, ein Schiff jenes Namens gefangen nahm. Da genanntes Schiff ein neutrales Cargo am Bord hatte, gab ich dasselbe frei, ohne einen einzigen der Mannschaft mit mir zu nehmen. Der Capitain des Schiffes hieß Sims (nicht Semmes), war mir durchaus unbekannt und in keiner Weise verwandt. Seit jener Zeit habe ich weder von ihm noch von seinem Schiffe etwas gehört. Mit großem Bedauern darüber, daß ich den trauernden Verwandten, die die Nachfrage veranlaßten, nicht von größerem Nutzen sein kann, verbleibe ich achtungsvoll
So schreibt Herr Semmes, einst der Schrecken des Atlantischen Oceans für den nordamerikanischen Kauffahrer, jetzt Rechtsanwalt in Mobile. – Dieser Brief erledigt von selbst den zweiten, in welchem Herr C. Inst zu Kandel in der Rheinpfalz die Adresse von Semmes Bruder in New-Orleans angiebt. Desto wichtiger ist der dritte, von Herrn Rud. Lichtenberg in Bremen, welcher den Capitain Simes noch im December des vorigen Jahres in Rangoon sah und bereit ist, selbst in dieser Sache an ihn zu schreiben. Uebrigens glaubt er, daß der amerikanische Consul in Rangoon, Herr John Holliday, eher im Stande sein werde, Auskunft über den Vermißten zu geben. Auch könnte an den deutschen Consul Herrn H. H. Krüger in Rangoon geschrieben werden, damit dieser vom amerikanischen Consulate Erkundigungen einziehe.
4. Hermann Köllner (Nr. 7 der Liste). Herr Karl Raab, Kaufmann in Dietz (Nassau) schreibt, daß er Anfang 1867 in Mexico einen Köllner kennen gelernt habe, der bei der französischen Fremdenlegion diente und beim Rückzug der französischen Truppen in Mexico zurückgeblieben sei. Er soll noch bis Ende Juli des genannten Jahres in Mexico gewesen und dann mit zehn bis zwölf anderen Deutschen über den Hafen San Blas nach Californien gegangen sein.
5. Fritz August Coblenz (Nr. 8 der Liste). Zwei Anerbietungen: Herr Jos. Brüssel in Leipzig (Brühl 11, erste Etage) hat einen Bruder in Batavia, der schon seit mehreren Jahren dort lebt und sich in höheren Kreisen bewegt; durch ihn hofft er Nachricht über den Vermißten zu erlangen. – Herr Henry Cox, Stud. aus der Polytechn. Schule zu Delft in Holland, schreibt, daß man sich in dieser Angelegenheit an den „Minister der Colonien“ zu wenden habe, welcher zu möglichster Auskunft in dieser Beziehung verpflichtet sei. Das Schreiben könne in deutscher oder französischer Sprache abgefaßt sein. Wenn aber dieser Jedem offene Weg erfolglos bleibe, dann sei er erbötig, selbst Schritte für die Auffindung des Vermißten oder der Nachricht über ihn zu thun. – Mitte Mai erhielten wir einen dritten Brief von Herrn Joh. Boes Lutzent in Amsterdam, demzufolge Koblenz (wie er ihn ausdrücklich, statt Coblenz, schreibt) am 7. Januar 1856 mit dem holländ. Schiffe „Amphitrite“ als Soldat nach Java abreiste und am 10. Januar 1862 auf der Heimreise in Brouwershaven am Bord des holl. Schiffs „Kosmopolit“ gestorben ist.
6. Julius Herrmann (Nr. 10 der Liste). Herr Gasmesser-Controleur Herrn. Kollenk in Leipzig giebt den Rath, eine Anfrage an „Hrn. Gottlob Große, 9. Ward, Teutonienstraße in Milwaukee, St. Wisconsin“ zu richten – und eine mündliche Nachricht sagt, daß Herr Pfeifer, der Compagnon Herrmann’s in Milwaukee, noch lebe und daß ein Brief an ihn am sichersten durch Herrn Theodor Pfeifer in Leipzig, Brühl Nr. 77, besorgt werde.
12) Karl G. Hantusch, der sich in Amerika Charles G. Huntosh schrieb, aus Schlunkwitz bei Bautzen, wanderte vor vierzehn Jahren als Stellmacher aus. Er heirathete 1860 eine Amerikanerin, als deren Adresse er angab: „M. Lydia M. Huntosh, Anoka, Minnesota“, war von 1864 bis 1866 Soldat in dem Cavallerie-Bataillon Hatche, erwarb 1867 ein Landgut bei Unoka und schrieb zuletzt am 15. October 1868 aus Popel Holler, Staat Minnesota, an seine Mutter, daß er in Geldverlegenheit sei. Ein Wechsel der Mutter auf die „First Nationalbank St. Paul in Minnesota“ an ihren Sohn kam jedoch ohne alle weitere Bemerkungen, als den „Not known“-Stempel auf der Adresse, zurück, eine zweite Sendung hatte denselben Erfolg – und so weiß die kummervolle Mutter noch heute nicht, was aus ihrem Sohn, dessen Gattin und beiden Kindern geworden ist.
13) Hugo Freyer, ein Müllergeselle, und dessen Schwester Hedwig mit ihrem Manne, dem Gärtner Dietrich, sämmtlich aus Mohorn bei Tharand, wanderten 1856 zu ihrem Bruder Franz Freyer nach Florida aus, wo dieser in Micanopy eine Farm besaß. Später ging Hugo Freyer nach Baltimore, und im März 1861 schrieb er seinem Bruder von St. Louis (Missouri) aus, daß er unter die Fahnen der Freiheitskämpfer getreten sei. Die Dietrich’schen Eheleute waren 1862 nach Baltimore und von da weiter in’s Innere gezogen. Seitdem sind alle Nachforschungen nach den Vermißten durch die deutschen Consuln in Nordamerika, sowie durch das Kriegsdepartement in Washington vergeblich gewesen; – und doch kann nur Gewißheit über Leben oder Tod derselben ihren sehr armen Verwandten zu einer im Bezirksgericht Dresden liegenden Erbschaft verhelfen.
14) August Hummel aus München, 1850 geboren, ging 1864 zur See, war zu Anfang des Jahres 1868 einige Zeit in Philadelphia, von wo die letzten Nachrichten an die Seinigen gelangten. Später ging er an Bord des V.-St.-Depotschiffes „Potomac“, Kapitän De Camp, diente im Sommer desselben Jahres einige Zeit in der „Pushmataha“ und soll von da nach einer Muthmaßung sich auf ein Handelsschiff, nach einer andern in die Goldminen Californiens oder Australiens begeben haben. Auf dem „Potomac“ hatte er sich als „James Warner“ eintragen lassen, früher aber den Namen „Barcham“ geführt. „Wer ihn gekannt,“ schreibt sein Vater, „erinnert sich gewiß noch des fröhlichen jungen Deutschen mit den hellblauen Augen und braunen Haaren und der über sein Alter kräftigen Gestalt.“ – Die bekümmerten Eltern würden einen Brief von ihrem Sohne gern mit Gold aufwiegen, wenn es sein muß.
15) Zwei Brüder Kallenberg, Albert und Eduard, aus Langensalza, beide gelernte Kaufleute. Der ältere Bruder wanderte 1862 nach Amerika und schrieb in seinem zweiten und letzten Briefe, daß er Soldat geworden sei. Der jüngere Bruder reiste im Frühjahr 1863 erst nach Liverpool, von wo er mehrmals schrieb, und von da ebenfalls nach Amerika, wie der Vater leider erst nach Jahr und Tag vom Liverpooler Principal desselben erfuhr. Seit fünfzehn Jahren verwittwet steht der vierundsechzigjährige Mann allein da, gepeinigt von der entsetzlichen Ungewißheit über das Schicksal seiner Söhne.
16) Wilhelm Hensel, Schiffsmann aus Heinsen a. d. Weser im Hannöverschen, seit Jahren von der Heimath abwesend, wird dringend gesucht von dem Schiffer Moritz Rathmann in Heinsen.
17) Louis Kleine von Laer bei Münster in Westphalen, wanderte im Frühjahr 1861 nach Amerika aus, wurde als Wundarzt in Blenker’s Regiment in der Schlacht bei Bull-Run verwundet, lag vierzehn Monate lang gefangen in Richmond, war dann nach Brooklyn bei New-York gegangen und dort, nach seinem letzten Briefe vom 3. Februar 1865, wegen Verwundung an der linken Hand um Entlassung und Pension eingekommen. Von da wollte er nach Kentucky gehen und dort als Arzt prakticiren. Er ist der jüngste Sohn seiner Familie, an dem die kränkliche Mutter mit ganzem Herzen hängt. Ein älterer Bruder desselben schreibt uns dies aus Amsterdam.
[384] Das jüngste Wunder. Kurz nach Ostern fiel in Rom ein Ereigniß vor, das nur wenige Zeugen mit angesehen und dessen Kunde nur schüchtern durch alle Gassen lief. Auf die Zustände der Ewigen Stadt indessen und auf die subjective Anschauung des Papstes wirft es ein so bedeutendes Streiflicht, daß es in Deutschland bekannt zu werden verdient.
Unser Fall führt uns nach Monte Mario, in die Nähe der Villa Melini. Von der Straße, die in langen Windungen bergan führt, schaut man weit hinab auf die hellen Häusermassen, auf die Campagna mit ihren schweifenden Linien und das leuchtende Albanergebirg. Ueber dem Allen liegt der italische Himmel mit seinem unerbittlichen Blau, das Aug’ und Seele fast übersättigt. Kein dunkler Ton beherrscht die classische Landschaft, wenn es nicht die Pinien sind, die den Garten der Villa melancholisch umschließen.
Der Monte Mario ist einer der schönsten Wege vor den Thoren der Stadt; dennoch begegnet man nur selten erlesenen Gästen dort. Höchstens am späten Nachmittag, wenn die ganze Straße bereits im Schatten liegt, kommt dann und wann eine rothe Carosse gefahren mit drei Bedienten und einem gepuderten Kutscher. Der Wagen hält und ein purpurner Cardinal mit seinem Begleiter steigt aus demselben und wandelt gemessenen Schrittes die Höhe hinan, denn in Rom selber trifft man keinen Cardinal zu Fuße.
So war es denn auch an jenem Nachmittag, von dem wir erzählen, aber der Wagen enthielt noch mehr als einen rothen Cardinal. Um die Züge des alten Mannes, der mühsam herunterstieg, spielte ein stumpfes Lächeln, an dem Finger funkelte ein Demantring und die wenigen Menschen, die über die Straße gingen, blieben verwundert und verneigend stehen. Ecco il Papa, hörte man flüstern – es war der Papst.
Durch die aufreibenden Eindrücke, die die Berufung des Concils zur Folge hatte, ist Pius der Neunte ganz außerordentlich gealtert. Die Würde des Souverains in seinem Wesen ist gewichen und hat ihm nur mehr den Ausdruck jener Starrheit zurückgelassen, in welche alle autokratischen Naturen zurückfallen, sobald ihnen das Schwungvolle der Idee und das Elastische der Jugend abhanden kommt. Mühsam gestützt auf seinen Begleiter ging der Papst die Straße hinan, ein Bild der menschlichen Schwäche und Gebrechlichkeit. Allein sein Antlitz stand zu dieser in schneidendem Gegensatz, denn ein Selbstbewußtsein, eine Manie der Vergötterung lag auf demselben, die neben dieser Erscheinung fast etwas Wahnwitziges hatte. Wege und Stege sind in Rom von Bettlern belagert; Blinde, die durch die Miasmen der Malaria das Augenlicht verloren, Fieberkranke, Krüppel aller Art flehen um eine milde Gabe.
Neben den vielen anderen saß auch einer, dessen Füße gelähmt waren, der bedauernswerther als die übrigen aussah. Als dieser den Papst gewahrte, da zuckte ein Hauch der Freude über das welke häßliche Gesicht, er hob die Hände empor, und all’ seine Züge sprachen: Herr, erbarme Dich meiner. Pius ging auf ihn zu; es mochte ein Gefühl rein menschlicher Theilnahme sein, das seine Schritte beflügelte: aber bald gewann das Göttliche, d. h. die Vergötterung, über das Menschliche die Oberhand. Bei dem ausgesprochenen Hang, den der Papst für die Wunder hat, und bei der unerschütterlichen Ueberzeugung, daß er selbst das wunderbare Werkzeug Gottes sei, läßt sich der Schritt, der nun geschah, gar wohl begreifen. Leidenschaftlich bewegt erhob er die Hand und sprach zu dem Kranken: „Steh’ auf, nimm Dein Bett und geh’.“ Man kann sich den furchtbaren Eindruck, den dies Wort des Unfehlbaren auf den armen kranken Bettler machte, kaum vorstellen – er war wie vom Blitz getroffen, wie elektrisirt. Mit funkelnden Augen sprang er auf und machte einige Schritte – auch die Züge des Papstes blitzten aber wenige Secunden und der „geheilte“ Kranke brach wieder zusammen. Wie ein Krieger, der mit verzweifelter Kraft gegen eine unüberwindliche Veste stürmt, rief der Papst zum zweiten Male: „Steh’ auf und geh’;“ doch als Jener sich wieder erhob, um wieder zusammenzubrechen, da zitterten die Hände des Pontifex maximus, seine Stimme war heiser, und stammelnd sprach er zum letzten Male den Befehl. Eine Qual, wie sie in den Augen eines verendenden Thieres liegt, arbeitete auf dem Gesicht des halbwilden, schmutzigen Lazarus; denn der Schmerz und die Täuschung tritt im ungebildeten Menschen doppelt grausam auf. Ueber das Antlitz des Papstes aber flog ein Schrecken, der ehrlich gemeint war; er wurde weiß wie das Blatt, auf dem diese Zeilen stehen. Halbohnmächtig hob man ihn in den Wagen, der Begleiter winkte und im Sturmschritt rollte er von dannen. Auf der Straße lag der Bettler und stöhnte: „Madonna, Madonna!“
Ein stärkeres Streiflicht, als dieser merkwürdige Fall auf den Charakter Pius des Neunten wirft, läßt sich kaum denken. Sein Allmachtsstreben, seine Unfehlbarkeitsmanie ist nicht Politik, sondern Glaube, und erst die Andern machen seinen Glauben zu ihrer Politik. Gerade der Umstand, daß Pius ein untaugliches Exemplar für seine Wunderthätigkeit sich aussuchte, zeigt am meisten, wie fest er daran glaubte, gerade seine Niederlage gereicht seinem Charakter zum Ruhme. Die Jesuiten waren natürlich wüthend: hätten sie geahnt, daß der Papst auf diesem Spaziergange einen derartigen Anfall von Unfehlbarkeit erleiden würde – dann wäre das Wunder ohne Zweifel glücklicher verlaufen. Denn man braucht sich nur obenhin zu erinnern, daß es in Rom viele hundert Lahme giebt, die gern Galopp laufen, wenn das Laufen besser bezahlt wird, als die Lahmheit. Ein prächtiges Sensationsstück ist damit der infalliblen Partei entgangen! In allen Blättern, vor aller Welt hätte man das neue Wunder verkünden können und Monte Mario wäre ein heiliger Berg geworden.
Daß unter den bestehenden Umständen das Geheimniß ängstlich gehütet ward, läßt sich erklären; dennoch drang es schnell in die öffentliche Meinung. Freilich wagte Niemand, laut davon zu berichten, aber flüsternd ging es von Mund zu Munde, und wer es Abends auf den Straßen erzählte, der blickte vorsichtig über die Achsel. Denn es giebt in Rom nicht nur lange, sondern auch spitze Ohren.
Ml. in Dr. Ihre zahlreiche Gesellschaft ist ja gerade einer der zahlreichen Beweise, daß es mit der „Verplattung und Austrocknung des Lebens“ so schlimm nicht bestellt ist. Um sich zu überzeugen, daß der viel beklagte „materialistische Zug“ unseres Zeitalters vor Allem die Poesie nicht aus dem Leben und dem Interessenkreise der Menschen verdrängen konnte, brauchen Sie nur einen flüchtigen Blick auf den jährlichen Verlauf des Büchermarkts zu werfen. Aus unzähligen Herzen blühen nicht blos fort und fort Gedichte und dichterische Gestaltungen hervor, sondern was auf diesem idealen Gebiete mit ernster Hingebung irgend Gutes und Eindrucksvolles geschaffen ist, das findet auch weit und breit ein empfänglich hingehendes und andächtiges Publicum. Und nicht blos die Freude an der poetischen Schöpfung ist den Zeitgenossen geblieben, Anfragen, wie die Ihrige, welche fast täglich an uns gelangen, zeigen uns deutlich: es hat sich in den letzten Jahrzehnten die Unterscheidungskraft geschärft, das Urtheil vertieft und der Geschmack veredelt, es ist gerade in unseren vom lärmenden Gewühl realistischen Strebens durchbrausten Tagen der Drang nach Einblick in Geschichte, Gesetz und Wesen der Dichtung über die specifisch wissenschaftlichen und künstlerischen Schichten hinausgewachsen.
Den mannigfachen schriftstellerischen Producten, welche diesen Drang geweckt und gefördert haben, ist stets in den „Deutschen Blättern“, unserer literarisch-politischen Feuilleton-Beilage, eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet worden. Sollen wir Ihnen ein Werk empfehlen, das den Zwecken Ihres Vereins entspricht, so glauben wir kein geeigneteres nennen zu können, als Rudolf Gottschall’s „Poetik“. Dieses zweibändige Buch ist kürzlich (bei Trewendt in Breslau) schon in einer zweiten Auflage erschienen, bis jetzt aber sicher nur der kleineren Zahl jener Bildungsbedürftigen bekannt, denen es wahrhaft nützen und ein Quell erhebender Belehrung werden könnte. Was Gottschall in seiner „Poetik“ geben, welchem speciellen Bedürfnisse der Zeit er damit entgegenkommen wollte, darüber hat er selber in der Vorrede und Einleitung so klar und ausführlich gesprochen, daß wir uns wohl auf die allgemeine Hinweisung beschränken können: das Buch soll die Dichtkunst und ihre Technik vom Standpunkte der Neuzeit aus beleuchten. Diese letztere Aufgabe ist bestimmend für Inhalt und Form der ganzen Arbeit geworden, die wir nach beiden Seiten hin für eine der gediegensten und glänzendsten des vielseitigen Autors halten.
Gottschall’s „Poetik“ ist ein systematisch-wissenschaftliches Lehrbuch und trägt doch in Ton und Haltung den elegant und fein sich zuspitzenden, dem Geschmacke und den Gewohnheiten heutiger Leser zusagenden Charakter einer publicistischen Leistung. Während das Werk sich frei erhält von der vornehmen Trockenheit und Abstraction, welche derartige Bücher selbst der größeren Masse der Gebildeten oft so ungenießbar machen, zeigt es doch auch nichts von jenem spielenden und flüchtigen Dahingleiten, dessen die Aesthetiker der Zeitungsfeuilletons sich befleißigen müssen. In einer großen Reihe von zusammenhängenden Abschnitten und Capiteln, die sich als eben so viele anregende und geistvolle Essays bezeichnen lassen, sehen Sie vielmehr hier einen Dichter über die innersten Geheimnisse, die verschiedensten Seiten und Materien seiner Kunst in möglichst erschöpfender Weise sich verbreiten und in diese lebendige Darstellung auch die kritische Gedankenschärfe und die Fülle von Bildung, Belesenheit und Wissen verweben, die ihm zugleich unter den ästhetischen Kritikern Deutschlands einen anerkannten Rang gesichert haben.
Daß der Leser deshalb auf die Worte des Verfassers schwören möge, soll damit keineswegs gesagt sein; es sind abweichende Ansichten in dem Buche, die geprüft und erörtert sein wollen, und mit denen nicht Jedermann sich einverstanden erklärt. Als Ganzes aber ist es unzweifelhaft eine positiv werth- und inhaltsreiche, von schwungvollem Ernst getragene, vom edelsten Geschmacke durchleuchtete Schöpfung, die unserer modernen Literatur zur Ehre gereicht, ein Werk, das den Sinn für ernstes Studium in vollem Maße zu befriedigen und doch auch dem Verlangen nach einer anziehenden und anmuthigen Lectüre zu entsprechen weiß. Solcher wissenschaftlichen Bücher haben wir bei uns noch nicht viele, und es muß ihnen zu stärkerer Einwirkung auf den Bildungsgang der Nation verholfen werden.A. Z. in Kl. Das Passionsspiel zu Oberammergau findet statt am 22. und 29. Mai; am 6., 12., 19. und 25. Juni; am 3., 10., 17., 24. und 31. Juli; am 7., 14., 21. und 28. August; am 8., 11., 18., 25. und 29. September.
Als erste Erfüllung unserer Bitte gingen folgende Beiträge ein: Dr. H. Laube in Leipzig 30 Thlr. – Alphons Dürr in Leipzig 25 Thlr. –
Louise Kd. in L. 1 Thlr. – Redaction der Gartenlaube 50 Thlr. – Otto Wigand jun. 10 Thlr. – J. Merfeld in Leipzig 5 Thlr. – L. K. in L. 2 Thlr. – Dem Dichter, der so oft mich erfreut, von Herzen dies Scherflein sei geweiht. M. in Gera 10 Thlr.Inhalt: Der Bergwirth. Geschichte aus den bairischen Bergen. Von Herman Schmid. (Fortsetzung.) – Ein Dichter des Wupperthales. Von Albert Traeger. Mit Portrait. – Die verlassene Frau eines Bonaparte. – Der gebändigte Strom. Mit Abbildung. – Das Bernsteingold des Samlands und seine neueste Gewinnung. Von einem Ostpreußen. (Schluß.) Mit Abbildung. – Blätter und Blüthen: E. Marlitt als Ehestifterin. Von C. Spielmann. – Auskunftsmappe der Gartenlaube. – Weitere Liste der vermißten Landsleute jenseits des Oceans. – Das jüngste Wunder. – Kleiner Briefkasten. – Ehrengabe für Roderich Benedix.