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Die Gartenlaube (1870)/Heft 27

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1870
Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 27. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Die Thurmschwalbe.
Von Levin Schücking.
I.

Es war ein feuchtwarmer, außerordentlich schöner Maiabend; alle Hecken standen grün, alle Obstbäume blühten; ihre Wipfel und Aeste trugen so viele Blüthen wie ein junges Menschenleben Hoffnungen – aus den wenigsten wird etwas, und so ist’s mit den Apfelbaumblüthen ja leider auch.

Das focht aber sicherlich nicht die „Thurmschwalbe“ an, das rosige junge Mädchen, das mit einem Strickstrumpf von respectabler Länge und Weite auf einer Terrasse unter dem Laubdach prachtvoller, eben grün gewordener Kastanien auf und ab ging und dabei ein Lied trällerte. Siebenzehn Jahre mochte sie haben, die „Thurmschwalbe“; dazu hatte sie ein reizendes feines Gesicht mit einem gebogenen Näschen, schelmischen dunklen Augen, über welche sich auffallend lange Wimpern senkten, wenn sie auf ihre Arbeit niederblickte, und üppiges, glänzend schwarzes Haar, das ein wenig nachlässig am Hinterhaupt zusammengeknotet war; die Gestalt war schlank und zierlich; sie hob sich im Gehen wie tänzelnd bei jedem Schritt auf den Zehen und dabei trällerte sie ein Lied, still für sich, nur zuweilen schmetterte sie mit ihrer hohen, noch ziemlich dünnen Stimme ein paar Noten laut heraus, wie eine Lerche, die etwas aus sich herausjubeln muß.

Ihre Kleidung war sehr einfach, gar nicht so vornehm wie ihr feines Gesicht; sie trug ein kurzes Kattunkleid, wie es Mode war im Anfang unseres Jahrhunderts, so kurz, daß es die mit kreuzweiß geschlungenen Bändern um die weißen Strümpfe befestigten Lederschuhe sehen ließ, und um die Brust ein auf dem Rücken zusammengebundenes Tuch, ein Fichu, wie man’s nennt.

Warum hieß sie die Thurmschwalbe? Es war leicht erklärt ... einmal weil sie in dem mächtigen alten Thurme wohnte, mit dem hohen verschnörkelten Giebeldach, das die Ecke des alten Schlosses bildete, auf dessen Terrasse sie eben auf und ab ging. In dem obern Stockwerk mit der schönen Aussicht, – man blickte da schon über die Wipfel der Kastanien fort in schöne freundliche Berglandschaft hinein – wohnte sie mit ihrer Mutter, der Frau Wehrangel, einer rüstigen und stattlichen Dame, die einst das ganze Schloßwesen unter sich gehabt hatte, und auch jetzt noch, wenn auch unter veränderten Umständen, darüber waltete; aber davon reden wir später; hier müssen wir nur sagen, daß nur die Leute im Dorfe drüben den Namen „die Thurmschwalbe“ erfunden hatten und gebrauchten, denn Anna war sie getauft und Annette nannte die Mutter sie.

Als das junge Mädchen, am Ende der Terrasse angekommen, sich wandte, nahm sie wahr, daß eine kleine Gesellschaft, aus drei Personen bestehend, auf dem Wege zwischen den Gartenhecken daherkomme, welcher von dieser Seite zum Schlosse führte. Der Hauptweg lag drüben; von dem großen Portal auf der Vorderseite des Schlosses führte er durch eine Ulmen-Allee zum Dorfe. Hier auf der Rückseite des Schlosses, wo die Terrasse an den breiten Wassergraben stieß, konnte man nur, wenn man in einem Nachen über den Graben setzte, auf dem näheren Wege zwischen hohen Hecken in’s Dorf kommen, zunächst zu dem Garten des Pfarrhofs, der nach dieser Seite hinaus lag. Unter den drei Herankommenden war der Herr Pfarrer, ein kräftig gebauter Mann, mit breiter, stark vortretender Stirn, breitem Kinn und wie zusammengedrückten Zügen, ein Gesicht, das viel öfter mürrisch, als freundlich aussah; die beiden anderen Personen, ein alter Mann und eine junge Dame, doch nicht mehr ganz jung, wie es schien, kannte Annette nicht.

Der Pfarrer rief und winkte dem jungen Mädchen; Annette lief rasch zu der vorspringenden Treppenrampe, die in’s Wasser hinausgebaut war und von der rechts und links Stufen in den Graben hinabgingen. Links am Fuße der Stufen lag ein Kahn, zu dem eilte Annette hinab, löste ihn von der Kette und ergriff die Ruder, um den Pfarrer und seine Begleiter herüberzuholen.

Während das junge Mädchen mit den Rudern hantirte und langsam über das stille Wasser herüberkam, stand die Gesellschaft jenseits des Grabens und betrachtete mit neugierigen Blicken das Schloß.

Das war nun freilich des Betrachtens werth. Es war nicht allein stattlich und groß, es war auch schön, im Renaissancestyl gebaut, mit allerlei Bildhauerarbeit um Fenster- und Thürumrahmungen. Nur der breite Thurm rechts war weit älter und aus Hausteinen schlicht aufgeführt; er war in den untern Stockwerken außer von einer schmalen Spitzbogenthür, die unter die Kastanien führte, nur von Schießscharten durchbrochen. Oben aber, über dem Gestock mit den großen, neugebrochenen Fenstern, hatte man ihm einen mächtigen verzierten Giebel aufgesetzt, wie einem Grenadier eine Blechmütze; am Giebelgesimse war dicht nebeneinander eine ganze Reihe Schwalbennester angeklebt; es war, als hätten sich die zierlichen Vögel da in die Hut und den Schutz der Schwester Thurmschwalbe, die darunter wohnte, begeben.

Annette Wehrangel hatte unterdeß von ihrem Kahne aus [418] unter den langen Wimpern her einige beobachtende Blicke auf die harrende Gruppe geworfen. Der fremde Herr sah recht mager, schmächtig und grämlich aus; er hatte auch ein Gesicht voll Runzeln, aber sonst ganz vornehm, fein und anziehend. Die Dame neben ihm war groß, von der Größe des Mannes schien sie zu sein; sie hatte auffallend schöne Züge, einen bräunlichen Teint ohne viel Farbe und dunkles Haar, über dem sie einen einfachen Strohhut mit violettem Bande trug; über einem violetten Kleide trug sie einen bis an’s Knie reichenden Ueberwurf von leichtem schwarzem Zeuge.

Als Annette gelandet war, reichte der Pfarrer ihr die Hand und sagte mit freundlichem Kopfnicken: „Wenn man die Annette braucht, ist sie sicher auch da; darauf hab’ ich gerechnet, als ich diese Herrschaften hier den Richtweg hierher führte, und sieh, da bist Du, uns überzusetzen, kleine Schwalbe.“

Die Fremden stiegen nun in den Kahn, Beide ohne von dem jungen Mädchen Notiz zu nehmen; der Pfarrer folgte ihnen und nahm Annetten die Ruder ab; er schien vortrefflich zu verstehen, wie man damit umgeht. Annette nahm das Steuer und nach einer Minute waren sie an der Terrassentreppe gelandet.

Als sie Alle oben angekommen waren, nur Annette noch im Kahn, um die Ketten zu befestigen, begannen die Fremden französisch miteinander zu reden. Der Pfarrer rief dem jungen Mädchen hinab: „Ist der Graf daheim?“

„Ich glaube nicht,“ sagte Annette, „er ist mit dem Förster in den Wald gegangen, und wird noch nicht zurückgekehrt sein.“

„Dann,“ sagte der Pfarrer, „mußt Du uns noch einen Gefallen thun und Deine Mutter zu uns herabrufen – willst Du?“

„Gewiß, Herr Pfarrer,“ versetzte Annette und eilte unter den Kastanien dahin, der kleinen Spitzbogenthür zu, die in ihren Thurm führte.

„Also das ist Schloß Maurach und jetzt Besitzthum des Grafen Ulrich von Maurach, der, wie Sie sagen, ein so wildes Leben geführt haben soll, Herr Pfarrer?“ sagte, als Annette verschwunden, der fremde Herr in deutscher Sprache, aber mit stark französischem Accent.

„Seit drei Monaten Besitzthum des Grafen Ulrich,“ versetzte der Pfarrer, „und ich denke, daß viel Muth und Anstrengung dazu gehörte, es ihm aus den Händen zu nehmen!“

Der fremde Herr sah seufzend zu dem hohen, unter dem Reflex der durch die Kastanienwipfel scheinenden Abendsonne grünlich aufleuchtenden Steinbau auf; die junge Dame sagte: „Dafür würde der Preis Muth und Anstrengung lohnen.“

„Allerdings,“ entgegnete der Pfarrer: „das Schloß ist groß und schön, es liegt in der freundlichsten Gegend, wie Sie sehen, und die Wälder und Kohlenzechen, welche dazu gehören, geben allein schon eine Rente, wie wenig Güter hier in der Gegend sie nur im Ganzen abwerfen! Wer unsere schönen Ackerfluren und fruchtbaren Wiesen und die guten Gartenländereien rings um die Dörfer erblickt und dabei denkt, dies sei eine recht begünstigte Gegend, der ahnt noch gar nicht, wo ihr Reichthum steckt – tief, tief unter dem Boden da liegen die mächtigen, unerschöpflichen Kohlenflötze, und da bergen sich noch Millionen über Millionen, welche einst unsere Enkelkinder heben werden, wenn sie je so klug werden, wie es heute die Engländer sind, die eine große Eisen-Industrie auf ihre Kohlen gegründet haben. Sie verhütten das Eisen nicht mit Holzkohlen, wie es hier zu Lande noch geschieht, sondern mit Steinkohlen. Wenn wir das auch einmal gelernt haben – denn Erze haben wir ebenfalls genug – dann werden wir Alle hier zu Leuten, die so gut wie einen Schatz von baarem Gelde im Keller liegen haben und ihn nur heraufzuholen brauchen. Und dazu ist denn freilich heute mehr Aussicht, als es früher war, unter der alten Regierung, bei der man in keinem Dinge weiter kam, und wo es den Herrschaften in Münster lieber war, wenn sich eine neue Wallfahrt aufthat, als eine neue Nahrungsquelle für das arme Volk. Bei der jetzigen Franzosen-Regierung, man mag wider sie sagen, was man will, ist das schon anders; sie weiß die Kräfte zu wecken, sie stürmt die Trägen auf, und es geht dabei vorwärts!“

Die junge Dame hatte, während der Pfarrer so sprach, zerstreut umhergeblickt; der alte Herr aber einen offenbar sehr erstaunten Blick auf den Pfarrer gerichtet … von einem Pfarrer mußte eine solche Sprache etwas haben, was ihn überraschte; vielleicht nicht sehr angenehm; doch schwieg er. Und da kam ja auch schon Frau Wehrangel unter den Bäumen daher geschritten. Es war eine Frau, die zwischen den Vierzig und Fünfzig stand; eine recht ansehnliche und selbstbewußt auftretende Dame mit einem schönen Gesicht, recht fein weiß und roth und blondem Teint; sie mußte in ihrer Jugend sehr schön gewesen sein … ihre Tochter, die Thurmschwalbe, glich ihr gar nicht.

Annette war mit ihr herabgekommen, aber sie blieb beobachtend zurück. Sie sah, wie der Pfarrer die Fremden ihrer Mutter vorstellte, und wie sie alle Vier dann sich auf die Steinbank niedersetzten, welche an der Balustrade über dem Graben entlang lief. Da geriethen sie sehr bald in ein lebhaftes halblaut geführtes Gespräch, so bewegt, so eifrig, als ob es sich darum handele, irgend ein Complot zu schmieden – Annette sah, daß man jedenfalls ihrer dabei nicht bedürfe und an sie nicht denke, und die Thurmschwalbe benutzte den Augenblick, um auf und davon in’s Weite zu flattern.




2.

Sie schlüpfte ungesehen um die Ecke des Thurmes, am Fuße des Schloßflügels her, der sich nach der andern Seite hin erstreckte, und betrat eine schmale Laufbrücke, welche hier über den Graben in den jenseits liegenden großen Gemüsegarten führte. Der Garten war mit einer hohen Mauer ringsum umgeben; aber für das junge Mädchen war die Mauer kein Hinderniß; trotz ihres Namens hatte sie zwar keine Flügel, um hinüberzukommen, dafür aber hatte die Mauer eine starke Bresche, vor der ein Schutthaufen lag … man brauchte nur hinaufzuklettern, in den Mauerbruch zu treten, jenseits einen kleinen Sprung zu wagen und man stand in einem Baumgarten, der sich bis an’s Dorf erstreckte. Unter den Obstbäumen grasten Kühe. Annette warf im Vorübereilen mit einem lachenden Scherz dem barfußen kleinen Hüter, der an ihrem Wege saß und in den Erdlöchern nach Grillen bohrte, eine Hand voll eben abgestreifter Blätter an den Kopf und dann eilte sie weiter; bald war sie schon auf demselben Wege, den der Pfarrer mit seinen Fremden benutzt hatte, und so kam sie an das weiße Gitterthürchen, das in den Garten der Pfarrei führte.

In dem Garten hörte sie zwei Männerstimmen in lebhaftem Gespräche; eine sanfte, helle junge Stimme und eine alte belegte, die wie ein abgespieltes Instrument etwas Heiseres, Abgenutztes hatte; als Annette in einen Laubgang trat, der an der Seite des Gartens langhin und breit bis zu dem alten, aber freundlichen von Weinreben umzogenen Pfarrhause lief, sah sie im Hintergrunde an einem weißangestrichenen Tische die beiden lautredenden Männer sitzen. Der Tracht nach waren Beide Geistliche – der ältere, mit dem gelben kleinen Kopfe und einem Mardergesichte, rauchte aus einer holländischen Thonpfeife und hatte einen Bierkrug vor sich stehen – der jüngere lehnte sich mit auf der Brust verschränkten Armen in seinem Gartenstuhl hintenüber, und schien lebhaft gegen etwas, was der Andere behauptete, anzukämpfen – ein offenes Buch lag vor ihm und die Sonne, die in einzelnen Strahlen durch das Grün der Laubwand brach, lag hell auf den Blättern, auf die der junge Mann zu deuten schien; der andere blies lächelnd in denselben verklärenden Sonnenschein seine blauen Rauchwolken, die sich darin in stillem Spiel ringelten und kräuselten, und indem er mit dem Finger darauf deutete, sagte er:

„Der Sonnenschein, das Licht liegt ebenso gut auf dem blauen Dunst da wie auf Eurer Bibelstelle, Confrater, seht nur hin … aber da kommt eben unsere Thurmschwalbe herangeschwebt – just der rechte Vogel, Euch die Mucken wegzufangen; guten Abend, Schwälbchen, wie geht’s Euch? Euer Freund, der Confrater da, hat den Kopf voll Mucken; schwärmt deshalb ein wenig um ihn herum, und ich wette, ehe viel Zeit vergeht, sind sie alle bis auf die letzte fortgefangen.“

Er lachte ein wenig cynisch, ein wenig spöttisch; dann trank er und sah die beiden jungen Leute über den Rand des Glases mit boshaft lächelnden Blicken an.

Der junge Geistliche war aufgesprungen, um Annette einen Gartenstuhl zu holen; dabei war er sehr roth geworden; es lag eine gewisse linkische Schüchternheit in seinem Wesen, als er Annette den Stuhl bot, aber dies machte die schlanke Gestalt im abgetragenen schwarzen Rock, mit den edeln, beinahe weiblich feinen [419] Zügen, der hohen schmalen Stirn und den leuchtenden blauen Augen nicht weniger anziehend und gewinnend.

Annette setzte sich und fast heftig antwortete sie dabei: „Wenn ein so großer garstiger Stoßvogel wie Ihr es nicht zu Stande bringt, ihm die Mucken abzufangen, was kann ich kleine Schwalbe dann? Aber ich glaube, Ihr seid es just, der mit seinen bösen Reden ihm die Grillen in den Kopf setzt. Seit sie Euch hierher geschickt haben, um hier unsere gottlose Gemeinde durch Euer Beispiel zu erbauen, ist er ganz melancholisch geworden, der arme Caplan – nicht wahr, Caplan, der böse Pastor da wäre im Stande, Einen mit seinen verwegenen Reden um alle Frömmigkeit und allen Glauben zu bringen – das heißt, wenn der Herr Pfarrer nicht da ist, denn wenn der zugegen ist, ist er hübsch still und thut, als ob er nicht so weit zählen könne wie der heilige Simplicius, der es bis zu fünf brachte.“

„Sie thun mir Unrecht, Demoiselle Schwalbe,“ fiel der Pastor ein, „ich gehe nie darauf aus, Jemand irgend einen Glauben zu nehmen – wäre auch bei Euch Beiden sehr unnütz, den Glauben an Euch würde man Euch doch nicht erschüttern können – ist’s nicht so?“

Er sah lachend von Einem auf den Andern.

„Ganz so ist’s,“ versetzte die Thurmschwalbe unbefangen und trotzig ihre Lippen aufwerfend. „Ich werde immer dem Caplan mehr glauben als dem, was Ihr sagt. Laßt nur einmal hören, was Ihr eben behauptet habt und was der Caplan – worüber strittet Ihr?“

„Der Caplan behauptet, die Religion sei für die Guten da, und ich, sie sei um der Schlechten willen da.“

Annette sah fragend den Caplan an, als ob sie erwarte, daß er seine Behauptung vertheidige.

„Die Menschenseelen sind Blumen,“ sagte der Caplan mit einer leisen, wie etwas beklommenen Stimme. „Die schlechten aber öffnen sich nie. Es ist nicht genug warmer Trieb in ihnen, oder es ist ein Wurm in sie gekommen, der die Herzblätter zernagt. So öffnen sie nie den Kelch. Nur die Guten öffnen den Kelch und blühen und aus ihnen empor zieht der Duft. Der Duft der Menschenseele ist die Religion. Nur die guten Menschen haben sie.“

Annette sah mit sinnigem Blick den jungen Geistlichen an, der unter diesem Blick wieder leicht erröthete. Der Pastor fiel ein: „Gut, daß der Herr Pfarrer nicht da ist; er würde in des Caplans Zimmer gehen und nachschauen, ob da nicht Jean Paul’s Romane versteckt seien. Der Duft der Menschenseele ist die Religion? Wenn, was Sie sagen, Confrater, wirklich eine Stelle aus Jean Paul sein sollte; so steht’s gewiß nicht so da, sondern statt Religion steht da Liebe! Habe ich Recht?“

„Ach, der Caplan ist selbst gescheidt genug,“ rief hier die Thurmschwalbe aus; „er braucht nicht nachzuschwätzen, was in protestantischen Büchern steht.“

„Und wenn er gescheidt ist, schwätzt er gewiß nicht nach, was in katholischen steht,“ antwortete sarkastisch der Pastor und schlug dann, als ob er eine Aeußerung, die ihm entschlüpft, damit überdecken oder für eine Ironie ausgeben wolle, eine helle Lache auf. „Ich bleibe aber dabei,“ fuhr er dann fort, „die Religion ist nur der Schlechten wegen da, denn Adam im Paradiese ist weder mit den zehn Geboten, noch mit Beichten und Fasten belästigt worden. Erst als er gesündigt hatte und hinausgeworfen wurde, fing das an, und so ist mit der Sünde der Tod und das Religionswesen in die Welt gekommen. Der gute Adam! Er war so glücklich! Er hatte keinen Arzt, keinen Richter und keinen Beichtvater nöthig; er war so unverschämt gesund, so dumm, brav und so einfältig. Er aß so vergnügt seine Aepfel. Da sollte es plötzlich eine Sünde sein, einen Apfel zu essen; das unschuldigste Ding auf der Welt sollte eine Sünde sein! Natürlich kehrte sich der brave dumme Mensch, der die Falle nicht ahnte, daran nicht; und nun hatte die Schlange gewonnenes Spiel. Nun hatte Adam eine Sünde begangen, und nun stand der Weizen aller Derer in Blüthe, die davon leben, daß gesündigt wird. Ja, ja, man hatte glücklich einen Sünder gemacht und – die Kunst ist seitdem nicht untergegangen – Ihr könnt mir’s glauben, Ihr argloses junges Volk, Ihr, das nicht weiß, wo Barthel den Most holt! Die Kunst ist nicht untergegangen. Der größte Künstler in dem Fach war der edle Hildebrandt. Der hat’s verstanden, Sünder zu machen, Sünder zahlreich wie Sand am Meere, Gräuel und Abscheulichkeiten, wie sie vor ihm die Welt nicht kannte! Er war ein großer Heiliger, Papst Gregor …“

„Ihr sprecht ärgerliche Dinge aus Eurem tiefen Unglauben heraus, Pastor,“ fiel ihm hier der Caplan in’s Wort.

„Ja, Ihr seid ein recht böser Mann, Ihr verspottet Alles,“ setzte die Thurmschwalbe hinzu. „Ihr glaubt nicht an Gott und, was just ebenso schlimm ist, auch nicht an die Menschen.“

Der Pastor sah sie lächelnd an; es machte ihm offenbar Vergnügen, mit seinen bösen Reden die jungen Leute zu reizen.

„Es ist wahr,“ sagte er, „ich habe zum Glauben nicht viel Talent, ich bekenne es ja und habe mich still und demüthig gefügt, als mir das hochwürdige Consistorium deshalb meine Pfarrei und Seelsorge genommen hat, um hier mit Würde meine Rolle als demeritirter Pastor zu spielen. Ich glaube nicht an Gott, nicht an die Menschen, sagt Ihr? Ich glaube nur nicht an den Teufel; und an Euch glaube ich, Demoiselle Annette, so lange Ihr so hübsch und jung seid, und an unsern Caplan hier, so lange er so lieblich erröthet und so still selig aussieht, wenn er Eure Flügel heranschwirren hört. So lange glaube ich an Euch, länger auch nicht, denn ich glaube an den Menschen, so lange er glücklich ist, an den unglücklichen nicht mehr!“

„Das ist unrecht,“ rief Annette rasch und lebhaft in der Verlegenheit, worin des Pastors häßliche Scherze sie versetzten, aus, „erst wenn der Mensch unglücklich ist, wird er recht gut, dann erst zeigt er seine guten Eigenschaften, seine Geduld, seine Sanftmuth, seine Pflichttreue, seine Stärke, sein Gottvertrauen.“

„Gewiß,“ setzte der Caplan hinzu, „und ohne Prüfung ist kein Verdienst.“

Der Pastor blinzelte mit den Augen. „Liebe Kinder,“ sagte er sarkastisch, „wenn’s so im Katechismus steht, so will ich mich nicht dawider auflehnen. Ihr sollt Recht haben. Seht Ihr dort die Stockrose hinter Euch, Caplan? Sie läßt die Blätter hängen, denn Ihr habt sie gestern dahin gepflanzt und heute nicht begossen. Wenn Ihr sie begießt, so wird sie wachsen und eine Fülle schöner rother Blüthen tragen. Wenn Ihr sie nicht begießt, so wird sie verkommen und verdorren. Ich denk’, mit den Menschen wär’ es auch so. Die Sonne, Licht und Pflege haben, werden ordentliche Pflanzen, und die andern, die das Schicksal in dürres Erdreich stellt, verkommen. So ist es. Wen man zum Sünder macht, der wird zum Sünder, und wen das Schicksal besser pflegt als der Caplan seine Stockrose, der wird eine gute Pflanze. Das glaube ich – Ihr seht, Demoiselle Annette, ich bin nicht so schlimm, wie es aussieht, und glaube wenigstens an einen Theil der Menschen, die Glücklichen – wenn ich so arg wäre, wie es Euer Katechismus ist, dann würde ich nicht einmal so viel Gutes von den Menschen denken, denn da steht geschrieben, daß wir alle sammt und sonders Elende sein, nichts wie armselige Maden im großen Sündenschlamme der Welt, ekelhaft Gewürm, Fraß für die große Schlange, die im Staube auf dem Bauche kriecht!“

Der Pastor lachte hier höhnisch auf und führte sein Bierglas zum Munde.

„Es ist dem, was Ihr da von den Menschen sagt, nicht so,“ nahm der Caplan kopfschüttelnd das Wort. „Es mag wahr sein, daß das Unglück schlecht machen kann – aber doch nur die schwachen, kleinen und untergeordneten Naturen. Sie mögen durch Leiden verbittert werden, durch den Kampf die Schwungfähigkeit ihrer bessern Natur verlieren und sich hinabdrücken lassen in den Schmutz des Alltagdaseins, bis sie die Fähigkeit verlieren, sich aus ihm zu retten. Sie mögen eine Rechtfertigung schlechten Handelns finden im schlechten Handeln der Welt wider sie; eine Befriedigung der Rachsucht im Groll und im Beschädigen – und gewiß ist es wahr, daß Sünder und daß Verbrecher sehr oft gemacht werden. Aber gute und starke Naturen hebt und stählt der Kampf; das Leid läßt ihren Goldwerth erst recht erglänzen, wie die Reibung das Metall polirt; das Unglück erzieht und läutert die tüchtigen Menschen, es verdirbt nur die schwachen!“

„Sehr weise gesprochen,“ sagte der Pastor, „aber …“

„Nun laßt doch den Streit ruhen,“ fiel die Thurmschwalbe ein, „sagt mir lieber, wer die Fremden sind, welche der Herr Pfarrer zum Schlosse gebracht hat und die gleich in eine so angelegentliche Unterredung mit meinem Mütterchen gerathen sind.“

„Wir wissen es nicht,“ versetzte der Caplan. „Sie kamen in einem Einspänner von A. und hielten vor der Pfarrei, wo sie den Herrn Pfarrer zu sprechen verlangten.“

[420] „Wer sie sind,“ bemerkte der Pastor, „das ist nicht schwer zu errathen. Es sind Emigranten, die jetzt, wo sie heimkehren dürfen, nach Frankreich zurückreisen. Dabei wird ihnen der Zehrpfennig ausgegangen sein, und da der Herr Pfarrer Bedenken getragen haben mag, sie mit einem Zuschuß weiter zu fördern, werden sie unserm jungen Grafen die Gunst zuwenden, sich um das gute Frankreich verdient machen zu können, das ja doch nicht eher glücklich ist, als bis es alle seine edlen Ducs, Vicomtes und Marquis richtig wieder hat.“

Annette schüttelte den Kopf.

„Emigranten mögen sie sein,“ sägte sie, „aber der Herr Pfarrer hätte sie sicherlich nicht in’s Schloß geführt, falls sie den Grafen belästigen wollen. Ich denke, er hütet sich.“

„Sie haben all’ ihr Gepäck abladen und vorn im Hausflur niedersetzen lassen,“ erzählte der Caplan; „just als ob sie länger bei uns zu bleiben gedächten.“

„Nun,“ fiel der Pastor mit einem bösen Lächeln ein, „wer weiß denn, wer sie sonst sind! Die junge Dame ist sehr schön und sieht sehr ernst und selbstbewußt darein. Vielleicht kommt der Besuch dem Herrn Grafen nicht just überraschend – möglich auch, daß er sehr überraschend kommt! Möglich auch, daß eine Zeit kommt, wo solche Besuche auf dem Schlosse auch uns nicht mehr überraschend kommen. Man muß es abwarten. Vorläufig wollen wir uns den Kopf nicht darüber zerbrechen.“

Annette stand auf.

„Jetzt muß ich heim,“ sagte sie, „vielleicht wäre ich gar nicht gekommen, hätt’ ich gewußt, daß der Pastor hier im Garten säße und einmal wieder so recht im Zuge wäre, lauter böse Dinge vorzubringen – Adieu, Caplan, ich muß heim, damit die Mutter nicht merkt, daß ich fortgelaufen bin; ich komme morgen früh in Ihre Messe; und nachher schau’ ich nach, ob Sie Ihre Stockrosen auch hübsch begossen haben. Adieu, adieu ...“

Sie war schon mit rascher Wendung halb zur Laube hinaus, ehe nur noch der Caplan sich erröthend erhoben hatte.

„Weshalb begleiten Sie sie nicht zum Garten hinaus und bis an’s Gitterthürchen, Caplan?“ sagte der Pastor mit feinem Lächeln und boshaften Augenzwinkern. „Es hätte Ihnen noch einen zärtlichen Händedruck zum Abschied eingebracht.“

Der Caplan antwortete nicht; er sah ihr nach, dann ging er in der That Wasser zu holen, um seine Pflanzen zu begießen; und als er sie getränkt, stand er lange, die Gießkanne in der Hand, zwischen den Beeten, den Blick, wie in Nachdenken verloren, auf die welken Blätter heftend. Woran dachte er ... an seine Behauptung von vorhin, daß gute und starke Naturen durch den Kampf gestählt und gehoben, daß tüchtige Menschen durch das Leid geläutert werden?

War es das, so mußte es sehr lange sein Sinnen beschäftigen; er stand noch träumend da, als schon der Herr Pfarrer vom Schlosse zurückkehrend in den Garten trat. Er kam allein zurück und sah sehr ernst und nachdenklich aus, der Herr Pfarrer; der Caplan wagte nicht ihn anzureden.

(Fortsetzung folgt.)




Ein Veteran der classischen Musik.

Am Abend des 26. November 1846 bot die Treppe des „Gewandhauses“ zu Leipzig einen seltsamen Anblick. Vor der noch geschlossenen Eingangsthür des Saales stand auf allen Stufen und Absätzen der breiten Treppe, zwei Stockwerke herab, eine dicht gedrängte Schaar eleganter Damen und Herren – zum Theil den ersten Familien der Stadt angehörend – alle sehnsüchtig des Augenblickes harrend, an welchem ihnen der Eintritt in den Concertsaal endlich gestattet werden würde.

Die damals unter Mendelssohn’s Leitung so ausgezeichneten Abonnements-Concerte des Gewandhauses hatten die Einfachheit der äußeren Erscheinung noch nicht völlig verloren. Im März 1743 von sechszehn Musikfreunden begründet, von ihrem Stifter, dem Buchhändler Gleditsch geleitet; trugen sie anfänglich den Charakter geselliger Familienzusammenkünfte in so hohem Grade, daß nur die Gründer eine Eintrittskarte besaßen, während nach dem Wortlaute der Bekanntmachung „das Frauenzimmer“, sowie nicht minder die „reisenden Passagiers“, freien Eintritt hatten. In gleich ungezwungener Weise verkehrte man im Innern des Saals mit einander. Von dieser Zwanglosigkeit hatte sich noch hundert Jahre später ein gutes Stück erhalten. Zwischen den einzelnen Musikstücken machten sich Freunde gegenseitig Besuche; in der großen Pause zwischen den beiden Theilen erhoben sich Damen und Herren von ihren Plätzen, und das Surren eines riesigen Bienenschwarmes wurde durch das lebhaft geführte Gespräch der Nachbarn hervorgerufen. An Sperrsitze war noch nicht zu denken. Wer also einen Platz nach seinem Wunsche haben wollte, der war gezwungen, möglichst früh sich einzufinden, wo noch die Wahl unter den Plätzen freistand. An jenem Tage aber war die Anzahl derjenigen besonders groß, welche Anderen den Rang abgewinnen wollten, und deshalb schon vor Eröffnung des Saales auf der Treppe erschienen waren; denn – es hatte sich am Morgen wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreitet, daß Moscheles, der berühmteste Pianofortespieler und Claviercomponist, der hervorragendste Veteran der classischen Richtung der Musik, der Meister des Legato-Spieles, auf dessen Schultern die Virtuosen standen, deren Technik man in den vergangenen Wintern bewundert hatte, den Zuhörern einen Pianoforte-Vortrag gewähren wolle. Wir Jüngern aber wollten diesen Genuß auskosten, so gut wie möglich, und wollten so sitzen, daß uns keine Hand- und Fingerbewegung verloren ging.

Moscheles war erst einige Wochen vorher von London nach Leipzig übergesiedelt. Seinem Schüler und Freunde Mendelssohn war es gelungen, ihn dem Vaterlande wieder zu gewinnen und zugleich dem von ihm in’s Leben gerufenen „Conservatorium der Musik“ den hervorragendsten Lehrer zu verschaffen.

Oeffentlich als Pianofortespieler aufzutreten, lag nicht in Moscheles’ Plane. So hatten nur Wenige, und auch diese nur selten, Gelegenheit ihn zu hören. An jenem Tage aber hatte „im 7. Abonnements-Concert“ R. Wehner aus Dresden ein Pianoforte-Concert spielen sollen. Erst am Tage vorher in der Probe traten unüberwindliche Hindernisse dagegen, und um die Concert-Direction aus einer Verlegenheit zu befreien, dem gebildeten Hörerkreise eine Freude zu machen, entschloß sich Moscheles, der beabsichtigten Zurückgezogenheit zu entsagen und an Stelle des jugendlichen Virtuosen einzutreten.

Durch eine mit seltener Liebenswürdigkeit gewährte Aushülfe und mit freundlichem Entgegenkommen für die Wünsche Anderer, führte sich der Hochberühmte und Vielgefeierte in den Kreis der Leipziger Musikfreunde ein. Es kann natürlich nicht Absicht der „Gartenlaube“ sein, heute, nachdem bereits alle bedeutenderen Journale den Lebensgang des berühmten Verstorbenen in mehr oder minder ausführlicher Weise geschildert haben, noch mit derartigen biographischen Mittheilungen nachzuhinken. Wir hoffen unsere Leser vielmehr in anderer Weise reichlich zu entschädigen, wenn die von Moscheles hinterlassenen und am Schlusse diese Artikels erwähnten Aufzeichnungen zur Veröffentlichung vorbereitet sind. Der Zweck dieser Zeilen ist lediglich, heute schon ein deutliches Charakterbild des wackeren Mannes zu geben, auf solche Art wenigstens vorläufig seinem Andenken gerecht zu werden. Denn Moscheles war nicht nur berühmt, er war auch beliebt; und man muß jetzt, nachdem ein Vierteljahrhundert nach dem Eingangs dieser Skizze erwähnten Tage verflossen ist, bekennen, daß die nämliche wohlwollende Freundlichkeit ihn ausgezeichnet hat in allen Lagen des Lebens, und daß es kaum Jemand geben kann, der sorglicher immer darauf bedacht war, die irgendwie berechtigten Wünsche und Ansprüche Anderer zu erfüllen. Dieses rücksichtsvolle Entgegenkommen für die Eigenthümlichkeit Anderer war bei aller sonstigen Energie ein Grundzug im Charakter des Mannes.

Auch auf musikalischem Gebiete bewährte er diese Charaktereigenthümlichkeit. Gebildet in Wien, unter den Einflüssen der classischen Epoche der Donaustadt, vertrat er immer den Grundsatz, daß keine Kunstleistung, weder die schaffende noch die ausübende, der anmuthigen und wohlgegliederten Form entbehren dürfe. Besonders bei musikalischen Compositionen hielt er Correctheit und Schönheit der Kunstformen nebst klarem Ausdruck der

[421]

J. Moscheles.
Geboren 30. Mai 1794, gestorben 10. März 1870.


Intentionen des Tonschöpfers für die drei Haupterfordernisse jedes guten Werkes. Dabei hatte ihn sein großer Lehrer Salieri darauf hingeleitet, dem Uebermaß und der Uebertreibung auszuweichen. Er erzählte gern einen hübschen Zug von der Art, wie Salieri ihm seine Rathschläge gegeben. Als er in seiner Jugend seinem Lehrer einst eine Composition vorlegte, für welche ihm die Aufgabe gestellt war, die Empfindungen eines Mädchens beim Tode eines Vogels zu schildern, und in welcher der werdende Componist heißblütig den Schmerz über den Verlust des Lieblings durch Wühlen in Moll-Accorden wiederzugeben versucht hatte, – [422] da strich Salieri gerade diejenigen Stellen, welche nach der Meinung des jungen Tonsetzers am besten gelungen waren, und sagte zu ihm lächelnd: „Und was würdest Du thun, wenn eine ganze Stadt niedergebrannt ist?“

Daß einen Componisten, der so wie Moscheles Maßhalten und schöne Formen liebte, die neuere Richtung der Musik, die man als ihre Zukunft auszurufen pflegt, unmöglich sympathisch anmuthen konnte, liegt auf der Hand; dennoch hielt er es für seine Pflicht, jeder neuen Erscheinung immer wieder prüfend in’s Antlitz zu schauen, den Aufführungen wiederholt beizuwohnen, um nicht ungerecht zu werden gegen die Zeitgenossen. Und mit liebender Sorgfalt wußte er jedes wirklich Schöne herauszufinden und hervorzuheben. Je weniger man gewohnt ist, in den Künsten Parteilosigkeit zu finden, – je seltener vorurtheilslose Anerkennung von dem einen schaffenden Künstler dem anderen entgegengebracht wird, welcher eine abweichende oder gar entgegengesetzte Richtung vertritt, – um so höher ist diese wahrhaft liebenswürdige Objectivität zu achten, welche Moscheles immer geübt hat. – Es ist etwa ein halbes Jahr vorüber, als der Schreiber dieser Zeilen ihm gegenüber die „geschriebene Musik“ der letzten Quartette von Beethoven, bei aller Anerkennung ihres eigenthümlichen Werthes, als eine Verirrung bezeichnete, da die Tonkunst nicht für das Auge, sondern für das Ohr bestimmt ist.

„Und wenn die Composition derartiger Quartette eine Verirrung ist,“ war die Antwort des Meisters, „so hat doch Beethoven vorher seinen Weg in voller Klarheit und unbeirrt gemacht; die Nachahmer dieser Musikgattung aber waren vorher keine Beethoven.“

In dieser milden Form verurtheilte er eine Kunstrichtung, welche im Stande wäre, die ganze Tonkunst in Frage zu stellen, wenn sie überhandnehmen könnte. –

Der Verlust des weltberühmten Lehrers schädigt das Leipziger „Conservatorium“ um so schwerer, als noch nicht abzusehen ist, wie Ersatz gewonnen werden soll; und doch bedarf die Anstalt desselben auf das Dringendste. Moscheles war für sein Lehramt vorbereitet durch seine Leistungen als Virtuose und durch dreißig Jahre des Lehrens in London. Seinen Schülern war er ein väterlicher Freund; Vielen wurde er Beistand in jeder Fährlichkeit, – Allen war er Vorbild durch unübertroffene Pflichttreue und williges Anerkennen fremder Selbstständigkeit.

Diese innere Tüchtigkeit und Festigkeit, bei aller Milde der Formen, bahnten ihm in England den Weg. Der Geistesadel erwies sich siegreich. Man erkannte in ihm den geborenen „Gentleman“, und was keinem Musiker vor ihm gelungen war, das ergab sich für ihn ohne Widerstand; er war nicht der Diener der guten Gesellschaft, sondern ihr Mitglied. Und doch war Moscheles ein Kind des Volkes. Wenig begünstigt vom Zufall, aber gerüstet mit zähem Willen, mit ausdauernder Kraft und mit ernster Arbeit, errang er sich eine Stellung im Leben.

Wenn auf die Entwickelung bedeutender, geistig hervorragender Männer häufig die Mutterliebe von Einfluß ist, so war es bei ihm nicht diese, welche ihn zur Tonkunst führte, sondern auch hier siegte er durch eigene Arbeit. Der Mutter verdankte er den weichen Sinn, die Milde des Urtheils, die Freude an harmlosen Scherzen, – Eigenschaften, welche ihn bis in die letzten Lebenstage auszeichneten, und welche den Umgang mit ihm für seine Freunde so wohlthuend machten, weil sie freundlich die Kluft überbrückten, welche zwischen dem Hochbegabten und dem Freunde etwa bestand. Der Vater aber war es, dessen Beispiel Moscheles in das Reich der Töne führte.

Der Vater war in Prag Tuchhändler und durch sein Geschäft genöthigt, alljährlich ein oder mehrere Male nach Wien zu reisen. Wenn er dann aus der damals in der Musik tonangebenden Hauptstadt heimkehrte, brachte er nicht nur musikalische Erinnerungen für seine Reiseberichte an Frau und Kinder, sondern auch die neuesten Musikalien mit. In der harmlosen Weise, wie sie den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts eigen war, dienten die Tonstücke, mit Clavier, Guitarre und Gesang ausgeführt, zur Unterhaltung und Freude der Familie wie der musikalischen Genossen. Es war ein Lieblingswunsch des Vaters, daß eines seiner Kinder in der Musik Tüchtiges leisten möge. Die älteste Tochter war hierzu ausersehen. Allein Begabung und Lust waren bei dieser gering. Wie sie nun bei einer Prüfung schlecht bestand und ein ihr aufgegebenes Stück nicht zu spielen vermochte, sollte sich eben die Wolke des väterlichen Zornes über sie entladen, als der jüngere Bruder mitleidsvoll den Unwillen des Vaters beschwichtigte, indem er ausrief: „Ich kann es!“

Der sechsjährige Knabe hatte das Stück beim Einüben der Schwester so viele Male hören müssen, daß er es endlich auswendig wußte und zu seinem Vergnügen sich nach dem Gehör auf dem Clavier einübte. Von nun an ging der musikalische Unterricht zur Befriedigung aller Betheiligten von der Schwester auf ihn über. Die drei Worte aber, welche ihm die Pforten zu dem Vorhofe des Kunsttempels öffneten, die bescheiden stolzen Worte. „ich kann es“ fand er von da ab noch oft Gelegenheit auszusprechen.

Er sprach sie freudig, als er im Alter von dreizehn Jahren dem Vater seine erste gedruckte Composition, einen vierstimmigen Gesang, als Gabe zum Wiegenfeste brachte. Er sprach sie ernst und wehmütig, als wenige Monate nach diesem Beweise, daß der Wunsch des Vaters sich erfüllen werde, das treue Auge des Führers seiner Kindheit sich schloß, und die Mutter den Knaben abmahnte, allein nach dem fernen Wien zu ziehen, um dort seine musikalische Ausbildung zu vollenden.

Er sprach sie muthig, als er – obwohl noch in den Kinderjahren – doch schon zu stolz war, von der Mutter regelmäßig Unterstützung zu empfangen, und der eigenen Kraft und Arbeit für Erwerbung des Lebensunterhaltes vertraute. – Jene vom Vater ihm gelehrte kaufmännische Sorge für Ordnung seiner Angelegenheiten behielt er treulich bei sein ganzes Leben lang. Vom Jahre 1808 bis zu seinem Tode wurde das Buch für „Soll und Haben“ ununterbrochen geführt; dasselbe zeigt, daß bald nach seiner Ankunft in Wien der Unterricht in der Composition durch Albrechtsberger begonnen wurde, während fast gleichzeitig Moscheles anfing, im Clavierspielen Anderen Unterricht zu ertheilen, und so die Worte bewahrheitete, welche er der Mutter entgegnet hatte. Schon im nächsten Jahre wurden die von ihm ertheilten „Lectionen“ so gesucht, daß sie nicht nur den für die damalige Zeit ansehnlichen Preis von fünf Gulden für die Stunde ihm einbrachten, sondern daß sie auch – wie eine Anmerkung im Rechnungsbuche lehrt – unter ungewöhnlichen Verhältnissen genommen wurden. Der Sohn eines Dr. Perger wünschte sich im Clavierspielen auszubilden; sein Vater war Musikfeind; es blieb dem eifrigen Jünger nichts Anderes übrig, als sich heimlich unterrichten zu lassen. Wenn der Vater eingeschlafen, entwich der Sohn zweimal wöchentlich Nachts um elf Uhr dem Hause und eilte zu seinem nicht minder eifrigen Lehrer Moscheles, der ihn dann oft bis zum Tagesgrauen am Instrumente fesselte.

Im Jahre 1809 wurde der nun fünfzehn Jahre alte Moscheles am Kärnthnerthor-Theater als Chordirector beschäftigt, während er gleichzeitig als ausgezeichneter Clavierspieler bewundert, als geschickter Arrangeur beliebter Opernstücke von den Musikalienhändlern gesucht wurde. Er hatte sich seinen Weg gebahnt durch eigene Kraft und beharrliche Arbeit. Von nun an blieb seines Lebens Wahlspruch das Meisterwort: „Ich kann es!

Moscheles hat sein Tagebuch, welches er seit früher Zeit bis wenige Tage vor seinem Lebensende fortführte, seinem Sohne hinterlassen, der als geschätzter Maler in London lebt. Die Veröffentlichung dieser Aufzeichnungen verspricht interessante Beiträge zur Kunstgeschichte.
R.




Das Löwenhaus des Mormonen-Propheten und seine Frauen.
Von George Stein in New-York.

Der außerordentliche Eifer, mit welchem gegenwärtig in Washington ein Kreuzzug gegen die Mormonen zur Ausrottung der Vielweiberei gepredigt wird, läßt zwar vermuten, daß noch andere als religiöse und sittliche Gründe denselben erweckt haben; mit um so größerer Sicherheit läßt sich aber annehmen, daß die Tage der Blüthe des Mormonismus im Territorium Utah gezählt sind und daß Brigham Young sammt seinen Weibern und Anhängern beiderlei Geschlechts bald in der Lage sein dürfte, von [423] der ihm so herzlich angebotenen Gastfreundschaft des Präsidenten Juarez von Mexico Gebrauch machen zu müssen. Der schlaue und energische Brigham sucht das ihm drohende Geschick mit aller Macht abzuwenden und bedient sich dazu der verschiedenartigsten Mittel, unter denen die Ertheilung des Stimmrechts an die Frauen und seine Herausforderung des bekannten Geistlichen, des Reverend Dr. Newman, zu einer öffentlichen, im Tabernakel der Salzseestadt abzuhaltenden Disputation über die Berechtigung der Vielweiberei wohl die eigenthümlichsten und zugleich die wirkungslosesten sein dürften.

Dr. Newman hat den ihm hingeworfenen Fehdehandschuh sofort aufgenommen, und das Turnier, in welchem diese im Allgemeinen etwas aus der Mode gekommene Institution

„Durch die Macht der Argumente,
Durch der Logik Kettenschlüsse
Und Citate von Autoren,
Die man anerkennen müsse,“

bekämpft und vertheidigt werden soll, wird demnächst stattfinden. Wer immer aber auch in diesem seltsamen „geistlichen Turnei“ der Sieger bleiben mag, soviel ist gewiß, daß selbst ein unzweifelhafter Sieg Brigham’s nicht sein Schicksal abzuwenden im Stande sein wird. Dem mächtigen Andrange der „christlichen“ Civilisation, welche die unsern Welttheil überspannende Pacific-Eisenbahn plötzlich mit dem Herzen des Mormonismus in so nahe Berührung gebracht hat, wird derselbe nicht zu widerstehen vermögen, und Diejenigen, welche eine öde Sandwüste in ein Paradies verwandelt haben, werden bald der fanatischen Intoleranz des Puritanismus und der Gier nach ihren nunmehr hochcultivirten und werthvollen Ländereien weichen müssen, wie sie diesen selben Verfolgern bereits zweimal das Feld zu räumen gezwungen waren.

Einstweilen erfreut sich der Prophet des „neuen Jerusalem“ seines Lebens im Kreise seiner zahlreichen „schöneren Hälften“, und den vielen Lesern der „Gartenlaube“ dürfte eine Schilderung des Haushaltes dieses merkwürdigen Mannes um so eher willkommen sein, als bis jetzt, soviel ich weiß, außerhalb des „neuen Jerusalem“ noch nichts Verläßliches darüber bekannt geworden ist. Es ist auch in der That nicht so leicht, über diesen Haushalt sichere Daten zu erhalten, denn ein Versuch, in das Innere des „Löwenhauses“, wie der Harem Brigham’s genannt wird, einzudringen, ist mit nicht geringen Schwierigkeiten verbunden. Zwar ist über das „Löwenhaus“ bereits fast ebensoviel geschrieben worden wie über den Harem des Sultans von Constantinopel; indessen zeichnen sich die Schilderungen beider mit dem Schleier des Geheimnisses umgebenen Paläste mehr durch die Phantasie ihrer Verfasser als durch deren Wahrheitsliebe aus. Die Daten dieser Skizze verdanke ich Herrn O. Ditson, einem Gentleman, dessen Zuverlässigkeit über allen Zweifel erhaben ist und dessen Stellung in der Salzseestadt ihm die erwünschteste Gelegenheit zum Sammelm seiner Notizen gegeben hat. Mr. Ditson theilt über die neunundzwanzig Frauen Brigham’s Folgendes mit:

Die einzige Dame, welche jemals zu dem Glauben berechtigt war, die ausschließliche Besitzerin des großen Herzens und der Hand des Propheten zu sein, ist:

Mrs. Young Nr. 1, deren Mädchenname Ann Angell war. Ann Angell ist eine geborene New-Yorkerin, hat nunmehr bereits das fünfzigste Jahr überschritten und während ihrer langjährigen Ehe dem vielverheiratheten Propheten fünf Kinder: Joseph, Brigham, John, Alice und Luna geschenkt. Mrs. Young Nr. 1 ist eine große, würdig aussehende Dame mit eisgrauem Haar, nußbraunen Augen und einem milden und wohlwollenden Antlitz, in welchem sich ein tiefer Kummer, eine trübe Melancholie abspiegeln. Und das ist nur natürlich: ein Herz und eine Hand, auf welche man sich ein ausschließliches Eigenthumsrecht erworben zu haben glaubt, mit achtundzwanzig Colleginnen theilen zu müssen, ist mehr, als ein Weib zu ertragen im Stande ist. Mrs. Young Nr. 1 liebt ihre Kinder auf’s Zärtlichste und bewohnt mit ihnen ein eigenes Haus. Sie war so lange die einzige Gattin Brigham’s, bis

Nr. 2, Lucy Decker Seely, sein für sanftere Gefühle so empfängliches Herz eroberte und er ihr zu Liebe die Polygamie thatsächlich einführte. Lucy zog nämlich mit ihrem Gatten Isaac Seely und ihren beiden Kindern nach Nauvoo, um sich den Mormonen anzuschließen. Mr. Seely fand dies zwar nicht ganz nach seinem Geschmacke, indessen erfüllte er auch diesen Wunsch seiner Frau, wie er ihr Alles zu Liebe that. Lucy sah Brigham, und der erste Augenblick entschied über die Zukunft Beider: sie verliebten sich in einander, Brigham bewies ihr klar und deutlich, daß er ihr eine Rangerhöhung in dieser Welt und die Würde einer Königin in der nächsten verleihen könnte, und Lucy, die so glänzenden Anerbietungen nicht zu widerstehen vermochte, gab dem guten Seely den Laufpaß, ließ sich Brigham „versiegeln“, wie die Trauungs-Ceremonie der Mormonen genannt wird, und lebte fortan mit ihm. Mit Lucy führte Brigham die Polygamie praktisch ein. Mrs. Young Nr. 2 schenkte ihrem Gatten acht Kinder und ist noch immer eine seiner Lieblingsfrauen. Durch besondere Schönheit zeichnet sich diese Dame nicht aus; sie ist klein und corpulent, hat braunes Haar, dunkle Augen, recht freundliche Züge, zarten Teint und kleine Hände und Füße. Lucy ist außer Ann Angell die einzige von Brigham’s Frauen, welche nicht im Löwenhause wohnt. Die Königin der Zukunft unterzieht sich auf dieser Welt einstweilen der Beschäftigung, welche in Anbetracht ihrer einstigen Würde nicht ganz passend erscheint: sie hält nämlich in dem sogenannten „Bienenstock“, von welchem ich noch später sprechen werde, eine Art Kosthaus für die Arbeiter, welche Brigham in seinen Gebäuden und Gärten beschäftigt.

Da Brigham nun einmal glücklich das Eis gebrochen hatte, so setzte er das so erfolgreich begonnene Geschäft mit erneuerter Energie fort und heirathete bald darauf

Nr. 3, Clara Decker. Diese Dame ist Lucy’s Schwester und ebenfalls eine Favoritin des Propheten. Clara ist recht angenehm, intelligent und hübsch, aber von einem etwas beängstigenden Embonpoint. Ihrer Schwester Lucy ist sie in jeder Beziehung überlegen und hat ihren Gatten, dem sie außerordentlich zugethan ist; mit drei Kindern beschenkt. – Mit dem Essen kommt bekanntlich der Appetit, und so heirathete der Prophet auch bald

Nr. 4, Harriet Cook. Harriet ist eine große und schlanke Dame mit hellem Haar, blauen Augen und zartem Teint, aber einer sehr scharfen und spitzen Nase. Wenn ihr gerade nichts in den Weg kommt, ist sie recht angenehm und umgänglich; zu Zeiten aber geht diese zarte und schlanke Dame in einer Art und Weise auf den Propheten los, daß dem armen Manne die Haare zu Berge stehen. Geräth sie einmal in Wuth, so verflucht sie den Propheten mit seiner ganzen Mormonen-Sippschaft und nennt ihn geradezu einen Humbug. Sie hat den Propheten mit einem Sohne beglückt, welcher den beneidenswerthen Ruf hat, der größte Taugenichts in Utah zu sein. So glücklich Harriet den Propheten auch machte, so fühlte er doch bald wieder eine Leere in seinem Herzen und heirathete deshalb

Nr. 5, Lucy Bigelow. Mrs. Young Nr. 5 ist von mittlerer Statur, hat blaue Augen, braunes Haar, eine schön geformte Adlernase und einen hübschen Mund. Sie ist encore jeune, wie die Franzosen sagen, und sehr schön, namentlich im Ballsaale überstrahlt sie ihre sämmtlichen Colleginnen. Dennoch hat sie auf den Propheten sehr wenig oder gar keinen Einfluß und empfängt nur selten seine Besuche. – Um das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden, heirathete Brigham nach kurzer Zeit

Nr. 6, Iwish. Dieses Weib ist klein und dick, hat sandgelbes Haar, blaue Augen, eine niedrige Stirn und ein blühendes, aber stark mit Sommersprossen bedecktes Gesicht. Brigham heirathete sie eigentlich nur, um ihr die Aufsicht über seine Wäsche zu übergeben, und diesen Posten füllt sie jetzt zur allgemeinen Zufriedenheit aus. – Kommt

Nr. 7 und 8, Martha Bowker: kleine Figur, schwarzes Haar und dito Augen. Da ihre Eigenschaften den Propheten nicht zu fesseln vermochten, so folgte ihr bald Harriet Barney, eine schlanke Dame mit nußbraunen Augen, hellbraunem Haar, einem bildschönen Gesicht und einer seltenen Grazie. Sie ist mild und sanft, blieb aber kinderlos.

Nr. 9, Eliza Burgeß, ist in England geboren, und da ihre Eltern in Nauvoo, wohin sie gezogen waren, starben, so nahm sich Brigham der Waise an, adoptirte, erzog und heirathete sie später, um durch sie wiederholt glücklicher Vater zu werden. Sie hat das Aussehen eines englischen Dienstmädchens: kleine und üppige Figur, große und schwarze Augen, schwarzes Haar und ein zartes rundes Gesichtchen.

Nr. 10 und 11. Elle Rockwood ist ein kränklich aussehendes kleines und hageres Frauenzimmerchen mit hellbraunen Augen und zarter Gesichtsfarbe, und beim Propheten so wenig mehr [424] beliebt, als Susan Snively, die ziemlich alt aussieht, graue Augen, dunkles Haar und dito Teint hat und sich mit Spinnen und anderen Handarbeiten beschäftigt.

Nr. 12, 13, 14 und 15. Jemima Angell, eine Schwester von Young’s erster Gattin, ist von kleiner Statur und ziemlich stark. Brigham besucht diese Dame nur selten, woran ihr auch nicht viel gelegen sein wird, da sie sich ihm nur wegen der Rangerhöhung in der zukünftigen Welt hat „versiegeln“ lassen. – Ihr folgte Margaret Alley. Sie war ein kleines Frauchen mit hellem Haar und blauen Augen und starb im Jahre 1853 mit Hinterlassung von zwei Kindern. Um sich über diesen bittern Verlust zu trösten, heirathete Brigham Mrs. Hampton, ein großes und schönes Weib mit großen schwarzen Augen, üppigem schwarzem Haar und blassem Teint. Von ihrem ersten Gatten hatte sie sechs Kinder, von Brigham dagegen gar keine. Mrs. Hampton schien von vornherein auf ihre Aussichten für die zukünftige Welt nicht viel zu geben, denn sie hat sich dem Propheten nur „auf Zeit“, d. h. für diese Welt, antrauen lassen. Mary Bigelow aber war zwar Young’s Gattin, hat jedoch den Harem verlassen; was aus ihr geworden, ist mein Gewährsmann außer Stande anzugeben.

Nr. 16, Emmeline Free, „das Licht des Harems“, ist ein bildschönes, schlankes und graciöses Weib mit Veilchenaugen und lockigem Haar, in der That „lieblich anzuschaun“. Es ist daher kein Wunder, daß der Prophet, der, wie bemerkt, ein feiner Kenner weiblicher Schönheit ist, große Stücke auf sie hält. Auch Emmelinens Eltern waren schon Mormonen. Seine Liebe zu Nr. 16 hinderte den Propheten jedoch nicht daran, sich bald auch

Nr. 17, Eliza Roxy Snow, zuzulegen. Eliza Roxy ist unter dem ehrenvollen Beinamen „die Dichterin Utahs“ bekannt; sie „macht“ nämlich in Poesie und ist überhaupt ein sehr intelligentes Weib. Auch in ihrem Aeußern hat sie etwas von einem Blaustrumpf an sich: dunkles in’s Graue spielendes Haar, schwarze und durchdringende Augen, eine ziemlich lange und sehr spitze Nase, große und würdevolle Figur. Außer ihren Gedichten, die in Utah sehr beliebt sind, hat Eliza auch zwei Bücher in Prosa geschrieben, deren Inhalt mir leider fremd ist.

Nr. 18 und 19, Zina D. Huntingdon Jacobs, groß mit hellen grauen Augen, lebt nur für ihre Kinder, wie auch Amelia Partridge, ein schönes Weib mit schwarzem Haar, dunklen Augen, dunklem Teint, sich eifrig ihren vier Sprößlingen widmet.

Nr. 20 und 21, Augusta Cobb, verließ eine angenehme Häuslichkeit und die beste Gesellschaft Bostons, welcher sie angehörte, um nach Utah zu gehen und den Propheten zu heirathen. Sie ist ein großes, brillantes und geistvolles Frauenzimmer mit gebieterischen Manieren, welche ihr bei ihrer Königswürde in der nächsten Welt sehr zu statten kommen müssen. Dafür hat es Mrs. Smith, ein altes Weib, vorgezogen, sich dem Propheten Brigham nur „für Zeit“ und seinem Apostel Joe Smith, dessen Conto in jene Welt noch nicht so arg belastet ist, „für die Ewigkeit“ antrauen zu lassen. Eine praktische Frau!

Nr. 22, Clara Chase, hatte dunkles Haar und dunkle Augen und soll ein bildschönes Weib gewesen sein. Sie gebar dem Propheten vier Kinder, von denen noch zwei am Leben sind. Die Aermste soll den Propheten leidenschaftlich geliebt haben, so leidenschaftlich, daß sie wahnsinnig wurde und, als sie eine Nachfolgerin erhielt, starb. – Ueber

Nr. 23, 24, 25, 26, 27 und 28 hat mein Gewährsmann leider nicht das Mindeste zu erfahren vermocht, daher kann ich Ihnen nur noch etwas über

Nr. 29, Amelia Folsom, Brigham’s letzte Frau, mittheilen. Amelia ist etwa dreiundzwanzig Jahre alt und sieht passabel aus: sie hat helles Haar, graue Augen und eine graciöse Gestalt. Sie ist ziemlich blaß, singt und spielt Clavier, ist aber in ihren Manieren mitunter von einer Derbheit, welche sich für eine Königin der andern Welt nicht gut schicken will. Amelia ist stolz und hochmüthig und behandelt den Propheten, mitunter sogar vor fremden Leuten, herzlich schlecht. Dies ist die letzte von Brigham’s Frauen – während ich schreibe; ich möchte jedoch nicht behaupten, daß sie es noch sein wird, wenn diese Zeilen in Deutschland gelesen werden.

Fräulein Selina Ursenbach als Nr. 30 war dem Propheten leider nicht vergönnt – trotz aller Mühe, die er sich gab, diese junge Dame zu erobern. Selina war eine bildschöne junge Genferin, die mit ihren Eltern und ihrem Bruder aus der Schweiz gekommen war, um hier Musikunterricht zu geben, und in welche sich Brigham sterblich verliebte. Umsonst waren aber all’ seine glänzenden Anerbietungen, ja sogar die sichere Aussicht auf eine so bedeutende Rangerhöhung in dieser und die Würde einer Königin in jener Welt vermochten auf die schöne Schweizerin keinen Eindruck zu machen: sie blieb allen Anerbietungen des Propheten gegenüber taub. Da sie aber bereits lange genug in Utah war, um zu wissen, daß es mit den Werbungen Brigham’s seine eigene Bewandtniß hat und daß er einen einmal gefaßten Plan, wenn er die Macht hat denselben durchzuführen, niemals aufgiebt, so packte sie eines schönen Morgens ihren Koffer und schüttelte den Staub des „neuen Jerusalem“ von ihren Schuhen. Man sieht nun nicht mehr ihr liebliches Antlitz und ihre herrliche Gestalt in dem schönen Theater der Salzseestadt, man hört nicht mehr ihre klangvolle und mächtige Stimme im heiligen Tabernakel – und der arme, alte, in Liebesgram sich verzehrende Brigham irrt einsam und verlassen in den Zimmern und Corridoren des „Löwenhauses“ umher und hat Niemand, der ihm Trost zuspräche, Niemand, der ihn aufheiterte, als höchstens Lucy Nr. 1 und 2, Harriet Nr. 1 und 2, Eliza, Ellen, Susan, Jemima, Margaret Nr. 1 und 2, Hannah, Mary, Emmeline, Eliza Nr. 2, Zina, Amelia Nr. 1 und 2 etc. – Armer, bedauernswerther Brigham!

Nachdem ich dem verehrten Leser eine so ausführliche Schilderung der Frauen Brigham Young’s gegeben habe, wird es für ihn wohl auch von einigem Interesse sein, etwas über die Wohnung dieser Damen und ihre Lebensweise zu erfahren. Und zu diesem Behufe lade ich den Leser zu einem kleinen Spaziergange nach dem nördlichen Theile der Salzseestadt ein, wo sich die von einer acht Fuß hohen und ziemlich dicken Mauer eingeschlossene und ein ausgedehntes Besitzthum bildende Residenz des Propheten befindet. Ein in der Südseite dieser Mauer angebrachtes, sehr großes und von einem aus Stein gehauenen Adler überragtes Thor führt zu einem umfangreichen, zierlich abgetheilten, äußerst sorgfältig gepflegten und in überreicher Fülle von Früchten und Blumen prangenden Garten, in dessen Mitte ein großes Häuserquadrat emporragt. Nachdem man einen breiten und plattgewalzten Kiesweg entlang gegangen ist, kommt man zuerst an die „Zehnten-Office“ und sodann zu demjenigen Gebäude, welch das eigentliche Wohnhaus Brigham’s und seiner Frauen, sein Harem ist und das „Löwenhaus“ genannt wird.

Das Löwenhaus ist zweiundneunzig Fuß lang, zweiunddreißig Fuß breit und drei Stockwerke hoch, es enthält neununddreißig Zimmer und hat dreißigtausend Dollars gekostet. Tritt man von der Südseite aus in das Erdgeschoß, so kommt man in einen breiten, das Gebäude in seiner ganzen Länge durchschneidenden Corridor. Zur Linken dieses Corridors liegen der Speisesaal, die Geschirrkammer, die Küche, das Wasch- und das Schulzimmer; zur Rechten der Keller, die Wohnung des Kutschers, die Speisen- und die Vorrathskammern und eine schöne Halle.

Das zweite und dritte Stockwerk werden ebenfalls von einem sie der ganzen Länge nach durchschneidenden Corridor in zwei Hälften getheilt, und es befinden sich in denselben das Sprechzimmer oder der Salon, welcher hier gleichzeitig als Betsaal dient, und die Wohn- und Schlafzimmer der Damen Young und ihrer Nachkommenschaft. Vergebens würde man in allen diesen Räumen Pracht und Luxus suchen; sie sind zwar sämmtlich comfortable, aber mit mehr als bürgerlicher Einfachheit eingerichtet. Gleich beim Eintritt in das zweite Stockwerk liegt zur Linken das Sprechzimmer vor uns, welches mit seinem eleganten Brüsseler Teppich, seinem Rosenholz-Piano, Mahagoni-Möbeln, großen Spiegeln, mächtigen silbernen Leuchtern, Damast-Gardinen und zahlreichen Vasen mit den ausgesuchtesten und stets frischen Blumen einen überaus freundlichen und gefälligen Eindruck macht.

Dicht neben dem Sprechzimmer liegt Zimmer Nr 2, die Wohnung von Emmeline Free, dem „Licht des Harems“. Diese Dame ist, wie bereits bemerkt, noch immer die Favoritin des Propheten und allein im Stande, ihn, wenn auch nur für Augenblicke, die verführerische und spröde Selina vergessen zu machen, ihr Zimmer ist daher auch mit besonderer Sorgfalt ausgestattet. Dennoch bilden ein einfacher gewirkter Teppich, ein hohes Himmelbett, ein Sopha, ein Tisch, ein paar Stühle, ein Kleiderspind, ein Spiegel und bedruckte leinene Rouleaux sein ganzes Ameublement.

[425] Im Zimmer Nr. 3 wohnt Mrs. Cobb, welche ein prachtvolles Haus und einen sie anbetenden Gatten in Boston verließ, um im „neuen Jerusalem“ mit einem fast ärmlichen Zimmer und dem neunundzwanzigsten Theil eines Gatten – allerdings eines Propheten – fürlieb zu nehmen. Die anderen Zimmer, welche von den übrigen Frauen Brigham’s, ihren Kindern und Dienstmädchen bewohnt werden, zum Theil aber auch leer stehen, sind einander ziemlich ähnlich und mit derselben Einfachheit ausgestattet. Die Damen leben gerade ebenso wie in einem großen Hôtel: sie besuchen einander sehr wenig, und wenn sie ausgehen so verschließen sie ihr Zimmer und nehmen den Schlüssel mit.

Ueberhaupt gleicht das ganze Leben im „Löwenhause“ dem in einem feinen Hôtel, nur daß man in dem letzteren nicht gemeinschaftlich zu beten pflegt. Beim Klange der Glocke versammeln sich jeden Morgen und Abend sämmtliche Bewohner des „Löwenhauses“ im Sprechzimmer; es wird gemeinschaftlich eine Hymne gesungen, worauf der Prophet ein inbrünstiges Gebet spricht. Nach verrichteter Andacht begiebt sich Alles in den Speisesaal, um das Frühstück einzunehmen. Jede Mutter hat mit ihren Kindern einen besondern Tisch, während die kinderlosen Frauen an der gemeinschaftlichen Tafel speisen. In früheren Zeiten speiste der Prophet regelmäßig in Gesellschaft seiner Frauen; jetzt thut er dies jedoch nur selten. Selbstverständlich erhalten Alle dieselbe Kost und haben auch alle Ursache, mit derselben zufrieden zu sein, denn der Prophet hält etwas auf gute Küche und beordert von Zeit zu Zeit einige seiner Frauen zur Führung derselben, die sie so lange verwalten müssen, bis er sie durch andere ablösen läßt. Während des Tages gehen die Frauen aus, nähen, singen, spielen Clavier oder führen ihre Kinder spazieren. Die meisten von ihnen spinnen und weben und färben das von ihnen fabricirte Zeug, und leisten darin so Vorzügliches, daß sie auf ihre Gewebe und Stickereien stolz zu sein alle Ursache haben und es auch sind. Abends geht Alles ohne Ausnahme in’s Theater, in welchem jede der Mrs. Young einen reservirten Sitz hat.

Brigham hält auf gute Zucht, denn er führt über seine Frauen strenge Aufsicht und läßt sie tüchtig arbeiten; aber er entzieht ihnen auch kein Vergnügen; er versorgt sie in liberaler Weise mit Geld, läßt sie bei schönem Wetter ausfahren und ihre Einkäufe besorgen und kleidet sie sämmtlich höchst elegant. Er hält ihnen auch einen Musiklehrer, einen Lehrer der französischen Sprache, einen Tanzlehrer etc.

In der Nähe des „Löwenhauses“ befindet sich der „Bienenkorb“, ein schönes Gebäude, welches fünfundsechszigtausend Dollars gekostet hat, und in welchem früher Brigham’s erste Frau mit ihren Kindern wohnte. Jetzt steht es jedoch unter Aufsicht von Lucy Decker, welche darin eine Art Kosthaus für die von Young beschäftigten Arbeiter eingerichtet hat. – Ann Angell aber, die erste Gattin Brigham’s, vertrauert inmitten ihrer Söhne und Töchter den Rest ihres an Kränkungen und Bitterkeiten so reichen Lebens in einem auf einem Hügel hinter dem „Bienenkorb“ stehenden weißen Hause. – Dies ist der Haushalt des großen Mormonen-Propheten Brigham Young.




Ein klerikaler Industrie-Ritter.

Vor etwa zehn Jahren erschien von der Hand des Professors der Nationalökonomie an der katholischen Universität Löwen, Périn, ein Werk, in welchem dieser Gelehrte die ganze Volkswirthschaftslehre auf katholischen oder vielmehr klerikalen Grundsätzen aufzubauen suchte. Trotz aller Eleganz der Form und Gewandtheit der Darstellung lagen aber die Trugschlüsse, auf welche die ganze Beweisführung beruhte, offen zu Tage; denn der fromme Verfasser kam, von allem Uebrigen abgesehen, durch die Thatsache, daß gerade protestantische Länder den höchsten Grad wirthschaftlicher Blüthe erreicht haben, während Spanien, Italien und die südamerikanischen Staaten doch die sprechendsten Beweise des Gegentheils waren, in nicht geringe Verlegenheit, über die er sich eben nur durch jesuitisch-scholastische, logische Spielereien weghelfen konnte. W. Roscher in Leipzig, der hervorragendste und gelehrteste aller jetzt lebenden National-Oekonomisten, hat seiner Zeit sich der Mühe unterzogen, die Anmaßungen der klerikalen (?) Wissenschaft von diesem Gebiete ein für alle Mal zurückzuweisen und dies in so ernster und nachdrücklicher Weise, daß man seit dieser Zeit auf wissenschaftlichem Gebiet von keinem zweiten derartigen Versuch mehr gehört hat.

Dagegen wurde einige Jahre später in demselben Lande, in Belgien, ein auf großartigem Fuße angelegter Versuch gemacht, diese Grundsätze praktisch zu verwerthen. Das gesammte Capital sollte katholisirt und den Händen der Protestanten und Juden entzogen werden. Das ganze Unternehmen endete mit einer Niederlage, wie die Welt auf finanziellem Gebiete seit dem Zusammenbruche der Law’schen Schwindelgeschäfte keine zweite gesehen; und noch jetzt, da wir diese Zeilen schreiben, ist das Drama, das sich eben vor den belgischen Gerichten abwickelt, nicht zu Ende. Die ganze Begebenheit ist nur eine neue Illustration der alten Jesuitenregel, daß der Zweck die Mittel heiligt, und aus der Darstellung der nun folgenden Thatsachen mag man den Schluß ziehen, welcher Mittel die klerikale Partei, wenn sie die Herrschaft einmal erlangt hat, sich bedienen würde, um diese zu behaupten.

Der Träger der oben genannten Idee der Katholisirung des Capitals ist der in den letzten Jahren vielgenannte, oder besser berüchtigt gewordene, päpstliche Graf Langrand-Dumonceau, vor wenigen Jahren noch der mächtigste und einflußreichste Mann Belgiens, verehrt und beinahe angebetet von den höchsten Ständen und jetzt verflucht vom Volke, vom Bauer und vom Arbeiter, die er um ihren sauren Sparpfennig betrogen.

André Langrand – dies ist sein ursprünglicher Name, Dumonceau ist der Name seiner Frau, den er seinem eigenen noch hinzufügte, um dem gräflichen, ihm vom Papst verliehenen Titel ein würdiges Relief zu geben – ist der Sohn eines armen Krughalters in Vossen, einem Dorfe der Provinz Süd-Brabant. Seine Jugend verfloß unter manchen Entbehrungen, und als ihm seine heimatlichen Verhältnisse zu enge wurden, nahm er Dienst bei der französischen Fremdenlegion in Algier, wo er in einigen Gefechten mit Auszeichnung gefochten haben soll. Nach seiner Rückkehr in’s Vaterland fand er eine Anstellung bei einer Versicherungs-Gesellschaft, wodurch er in vielfache Berührung mit Mercier, dem früheren belgischen Finanzminister, kam, demselben Minister, der zuerst der College des liberalen Ministers Rogier war, um später ein Portefeuille von Deschamps anzunehmen und von einem Liberalen zu einem in der Wolle gefärbten Klerikalen zu werden. In dieser Schule lernte Langrand die Wechselbeziehungen zwischen der Politik und finanziellen Unternehmungen, besonders auch die Kunst, wie man das Geld nicht sparen dürfe, um ein politisches Ziel zu erreichen, indem ja, wenn letzteres wirklich der Fall war, das erste zehnfach wieder verdient werden könne. Als selbstständiger Geschäftsmann debutirte er bald darauf mit der Errichtung einer Lebens-Versicherungs-Gesellschaft; das Capital der Unternehmung war bescheiden, der Prospect sowie die Geschäftsführung waren ehrlich und der Gewinn ein mäßiger.

Bald darauf trat er mit großartigeren Plänen vor die Oeffentlichkeit. In kurzer Aufeinanderfolge errichtete er drei Gesellschaften: „Les rentiers réunis“ mit einem Capital von fünfhunderttausend Franken, die „Royale belge“ mit drei Millionen Franken und „Nederland“ in Amsterdam mit einer Million Gulden, lauter Lebens-Versicherungs-Gesellschaften, an deren Spitze jedesmal Langrand selbst stand. An und für sich waren diese Unternehmungen nicht unsolid, es war dies auch der Grund, weshalb sie nur mäßige Dividenden abwarfen.

Nun begannen ihm aber die Grenzen seines Vaterlandes zu enge zu werden. Er richtete seine Blicke auf Oesterreich und die Niederlande. Im Jahr 1859 gründete er in Wien mit einem Actiencapital von zwanzig Millionen Gulden die „Vindobona“, eine Hypotheken-Versicherungsbank, und bald darauf, im Jahr 1861 in Amsterdam die „Nederlandsche Hypotheekbank“, ebenfalls mit einem Capitale von zwanzig Millionen Gulden; beide Banken hatten zunächst den Zweck, die Zinsbezahlung und die regelmäßige Ablösung der Hypotheken zu versichern. Von diesem an und für sich ganz soliden Geschäft, das viele Bankinstitute in Deutschland mit großem Gewinn betreiben, zum Kauf und Verkauf von Hypotheken selbst war dann freilich nur noch ein Schritt. Langrand

[426] machte ihn in der That und damit hatte er sich auf die abschüssige Bahn seiner kolossalen Schwindeleien begeben. Die verschiedensten und einander widersprechendsten Unternehmungen wurden durcheinander geworfen; der Gewinn der einen mußte den Verlust der andern decken und das Ganze artete schließlich in eine kolossale Wechselreiterei aus, die sich von diesem ehrsamen Handwerk nur dadurch unterschied, daß Langrand die trügerischen Anlehen bei seinen eigenen Geschäften machte, während sonst die beschränkteren Mittel eines gewöhnlichen Wechselreiters heute diesen, morgen einen andern beliebigen Geschäftsmann zum Opfer ausersehen.

Er wußte dies vortrefflich anzugreifen. Im Jahre 1859 errichtete er in Brüssel eine „Allgemeine Versicherungsgesellschaft“ mit einem Capital von zwanzig Millionen Franken, die nur den Zweck hatte, die Actien der früher von Langrand errichteten Gesellschaften zu kaufen und zu verkaufen, und auf diese Weise den Börsencours dieser Papiere nach Willkür regeln zu können.

Bis jetzt waren Langrand und Mercier Hand in Hand gegangen; das Publicum verhielt sich noch ziemlich theilnahmlos, obwohl die gesammte klerikale Presse Belgiens einstimmig für die Langrand’schen Unternehmungen Propaganda machte.

Die cynische und schamlose Weise, mit der Langrand und seine Genossen bei der Errichtung der eben genannten Versicherungsgesellschaft in Brüssel zu Werke gingen, die Unverschämtheit, mit der diese Herren sogleich Hunderttausende in ihre Tasche zu stecken begannen, öffnete doch einigen ehrlichen Actionären die Augen; sie drohten den Unternehmern mit einer Betrugsklage, sofern die Gesellschaft nicht augenblicklich aufgelöst und den Actionären das einbezahlte Geld wieder zurückgegeben würde. Langrand mußte den Raub wohl oder übel herausgeben; da er aber selbst fühlte, daß seine Aussichten für den Augenblick in Belgien vernichtet waren, hielt er es für angezeigt, den Schauplatz seiner Wirksamkeit zu verlegen, natürlich nicht ohne die geheime Hoffnung, später mächtiger und stärker, als zuvor, wieder im eigenen Vaterlande auftreten zu können, eine Hoffnung, die über seine kühnsten Erwartungen hinaus in Erfüllung ging. Den günstigen Operationsboden fand er in Oesterreich, wo er, wie wir sahen, schon eine Gesellschaft, die Vindobona, gegründet hatte.

Die klerikalen Journale in Belgien mußten nach dem italienischen Kriege von 1859 wiederholt und beinahe täglich verkündigen, daß für Oesterreich nunmehr die Zeit der Wiedergeburt angebrochen sei, daß das Geld in diesem Staate buchstäblich auf der Straße liege, daß man es nur aufheben dürfe etc. Man dürfe nur Vortheil von der Lage ziehen, die Bevölkerung sei in der Hand jüdischer und protestantischer Wucherer und werde mit beiden Händen gierig Geld annehmen, bereit, dafür einen Zins zu bezahlen, der in Belgien allerdings ungeheuer hoch, in Oesterreich aber niedrig sei, jedenfalls viel niedriger, als der, welchen sie jetzt an Juden und Protestanten zu bezahlen habe. Deshalb solle man nur getrost das in Belgien im Ueberflusse vorhandene Geld nach Oesterreich senden. Die That folgte denn auch sofort. Langrand errichtete 1860 seine siebente Gesellschaft „Hypothekenbank“ mit einem Capital von zwölf Millionen Franken, wovon übrigens nur eine Million achthunderttausend Franken einbezahlt werden sollten. Der Sitz der Gesellschaft war in Brüssel; ihr Zweck war, in Belgien gegen Pfandbriefe Geld aufzunehmen und dieses in Oesterreich gegen hypothekarische Versicherung wieder auszuleihen. Die Vindobona in Wien mußte für die regelmäßige Bezahlung der Jahresrenten bürgen, was natürlich nur eine Scheinbürgschaft war, während die Pfandbriefe, die in Brüssel verkauft waren, jeder hypothekarischen Sicherheit entbehrten und im Grunde genommen nur Anweisungen auf Langrand waren. Mit der größten Anstrengung war es nur gelungen, für fünfzigtausend Franken von diesen Pfandbriefen in Umlauf zu setzen. Das Geschäft schien zu stocken. Mercier trat als rettender Deus ex machina auf. Es kam vor Allem darauf an, die Gesellschaft für sich zu gewinnen, um vermittelst ihres Einflusses den Pfandbriefen beim Landvolke Eingang und Absatz zu verschaffen. Langrand und Mercier umgaben sich denn auch sofort mit einem glänzenden Stab, gebildet aus den höchsten Spitzen der belgischen katholischen Geistlichkeit; zwei andere klerikale Exminister alliirten sich mit Langrand, nämlich de Dekker und Deschamps; ferner der Graf Duval de Beaulieu, und endlich noch der bekannte Vater des berüchtigten belgischen Klostergesetzes, der Exminister Alphonse Nothomb, und sogar ein activer Staatsminister, der Baron d’Anethau. Mit solchen Bundesgenossen an der Hand konnte es natürlich nicht mehr fehlen, de Dekker war der Bruder eines hohen Geistlichen, Deschamps der Bruder des Erzbischofs von Mecheln und die genannten Namen überhaupt bildeten damals, wie noch heute, als die Häupter der klerikalen Partei, einen besondern Staat im belgischen Staate. Die niedere Geistlichkeit bekam natürlich ihre Ordres und trotz des canonischen Verbotes clericum non decet negotiari (ein Geistlicher soll kein Geschäftsmann sein) konnte man bald das pikante Schauspiel sehen, wie Landpfarrer und Vicare, natürlich gegen gute Provision, Pfandbriefsmäkler wurden und den Sparpfennig des Bauers und Arbeiters den Langrand’schen Unternehmungen zuführten!

Langrand operirte indessen in Wien unverdrossen weiter und es war daselbst der hohe und in seinen Vermögensverhältnissen manchmal etwas zerrüttete Adel, auf den er es abgesehen hatte. Langrand kannte seine Leute hier ganz gut. Vom Jahre 1854 an hatte sich der österreichische Adel an der wildesten Specutation betheiligt. Zur Gründung der Wiener Creditanstalt, des bekannten Abbildes des Pariser Crédit mobilier gaben hochadelige Personen Namen und Capital her, und es war gewiß ein erhebender Gedanke, wenn die Vertreter des höchsten Adels mit den Söhnen Abraham’s friedlich im Verwaltungsausschuß am Tische saßen und verkehrten. Die adeligen Casino’s waren in den Jahren 1854, 1855 und 1856 die Orte, an denen der wildeste Actienhandel betrieben wurde; man betrachtete damals in jenen Kreisen das Speculationsgeschäft gleichsam als Sport. Bald verkündigten denn auch die klerikalen Journale Belgiens, daß Langrand der Hausfreund österreichischer Erzherzöge sei, daß er mit den Esterhazy, Liechtenstein, Thurn und Taxis auf vertrautem Fuße lebe, ja daß der Kaiser von Oesterreich selbst schlechterdings keinen Tag vorbeigehen lassen könne, ohne mit Langrand verkehrt zu haben! Allerdings, er lebte hier auf fürstlichem Fuße, warf das Geld geradezu weg, gab königliche Trinkgelder, die er natürlich seinen verschiedenen Gesellschaften als Spesen und Unkosten aufrechnete, ohne übrigens in die lächerlichen und prahlenden Parvenumanieren zu verfallen. Allein alles dies zog noch lange nicht genug, das Geld wollte aus Belgien, trotz aller klerikalen Anstrengungen, nicht fließen, und so griff man einfach zum gemeinen Betrug, indem man fingirte Dividenden austheilte, die man – dem Gesellschaftscapitale entnahm! Es wurde nachher bewiesen, daß diese Unternehmung, selbst wenn keine Betrügereien stattgefunden hätten, an sich schon ein todtes Kind war.

Langrand war jedoch der Mann, der die Hülfe, die ihm von der klerikalen Partei zu Theil wurde, noch weiter zu verwerthen trachtete; es schien ihm jetzt die Zeit gekommen, in der er seinen Lieblingsplan, das Capital zu katholisiren, das heißt das Capital der gesammten katholischen Welt in seine Hände zu bekommen, verwirklichen konnte. Die Gelegenheit dazu bot sich sehr bald.

Auf dem katholischen Congreß in Mecheln im Jahre 1863 (21. August) – in Belgien ist der katholische Congreß eine nicht zu verachtende Macht, in Deutschland beantwortet man bekanntlich die Beschlüsse der katholischen Vereine mit dem verdienten Spotte – trat einer seiner Agenten, ein gewisser de Hauteville, als Redner auf, der den versammelten Bischöfen Belgiens die Nothwendigkeit der Verchristlichung des Capitals auseinandersetzte. Es müsse die traurige Thatsache constatirt werden, sagte dieser Redner unter Anderm, daß die Katholiken, obwohl die bedeutende Mehrzahl bei jeder Bevölkerung bildend, doch nicht die Macht und den Einfluß ausübten, welche ihnen vermöge ihres reichen Capitalbesitzes zukomme. Juden und Protestanten seien die Gebieter über das Capital, und wollte man die Statistik befragen, so werde man finden, daß die Besitzer und Directoren aller größeren Geldinstitute Juden und Protestanten seien, von denen natürlich für die Kirche und für kirchliche Institutionen, wie Klöster etc., nicht das Mindeste zu erwarten sei. Schmachte doch sogar der heilige Vater in den Händen jüdischer Banquiers, und nur diesem Umstande sei es zuzuschreiben, daß in Rom die Gegenwart von Juden überhaupt geduldet werde. Dies müsse von nun an anders werden, die Kirche müsse man aus den schmachvollen Fesseln befreien; das Mittel dazu sei die Bildung einer großen katholischen Gesellschaft mit einem bedeutenden Capital; so könne man die jüdische und protestantische Concurrenz vernichten, und die Kirche, die, obwohl in erster Linie für das Heil der Seelen [427] bedacht, für das Zeitliche auch nicht gleichgültig sei, werde so, mit den nöthigen Mitteln ausgestattet, bald wieder den ihr gebührenden Rang einnehmen. Die Verhandlungen dieses Congresses in Mecheln waren natürlich geheim und für Nichtkatholiken oder Liberale streng verschlossen, und als damals die liberale Presse einige Andeutungen über das Vorgefallene gab, leugneten die klerikalen Journale, ihrer gewohnten Kriegskunst folgend, die Sache geradezu als eine vom Liberalismus ersonnene Lüge weg. Das ministerielle Echo du parlament in Brüssel veröffentlichte aber vor einigen Wochen alle Actenstücke jenes Mechelner Congresses, aus denen klar hervorging, wie gegründet die damals nur leise Vermuthung der Liberalen gewesen war. Es ist ferner Thatsache, daß alle Bischöfe dem Plane bereitwilligst zustimmten; bald darauf wurde eine Eingabe an den Papst entworfen, in der der heilige Vater um seinen Segen und um die Ernennung Langrand’s zum Vorstande des Unternehmens gebeten wurde. Die päpstliche Antwort traf denn auch rasch genug ein; schmunzelnd gab Seine Heiligkeit den Segen, Langrand wurde vom Papste zum Chef der Unternehmung, welche das Capital christianisiren sollte, und zugleich zum päpstlichen Hausgrafen und Kämmerer ernannt, nachdem schon vorher verschiedene Potentaten seine Brust mit Orden geschmückt hatten. Am 12. April 1864 war die Eingabe an den heiligen Vater abgesandt worden, und schon am 21. April, also mit einer in Rom sonst gar nicht gebräuchlichen Schnelligkeit und Eile, war die päpstliche Antwort in Brüssel.

Aber nicht einmal die Antwort wurde von Langrand abgewartet; denn schon am 12. April, also am Tage, an welchem das Schreiben nach Rom abging, gründete er mit Hülfe der Herren de Dekker, d’Anethan, Graf de Liedekerke, Beauffort und Anderer die „Banque de crédit foncier industriel“ mit dem Sitz in Brüssel und einem Capital von fünfzig Millionen Franken. Diesmal war Ungarn der Schauplatz, der ausgebeutet werden sollte; mit belgischem Gelde sollte in Ungarn Grund und Boden massenhaft gekauft, derselbe wieder in einzelnen und kleineren Stücken verkauft werden. Die Betrügereien, die dabei verübt wurden, grenzen geradezu an’s Fabelhafte. Aus dem Processe, der sich in den letzten Wochen abspielte, ging hervor, daß Langrand’s Agenten, die den Grund kauften, der Gesellschaft oft den vier- und fünffachen Preis anrechneten und den Ueberschuß mit Langrand theilten; zugleich wurde der Werth dieser Güter in den Büchern auf unnatürliche Weise erhöht, zu keinem andern Zwecke, als um die hohen Dividenden erklärlich finden zu lassen, die man auch hier einfach dem Capitale entnahm. Langrand besoldete ein ganzes Heer von Agioteurs, die den Cours der Bankactien künstlich in die Höhe treiben mußten, und hochstehende Herren mit hochadeligen Namen schämten sich nicht, von Langrand Trinkgelder anzunehmen! Selbst der päpstliche Nuntius in Brüssel, Msgr. Cattani, bekam hunderttausend Franken, eine Thatsache, die den klerikalen Journalen sehr viel zu schaffen machte und die trotz aller Ableugnung nicht umgestoßen werden konnte. Langrand, der päpstliche Graf, sollte aber später noch andere Gelegenheit finden, der Curie für ihre Dienstwilligkeit und für seine Rangerhöhung seinen Dank auf sehr reelle Weise auszudrücken; denn es wäre doch mehr als ein Wunder gewesen, wenn der allzeit Geld bedürftige heilige Stuhl die Gelegenheit nicht beim Schopf ergriffen hätte, einem so erklärten Finanzgenie, wie Langrand, die ehrenvolle Aufgabe zuzuweisen, das Danaidenfaß seiner Finanzen zu füllen.

Wie sich leicht denken läßt, entstanden in den Cassen der einzelnen Geschäfte Langrand’s große Lücken, die sofort gedeckt werden mußten. Er half sich, indem er zufälligen Geldvorrath eines Geschäfts nahm und ihn dem andern übertrug, d. h. mit anderen Worten, indem er ein Loch grub, um ein anderes zu füllen. War kein Geld vorhanden, um den Actionären einer Unternehmung Zinsen und die versprochenen Dividenden zu bezahlen, so war Langrand nicht verlegen: er gründete sofort eine neue Unternehmung und befriedigte von dem Gelde, welches die neuen Actionäre einbezahlt hatten, die alten, für welche pfiffige Operation Langrand einen eigenen Namen erfunden hatte, indem er sie „die Solidarität seiner Unternehmungen“ nannte.

Um das Princip dieser Solidarität im großartigsten Maßstabe durchführen zu können, gründete Langrand den „International“ mit dem bescheidenen Capital von 200,000,000 Franken! Derselbe hatte denselben Zweck, wie der „Industriel“, nur sollte er die Operation des letztern „über die ganze Welt“ verbreiten, zu welchem Zweck der International eigentlich den großen Centralcanal bilden sollte, aus welchem die kleineren Unternehmungen gespeist würden. Jedoch nach dem Princip der Solidarität verschlang der International sofort nach seiner Gründung das ganze Capital des Industriel!

Die Hauptschwierigkeit bildete nun aber natürlich die Unterbringung der Actien des „International“. Mit gewöhnlichen Mitteln dies zu bewerkstelligen, war eine baare Unmöglichkeit, was Langrand selbst recht gut wußte. Die Geldverlegenheit des heiligen Stuhles rettete ihn diesmal aus der Verlegenheit. Ein päpstliches Anlehen wurde von Langrand denn auch ausgeschrieben und jeder, der eine päpstliche Obligation al pari nahm, bekam gratis als Prämie eine Actie des „International“! Nun stand der Cours der päpstlichen Schuld damals auf fünfundsiebenzig Procent, für das Uebrige bekamen die Gläubiger eine Hypothek auf das Paradies oder, wenn man lieber will, ein „Fegefeuerbefreiungscertificat“. Wie man sieht, lag wirklich Methode und Plan in dieser Katholisirung des Capitals. Es sollte aber noch besser kommen.

(Schluß folgt.)




Aus der Wandermappe der Gartenlaube.
Nr. 7. Auf dem Victoriaberge bei Remagen.

„Der Salondampfer,“ erzählte ich auf einem Spaziergange bei Remagen meiner Begleiterin, einer sehr liebenswürdigen Dame, „war außerordentlich reich besetzt. Zwischen langen Engländerbeinen und noch längeren Damenkleiderschleppen arbeiteten wir uns mühsam durch, um auf dem Verdeck ein behagliches Plätzchen zu erobern. Erst oberhalb Köln gelang es uns, und nun räumten wir die beste Stelle am Frühstückstisch einem Gefährten ein, dem wohl jeder der zahlreichen Fahrgäste gern sofort Platz gemacht hätte, wenn Einer von uns seinen Namen genannt haben würde. Mir fielen Dingelstedt’s Verse ein, mit welchen er eine Rheinfahrt des alten Uhland schilderte:

Die du stolz und wellenmächtig meerwärts fliegst auf raschen Bahnen,
Warum schweigen deine Böller, warum feiern deine Fahnen?
Warum schmücket keine Flagge jenen Mast, kein Kranz die Raa?
Trägst doch einen König heute, Königin Victoria!“

„Und wer war Ihr Gefährte?“ frug die Dame.

„Ein deutscher Dichter, gnädige Frau! Erlauben Sie mir, im Style einer Novelle zu erzählen und den Namen bis zum Culminationspunkt zu verschweigen. Wenn wir auf dem untern Plateau des Victoriaberges angekommen sind so zeige ich Ihnen seine ehemalige Heimstätte Unkel –“

„Also Freiligrath war es?“ rief die junge Frau.

„Ich konnte nicht ahnen, daß eine Dame, deren Geburtsjahr ein Decennium später, als des Dichters Aufenthalt am Rhein liegt, seine Biographie so genau kennen würde.“

„Als ob ich nicht wüßte, daß Freiligrath in Unkel seine Gattin gefunden, daß er in Rolandseck die Ruine neu erbaute und daß sein herrliches Liebeslied aus der Unkeler Zeit stammt!“

„Desto besser. – Sehen Sie, da taucht schon der Rolandsbogen auf. In der Neujahrsnacht 1839 zertrümmerte ein Sturm die Ruine, Freiligrath schrieb und sammelte ein Rolands-Album und ließ für den Ertrag den Bogen durch den Kölnischen Dombaumeister Zwirner wieder aufrichten.“

„Ein weit sichtbares Wahrzeichen, eine stolze, schöne Erinnerung für einen Dichter!“

„Nicht wahr – und wenn der Dichter nun achtzehn Jahre lang verbannt gewesen und sieht das Wahrzeichen zum ersten Male wieder! – Als uns, wie ich bereits erzählte, der Salondampfer von Köln rheinaufwärts trug, geleiteten wir den eben aus England heimgekehrten Freund nach Rolandseck, um ihm von dem wiedergewonnenen Heimathboden sogleich denjenigen Punkt zu zeigen, an welchen sich seine liebsten Erinnerungen

[428] knüpften. Dort aber standen wir um ihn gruppirt, und als nun der Drachenfels, den er so schön besungen, als Unkel vor uns lag, darin er sogar das Fenster seines Wohnzimmers wieder erkannte, trug Emil Rittershaus einen Gruß der Heimath an den Heimgekehrten vor. Seitdem ist mir der Rolandsbogen doppelt werth.“

„Und nun interessirt er auch mich in erhöhtem Maße,“ sagte meine liebenswürdige Begleiterin. „Ich will ihn hier, auf dem unterm Plateau des Victoriaberges, mit Ruhe betrachten; inzwischen berichten Sie mir, warum lerne ich erst heute diese schöne Partie kennen? Remagen und seinen Apollinarisberg besuche ich seit vielen Jahren und Niemand sagte mir von diesem Victoria-Berge.“

„Weil derselbe erst seit einem Jahre zugänglich gemacht wurde. Der fünfhundert Fuß hohe Berg wurde bis dahin den Vögeln des Waldes allein überlassen; die schlichten Bauersleute, die das Eichengestrüpp zur Gewinnung der Lohrinde hier fällten, waren für die Schönheit des Punktes unempfänglich. Einmal aufmerksam gemacht, daß hier eine Stelle sei, die der berühmten Rossel bei Bingen ähnlich, bildeten Remagens Bewohner einen Verschönerungsverein, kauften Grundstücke, ließen Waldwege hauen und planiren, Lichtungen schlagen, Einschnitte überbrücken und führten Mooshütten, Pavillons und Erfrischungshallen an den Hauptpunkten auf.“

Auf dem Victoriaberge bei Remagen am Rhein. [Nach] einem größeren Bilde des Malers Jungheim in Düsseldorf.

„Wir wollen gehen, wollen sehen und hören – Amsel, Fink und Nachtigall sollen uns das Wanderlied singen, und was von romantischen Erinnerungen sich an den Ort knüpft, sollen Sie mir erzählen – ich habe fast Alles vergessen.“

„Remagen ist römischen Ursprungs. Man fand hier ehedem römische Alterthümer und Rigomagus wurde auf einem anderthalb Jahrhunderte nach Christi Geburt gesetzten Meilenstein als Station der nach Köln führenden Heerstraße bezeichnet. Aus der spätern christlichen Zeit stammt noch ein alter Thorbogen mit vielen Sculpturen, ein wunderliches Gemisch heidnischer und biblischer Gestalten. An den Hügel drüben knüpft sich eine Legende. Das Schiff, welches die Reliquien der heiligen drei Könige von Mailand nach Köln trug und zugleich des Bischofs Apollinaris Gebeine barg, wollte nicht von der Stelle, bis die letzteren in der Martinscapelle beigesetzt waren. Capelle und Berg erhielten dann den Namen von St. Apollinar und fromme Pilger wallfahrteten zu diesem Gnadenorte, der einen erhöhten Glanz bekam, als Graf Egon von Fürstenberg 1836 durch Zwirner die Kirche erbauen ließ, deren Inneres mit Fresken von Deger, Ittenbach, Karl und [429] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.


Andreas Müller aus Düsseldorf überreich ausgeschmückt wurde. Entfalten wir jetzt die hübsche Lithographie, die des Düsseldorfer Landschafters Jungheim ganz vortreffliche Zeichnung treu wiedergiebt, sie bietet uns einen Vorgeschmack des Genusses, der uns erwartet. Vom Victoria-Tempel am westlichen Endpunkt des Berges aufgenommen, giebt sie im Vordergrunde diesen Tempel; der kleinere rechts ist die Hofreiden-Terrasse, eine Eremitage liegt noch zwischen beiden im Walde versteckt.“

„Genug! Ich sehe den Rhein dort schon durch das Grün der Tannen – das Plateau liegt vor uns, kommen Sie!“

Meine liebenswürdige Begleiterin war mit diesen Worten vorausgeeilt. „Gott sei Dank,“ sagte sie, „daß die zahlreiche Gesellschaft, die der Maler zum Schmuck des Bildes anzubringen für gut befunden, nicht lärmend und bewundernd uns umgiebt. Hier unter dem Strohdache scheint der beste Punkt zu sein. Ich gestehe, die Aussicht gehört zu den schönsten, die ich jemals genossen trotz dem Tempel auf dem Niederwald bei Bingen, mit welcher schönen Stelle man diese am ehesten vergleichen kann, weil auch dort der Rhein auf sehr weite Entfernung übersehen wird.“

„Wie das flatternde Band, das ein Engel auf vielen Gemälden und Sculpturen zwischen seinen Händen ausbreitet, erscheint hier der Rhein in der Mitte nach unten gelegen und an beiden Enden gezackt auslaufend. Links bilden Nonnenwerth, rechts das Eiland vor Andernach den Zacken. Vom Drachenfels, also auf der äußersten Linken, das jenseitige Ufer betrachtend, sehen wir vor uns: Rheinbreitbach, Unkel, Scheuern und Bruchhausen. Uns gerade gegenüber liegt Erpel, der Basaltfelsen ist die Erpeler Lei; dann kommt, immer hart am Ufer, Kasbach, Linzerhausen, Linz mit dem Dattenberg, dann Leubsdorf und Hönningen. Und überblicken wir nun, von links beginnend, das diesseitige Ufer, so haben wir Rolandseck, Oberwinter, die moderne Burg Marienfels und die Apollinariskirche. Zu unseren Füßen liegt Remagen; rechts, vom Ufer eine halbe Stunde entfernt, Sinzig, und über Niederbreisig und Brohl sehen wir Andernach. Auf volle neun Stunden Wegs überblicken wir den Lauf des Rheins. Doch Sie haben mir kaum zugehört, gnädige Frau!“

„Ich dachte eben darüber nach, warum des Rheines schöne Bilder sich ungleich tiefer uns einprägen, als Alles, was wir von Naturschönheiten, selbst viel großartigeren, anderer Gegenden sehen.“

„Ich glaube, es rührt das daher, weil der Rhein, wie die Thüringer Lande von einem Zauber von Romantik umwoben, in jedem empfänglichen Herzen poetische Gefühle weckt, weil seine Berge,

[430] seine Ruinen, seine Reben Klänge wachrufen, die unsere Dichter in unseren goldenen Jugendtagen uns in’s Herz gesungen. An die rührendste Ballade Schiller’s gemahnt uns dort der Rolandsbogen, obgleich Ritter Toggenburg dem Boden der Schweiz angehört. Wir gedenken des Nibelungenliedes, obgleich der Drachentödter Siegfried nur dem Namen nach an den Drachenfelsen erinnert –“

„Aber Sie erwähnten auch eines Liedes von Freiligrath. Warum kenne ich dasselbe nicht?“

„Weil es in der leider sehr wenig verbreiteten Sammlung ‚Zwischen den Garben‘ erschien. Es lautet:

Hoch stand ich auf dem Drachenfels,
Ich hob die Hand, ich biß die Lippen:
Mein Jagdhund, freudigen Gebells,
Schlug an im Wiederhall der Klippen.
Er flog hinab, er flog hinan
Er flog, als ob ein Wild ihm liefe!
Ich aber stand, ein froher Mann,
Und bog hinab mich in die Tiefe.

In seiner Trauben lust’ger Zier,
Der dunkelrothen, wie der gelben,
Sah ich das Rheinthal unter mir
Wie einen Römer grün sich wölben.
Das ist ein Kelch! Die Sage träumt
An seinem Rand auf moos’ger Zinne;
Der Wein, der in dem Becher schäumt,
Ist die Romantik, ist die Minne!

Ha, wie er sprüht! Kampf und Turnier!
Die Wangen glühn, die Herzen klopfen!
Es blitzt der Helm und das Visir,
Und schöne, frische Wunden tropfen.
Und hoch im Erker sinnend steht,
Vor der sich senken alle Fahnen.
Was bin ich so bewegt, was weht
Durch meine Brust ein selig Ahnen!“

Während ich recitirte, hatten wir unsere Wanderung fortgesetzt, um auch die anderen schönen Punkte des Victoriaberges zu erreichen. Die „Eremitage“ heißt das zweite Plateau. Hier erscheint das vor uns liegende Landschaftsbild in engerem Rahmen, wir haben nur die Hälfte des großen Panoramas zu übersehen, von Erpel bis Andernach. Vor Allem imponirt uns hier das Siebengebirge, dessen Kuppen hier ganz im richtigen Verhältnisse ihrer Höhe erscheinen.

Durch einen auf der Hochebene sich weit ausbreitenden Tannenwald, den angenehmen Duft des Harzes einathmend, überall von Inschriften am Wege geleitet, kamen wir nach der „Hofreiden-Terrasse“ (Freiden, die First des Fußes; Hofreiden soviel wie hohe First), die dritte Station, die „goldene Meile“ der Römer, wo wir die Städte Sinzig und Linz im Vordergrunde haben, auf der Höhe Schloß Rheineck erblicken, die Thürme von Andernach sehen und weit in’s Eifelgebirge hineinschauen.

Meine Begleiterin wurde nicht müde. „Wissen Sie, gnädige Frau, daß dies rastlose Genießen eigentlich eine fatale Folge unserer Eisenbahnreise ist? Wir gönnen uns keine Ruhe mehr. Zu Schiller’s Zeit schlug die Uhr keinem Glücklichen, jetzt schlägt die Bahnhofsglocke Allen, die sich glücklich schätzen sollten, der Locomotive entronnen zu sein.“

„Ich aber will erst ruhen, wenn wir auf der letzten Station sind.“

„Sie heißt der Reis-Pavillon, richtiger wäre Reiser-Pavillon. Der Bergrücken, dessen äußerste Spitze das Moosdach krönt, scheidet das Rheinthal vom Ahrthale. Es ist ein Hauptvorzug des Victoriaberges, daß wir den schönsten Nebenfluß des Rheins, die Ahr, zugleich mitgenießen. Während wir zur Linken Alles, was wir vom Rhein gesehen, nochmals überblicken, sehen wir rechts mitten in’s Ahrthal hinein, über die ‚Landskrone‘ und Neuenahr über Bodendorf nach Walporzheim, und den Horizont begrenzen die Kuppen der Eifel, deren Eine mit der Ruine der Burg Olbrück meilenweit in’s Land hinaussieht. Als ich zum ersten Male diese Gegend betrat, achtzehnjährig, von Bonn aus, war sie ungleich mehr als jetzt von Dichtern und ihren Gesellen bevölkert. Um Freiligrath in Unkel gruppirten sich Anno 1841 Simrock von Bonn, Pfarrius von Köln, Levin Schücking von Münster, Matzerath, Müller von Königswinter – der joviale Maler mit dem Pfropfenzieher-Monogramm –, Adolph Schroedter von Düsseldorf etc. Es war eine poetische Zeit, ganz anders wie jetzt …“

„Weil Sie mittlerweile dreißig Jahre älter geworden, erscheint Ihnen die Gegenwart nicht mehr so, wie die Vergangenheit …“

„Nicht deshalb, gnädige Frau! Das politische Leben hatte durch die Thronbesteigung Friedrich Wilhelm des Vierten einen Aufschwung bekommen, es ging ein frischer Hauch durch die Geister, Herwegh sang seine ‚Lieder eines Lebendigen‘, Prutz, Dingelstedt, Hoffmann von Fallersleben wurden von Jung und Alt gelesen, wir feierten des alten Arndt Wiedereinsetzung, Greise trugen ihm zu Ehren die Fackel. Jetzt erscheint mir Alles wie todt, selbst die Jugend hat kein Feuer mehr.“ –

Der Lärm des Städtchens Remagen, in das wir eben zurückgekehrt waren, und von welchem der Victoriaberg nur zehn Minuten Weges entfernt liegt, unterbrach unser Gespräch. Im Hôtel Fürstenberg verehrte der Besitzer, Herr O. Caracciola, meiner Begleiterin zum Andenken ein Autograph Freiligrath’s; in der Zeit seines Aufenthalts in Unkel und St. Goar hatte er oft mit ihm correspondirt. Wir tranken auf des Dichters baldige Heimkehr in sein geliebtes Rheinland.




Der Bergwirth.
Geschichte aus den bairischen Bergen.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)

„Mein Vater – was ist’s mit ihm?“ rief Juli hastig und faßte den Arm des Pfarrers. „Ich hab’ mir gleich gedacht, es geht ihn an, weil Sie zu mir kommen. … Er ist verhandelt worden? Nicht wahr – sie haben ihm das Urtheil gesprochen? … O mein Gott, mein Gott …“ setzte sie in rückhaltlosem Schmerzensausbruch hinzu und bedeckte mit beiden Händen die überströmenden Augen.

„Du hast es errathen, meine Tochter,“ erwiderte der Seelsorger, „ich habe es übernommen, das traurige Geschäft, Dir diese Mittheilung zu machen und Dich auf die Nachricht vorzubereiten, die Dir doch bitter schmecken wird wie Galle, wenn Du auch lange gewußt, daß der Trank nicht an Dir vorübergehen könne. Ich habe aber erst vorhin wieder bei meinem Eintreten die Kraft und Entschlossenheit Deines Gemüths erkannt und verhoffe zu Gott, Du werdest in christlicher Ergebung das Kreuz auf Dich nehmen, das der Herr einmal zu tragen Dir auferlegt … Gestern hat wider Deinen Vater, das verirrte Schaf aus meiner Heerde, die Verhandlung stattgefunden, zu welcher auch ich geladen war, um als Seelsorger der Gemeinde anzugeben, was mir bekannt geworden über das Leben und Treiben des Angeklagten, seine Gemüthsart und …“

„Und das Urtheil, Herr Pfarrer … das Urtheil …“

„Wirst Du erfahren, meine Tochter, wenn ich Dir Alles der Reihe nach erzählt,“ fuhr der redselige Mann unbeirrt fort. „Ich habe noch nie Gelegenheit gehabt, eine solche Verhandlung zu sehen, und kann es nicht leugnen, daß es mir einen feierlichen Eindruck machte, als ich in den großen Gerichtssaal trat und die Richter sitzen sah und den öffentlichen Ankläger, die Geschworenen – Bürger und Bauern durcheinander und gegenüber das Volk, Kopf an Kopf gedrängt – mir war beinahe wie damals, als ich zum ersten Male auf die Kanzel treten mußte … das ist ein erhebender Anblick, und es wird wohl auch Anderen so zu Muth werden, als stände er dem Engel der Gerechtigkeit unverhüllt gegenüber, dem das Schwert gegeben ist auf Erden …“

„O Vater – armer unglücklicher Vater …“ rief Juli unter leisem Weinen.

„Es war todtenstill, als er eintrat – oder vielmehr hereingeführt wurde von den Gensd’armen zu der hölzernen Bank, auf [431] welcher der Angeklagte sitzen muß, den Geschworenen gerade gegenüber … er sah blaß aus, wohl von der langen Gefangenschaft, an die er nicht gewöhnt ist und während deren er Zeit genug gehabt, über sich und alles das Seine nachzudenken … ich bin sonst nicht weichherzig, aber es ging mir ein Schnitt durch die Seele, wenn ich mir dachte, wie ich kurz vorher ihn noch hier gesehen habe, in Mitte seines schönen Besitzthums … ein fröhlicher, kräftiger, vielleicht überkräftiger Mann, und jetzt … Doch ich will Dich nicht noch mehr erweichen, mein Kind,“ fuhr er fort, da das Weinen lauter wurde, „ich will Dir rasch erzählen, wie ihm dann die Anklageschrift vorgelesen wurde, in der war es haarscharf zusammengestellt, was geschehen war, und daß Niemand Anderer dafür strafbar sei als der Angeklagte – wie viel Wunden es gegeben und gebrochene Glieder – denn glücklicherweise hat kein Mensch das Leben dabei eingebüßt – und welcher Schaden entstanden war an der Eisenbahn und an den Wägen. Dann wurde Dein Vater zur Antwort aufgerufen und er antwortete, ganz wie ich mir’s von ihm erwartet hatte – er gestand ohne Rückhalt ein, was er gethan, aber er erzählte auch, wie er dazu gekommen, und wie die drohende Verarmung und der immerwährende Verdruß ihn immer mehr gereizt und erbittert hatten, daß er zuletzt seiner nicht mehr recht bewußt und mächtig gewesen und er gar nicht anders gekonnt habe. Das war’s auch, was der Vertheidiger, der dann zu reden kam, so deutlich zu machen verstand, daß man meinen konnte, er sei hinter dem Bergwirth gestanden und habe ihm zugeschaut, wie er den Eichbaum hinunterrollte – es leuchtete mir selber ein und auch den Geschworenen muß es so gegangen sein, denn obwohl der Staatsanwalt mit aller Gewalt dagegen war und meinte, für eine so gefährliche That, die vielen Menschen das Leben hätte kosten können, sei lebenslängliches Gefängniß noch eine viel zu gelinde Strafe, waren sie doch dafür, daß der Bergwirth sich im Augenblick der That im Zustande einer so hochgradigen Aufregung befunden, daß ihm die ganze Schwere derselben nicht bewußt gewesen, also auch nicht ganz zugerechnet werden könne … So ist’s bei fünf Jahren – Zuchthaus geblieben …“

„Fünf Jahre …“ rief Juli auftaumelnd. „Mein Gott – das ist eine Ewigkeit … das übersteht er nicht … und Zuchthaus – der reiche angesehene Bergwirth im Zuchthaus, und seine Tochter, die Tochter eines …“

„Aengstige Dich nicht – wie Du keinen Theil hast an der Schuld Deines Vaters, wird Dich auch von seiner Strafe nichts treffen – kein Mensch wird Dich deshalb auch nur mit einem scheelen Auge ansehen, sondern vielmehr Dich bedauern und Dir behülflich sein …“

Juli schien über etwas nachzudenken. „Und dagegen giebt’s keine Hülf’ mehr?“ sagte sie dann nach einer Pause.

„Keine – als die Gnade des Königs, aber auf diese ist wenig oder vielmehr keine Hoffnung, mein Kind – den Herren vom Gericht war das Urtheil ohnehin nicht recht, sie meinten, es sei viel zu gnädig ausgefallen und es wäre nothwendig gewesen, ein recht scharfes Exempel zu statuiren … Darum füge Dich in christlicher Geduld in das Unvermeidliche … fünf Jahre sind keine Ewigkeit, wie Du im Uebermaß Deines Schmerzes gesagt … in Gebet und Ergebung wird auch diese leidenvolle Zeit für Dich und für den Verurtheilten vorübergehen, und dann …“

„Dann – ja dann,“ sagte Juli und legte die Hand an die Stirn, „ich denke, was ich dann zu thun habe, das weiß ich …“

„Schön, meine Tochter,“ erwiderte der Pfarrer, indem er sie etwas überrascht ansah, „ich freue mich, daß Dir Gott so viele Fassung verleiht in diesen schweren Heimsuchungen – denn leider, Du wirst das selber begreifen, ist das erst einer der ersten Ringe in der Leidenskette, die Dich erwartet. Das Gericht hat Deinen Vater auch in alle Kosten und Schäden verurtheilt …“

„Ja ja – ich begreif’ es wohl,“ sagte sie dumpf und mit bitterm Lächeln, „sie werden kommen und das Bergwirthshaus versteigern um das, was Einer gern dafür geben will!“

„Das ist nun nach dem Gange des Rechts nicht zu vermeiden – aber wenn ich nicht irre, hast Du ja ein ganz ansehnliches mütterliches Erbtheil zu fordern, das Allem vorgeht ... Du wirst ohne Zweifel längst einem Advocaten die Wahrung Deiner Rechte übertragen haben.“

Sie schüttelte den Kopf und sah ihn groß an, als verstünde sie nicht recht, was er gesagt. „Gott soll mich bewahren,“ sagte sie, „daß ein einziger Mensch, dem durch meinen Vater Unrecht geschehen ist, meinetwegen auch nur einen Kreuzer an dem verlieren soll, was ihm gehört …“

„Und was willst Du dann beginnen, gutes, aber thörichtes Kind?“ sagte der Pfarrer, indem er ihr wie segnend die Hand auf den Scheitel legte. „Wovon gedenkst Du zu leben?“

„Deswegen ist mir keinen Augenblick bang’,“ sagte sie, „ich versteh’ die Wirthschaft aus dem Grund’ und habe sonst auch noch allerhand gelernt; ich kann arbeiten und will arbeiten, und so wird sich wohl irgendwo ein Dienst für mich finden …“

„Geh’ hin, meine Tochter,“ rief der Pfarrer salbungsvoll, indem er Hut und Stab ergriff, „geh’ hin und thue, wie Du gesagt, und der Herr wird mit Dir sein! Solltest Du aber nicht wissen, wohin Du Dich wenden könntest, so komm zu mir – meine Schwester bedarf schon lange in der Wirthschaft einer kundigen und verlässigen Helferin, sie kann keine bessere finden, als Dich – darum komm’ in meinen Pfarrhof, wenn Du einen Dienst suchest – er soll Dir wie ein zweites Vaterhaus sein!“

Mit etwas erleichtertem Gemüth gab sie dem würdigen Herrn das Geleit; trotz aller Entschlossenheit war, wenn sie vorsorgend der Zukunft gedacht hatte, der Gedanke, wo sie wohl eine Unterkunft finden würde, und das Suchen nach einer solchen ihr höchst qualvoll und peinlich gewesen – nun war auch diese Sorge gehoben, sie wußte, wohin sie sich zuerst flüchten konnte, wenn die schwere Stunde schlagen würde.

Und sie schlug nur zu bald.

Da keine Gefahr auf Verzug gewesen, war der Zwangsverkauf bis zum Beginn des Frühlings hinaus verzögert worden, weil um diese Jahreszeit die Reise nach dem schön gelegenen Bergwirthshause für alle Betheiligten zugleich als ein angenehmer Ausflug gelten konnte. Ueberraschenderweise fanden sich außer den Beamten wohl viele Neugierige aus der Nachbarschaft ein, aber wenig Kauflustige – das üble Schicksal, das dem Gute zu Theil geworden, mochte Manchen abschrecken. Unter den Wenigen befand sich der dicke Viehhändler, der Haus, Ställe und Scheune mit geringschätzigen Blicken musterte und den von der alten Magd bedienten Gästen mit lärmender Stimme vorerzählte und vorrechnete, wie Alles abgeschwendet und heruntergekommen sei, und wie man so recht in jedem Winkel sehen könne, was es um die Wirthschaft von Weibern sei, und wenn dieselben auch noch so hochmüthig wären und noch so siebengescheidt. Es galt Juli, die, ohne sich um die Anwesenden zu bekümmern, in der Nähe der Gerichtspersonen saß, um zu erwarten, in wessen Hand sie künftig die schöne liebe Heimath denken müsse, die der Schauplatz einer glücklichen Jugend gewesen und der zwar kurzen, aber desto schöneren Zeit einer verlorenen Liebe.

Die Versteigerung endete damit, daß das Bergwirthshaus dem Viehhändler zugeschlagen wurde – um einen Preis, der dem wahren Werthe selbst unter den gegebenen schlimmen Verhältnissen auch nicht annähernd entsprach, und den er mit der prahlerischen Miene eines geldstolzen Menschen aus seinem Leibgurt in Münze und Papier sofort auf den Gerichtstisch hinzahlte, als wäre es der Kaufpreis für irgend ein Stück Kleinvieh, das er so nebenher eingehandelt.

„Wie ist es jetzt?“ fragte er dann, indem er sich mit beiden ausgespreizten Händen auf den Gerichtstisch stützte. „Wann bin ich jetzt der Herr vom Bergwirthshaus? Kann ich jetzt machen was ich will?“

„Allerdings!“ entgegnete der Beamte nach einigem Besinnen, „es ist Niemand vorhanden, der berechtigt wäre, Einspruch zu thun, und da der Kaufschilling vollständig erlegt worden, stehe ich nicht an, Euch den förmlichen Zuschlag sofort zu ertheilen … Ihr seid von diesem Augenblick der Herr vom Bergwirthshause!“

„Der Herr! Das ist’s, was ich haben will!“ rief der Metzger mit rohem Lachen „Und wer Herr im Haus ist, der hat auch das Hausrecht und kann den oder die hinausschaffen, die er nicht drinnen haben will. … Verstanden? Ich mein’ wohl, ich red’ deutsch, daß es verstehen kann wen’s angeht.“

Juli, obwohl anfangs bitter berührt durch den Ausgang des Verkaufs, hatte bald die Absicht des Viehhändlers durchschaut und trat ruhig an den Tisch. „Ich werde das Haus noch in dieser Stunde verlassen,“ sagte sie, „mein kleines Gepäck ist schon geordnet und bereit …“

„Aha, das Gepäck muß ich mir erst betrachten,“ lachte der [432] Metzger, „ich bin jetzt der Herr hier – verstanden, Jungfer? Ich lass’ nichts daraus so mir nichts Dir nichts fortschleppen, was sie etwa brauchen kann …“

„Dazu habt Ihr kein Recht,“ unterbrach ihn der Notar, „die Tochter des bisherigen Eigenthümers darf ungehindert ihre Habseligkeiten mit sich hinwegnehmen … auch dürfte es dem neuen Besitzer ganz wohl anstehn, sich gegen die Tochter seines Vorfahrers in etwas freundlicherer Weise zu benehmen.“

Der Mann hatte der allgemeinen Stimmung den Ausdruck gegeben, ein ziemlich lautes und verständliches Gemurmel der Anwesenden bezeugte das, aber der Metzger im Vollgenuß sich sättigender Rache kehrte sich nicht daran, sondern blickte trotzig über sie hin, bereit, es auch mit Allen aufzunehmen. „Wer hat was einzuwenden dagegen?“ rief er in herausforderndem Ton. „Wen geht’s was an, was wir Zwei mit einander abzurechnen haben? Ihr hört’s ja von ihr selber, daß sie gehn will … vielleicht thät’ ihr der gewisse Gulden gut auf dem Weg, den sie stolz in die Armenbüchsen geworfen hat! Alles geht um auf der Welt, heut’ unten, morgen oben, heute mir, morgen Dir … ist noch nit lang’, daß sie mich aus dem Haus geschafft hat – jetzt ist einmal der Stiel umgekehrt!“

Juli hörte den Hohn des Uebermüthigen nicht mehr ganz; sie war der Stube enteilt, hatte ein schon bereitgehaltenes Bündel ergriffen und war aus dem Hause gestürzt, halb geblendet von den unaufhaltsam hervorstürzenden Thränen, halb erstickt von aufquellender Bitterkeit des Herzens, die sie doch niederkämpfen mußte, denn sie hatte sich vorgenommen, Niemand solle sagen können, daß er einen Laut der Klage von ihr gehört. Sie dachte und fühlte nicht, welche Schwelle es war, die sie verließ, um sie nie wieder zu betreten; sie wandte sich nicht zurück, um mit Blick und Hand dem Vaterhause Fahrwohl zu sagen, auch wenn der Mund ihr den Dienst versagt hätte; nicht rechts, nicht links blickend, ging sie hastigen Schrittes die Bergstraße hinab, auf der nun schon keimender Rasen sich breit zu machen begann. Vergebens streckte der wohlbekannte Apfelbaum ihr die Aeste nach und warf Blüthen auf den Weg, den sie achtlos trat; vergebens schüttelten sich die Buchen in dem neuen frischen Laub, und die Tannen streckten sich, um aus ihren dunklen Zweigen die jungen grünen Keimspitzen zu drängen; es war umsonst, daß ein Rothkehlchen zwitschernd unaufhörlich vor ihr herflatterte, als wolle es ihr durchaus den lustigen Busch zeigen, in dem es sein Nest eingebaut hatte; sie gewahrte selbst das Paar muntrer Bachstelzen nicht, das an der Mauerbrücke über der Schlucht des Westerbachs tänzelnd hin und wieder hüpfte, und das doch dem Mädchen, dem es begegnet, ein sicheres Vorzeichen ist, daß ihm bald das Brautkränzel geflochten werde.

Sie beachtete nicht einmal, als sie am Fuße des Berges die Eisenbahn erreichte, welche Veränderungen der Bau dort hervorgerufen hatte; achtlos schritt sie an dem Bahnwärterhäuschen vorüber, welches an der Bergecke die unvermeidliche Krümmung zu hüten hatte; ohne Aufenthalt eilte sie, das Geleise überschreitend, am Waldrande hin, zu dessen linker Seite sich durch eine nasse Niederung, den nicht völlig trockengelegten Ueberrest eines frühern Sees, der Weg nach einem unweit gelegenen kleinen Marktflecken zog, während rechts ein anderer durch schönen lichten Laubwald gemächlich wieder bergan stieg. Er führte zum Pfarrhof; eingedenk der freundlichen Einladung wollte Juli dort eine erste Zuflucht suchen.

Bald war die Anhöhe erreicht, wo das freundliche Haus, von dem hellgrünen Gartenzaun umgeben und zwischen Obstbaumwipfeln ihr über die Mauer des Kirchhofs entgegenwinkte, in welchem, rund um die unscheinbare Kirche gebettet, alle Gemeindeangehörigen ruhten, die schon in die Ewigkeit hinübergegangen. Auch ihre Mutter war unter den Ruhenden, und sie unterließ darum nicht, den bekannten Hügel aufzusuchen, zu einem herzlichen Gebete daran niederzuknieen in das fußhohe Gras und die nickenden Glockenblumen und dann eine Koralle des am Grabstein befestigten Rosenkranzes vorwärts zu schieben. Sie fühlte sich wunderbar getröstet und gestärkt, als sie sich wieder erhob, und mit freudiger Zuversicht schritt sie dem Pfarrhofe zu, sah sie doch im obern Stock das ehrwürdige Greisenhaupt des gütigen Mannes, der ihr versprochen hatte, ihr Vater sein zu wollen. Er stand an einem Pulte im Fenster und schien in eifriges Studium vertieft. Wenige Augenblicke später hatte sie die Glocke gezogen und stand im kühlen klosterhaft dämmerigen Hausgang der Schwester und Häuserin des Pfarrers gegenüber, die sie mit mißtrauischen Blicken betrachtete und nach ihrem Begehren fragte. Die Häuserin war eine hagere eckige Gestalt, ganz das Widerspiel ihres Bruders, mit einem mürrischen Gesicht und verdrossenen Augen. „Was will die Jungfer bei dem hochwürdigen Herrn Bruder?“ fuhr sie fort. „Wer ist Sie und wo kommt Sie her?“

„Ich bin die Tochter vom Bergwirthshaus drüben auf dem Westerberg,“ entgegnete Juli, deren Aussichten auf die Tage in diesem Hause sich merklich zu umdüstern begannen, mit unsicherem Tone. „Der Herr Pfarrer hat gesagt, daß ich zu ihm kommen soll … er wird es Ihnen wohl schon erzählt haben …“

„Der Hochwürden Herr Bruder hat mir nichts erzählt,“ rief die Häuserin, deren Verwunderung mit jedem Augenblick zunahm, wie Juli’s Betroffenheit. „Die Jungfer soll zu ihm kommen? Wegen was denn?“

„Weil ich für den Augenblick keine Heimath hab’,“ sagte das Mädchen und ihre Augen füllten sich mit Thränen gekränkten Selbstgefühls. „Sie wissen wohl, welch’ ein Unglück bei uns eingezogen ist; da hab’ ich ihm gesagt, ich wollt’ in einen Dienst gehn, und der Herr Pfarrer hat erlaubt, daß ich dann zu ihm kommen soll … seine Schwester brauche schon lang eine richtige und kundige Person, die ihr helfen und an die Hand gehn könne …“

„Wer? Ich?“ fuhr die Häuserin mit zornrothem Gesicht empor. „Ich soll eine Hülfe brauchen? Das ist mir noch im Traume nicht eingefallen; ich brauche Niemand, und wenn es darauf kommt, bin ich ganz wohl im Stand’, Andern auszuhelfen, daß sie aus dem Traum kommen! Ich brauche Niemand; da geh’ die Jungfer immerhin nur wieder ihre Wege … sie muß den Hochwürden Herrn Bruder falsch verstanden haben, oder er hat nicht gewußt, was er sagt, das kommt auch manchmal vor … wenn man so viel zu denken hat …“ setzte sie hinzu, um den schlimmen Eindruck des letzten Satzes zu vertilgen.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.


Literarischer Diebstahl. Wir sind abermals in der Lage, gegen einen Unfug Protest einlegen zu müssen, der nicht allein darum verdammenswerth ist, weil er als ein trauriges Zeichen vom Ungeschmack unserer Zeit erscheint, sondern noch mehr deshalb, weil er so recht die Schutzlosigkeit unserer Autoren und die – Keckheit vieler Bühnenleiter und sogenannter Bühnendichter beweist. Von dem Romane der Frau W. von Hillern „Der Arzt der Seele“ liegen gegenwärtig nicht weniger als drei dramatische „Bearbeitungen“ vor, die ohne Ausnahme als durchaus triviale Entstellungen und Verballhornungen der geistvollen Romandichtung unserer geschätzten Mitarbeiterin zu bezeichnen sind. Von diesen drei „Bearbeitungen“ ist jüngst die eine auf dem Victoriatheater des Directors Cerf zu Berlin über die Bühne gegangen, trotz und gegen die ausdrückliche Verwahrung der Frau von Hillern in der „Theaterchronik“. Wir überlassen es unsern Lesern, diese räuberische Brandschatzung, die der Romanschriftsteller auf solche Weise machtlos über sich muß ergehen lassen, zu beurtheilen, fürchten aber, daß unser Protest bei der vollständigen Gesetzlosigkeit, welche der Autor nach dieser Richtung hin in Deutschland zu beklagen hat, heute ebensowenig nützen werde, als der gegen die dramatischen Verunglimpfungen, welche in den letzten Jahren E. Marlitt erfuhr.


Eulen als Bruthennen. Mein Spaziergang führt mich häufig in’s Dörfchen E. bei Sch. In dem Kirchthurm desselben baut schon seit vielen Jahren ein Eulenpaar unter der höchsten Schallluke sein Nest. Die Aufsicht über den Thurm führt der Lehrer, der dieses Amt mit strenger Gewissenhaftigkeit verwaltet. Im vergangenen Jahre nun passirte diesem Biedermanne das Unglück, daß keine seiner Hennen, wie man hier zu sagen pflegt, „klucksch“ wurde, und die Aussicht auf Vergrößerung des Hühnerhofes sich als eine sehr traurige darbot. Aus Bescheidenheit wandte er sich nicht, wie es auf vielen Dörfern üblich, an einen Freund oder Nachbar, um sich zur Ausbringung seiner Hühnereier eine Klucke zu borgen, sondern er kam auf den originellen Einfall, der Eule ein halbes Dutzend Hühnereier unterzuschieben. Kurze Zeit darauf, als die Kinder zur Schule gehen, hören sie im Kirchthurm ein eigenthümliches Geräusch und machen ihrem Lehrer sofortige Meldung. Freudestrahlend eilt derselbe nach dem Kirchenboden, und, o Wonne! drei muntere Küchlein entrücken mit Sturmeseile der grausigen Nähe ihrer Feindin; die anderen drei waren auch ausgekommen, leider aber bei der Retirade verunglückt. – Augenblicklich brütet dieselbe Eule wieder Hühnereier, und gespannt wartet der Einsender auf das Resultat.

K.

Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.