Die Gartenlaube (1871)/Heft 13
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No. 13. | 1871. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Die zankende Stimme des Mädchens, die laut und gellend aus der Stube erklang, unterbrach den Sprechenden. „Steh’ auf, Lipp,“ sagte die Schwester lachend, „und geh’ hinein! Du hörst ja, daß es noch nit so gefährlich ist – ihrem Stimmstock wenigstens fehlt nix.“
Der Bauer erhob sich und eilte, so rasch er konnte, in die Stube; die Mahm folgte langsam und kopfschüttelnd. „Zum Sterben ist’s nit mit dem Mad’l,“ sagte sie vor sich hin; „aber sie kommt nit ’runter von der Alm, wie sie hinauf’gangen ist – das ist gewiß! Vielleicht hat mein Zureden doch was geholfen; oder es ist, wie ich mir denk’ – es ist warm ’worden in ihr – die Rinden ist gesprungen … ich mein’ alleweil, der Eisstoß will gehn.“
Die Witterungskunde trog die kluge Base nicht. In der That waren die Tage, welche jetzt auf dem Kurzenhofe folgten, nicht so sehr schlimm, als sie sich dieselben vorgestellt hatte, dennoch war in ihnen nicht allzuviel von der friedlichen Behaglichkeit zu sprechen, die der in sein schönes Töchterlein vergaffte Vater sich ausgemalt hatte. Sie hatten wirklich Aehnlichkeit mit dem Wetter des beginnenden Frühlings, wo bald trübes Gewölk vom Sturmwind über den Himmel gejagt wird, bald Regen herniedergießt, und Schneeflocken, die letzten Geschosse des noch auf dem Rückzuge kämpfenden Winters, darunter hineinwirbeln, wo manchmal der Frost über Nacht die schlafende Erde in demantene Ketten schlägt, die die erste Morgenstunde sprengt; wo aber das Alles doch nichts Anderes mehr ist, als der Kampf um eine verlorene Sache. Die Sonne ist schon zu mächtig, vor ihrer unwiderstehlichen Gluth schmilzt alle Erstarrung, und träufelnd und befruchtend wird gerade das, was zum bittersten Verderben gemeint war, zum Segen. Der Frühlingseinzug ist nicht mehr aufzuhalten, die Gräser lassen es sich nicht wehren, dem beglückenden Sieger ihren grünen Teppich unter den Fuß zu breiten, Baum und Strauch wetteifern, Knospen zu treiben und zu öffnen, damit es nicht an Blattgewinden und Blumen fehle beim Einzug. Aehnliches begab sich in Stasi’s Gemüth. Das Eine war schon in der ersten Stunde Allen klar geworden: sie war nicht zurückgekommen, wie sie gegangen.
Während sonst trauriger Eigensinn und widersprecherische Herrschsucht die überwiegende und ständige Stimmung gebildet, hatte jetzt der Wechsel die Oberhand; die Sturmzeichen waren nicht seltener als sonst, aber das Gewitter, das sie verkündeten, kam meistens gar nicht zum Ausbruch, sondern verzog sich mit einigem Wetterleuchten und verschwand ganz und gar, wie wenn in den oberen Luftschichten der Wind umspringt und ein Gewölk verjagt, dessen Entladung man schon gewärtig war. Stasi kämpfte mit sich selbst einen schweren Kampf. Zur Erkenntniß ihrer Unart erwacht, bemühte sie sich, gut und sanftmüthig zu sein, und die unangenehmen peinlichen Auftritte der alten Art, an denen immer noch kein Mangel war, waren nur vorübergehend und kurz, wie verloderndes Feuer, dem die Nahrung entzogen wird, ober wie versiechendes Wildwasser.
Noch am Abend ihrer Ankunft hatte sich das gezeigt, als man sie in die Wohnstube brachte, an welche seitwärts die Kammer stieß, in der sie und die Mahm ihre gewöhnliche Lagerstätte hatten. Der Knecht und die Magd, die sie geführt, wollten sie dahin geleiten; aber sie litt es nicht, stieß beide unsanft zurück und jammerte laut, daß man sie in eine dunkle Kammer sperren und schon bei lebendigem Leibe begraben wolle. Der verschüchterte Vater suchte sie zu begütigen, als er nachgekommen und die Base redete ihr zu, sie solle sich’s nur die Eine Nacht noch in der Kammer gefallen lassen, am andern Morgen könne sie dann nach Belieben das Zimmer aussuchen, in dem sie ihr Bett aufgeschlagen haben wolle. Es bedurfte aber all’ dieser Bemühungen nicht; denn schon die ersten Worte genügten, den Sturm verflattern und den Strom vertrocknen zu machen. Stasi nahm schweigend den Arm der Base und hinkte der Kammerthür zu.
„Sie ist ganz ruhig in’s Bett ’gangen und hat sich auf die andere Seiten gelegt, als wenn sie schlafen wollt’,“ flüsterte die Base, als sie nach kurzer Zeit aus der Kammer zurückkam. „Ich hab’ ihren Fuß angeschaut; er ist um den Knöchel herum stark angeschwollen – sonst ist nix daran zu sehn. Ich hab’ ihr ein Bissel Baldrianwasser übergeschlagen, und eh’ acht Tag’ in’s Land gehn, wird sie wieder so munter auf die Bein’ sein, wie ein Hirschel …“
Der Vater schien diese freudige Hoffnung noch immer nicht theilen zu können; er näherte sich der Thür und klopfte leise daran. „Gut’ Nacht, Stasi!“ rief er und erschrak förmlich, als die Stimme seiner Tochter freundlich und in fast weichem Tone mit einem „Gut’ Nacht, Vater!“ erwiderte, das sich anhörte, als wäre es durch verhaltene Thränen gesprochen. Ihm selber stand das Weinen nahe; so hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht zu ihm gesprochen. „Ich bleib’ dabei,“ sagte er vor sich hin, indem
[210] er in seine Schlafstube humpelte, „das Madl’ ist mir ausgewechselt worden, oder es redet schon der Tod aus ihr.“
Stasi’s Gemüthsart war zu lebhaft und ihr Uebel zu unbedeutend, als daß sie sich an’s Bett hätte fesseln lassen. Als der Bauer am andern Tage zur gewöhnlichen Zeit in die Wohnstube trat, traf er sie schon vollständig angekleidet am Tische sitzen, dem Fenster gegenüber, das die Aussicht nach dem Thale bot, den kranken Fuß durch einen Schemel unterstützt. Sie sah gesund aus und frisch, und doch wollte es den Vater bedünken, als wäre das Roth ihrer Wangen um einen Hauch blässer geworden. Sie schaute in die Morgenlandschaft hinaus, deren Vordergrund durch das am Bergabhang liegende Krämerhaus mit dem Gebüsch und Hohlweg gebildet wurde, in welchem am Ostertage die verhängnißvolle Begegnung stattgefunden, und die Erinnerung daran oder die durch Unthätigkeit veranlaßte Langeweile stand auf dem hübschen Gesichte als eine Wolke des Unmuths, der auch aus dem Morgengruße grollte, den sie dem Vater entgegenrief: der Vater solle nur gleich zum Tischler in’s Dorf hinunterschicken, sagte sie, und solle das Maß zu ihrer Truhe hinuntergeben, denn die Weillang bringe sie um.
„Da laßt sich helfen,“ sagte die Base, die inzwischen eingetreten war und das Frühstück auf den Tisch stellte, eine mächtige Schüssel dampfender Milchsuppe sammt einem nicht minder ansehnlichen Laib schwarzen Brodes, der sich von dem blanken Holzteller recht einladend abhob. „Mußt sie halt doppelt nehmen, wenn Dir die Zeit zu lang wird – oder arbeit’ was – es giebt genug zu thun; wenn Du Dich um die Nähterei annehmen willst, hast Du drei Wochen vollauf zu schaffen …“
„Das ging’ mir gerad’ ab!“ entgegnete Stasi und warf die Lippen auf. „Ich soll wohl die Hausnähterin ersparen helfen? Soll Dir den Pudel machen und die Arbeit thun, die Dir zu schlecht ist?“
„Na, na,“ fiel der Bauer ein, um dem Zanke vorzubeugen, den er schon auflodern sah. „Weiß auch nit, was Dir einfallt, Schwester, daß das Madl hersitzen und nähen soll wie eine Nähterin, die auf der Stöhr ist! Thu’ was Du magst, Madl, und wenn Du Weillang hast, nachher schicken wir in’s Dorf und lassen die Nachbarn in’n Heimgarten kommen.“
„Damit sie mich wieder ausrichten,“ rief Stasi zornig, „und mich in den Mäulern herumtragen? Das wär’ mir schon zu dumm, Vater … ich müßt’ ihnen in die Augen fahren, Einem nach dem Andern!“
„Nachher kannst was lesen,“ sagte der Vater begütigend. „Giebt ja allerhand schöne Bücher; da ist ‚die große biblische Geschicht’‘, oder ‚die sieben schlafenden Jungfrau’n‘, oder ‚der Schatz in der unsichtbar’n Höhl’n Xaxa‘, und wenn Du ein ander’s lesen willst, kannst es beim Schullehrer haben oder beim Herrn Pfarrer. Dabei kannst mir auch einen Gefallen thun, weil ich doch wegen dem dummen Reißen im Fuß stillsitzen und Dir Gesellschaft leisten muß. Du lies’st vor und ich hör’ zu, dann haben wir alle Zwei ’was davon!“
Stasi schlug ein spöttisches, unwilliges Gelächter auf, brach aber mitten drinnen ab und griff nach ihrem kranken Fuß, als hätte sie dort plötzlich wieder Schmerz empfunden. Schweigend nahm sie einige Löffel Suppe, stützte dann die Ellenbogen auf den Tisch und verbarg das Gesicht in den Händen. In dieser Stellung verblieb sie, bis die Ehehalten, die zum Frühstück in die Stube kamen, dieselbe wieder verlassen hatten. Wohl riefen und nickten sie der Tochter des Hauses ihr „Grüßgott“ zu; aber sie wunderten sich nicht, daß sie keine Erwiderung fanden, sie waren es nicht anders gewöhnt. Als das Gebet gesprochen und die Stube wieder leer war, erhob sich Stasi und langte, sich mühsam vorbeugend, nach dem Fenstersims, wo die große Hausbibel lag.
„Was willst denn?“ fragte der Vater, der sich eilfertig erhob. „Bleib’ doch lieber sitzen und sag’s, wenn Du was willst! Ich helf’ Dir ja gern und trag’ Dir’s herbei!“
„Du willst mir helfen?“ lachte Stasi, aber diesmal klang ihr Lachen fröhlich und frei. „Du brauchst ja selber einen Helfer! O mein Vater, wir sind ein schön’s Paar Leut’! Ich hab’ aber schon, was ich gewollt hab’ – das Buch hab’ ich mir geholt und will Dir was vorlesen d’raus.“
„Vor –?“ sagte der Bauer, der nicht mehr herausbrachte vor Verwunderung und Betrübniß; denn mit jedem Zeichen geänderten Sinnes stieg auch seine Besorgniß wegen ihrer Gesundheit wieder in ihm auf. Sie hatte das Buch bereits ergriffen und darin zu blättern begonnen.
„Was soll ich denn lesen?“ sagte sie. „Aha! Da liegt die Nasenbrill’n; das wird wohl ein Merksel sein, wo der Vater zuletzt stehn geblieb’n ist.“ Ohne weiter nachzusehen, begann sie zu lesen; es war die Geschichte von Vasthi, der stolzen Königin, und von ihrer Verstoßung durch König Ahasver. Stasi las die ersten Sätze mit wohlklingender Stimme, doch in dem geschraubten singenden Tone, den man in den Landschulen häufig als unerläßliche Beigabe eines schönen Vortrags findet; aber bald schien ihr das Lesen nicht mehr zu behagen, und als es dazu kam, daß die stolze Vasthi wirklich verstoßen werden sollte, brach sie plötzlich ab, klappte das Buch zu und rief: „Es geht nit, Vater – es greift mir die Augen an. Ich mag auch die alten G’schichten nit lesen, die ich schon hundertmal in der Schul’ gehört hab’.“
„So laß Dir ein ander’s Lesen kommen!“ sagte eifrig der Bauer. „Schick’ zum Schullehrer hinüber, der hat allerhand Bücher! Schick’ um den boarischen Hiesel! Weißt, das ist ein Wildschütz’ gewesen, der die Kugeln in seinem Hut aufg’fangen hat, der niemals einen Punkten g’fehlt und die Cithern so gut g’schlag’n hat wie gar kein Anderer.“
In Stasi’s Gedanken mochte eine naheliegende Aehnlichkeit auftauchen; denn sie unterbrach den Vater abwehrend und rief: „Von einem solchen G’sellen will ich auch nix wissen – ich werd’ schon sehn, daß mir der Herr Pfarrer was zum Lesen giebt, wenn ich was will – derweil aber will ich mir der Mahm ihre Nähterei hersuchen.“
„Kreuzbirnbaum und Hollerstaud’n!“ sagte der Bauer, in welchem augenblicklich die Besorgniß vom Vergnügen überwältigt wurde. „Deandl, wie red’st Du daher? Du bist ja auf einmal völlig ein andres Leut’ worden … was ist mit Dir auf der Alm passirt? Ich hab’s schon oft gehört, es giebt allerhand Zauberei und Hexerei droben – hat Dir wer was angethan? Bist vielleicht auf eine Irrwurz’n treten?“
So freundlich Stasi’s Angesicht eben dem Alten zugelächelt, ebenso grimmig funkelte es ihm plötzlich aus ihren Augen entgegen; sie warf die Näharbeit, die sie an sich gezogen hatte, mitten in die Stube, daß die Knäuel herumflogen und die Scheere im Fußboden stecken blieb, und eilte dann, so gut es mit ihrem beschädigten Fuße anging, in die Kammer. Der Vater wollte ihr nach; aber er holte sie erst ein, als sie schon hinter sich die Thür zuschlug und klirrend den Riegel vorschob; und so oft er auch an der Thür pochte, so freundlich er auch bat, doch wieder herauszukommen, es erfolgte keine Antwort; das bloße Wort „Irrwurz’n“ hatte an ein verwandtes Wort erinnert und den alten Sturm im Gemüthe des Mädchens in alter Heftigkeit aufgewühlt. Sich bedenklich hinter den Ohren krauend, hinkte der Alte zurück und brummte: „Da kennt sich bald Niemand mehr aus – jetzt möcht’ ich schon bald glauben, das Madel ist nit krank, sondern hat den bösen Feind in sich.“
Tage vergingen so und reihten sich unter ähnlichen Auftritten zu Wochen. Sie glichen einander, helles Wetter wechselte mit Stürmen, nur mit dem Unterschiede, daß letztere immer mehr an Heftigkeit abnahmen. Die Heilung des verrenkten Fußes schritt dabei langsam, aber sicher fort, und nach nicht sehr langer Zeit wanderte Stasi wieder im Hause und vor demselben hin und her, als ob nichts vorgefallen wäre. Wer sie sah, bemerkte kaum eine Veränderung an ihr; nur die Hausgenossen steckten die Köpfe zusammen und wunderten sich, daß sie, während sie sonst so rasch gegangen, als ob ihr der Boden unter den Füßen brennte, nun so bedächtig und wie nachdenklich einhergehe, und daß sie, die oft den ganzen Tag ihre Stimme hatte erschallen lassen, jetzt oft stundenlang den Mund nicht aufthat zu einem armseligen Wörtchen, daß sie immerwährend „um’s Kennen“ an der Frische ihrer Farbe verlor. Dabei war sie förmlich leutscheu geworden; wenn es nicht ganz und gar unvermeidlich war, bekam Niemand von den Nachbarn oder Vorübergehenden sie zu Gesicht, und galt es, Sonntags zur Kirche zu gehen, so hatte sie immer eine oder die andere Ausflucht, um sich davon loszumachen; sie vermochte noch nicht, den Leuten zu begegnen; sie wollte die Orte nicht sehen, die sie an die Stunden erinnerten, die für ihr ganzes Leben von so ernsten Folgen geworden. Am liebsten saß sie an der Langseite des Hauses, der Brettenwand gegenüber, an deren jenseitigem Abhange die Brettenalm lag; wenn das Gestein in der Abendsonne erglänzte, konnte sie stundenlang auf der Bank sitzen und starrte regungslos in das [211] Glühen und allmähliche Erlöschen hinauf, unzugänglich für jedes Gespräch, für alles Zureden unempfänglich. Der Vater hatte mehrmals versucht, etwas aus ihr herauszubringen, was zur Aufklärung ihres veränderten Benehmens dienen konnte: er hatte den Pfarrer in’s Haus gerufen, daß er sie ausforsche, hatte unter einem Vorwande den Bader kommen lassen – aber Stasi hatte Niemandem Rede gestanden, und die Meinung Aller ging übereinstimmend dahin, daß sie an einem geheimen Uebel leide, das als Gemüthskrankheit sich unheilbar in ihr festzusetzen drohe.
„Das kennt man,“ sagte der Bader, indem er mit wichtiger Miene auf seine Dose klopfte. „Hab’ den Fall in meiner Praxis schon öfter gehabt. Die Leber hat sich mit der Milz verfeindet; davon kommen die Wallungen in der Lunge, Melankolei nennt man das, die eingetheilt wird in eine graue und eine schwarze. Noch ist es die graue, aber wenn nicht bald geholfen wird, kann’s wohl g’schehn, daß es die Kopfnerven angreift und die schwarze Melankolei sich dazu schlagt.“
Eines Abends trat der Vater, zum Ausgehen bereit, vor das Haus; auch sein Uebel hatte sich gemindert, daß er wieder im Stande war, ohne Ermüdung den Gang in das Dorf zu unternehmen: er hatte dort ein Geschäft zu besorgen und blieb verwundert stehen, als er Stasi wieder bemerkte, auf der Bank sitzend, vom Glanz des Abendroths beschienen, den Kopf an die Wand zurückgelehnt und die Augen geschlossen, wie Jemand, der eine innere Gedankenwelt beschaut und in dieser Betrachtung durch kein äußeres Bild gestört sein will. „Sie ist wirklich schon ganz traumhapig!“ sagte er vor sich hin. „Ich werd’ mich schon nochmal auf’n Weg zum Bader machen müssen; er muß ihr was eingeben, daß die Feindschaft von der Leber und von der Milz wieder aufhört – so kann’s auf keinen Fall fortgehn! – Sag’ mir nur ’mal, Stasi,“ rief er dann laut, „was Du hast! Schlafst vielleicht gar am hellichten Tag? Kreuz-Birnbaum und Hollerstaud’n, Madel – es ist mir wohl recht, daß Du nimmer gar so rasch und schneidig bist, wie früher – aber desweg’n brauchst doch nit gar so leimig z’sein! Da wollt’ ich am End’ noch lieber hör’n, wenn Du im Haus herumschelten und die Schüsseln durcheinander werfen thät’st, als daß Du so dasitz’st wie Ein’s, das keinen gesunden Tropfen Blut mehr in die Adern hot – was hast denn? Thut Dir was weh? Soll ich einen Doctor hol’n?“
„Zu was? Ich bin nit krank,“ sagte Stasi lachend, mit Augen, in denen die Bestätigung dieser Worte glänzte.
„Wenn Du nit krank bist, was fehlt Dir nachher sunst?“
„Mir fehlt auch nix, Vater – ich hab’ Alles, was ich nur verlang’! Hat der Vater was auszustellen an mir? Bin ich etwa nit richtig – thu’ ich die Arbeit nit, wie sich’s gehört?“
„Du arbeitest für Zwei,“ antwortete der Bauer. „Du arbeitest mir schier gar zu viel – das braucht’s nit, und das macht’s auch nit allein aus – der Mensch muß auch sonst rigelsam sein und eine Freud’ an ’was haben. Sag’ mir wenigstens, mit was ich Dir eine Freud’ machen kann! Geh’ mit ’nunter in’s Dorf … es ist oft allerhand Gesellschaft drunten – vielleicht zerstreut’s Dir Deine Gedanken und Du unterhaltst Dich dabei.“
„Ich mag nit, Vater,“ sagte sie und schüttelte den Kopf. „Ich bin am liebsten allein – die Leut’ im Dorf sind mir alle zuwider.“
„Na meinetwegen, wenn Dir die Leut’ im Dorf zuwider sind, so gehn wir fort, machen wir eine Reis’. Ich spann’s Wagerl an – fahren wir ’nüber auf den heiligen Berg nach Andechs, oder nach Mittenwald in’s Tirol hinüber und machen wir eine Wallfahrt nach Ettal oder kutschiren wir gar in die Münchnerstadt hinein … Du darfst es ja nur sagen; hast ja’s Aussuchen.“
„Ich will das Alles nit, Vater,“ sagte sie in unwilligem Tone. „Ich hab’ nirgends eine Freud’.“
Der Bauer, der sich neben ihr auf die Bank gesetzt hatte, sprang auf; er hatte ebenfalls eine unwillige Erwiderung auf der Zunge; aber er schluckte sie hinunter und wandte sich ohne weitern Gruß und Abschied dem Wege in’s Dorf zu.
Stasi beachtete seine Entfernung nicht; sie war in ihre vorige Stellung zurückgesunken und regte sich nicht, selbst als in ihrer Nähe neues Geräusch hörbar wurde – erst das völlige Näherkommen von Fußtritten weckte sie aus ihrer Träumerei. Vor ihr stand ein wandernder Tabuletkrämer, der goldene Ringe, silberne Häckchen und anderes kleines Geschmeide in die einsamen und abgelegenen Bergdörfer hausiren trug und klug die weibliche Freude an Putz und Schmuck auszubeuten wußte, die überall verbreitet und überall dieselbe ist wie grünes Gras. Im ersten Augenblicke wollte Stasi unwillig den Störer zurückweisen; dann ließ sie ihn doch näher treten und hinderte ihn nicht, seinen Kram auszulegen; sie hatte sonst wohl Freude an solchen blinkenden Sächelchen gehabt, die alte Neigung regte sich um so mehr, als der Händler in der Gegend fremd war, und sie konnte also wohl mit ihm sprechen, ohne Besorgniß, durch irgend etwas an der Stelle berührt zu werden, wo ihre geheime Wunde saß. Bald waren ein paar Kleinigkeiten gefunden, die ihr behagten, die angeregte heitere Stimmung, in die sie dadurch versetzt war, ließ sie nicht allzu sehr markten, und der erfreute Händler hatte hinwider nichts Besseres zu thun, als seine Waaren auf’ Gesprächigste herauszustreichen und die reiche Bauerntochter durch allerlei Scherzreden und Erzählungen zu noch andern Käufen zu reizen.
„Da hab’ ich noch etwas ganz Besonderes,“ sagte er, „ein goldenes Medaillon, mit einem Deckel! Das feinste, vierundzwanzigkrätige Gold, aus dem die Kremnitzer Dukaten geschlagen werden, und oben ist’s von purem Krystall, daß man durchsieht, wie durch ein Fenster, was drinnen liegt; hat auch ein Oehr, daß man es anhängen und um den Hals tragen kann. So eine schöne Jungfer wird gewiß etwas haben, was sie drinnen aufheben kann, – ein Löckchen von ihrem Schatz oder ein Blümchen, das er ihr verehrt hat, oder einen vierblätt’rigen Klee, den sie mit ihm gefunden hat …“ Der Mann war so in Zug gerathen, daß er nicht gewahrte, wie Stasi über und über erröthete, und in seiner Anpreisung unermüdet fortfuhr. „Kauf’ die Jungfer die Medaille doch – ich hab’ nur noch die einzige, und weil Sie so eine schöne Jungfer ist, geb’ ich sie Ihr wohlfeil; Sie soll sie um fünf Gulden haben; kostet mich selbst wahrhaftig mehr – die Zweite, den Cameraden dazu, hab’ ich erst heut’ in Lenggries verkauft.“
Stasi hielt das kleine Goldgehäuse, das ihr nicht mißfiel, prüfend in der Hand; ohne eigentlichen Zweck, nur um etwas zu erwidern, fragte sie, wer wohl das andre gekauft habe.
„Wer das andre gekauft hat?“ rief der Händler lachend. „Ja, das hat einen sonderbaren Herrn gefunden; das hat mir nicht ein Mädel abgekauft, sondern ein Mannsbild, ein Bursch. Die Jungfer wird wissen, daß heut’ ein großes Scheibenschießen ist draußen in Lenggries; da ist Musik und Tanz, das kracht und schmettert durcheinander, daß Einem Hören und Sehen vergeht. Die jungen Burschen üben sich ein zu dem großen Schießen, das dem König gegeben wird. Und wie ich so dastand mitten unter dem Gedränge und das Medaillon gerade einigen Mädchen zeigte, trat einer von den Schützen, ein bildhübscher Mensch, gewachsen wie ein Tannenbaum, aus dem Schießstand heraus, wo er eben einen Punkt geschossen hatte, und stellte die rauchende Büchse an den Ständer. ‚Halt!‘ rief er, als er die Medaille sah, und riß sie mir aus der Hand. ‚Was kost’t das Ding? Das lass’ ich nimmer aus; das muß mein gehören, das kann ich gerade brauchen!‘ Ich fand das ganz natürlich, machte einen guten Preis und dachte, der Bursch werde wohl ein Mädel haben, für das er den Schmuck kaufe, aber ich hatte mich geirrt – er hat ihn für sich selbst gekauft. An seinem Rock im Knopfloch hatte er etwas hängen wie einen Orden oder wie eine Denkmünze, wie die Soldaten sie aus dem Kriege heimbringen; die nahm er herunter, legte sie in die Medaille und hing sie dann um den Hals! Und was war’s, was er hinein legte? Rathet einmal – aber Ihr kommt nicht darauf und wenn Ihr ein Jahr lang fort rathen würdet, denn es könnte Einem im Traum nicht närrischer einfallen! Ein schlechter, abgegriffener alter Sechser war’s, der in der goldenen Kapsel und unter dem Krystalldeckel aussah, als wenn man einem Bettelmann einen Königsmantel umgehängt hätte …“
„Es ist schon gut – ich b’halt’ die Medalli,“ sagte Stasi, die abgewendet stand und bei der Erzählung so oft die Farbe gewechselt, als ob sie im Fieber liege. „Geht nur in’s Haus voran! Ich komm’ gleich nach und geb’ Euch das Geld.“
Der Händler packte eiligst seinen Kram zusammen; in seiner Freude beachtete er Stasi’s Erschütterung nicht und fuhr lachend in der Erzählung fort. „Muß ein närrischer Bursch sein,“ rief er. „Ich hab’ gefragt, wer er ist: nur ein armer Holzknecht, hat’s geheißen, aber Alle haben gesagt, er wär’ der beste Schütz’ und der beste Citherschläger und der bravste Bursch in der ganzen Gegend. Sie haben ihn auch zu ihrem Hauptmann gewählt, mit dem sie zum Schießen nach München marschiren wollen.“
[212] Die Base, welche herbeikommend die letzten Reden gehört und das Uebrige errathen hatte, sorgte, daß der Hausirer in’s Haus kam und dort erhielt, was ihm gehörte. Es dauerte lange, bis Stasi nachkam und sich, wie draußen, in der Stube auf die Bank setzte, lautlos und regungslos wie zuvor. Die Hälfte des Jahres war bereits längst überschritten. Längst hatten die Sonnwendfeuer von den Bergen geleuchtet; in der Ebene ging der Wind bereits über die Stoppeln der Kornfelder, der ermüdete Sommer eilte jeden Tag früher zur Ruhe. Eine der höchsten Bergkuppen, die am Abend noch im grauen Felsenrocke geprangt, hatte über Nacht einen Schneemantel umgeschlagen; im Thale begannen die Blätter der Kirschbäume zu vergilben, während an den Berghängen sich das nachdunkelnde Schwarz der Tannen mit dem Roth der Buchen- und Ahornkronen mischte. Der Herbst war gekommen. Es war beinahe völlig finster, als Stasi in die Stube trat; sie zündete aber die Lampe mit dem matten Oeldocht nicht an, sondern schaute durch das Fenster in die Nacht hinaus, das, noch geöffnet, mit der Nachtkühle die verhallenden Klänge des Abendläutens hereindringen ließ.
Der heimkehrende Vater fand sie so. Er staunte nicht weniger darüber, wie er sie fand, als, mit welch sonderbarem Verlangen sie ihn empfing.
„Ich hab’ mit dem Vater was zu red’n,“ sagte sie, indem sie nun die Lampe anzündete und sich anschickte, in ihre Schlafkammer zu gehen. „Ich hab’ eine Bitt’ an den Vater.“
Dem Alten wurde das Herz weich von dem bloßen Tone, in dem sie das sprach, er gewährte die Bitte, noch ehe sie ausgesprochen war. „Was willst denn, Dirndl?“ rief er. „So red’! Ist’s etwas, was Dich wieder gesund machen kann?“
„Ja,“, sagte Stasi mit Nachdruck, „das Einzige, was mich wieder machen kann wie eh’vor.“
„No, das wär’ just nit g’rad’ nöthig,“ erwiderte der Vater kopfschüttelnd. „Aber meinetweg’n, wenn’s nit anders sein kann, ’raus mit der Farb’!“
„Der Vater weiß, was mir g’scheh’n ist,“ sagte sie und hielt die Hand an den Docht, als wenn sie ihn aufstören wollte, so daß ihr Gesicht vollständig im Schatten war, „selbige Mal am Ostertag, was mir für eine Schand’ angethan worden ist mit dem Spitznam’.“
„Freilich weiß ich’s,“ sagte der Bauer wild. „Ich weiß auch, wer’s gewesen ist, und hab’ mich schon oft abgestudirt d’rüber, was ich ihm anthun soll – der Nam’ g’hört Dir auch gar nimmer; es sagen’s alle Leut’ im Haus, und die Nachbarn auch; Du bist gar nimmer die –“
„Nix soll ihm der Vater anthun!“ unterbrach ihn Stasi rasch, um das verhaßte Wort nicht aussprechen zu hören, das er auf der Zunge hatte. „Derselbige – der Vater weiß schon, wen ich mein’ – hat den Sechser, den ich ihm damals ’geben hab’, an ein Bandl gefaßt, und jetzt hat er sich gar ein goldnes Gehäus dazu gekauft, und wenn’s auch so wär’ wie der Vater meint, wenn ich den Namen nimmer verdien’, so kann ich ihn doch nit los werden, so lang’ der Bursch den Sechser umhängen hat und damit herumgeht vor aller Welt.“
„No, jetzt weißt,“ entgegnete der Vater, „dasselbige begreif’ ich justament nit! Was geht Dich und mich ein solcher Nothnickel, ein armseliger Holzknecht an? Wenn nur wir wissen, wie die Sach’ ist, und die andern Leut’ in der Jachenau.“
„Na, Vater, das ist nit so,“ rief Stasi eifrig. „Da versteht der Vater nit, und kurz und gut – wenn der Vater haben will, daß’s wieder werden soll wie früher, und wenn ich nit d’rüber zu Grund’ geh’n soll, so geh’ der Vater und schau’, daß ich den Sechser wieder krieg’ – eher hab’ ich keine ruhige Stund’ mehr und kein’ gesunden Augenblick.“
Unter mühsam verhaltenem Schluchzen verschwand sie in der Kammer. Der Bauer sah ihr bedächtig nach; dann nahm er der Schwester, die eben durch die Stube ging, das Licht ab und sagte: „Sag’ dem Knecht, er soll das Wagel schmier’n und den Rappen in aller Früh füttern; ich will morgen nach Lenggries hineinfahren. – Da ist ein Schießen – hab’ heut’ so viel davon erzählen hören, will mir auch einmal einen guten Tag aufthun.“
Es dämmerte kaum, als es am andern Tage vor dem Kurzenhofe schon laut wurde. Stasi, die die Nacht über wenig geschlafen, hörte durch den leichten Morgenschlummer, der sie endlich in die Arme genommen, wie der Knecht das Scheunenthor öffnete, das Wägelchen herausschob, und wie bald darauf das leichte Gespann gegen den Abhang dahinrollte. Es stieg ihr heiß in die Wangen, wenn ihr einfiel, wohin das Fuhrwerk seinen Weg nahm, und es überfröstelte sie wieder, wenn sie bedachte, mit welchem Bescheid es vielleicht zurückkommen würde – diese Gedanken streiften wie böse Kobolde das letzte Mohnkörnlein aus ihren Augen, daß sie so klar wurden, als wären sie, um mit dem Volke zu reden, mit dem Besen ausgekehrt. Statt des Schlummers stellten sich aber bald andere Gäste in ihren Augen ein, Gäste, die in letzterer Zeit so häufig dort eingekehrt waren, daß sie beinahe anfingen, dort heimisch zu sein: es waren Thränen, deren sie sich nicht zu erwehren vermochte, und die sie mit dem Gesichte tief in das Kissen vergrub. Die Base lag ja in der Stube nebenan; sie durfte um Alles in der Welt nichts hören, wenn etwa wider Willen ein Seufzer zum Verräther ihrer geheimen Gedanken oder Gefühle geworden wäre. Die Base hörte aber doch, was vorging, und ihr gutes Herz ließ sie nicht ruhig zuhören; leise huschte sie vom Lager, schlüpfte in’s Gewand und setzte sich geräuschlos an Stasi’s Bett, daß das Mädchen erschrocken auffuhr, als die Base ihre auf der Decke ruhende Hand ergriff. „Nun, erschrick nur nit!“ sagte sie halblaut. „Bleib’ ruhig liegen, aber red’! Schau, jetzt sind wir Zwei allein; kein Mensch hört uns. – Jetzt sag’, was es denn mit Dir ist! Meinst, ich hab’s nit g’hört, wie Du Dich die ganze Nacht herumgeworfen hast? Es schlafen nit alle Leut’, die die Augen zuhaben. Meinst, ich hab’s nit gehört, wie Du in Dein’ Polster hineinflennst? Geh’, Stasi,“ fuhr sie noch herzlicher fort, als diese noch immer schwieg, aber ihr schmerzliches Schluchzen nicht mehr zu unterdrücken suchte, „Du weißt, wie gut ich’s mit[WS 1] Dir mein’ – Du bist jetzt doch schon einmal im Anderswerden drinn’, bist nimmer so schief’rig und so z’wider wie sonst; warum willst gerad’ in der Sach’ so versteint und verbeint sein? Du hast was auf’m Herzen, ich lass’ mir’s nit nehmen – also sag’ mir’s! Ich versteh’ mich d’rauf und kann Dir vielleicht ein’ guten Rath geben! Sag’, ist Dir was gescheh’n? Wann und wo und wer hat Dir was gethan?“
Von Brehm.
In der sogenannten guten alten Zeit, welche außer Pfaffen und Rückschrittlern andrer Art nur Jäger und Naturforscher zu loben ein Recht haben, führte ein niedliches Raubthier in unserer norddeutschen Ebene möglichst versteckt und verborgen ein gemüthliches Stillleben. Noch zu Ende des vorigen Jahrhunderts gab es hier in diesem Theile unseres Vaterlandes überall ausgedehnte und unzugängliche Brüche und Sümpfe, insbesondere in der Nähe der Flüsse, oder als Fortsetzung der heut zu Tage sehr beschränkten, auf ihren tiefsten Stand gebrachten Seen. Wo aber innerhalb des gemäßigten Gürtels derartige reich bewachsene Wasserflächen vorkommen, entfaltet sich stets ein reiches Thierleben; denn „die erstgeborenen Brüder des Menschen“ fühlen sich unbedingt da am glücklichsten, wo der Gebieter der Erde „nicht hinkommt mit seiner Qual“. Wenn wir alte Jagdbücher und Jagdregister durchblättern oder den ersten Vogelkundigen Deutschlands, des berühmten Naumann’s scharf beobachtenden Vater, in den ungeheuren Sumpf begleiten, welcher sich in Folge der drei Mißjahre 1770 bis 1772 im Anhaltischen gebildet hatte und in welchem der eifrige Beobachter ausharrte, bis ihm die Wasserstiefeln von den Füßen faulten, und das durch Sumpfkräuter von ihm selbst lange bekämpfte Fieber endlich übermächtig wurde, beschleicht uns, die wir der Göttin Diana huldigen oder uns mit Naturbeobachtungen befassen, ein wehmüthiges Gefühl ob unserer jetzigen Armuth. Wo sind sie hingezogen, alle die geflügelten Schaaren, welche damals
[213][214] derartige Gebiete regelmäßig bewohnten und belebten? Wo sind auch sie hingekommen, die laufenden, schleichenden und lauernden Räuber, die Ure, Wiesents, Elche, Hirsche, welche damals dem zünftigen Waidmann noch vor das Rohr kamen? Wohl wandert vom Süden her ein hübscher Singvogel, der Girlitz, langsam ein in diese Ebene, wohl verbreitet sich mit den Landstraßen die Haubenlerche über Strecken, in welchen sie früher fehlte, wohl hat sich auch eine hochnordische Drossel, der Krammetsvogel, bei uns seßhaft gemacht: sie aber und die wenigen anderen, welche seit einem Menschenalter und darüber bei uns erschienen sind, können jene doch unmöglich ersetzen.
Zu denjenigen Säugethieren, welche durch die mit immer steigender Sorgfalt gehandhabte Ausnutzung des Bodens verdrängt und fast ausgerottet wurden, gehört auch ein dem Namen nach allbekannter, in seinem Treiben und Wesen jedoch noch sehr wenig erforschter Marder, in beschränktem Sinne ein Mittelglied zwischen Iltis und Fischotter, der Nörz oder Nerz, Fisch- oder Krebsotter, Wasserwiesel, Menk oder Wassermenk (Vison lutresola). Bekannt ist dieses Thier deshalb, weil laut Heinrich Lomer noch alljährlich im europäischen Rußland fünfundzwanzigtausend Felle im Gesammtwerthe von sechszigtausend Thalern, von seinem Verwandten im nördlichen Amerika, dem Mink (V. americanus), dagegen zweihunderttausend Felle im Gesammtwerthe von sechshundertvierzigtausend Thalern erbeutet und auf den Markt gebracht werden zur Freude Aller, welche schönhaariges, leichtes und doch wärmendes Pelzwerk lieben. In den mit großer Sorgfalt geführten Verzeichnissen und Listen des vorher genannten Rauchwaarengroßhändlers wird der Nörz nur noch für die beiden angegebenen Gegenden erwähnt, unser nördliches Deutschland dagegen gänzlich unerwähnt gelassen, und in der That, die wenigen Nörzfelle, welche von hier aus auf den Markt kommen, sind kaum der Erwähnung werth. Doch ist die Befürchtung der Jäger und Naturforscher, daß das theilnahmswerthe Thier bereits gänzlich ausgerottet sei, glücklicherweise noch unbegründet: der Nörz gehört noch heutigen Tages zu den deutschen Säugethieren, wird noch heutigen Tages in einzelnen Stücken gefangen und mag uns noch einige Jahrzehnte erhalten bleiben.
Letztere Behauptung und Versicherung hörte ich vor einigen Jahren zu meiner größten Verwunderung von zwei kundigen Leuten aussprechen, und bald darauf sandte mir der eine, Förster Claudius zu Behlendorf im Lauenburgischen, einen Nörz im Balge und Fleische zur Bekräftigung seiner Versicherung ein. Selbstverständlich erwachte in mir der Sammelgeist wie selten vorher; doch handelte es sich für mich nicht um Felle, sondern in erster Reihe um das lebende Thier selbst, in zweiter um Sammlung aller glaubwürdigen Nachrichten, welcher über Aufenthalt, Lebensweise und Gebühren zu erlangen sein möchten. Und so erfuhr ich denn, daß der Nörz in mehreren Brüchen und an mehreren Seen Mecklenburgs, Lauenburgs und Holsteins, überall zwar selten, aber doch noch regelmäßig vorkommt und alljährlich gefangen wird, in dem einen Jahre in größerer, in dem andern in geringerer Anzahl. Zu diesen Gewässern gehört vor Allem der Schweriner See und der etwa zwei Meilen lange Abfluß des Ratzeburgsees in die Trave bei Lübeck, die Wakenitz genannt. Letztere dürfte, laut Claudius, als diejenige Deutlichkeit zu bezeichnen sein, welche, so lange die Verhältnisse sich nicht ändern, noch einige Aussicht auf Erhaltung des Thieres zu bieten scheint. Es ist ein fast durchgängig von flachen Ufern begrenzter Wasserlauf ohne merkbaren Strom, da der Wasserspiegel unweit der Stadt Lübeck, welche aus der Wakenitz zum größten Theil ihren Wasserbedarf bezieht, künstlich aufgestaut wird. In Folge dessen sind die Ufer auf große Strecken gänzlich versumpft, mit Schilf und Erlenstöcken bestanden und, so sehr auch wirtschaftliche und gesundheitliche Rücksichten dafür sprechen würden, Verengerung der Ufer oder Trockenlegung derselben aus dem angegebenen Grunde unmöglich gemacht.
„Daß der Nörz hier vorkommt,“ schreibt mir Claudius, „erfuhr ich durch einen meiner Forstarbeiter, welcher hier mehrere Jahre als Fischerknecht gedient und seiner Zeit der Sumpf- oder Fischotterjagd obgelegen hatte. Durch seine Hülfe wurde es mir bald möglich, an Ort und Stelle mich durch eigenen Augenschein von der Richtigkeit seiner Angaben zu überzeugen und mir etwaige Gefangene zu sichern. Wie günstig die Oertlichkeit für das Thier hier ist, wurde mir auf den ersten Blick klar; der Nörz genießt hier während des größten Theiles vom Jahre die ungestörteste Ruhe, und selbst der Winter, welcher ihm am meisten gefährlich wird, tritt oft so milde auf, daß die Fischer, welche längs der Ufer in einzeln liegenden Gehöften wohnen, große Strecken des Bruches gar nicht betreten können. Dazu kommt, daß das immer nur vereinzelt auftretende Thier nur dann die Beachtung der Umwohner erregt, wenn es durch wiederholte Mausereien lästig fällt. Die gefangenem Fische werden hier nicht in geschlossenen Hältern, sondern in offenen Weidenkörben auf kleinen, zum Theil künstlich angelegten Inselchen in der Nähe der Wohnungen aufbewahrt. Eine so leicht zu erlangende Beute verschmäht der Nörz natürlich nicht, und wenn man ihm auch wohl den einen oder andern Fisch gönnen möchte, so kann man ihm doch den Schaden nicht verzeihen, welchen er dadurch verursacht, daß er lieber die oft daumdicken Weidenruthen durchschneidet, als über den Rand des offenen Korbes klettert, wie der Iltis in solchen Fällen unbedenklich thut. Wahrnehmung dieser Eigenheit des Thieres führt in der Regel zu seinem Verderben, obgleich die Fanganstalten, welche die Fischer treffen, mit einer Sorglosigkeit zugerichtet werden, daß sie mich lachen gemacht haben würden, hätte ich mich nicht mehrfach von ihrem guten Erfolge zu überzeugen Gelegenheit gehabt. Man streut nämlich auf diesen sogenannten Werdern, am liebsten beim ersten starken Froste, wenn der Nörz anfängt, Noth zu leiden, einige Fische aus, legt ein Paar gute Ratteneisen, verblendet sie nothdürftig und befestigt sie wie bei dem Otter, so daß der Fang mit dem Eisen das Wasser erreichen kann. Auf die Ausstiege nimmt man keine Rücksicht, nicht einmal auf die Fährten; die Bequemlichkeit des Fängers allein scheint maßgebend zu sein. Daß der Räuber dessenungeachtet in den meisten Fällen bald gefangen wird, spricht wenig für seine Vorsicht, so menschenscheu er sonst auch ist.“
Aehnliches erfuhr ich von anderen Leuten, dabei auch, daß ab und zu ein Jagdhund den Nörz trotz seiner Gewandtheit im Sumpfe oder selbst im Wasser greift.
Es vergingen Jahre, bevor Claudius und durch ihn ich zu dem erwünschten Ziele gelangten, obwohl ein nicht unansehnlicher Preis für den ersten lebenden Nörz, welcher mir gebracht werden würde, ausgesetzt worden war. Erst Anfangs des Jahres 1868 erhielt ich von meinem eifrigen Freunde eine freudige Nachricht. „Endlich ist es mir gelungen,“ schreibt er, „in den Besitz eines lebenden Nörzes aus der Umgegend Lübecks zu gelangen. Das Thier, ein mittelstarkes Weibchen, ist mit dem Hinterlaufe auf einem Eisen gefangen, befindet sich jedoch bei Milch und frischer Fleischkost so wohl, daß ich bei seiner ruhigen Gemüthsart alle Hoffnung habe, den durch das Eisen verursachten Schaden bald ausgeheilt zu sehen. Er ist bei weitem gutartiger als seine Gattungsverwandten, und zürnt nur, wenn er geradezu gereizt wird. Sonst zieht er es vor, mich nicht zu beachten, läßt sich auch wohl mit einem Stöckchen den Balg streichen. Er liegt den ganzen Tag auf der einen Seite des Käfigs zusammengerollt auf seinem Heulager, während er auf der andern Seite regelmäßig in der äußersten Ecke sich löst und näßt. Nachts spaziert er in seiner ziemlich geräumigen Wohnung umher, hat sich auch verschiedene Male gewaltsam daraus entfernt; aber nur das erste Mal traf ich ihn Morgens außerhalb desselben in einem Winkel der Stube verborgen, worauf er sofort in den vorgehaltenen lästig wieder einlief. Später fand ich ihn, wenn er sich des Nachts befreit hatte, am Morgen regelmäßig wieder auf seinem Lager, als wenn er in seinen nächtlichen Wanderungen mehr eine Erheiterung als Befreiung aus seiner Haft suche.“
In einem zweiten Briefe erfuhr ich, daß der Nörz inzwischen sehr zahm geworden war, sich von seinem Pfleger widerstandslos greifen ließ, gegen Liebkosung sich empfänglich zeigte, kurz, sich mit seinem Loose vollständig ausgesöhnt hatte.
Claudius hatte die Güte, das seltene Thier bis zur Vollendung des betreffenden Käfigs im Berliner Aquarium, bekanntlich einem Vivarium im weitern Sinne, aufzubewahren und zu pflegen. Eines schönen Morgens endlich gelangte die von mir sehnlichst erwartete, durchlöcherte Kiste mit dem Vermerk „lebende Thiere, sofort zu bestellen“ in meine Hände. Jeder Thierfreund unter den Angestellten des Aquariums war selbstverständlich sofort zur Stelle und namentlich mein Futtermeister Seidel zeigte fast dieselbe Ungeduld wie ich, so lange die Kiste noch verschlossen war. Sie wurde geöffnet und – in einem duftigen, in der Mitte sanft eingedrückten und geglätteten Heuhaufen lag zusammengeringelt [215] das durch die Reise im höchsten Grade erbitterte Thier in möglichst schlechter Laune.
Ich will ehrlich sein und bekennen, daß in mir zuweilen ein sehr ungerechtfertigter und unverzeihlicher Verdacht aufgestiegen war, Freund Claudius möge sich doch geirrt und einen dunkeln Iltis für den Nörz angesehen haben, wie es so manch Anderem vor ihm geschehen war. Der erste Blick auf das angekommene Thier belehrte mich jedoch eines Besseren. Das war kein Iltis, wohl aber ein sehr naher Verwandter desselben und keineswegs ein richtiges Mittelglied zwischen Iltis und Fischotter, wie man bisher angenommen, sondern bis auf die an die Fischotterpranken erinnernden Tatzen vollständig Iltis. Eine Eigenschaft unseres Thieres fiel uns übrigens augenblicklich noch auf: es verbreitete nicht den geringsten Geruch, wie es ein Iltis, das Stinkthier Europas, unter ähnlichen Umständen unbedingt gethan haben würde.
Der neue Ankömmling, welcher ein ärgerliches Knurren und Zwitschern vernehmen ließ, sich überhaupt sehr unwirsch geberdete, wurde nunmehr mit gebührender Sorgfalt in den für ihn bestimmten Käfig gebracht, um beobachtet zu werden. Leider muß ich sagen, daß das Ergebniß dieser Beobachtungen meinen Erwartungen in keiner Weise entsprach. Doch trifft die Schuld hiervon weniger den Nörz als die Räumlichkeit, in welcher er untergebracht ist. Während des ganzen Tages liegt unser Raubthier zusammengeringelt auf seinem Lager, welches in einem vorn verschließbaren Kästchen angebracht worden ist, und nur selten, nicht einmal immer durch Vorhaltung von Leckerbissen, gelingt es, ihn aufstehen zu machen und hervorzulocken. Erst ziemlich spät am Abend, jedenfalls nicht vor Sonnenuntergang, verläßt er das Lager und treibt sich nun in dem leider recht engen Raum seines Käfigs umher. Diese Lebensweise beobachtet er einen und alle Tage, im Sommer wie im Winter, und daraus erklärt sich mir zur Genüge die allgemeine Unkenntniß über sein Freileben. Den Edelmarder kann man im Walde unter Umständen aufspüren und gewaltsam aus seinem Versteck heraustreiben, im Sommer auch wohl mit seinen Jungen spielen oder der Eichhornjagd obliegen sehen; der Steinmarder und Iltis lassen sich als Bewohner alter oder doch stiller Gebäude mindestens in hellen Mondnächten beobachten, und der Fischotter wählt sich, wenn er sich zeigt, die breite Wasserstraße; wer aber vermag im Dunkel der Nacht dem Nörz in seinem eigentlichen Heimgebiete, dem Bruche oder Sumpfe, zu folgen? In seinen Bewegungen steht das Thier, soweit man von dem im engen Raume untergebrachten Gefangenen urtheilen kann, dem Iltis am nächsten. Er besitzt alle Gewandtheit der Marder, nur nicht die Kletterfertigkeit der hervorragendsten Glieder dieser Familie und ebensowenig die Bewegungslust oder Freudigkeit derselben. Man möchte sagen, daß er keinen Schritt unnütz thue.
Ein Edel- oder Baummarder vergnügt sich im Käfige zuweilen stundenlang mit absonderlichen Sprüngen, indem er gegen die eine Wand seines Käfigs setzt, zurückschnellend sich überschlägt, in der Mitte des Raumes auf den Boden springt, nach der andern Wand sich wendet und hier wie an jener verfährt, kurz die Figur einer Acht beschreibt, und zwar mit solcher Schnelligkeit, daß man vermeint, diese Zahl durch den Leib des Thieres gebildet zu sehen. Auf solche Spielereien läßt sich, soweit meine Beobachtungen reichen, der Nörz niemals ein. Trippelnden Ganges schießt er mehr, als er geht, seines Weges dahin, gleitet rasch und behend über alle Unebenheiten weg, hält sich aber immer auf dem Boden und strebt nie nach der Höhe. In das Wasser geht er aus freien Stücken nicht, sondern nur, wenn er muß, insbesondere, wenn ihm eine Beute dort winkt. Bei allen Bewegungen ist das sehr klug aussehende Köpfchen nicht einen Augenblick lang ruhig; die scharfen Augen durchmustern ohne Unterlaß den ganzen Raum, und die kleinen Ohren spitzen sich soweit als möglich, um das wahrzunehmen, was jenen entgehen könnte. Reicht man ihm jetzt eine lebende Beute, so ist er augenblicklich zur Stelle, faßt das Opfer mit vollster Mardergewandtheit, beißt es mit ein paar raschen Bissen todt und schleppt es in seine Höhle. Schmidt beobachtete, daß er Frösche an den Hinterschenkeln packte und diese zunächst durchbiß, um den Lurch zu lähmen; ich habe stets gesehen, daß er sie wie alle übrigen ihm vorgehaltenen Thiere am Kopfe packte und diesen so schleunig als möglich zermalmte. Hat er mehr Nahrung, als er zunächst bedarf, so schleppt er ein Stück nach dem andern nach seiner Höhle, frißt jedoch in der Regel von dem ersten eilfertig ein wenig und wirft es erst dann zur Seite, wenn ein anderes lebendiges Thier seine Mordlust wieder erregt. Fische und Frösche scheinen ihm die liebste Beute zu sein, obgleich Claudius meinte, daß er Fleischkost allem Uebrigen vorziehe und Fische nur dann verzehre, wenn er kein Fleisch bekommt. Soviel ist ganz richtig, daß er Fische liegen läßt, wenn ihm eine lebende Maus, ein Vogel oder Lurch gereicht wird; es reizt ihn dann das Bewegen seiner Beute, und er beeilt sich gleichsam seine Fertigkeit im Fangen und Abwürgen zu zeigen. Hat er aber seine Opfer getödtet und reicht man ihm dann einen Fisch, so pflegt er letzteren zuerst zu sich zu nehmen.
So geschieht es bei uns, vielleicht blos deshalb, weil Fische seine regelmäßige Nahrung bilden und er sich mehr an diese als an Fleisch von warmblütigen Thieren oder Lurchen gewöhnt hat. Denn daß Gewöhnung bei der Auswahl seiner Speisen ebenfalls das Seinige thut, beweisen Schmidt’s Beobachtungen an einem andern Gefangenen, welcher Krebse ohne Weiteres packte und sich nicht einmal dadurch stören ließ, daß ihn eins oder das andere dieser Thiere mit den Scheeren wacker zwickte, während unser Gefangener bis jetzt alle Krebse hartnäckig verschmäht hat, gleichviel, ob ihm dieselben lebendig oder todt, mit dem Panzer oder ohne diesen gereicht wurden. Claudius schrieb mir, daß er sich um einen Krebs, womit ihm sein Gebieter einen besonderen Gefallen zu thun glaubte, nicht im Geringsten kümmerte, sich vielmehr durch den täppischen Gesellen so belästigt fühlte, daß er ausbrach. „Jetzt,“ sagt mein Gewährsmann, „tödtete ich den Krebs; aber auch so schenkte er ihm keine Beachtung, und dies änderte sich auch dann nicht, als ich das Brustschild abgelöst und das Fleisch bloßgelegt hatte, obgleich er inzwischen keine andere Nahrung erhielt. Von einer Maus verzehrte er nur den Kopf, eine lebendige, welche ich Nachts zu ihm that, ließ er gewähren, ohne sich ihretwegen vom Lager zu erheben.“ So gleichgültig gegen lebende Säugethiere und Mäuse hat er sich bei mir nicht gezeigt, sein Benehmen gegen einen Krebs ist aber auch jetzt noch dasselbe geblieben.
Schmidt erwähnt, daß sein Gefangener Eier sehr wohl zu verwerthen wisse und deren Inhalt gern auslecke; unserem Nörz haben wir Eier wiederholt vergeblich vorgesetzt, er hat sich nicht um sie bekümmert. Demungeachtet glaube ich gern, daß er im Freileben so gut wie andere Marder auch ein Vogelnest ausnehmen und seines Inhalts berauben wird, wie er denn auch wohl gelegentlich auf das eine oder andere Kerbthier Jagd machen dürfte. Jedenfalls möchte ich nicht wagen, von dem einen Gefangenen auf das Betragen aller und am wenigsten auf das Benehmen der freilebenden Thiere dieser Art zu schließen. Besonders auffallend ist es mir, daß unser Gefangener sich so wenig aus dem Wasser macht, ja sogar fast vor demselben zu scheuen scheint. Ein Fischotter bekundet sich auch in der Gefangenschaft als echtes Wasserthier und versucht selbst in dem kleinsten Raume das befreundete Element in irgend einer Weise für sich auszunutzen. Der Nörz denkt hieran nicht, und das Wasser dient ihm eigentlich nur zum Trinken, niemals aber zum Baden oder gar als Tummelplatz. Setzt man ihm dagegen lebende Fische in sein Becken, so stürzt er sich unverzüglich in das Wasser, schwimmt in gerader Linie auf den Fisch zu, ergreift ihn sehr rasch und springt dann sofort mit seiner Beute in dem Maule wieder aus dem Becken heraus, um jenen an der gewohnten Stelle ungestört zu verzehren.
Unser Gefangener hat im Laufe der Zeit seinen Wärter wohl kennen gelernt und ist mit ihm in ein gewisses Verhältniß getreten. Von freundschaftlichen Gefühlen seinerseits zu dem Pfleger habe ich wenig zu berichten; doch trägt hieran, wie schon bemerkt, der Käfig und auch der Pfleger selbst, dem es an Zeit mangelt sich mit ihm genügend abzugeben, die größere Hälfte der Schuld. Als Zimmergenosse würde er wahrscheinlich schon zum niedlichen Schooßthiere geworden sein.
[216]Wer an unseren politischen Fortschritten zweifelt, der blicke dreißig Jahre zurück auf die Zeit nach der Thronbesteigung des Königs Friedrich Wilhelm des Vierten; er versetze sich in die damaligen Stimmungen und Bestrebungen und er wird finden, daß es kaum möglich ist, die rührende Unschuld des politischen Bewußtseins in jener Zeit sich mit voller Klarheit vor die Seele zu führen.
Was damals die liberale Bewegungspartei anstrebte, das ist jetzt längst in Fleisch und Blut unserer Staatsverfassung übergegangen, und selbst der extremste Anhänger des Bestehenden nimmt als selbstverständlich an, was damals ein Zankapfel der erregten politischen Parteien war. Wo ist jetzt ein Conservativer, welcher noch die Berechtigung einer reichsständischen Verfassung bestreiten wollte? Bis zur Behauptung der Möglichkeit directer Urwahlen verstiegen sich in jener Zeit nur die extremen Politiker, deren seiltänzerische Kühnheit angestaunt wurde, und ich selbst besinne mich, wie noch im Jahre 1848 ein Königsberger Professor des Staatsrechts mir bei einer öffentlichen Debatte über dieses Thema in einer politischen Versammlung entgegnete, direkte Urwahlen seien höchstens in kleinen Republiken möglich, in größeren Staaten aber unausführbar.
Ein anderes kühnes Begehren der Liberalen von 1840 war die Preßfreiheit – wer hält es heutigen Tags noch für möglich, daß ein großer Theil der Beamten und die ganze conservative Partei sich auf das Aeußerste gegen dieses Verlangen sträubte? Wie groß waren die Erfolge von Hoffmann von Fallersleben, wenn er in seinen „Unpolitischen Liedern“ seine epigrammatischen Pointen wie Kletten auf die Censoren warf; wie imponirte Freiligrath, wenn er mit tragischem Schwung einen Censor als Gedankenmörder darstellte!
Doch diese „Gedankenmörder“, welche die Phantasie des Dichters wie im Wahnsinn umherirren sah, mit dem Kainszeichen auf der Stirn, verfolgt von den Schatten der Erschlagenen, waren in Wirklichkeit gar nicht so schreckenerregend, wie ich selbst mich überzeugte, wenn ich bei einer gemüthlichen Tasse Kaffee mit einem solchen Inhaber des officiellen Rothstiftes über die Druckfähigkeit meiner politischen Gedichte verhandelte. Statt eines haarsträubenden Flüchtlings vor den Erinnyen hatte ich einen wohlwollenden Sterblichen mir gegenüber, und zwar zunächst Niemand anders, als denselben Schulrath Lucas, der meinem Abiturientenexamen präsidirt hatte. Wir erwogen in freundlicher Gemeinsamkeit, welche Gedichte als Opfer auf dem Altar der unentrinnbaren Nothwendigkeit, der Censur, bluten mußten. Als feiner Aesthetiker enthielt sich dieser Censor der nutzlosen Grausamkeit, Poesien zu verstümmeln, ihnen gleichsam die Hände und Füße abzuhacken und sie so als lebendige Anklagen gegen das ununterbrochene Opferfest eines vom Staat geheiligten Gedankenmordes in die Welt zu schicken. War es doch oft noch Brauch, durch Gedankenstriche die Lücken anzudeuten, welche die Censur in den Ideenverbindungen der Prosaiker oder gar in den Versen der Dichter gerissen hatte. Schulrath Lucas verurtheilte ein subordinationswidriges Gedicht augenblicklich zum Tode, wenn auch nur eine einzige Strophe rebellisch war – und ich fand dies vom ästhetischen Standpunkt aus vollkommen gerechtfertigt. Ja, ich hatte den liebenswürdigen Censor oft in Verdacht, daß er seine Censur von einer feinsinnigen Kritik nicht freihielt und manches Gedicht wegen leichten Vergehens doch zu Pulver und Blei verdammte, blos weil es ihm nicht werth erschien, im Lichte der Oeffentlichkeit zu wandeln. Am Abend nach einem solchen Autodafé war ich oft bei meinem Gedankenmörder zu einem Thé dansant eingeladen und über die Cotillonorden, die ich von seinen anmuthigen Töchtern erhielt, vergaß ich meine grausam hingeopferten Geisteskinder. War das nicht gemüthlicher und patriarchalischer als die „Preßfreiheit mit dem Galgen daneben“, welche dem Herrn von Thadden lange Jahre auf dem vereinigten Landtag als Ideal vorschwebte?
Auch andere Censoren waren indeß keineswegs unnahbar. Einige Jahre später hatte ich mit dem damaligen Königsberger Polizeipräsidenten über ein Festspiel zu verhandeln, dessen Censur ihm oblag. Im Gegensatz zu Schulrath Lucas war der Präsident wieder besonders auf die Beseitigung einzelner Stellen und Ausdrücke bedacht, welche ich mit dem Aufwand meiner ganzen Beredsamkeit zu retten suchte. Es würde heute sehr seltsam klingen, wenn ich erwähnen wollte, was Alles damals „beanstandet“ wurde. Doch ließ sich der Polizeichef durch Gründe überzeugen und mancher bereits verurtheilte Gedanke wurde für die Prosceniumslampen gerettet. In Erinnerung ist mir aber noch geblieben, daß der Präsident, als ich mich, um eine Stelle zu vertheidigen, auf eine ähnliche Wendung in Goethe’s „Faust“ berief, sich im Eifer der Debatte zu der Behauptung hinreißen ließ, es wäre überhaupt besser, wenn Goethe seinen „Faust“ gar nicht geschrieben hätte!
Welche Bedeutung eine Zeitschrift, ein Blatt, ein Werk damals behauptete – das hing wesentlich von dem geistigen Standpunkt seines Censors ab. Ein engherziger Censor lastete wie ein Alp auf der ganzen Literatur seines Sprengels; ein liberaler, welcher möglichste Gedankenfreiheit gab, förderte den Aufschwung der Geister. Nur eine im Ganzen milde Censur machte es möglich, daß Königsberg als Vorort der politischen Freiheit die Augen von ganz Deutschland auf sich zog. Die Königsberger Hartung’sche Zeitung, die sich in Format und Papier damals wenig von dem Rastenburger Kreisblatt unterschied, erregte durch ihre Leitartikel das allgemeinste Aufsehen. Von den Gestaden des Frischen Haffs schien ein frischer Hauch herüberzuwehen in das damals noch regungslose Deutschland – und nur von der Oder antwortete dem Pregel das lebhafteste Echo. Der Leitartikel, heutzutage oft der vertraute Freund unseres Halbschlafs, stand damals noch in voller Jugendblüthe; ein geharnischter Leitartikel war ein Ereigniß; diese politische Weisheit war noch so neu, so jungfräulich, daß sie alle Welt wie mit einem geheimen Zauber anzog. Die Leitartikel der Königsberger Zeitung hatten etwas von der schneidenden Klarheit eines ostpreußischen Wintertages; was sie verlangten, Reichsstände, Preßfreiheit – das gehört jetzt zu den Thatsachen unseres Staatslebens, mit denen ganze Geschlechter aufgewachsen sind. Damals aber gehörte Muth zu solchem ungestümen Anklopfen an die Pforten der Zukunft – und diejenigen, welche sich behaglich angesiedelt haben auf dem mühsam errungenen Boden unseres Verfassungslebens, sollten der ersten „Pfadfinder“ nicht vergessen, welche sich mit der Axt den Weg durch das Dickicht gehauen haben.
Bald sollte ich in Königsberg auch die Männer des Tages, die „öffentlichen Charaktere“ kennen lernen, von denen die Bewegung ausging. In nächste Berührung kam ich mit einem Manne, der in jener Zeit zwar seitab stand von der gewaltigen Zeitströmung, der sich aber nachher unter den politische Charakteren Deutschlands eine hervorragende Stellung erobert hat.
In einem der Hörsäle der baufälligen Albertina versammelten sich die juristischen Novizen, um sich in die „Institutionen“ einweihen zu lassen und die ersten Blumen auf jenem Anger des römischen Rechts zu pflücken, der so reich ist an Disteln und Dornen, und auf welchem mancherlei Nüsse wachsen, die der menschliche Scharfsinn nur mit großer Anstrengung zu knacken vermag. Auf den Katheder stieg ein junger Professor, ungefähr dreißig Jahre alt, von ausdrucksvollen Zügen und stattlicher Repräsentation. Es lag in seinem Auftreten und Erscheinen etwas Würdevolles, was über die Lebensjahre des jungen Gelehrten hinausging; doch streifte diese Gemessenheit durchaus nicht an Pedanterie. Im Gegentheil, es war eine gewisse Eleganz in seiner Toilette unverkennbar, etwas Behagliches und Vermögliches, was wir bei wenigen anderen Docenten der Universität zu entdecken vermochten. Es hatte Alles seine Art, wenn er den Hut ablegte, den Rock aufknöpfte – man glaubte immer, es müsse ein Ordensstern dabei zum Vorschein kommen. Sein Kopf gehörte in jene Classe der Jupitersköpfe, wie sie Goethe, Varnhagen und andere berühmte deutsche Männer besaßen, nur daß dieser Zeus noch sehr jugendlich war und dabei eine leise, aber interessante alttestamentliche Schattirung nicht verleugnete.
Kräftig und voll war das Organ des Vortragenden, der [217] Vortrag selbst von außerordentlicher Sicherheit in der Sprachbeherrschung, niemals verlegen um den bezeichnenden Ausdruck, niemals überstürzt und überhastet. Weit entfernt von todtem Dictat war er vielmehr eine lebendige Unterhaltung; er verlangte von den Hörern Antwort und Gegenrede; er wandte sich an ihren Scharfsinn; er wußte ihnen den Stoff interessant zu machen und ihn dem Gedächtniß einzuprägen, weil sie ihn selbstschöpferisch sich angeeignet hatten. Einige Nüancen des Vortrags erinnerten an große Meister des Fachs; namentlich wollte man in der Handhabung des Schnupftuchs das Muster Savigny’s und seiner Vortragsweise wiedererkennen.
Ueberhaupt wußte man viel von dem noch jungen Professor zu erzählen. Er gehörte zu den frühreifen Talenten; schon mit sechszehn Jahren hatte er sein Abiturientenexamen gemacht, mit neunzehn die juristische Doctorwürde errungen. Er war während der Julirevolution in Paris gewesen; er hatte Goethe besucht, und der Altmeister deutscher Dichtung hatte seiner in einem Briefe an Zelter anerkennend gedacht. Mit sechsundzwanzig Jahren war er ordentlicher Professor der Rechte an der Königsberger Universität geworden und zugleich Beisitzer des ostpreußischen Tribunals. So rasche Laufbahn konnte nur ein glänzender und bedeutender Kopf zurücklegen. Die Gelehrsamkeit freilich, welche den Werth des Mannes mißt nach der wissenschaftlichen Leistung, nach der Bedeutung der veröffentlichten Schriften, oft auch nach der Masse der Maculatur, welche ein fleißiger Arbeiter im Weinberge des Herrn zu Tage fördert, schien wenig geneigt, den jungen Professor als „voll“ gelten zu lassen, denn es war leider eine unbestreitbare Thatsache, daß er außer einigen akademischen Gelegenheitsschriften, bei denen sich die ersten Hälften oft jahrelang vergebens nach der zweiten sehnten, kein wissenschaftliches Werk veröffentlicht hatte, welches ihm auf eine Stelle neben Savigny, Vangerow und Dirksen Anspruch zu schaffen vermochte. Und so ist es auch Zeitlebens geblieben – nulla dies sine linea, stand nicht in dem Wappen des geborenen Präsidenten, welcher zwei Mal mit der deutschen Kaiserkrone sich auf den Weg machen sollte, einmal nach Berlin, einmal nach Versailles, und das zweite Mal mit besserem Erfolg.
Denn jener junge Gelehrte war Niemand anders als Martin Eduard Simson, später der Präsident des Frankfurter Parlaments und der Norddeutschen Reichstage, einer der größten politischen Würdenträger deutscher Nation. Ich nannte ihn eben den „geborenen Präsidenten“ und er war es in der That; er besaß alle Eigenschaften, welche erforderlich sind, eine große Versammlung von Volksvertretern und Notabilitäten jeder Art zu leiten: eine Repräsentation, die nicht glatt und elegant, sondern würdevoll war, eine seltene Klarheit der Auffassung, welche rasch den Kern der Dinge erfaßte, eine Bestimmtheit und Schärfe des Geistes, welche für die zusammenfassenden Abschlüsse und Fragestellungen unerläßlich ist, vor Allem aber eine Toleranz und Unparteilichkeit, welche die verschiedensten Anschauungen gewähren ließ, fern von jeder Erbitterung, von jedem fanatischen Parteihaß, wie Zeus herabsieht auf das Kampfgetümmel der Troer und Hellenen und mit gleicher Ruhe auch den rabenschwarzen Aethiopen sein olympisches Antlitz zuwendet.
Simson war nicht blos ein anregender Docent, er war auch außerhalb der Collegien ein liebenswürdiger Schutzpatron und Freund seiner Jünger. Wie kein Anderer verstand er den Faltenwurf der Toga auf dem Katheder und dem Forum um sich zu breiten; aber in seiner Häuslichkeit und auf Spaziergängen war er ein aufgeknöpfter geistreicher Gesellschafter. Seine Wohnung auf der Kneiphöfischen Langgasse hatte patricischen Comfort; er bewohnte eines jener schmalen, aber tiefen hanseatischen Häuser, welche dieser Straße mit ihren Vortreppen ein patriarchalisches Ansehen gaben. Durch lange Vorsäle und über mehrere mit Teppichen belegte Treppen hinauf gelangte man in das Allerheiligste des Studirzimmers. Für einen jungen Musensohn hatten diese stattlichen Vorhallen, die zum Tempel führten, etwas sehr Feierliches, und er trat in denselben ein in der gleichen Stimmung, in welcher der Schüler in des Professors Faust magischem Studirgemach erscheint.
Oft ging ich mit meinem Lehrer, der mich in die Geheimnisse der Pandecten einweihte, in diese den Schachvarianten und Schachräthseln so verwandten Aufgaben des juristischen Scharfsinns, auf dem „Bohlensteg“ der „Hufen“ spazieren, welcher jetzt auch den Festungswerken von Königsberg zum Opfer gefallen ist. Es war dies ein idyllischer Spaziergang zwischen Gärten und an den Landhäusern vorbei, auch nicht ohne literargeschichtliche Erinnerungen; denn gleich der erste Garten zur Rechten mahnte an den Königsberger Humoristen Hippel und seinen Lebenslauf in absteigender Linie. Das hölzerne Trottoir der zwei nebeneinander liegenden Bohlen machte auf Eleganz nicht den geringsten Anspruch, wie denn zu jener Zeit Königsberg in vieler Hinsicht noch als ein großes polnisches Dorf betrachtet werden konnte. Unsere Unterhaltungen und Debatten drehten sich oft um die Philosophie, welche damals noch mehr an der Tagesordnung war, als in unserer gegenwärtigen Zeit. Simson war ein Schüler von Herbart, der als eleganter Docent mit Sporenstiefeln und Reitpeitsche, Freund und Kenner der Musik und Mathematik, noch im Gedächtniß seiner Hörer fortlebte; wir Jüngeren aber besuchten die geistreichen Vorlesungen von Karl Rosenkranz und schwuren auf Hegel und seine Weisheit. Simson begnügte sich indeß nicht mit jener vornehmen Verachtung derselben, welche viele der damals in Ostpreußen weitverbreiteten Herbartianer zur Schau trugen; er hörte als Professor noch die Vorlesungen seines Collegen mit an, um an der Quelle die Kenntniß des ihm fremdartigen und widerstrebenden Systems zu schöpfen, welches Samland, Ratangen und Masuren auf einmal mit Anhängern des „Absoluten“ bevölkerte.
Zwei Mal trat ich in den folgenden Jahren noch in nähere Beziehung zu Simson. Einmal bei meinem juristischen Doctorexamen. Simson war Decan der Facultät – und in seinem Hause machte ich die mündliche Prüfung in lateinischer Sprache, und genoß in Gemeinschaft mit der Facultät, nach überstandenen Schrecknissen, ein erheiterndes Abendmahl. In Erinnerung ist mir, außer einigen Lücken im canonischen Recht, namentlich ein in seinem Fache sehr tüchtiger Professor geblieben, dessen Kinn in einer gewaltigen weißen Halsbinde ertrank und der außerdem in der lateinischen Rede eine vornehme Abneigung gegen den Conjunctiv an den Tag legte, dessen er sich nie bediente.
Das andere Mal, im Jahre 1848, handelte es sich um die Wahlen zum Frankfurter Parlament. Ich gehörte zu den Wahlmännern, unsere Hauptcandidaten waren Simson und Jacoby. Ueber diese Wahl, welcher die deutschen Parlamente ihren Präsidenten verdankten, ist bisher wenig bekannt geworden. Und doch hatte sie einen eigenthümlichen Verlauf genommen. In der Vorwahl, welcher fast alle Wahlmänner beiwohnten, erhielt Jacoby eine so überwiegende Mehrzahl von Stimmen, daß von der Candidatur Simson’s gar nicht mehr die Rede zu sein schien, das Verhältniß war etwa vierzig Stimmen gegen zehn. Doch nun begab sich das Wunderbare, daß bei der wirklichen Wahl, den Tag darauf, dies Verhältniß sich fast umkehrte und Simson mit einer bedeutenden Stimmenmehrheit in das Parlament gewählt wurde. Wie das Wunder bewirkt worden war, bleibt unerklärlich; man sprach von Freunden des Professors, welche Alles aufgeboten, um ihre Ueberzeugung von der außerordentlichen Begabung Simson’s noch in der letzten Stunde bei den Wahlmännern zu verbreiten; man erzählte, daß von diesem eine große Abendgesellschaft geladen worden war, um die politischen Dissenters zu bekehren. Simson selbst nahm die Wahl dankend an und schloß seine Anrede an das Wahlmännercollegium mit dem Programm aus Schiller’s „Tell“, das er als das seinige hinstellte:
Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern,
In keiner Noth uns trennen noch Gefahr.
Wir wollen frei sein, wie die Väter waren,
Eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.
Wir wollen trauen auf den höchsten Gott,
Und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.
Was den Gegencandidaten Simson’s, Johann Jacoby, betraf, so erfreute er sich in der Pregelstadt einer großen Popularität. Seine „vier Fragen“ hatten größeres Aufsehen gemacht, als je vorher oder nachher eine Schrift von gleichem Umfang. Sie waren eben der Ausdruck der öffentlichen Meinung, welcher sie die präciseste Fassung gaben, und sie kamen zur rechten Zeit. Das richtige Tempo entscheidet über die geschichtliche Unsterblichkeit. Ueber Jacoby schwebte, als ich ihn zuerst sah, einer jener zahlreichen Hochverrathsprocesse, welche für diesen Politiker charakteristisch blieben; doch war dieser erste ebenso resultatlos wie der spätere, der wegen seiner Theilnahme am Stuttgarter Rumpfparlament gegen ihn angestrengt worden war. Einem jungen Studenten, der [218] in der Geschichte viel von den politischen Märtyrern aller Zeiten gelesen hatte, mußte diese Märtyrerglorie imponiren und er bereitete sich durch den schweigenden Hinblick auf Sokrates und Cato vor, ehe er dem antiken Charakter in der Kneiphöf’schen Langgasse seinen Besuch abstattete.
Wohl gab es gute Staatsbürger, die einen Demagogen sich schon damals nur als eine Bassermann’sche Gestalt denken konnten, ähnlich jenen Reclamekindern, die mit der bekannten Haarwuchspomade gespielt hatten, das bärtige Antlitz von dem wallenden, ungekämmten Haupthaar überschattet, in der Hand den Ziegenhainer, mit nägelbeschlagenen Stiefeln, welche selbst das Straßenpflaster in Aufruhr versetzten, daß es Funken stob, wenn sie über dasselbe hinschritten. Wer mit einem solchen Bild eines urwüchsigen Demagogen aus den Turnhallen vor Jacoby hintrat, der mußte sich in merkwürdiger Weise enttäuscht fühlen.
Der Mann der „vier Fragen“ hatte durchaus nicht die trotzige Miene des Rebellen oder irgend etwas Staatsgefährliches und Bedrohliches in seinem Wesen; er sah aus wie ein menschenfreundlicher Schüler Aeskulap’s und hatte sich auch als solcher bei der letzten Choleraepidemie bewährt. Sein Gesicht verleugnete nicht die jüdische Herkunft; es gehörte zu jenen milden klaren Gesichtern, welche gleichsam die beschauliche Weisheit des Orients wiederzuspiegeln scheinen. Ausgiebiger Redefluß war nicht seine Sache, ebensowenig funkelnder Esprit; er sprach wenig, aber treffend und bezeichnend. Man hatte stets den Eindruck, daß es ihm Ernst war mit seinen Ueberzeugungen und daß sie bei ihm aus seinem innersten Wesen hervorgingen. Seine im Ganzen unscheinbare Persönlichkeit machte ihn weder zum Volksredner noch zum Parlamentsredner geeignet; ihm fehlten die imponirenden Gesten; es bedurfte bei seinem öffentlichen Auftreten der Folie seines Namens, um ihm die Aufmerksamkeit zu sichern, die er durch klare und bündige Rede zu verdienen suchte. Im Ganzen mochte er immerhin als geeigneter Vertreter der Stadt der „reinen Vernunft“ erscheinen; denn etwas von dem Hauch dieser reinen Vernunft beseelte sein öffentliches Auftreten; es war dieselbe durchsichtige, oft frostige Klarheit, wie wir sie in manchen Schriften des großen Königsberger Denkers finden. Mit dem einsamen Wanderer des Philosophendammes hatte er das Apostelthum des ewigen Friedens gemein; doch wie der schattige Philosophendamm den Schienen der Eisenbahn und dem lärmenden Treiben des täglichen Verkehrs weichen mußte, so hat auch dieses Apostelthum in den letzten Jahren vor dem Lärm der blutigsten Kriege verhallen müssen und seine Vorkämpfer sind in eine einsame, sehr schiefe Stellung gedrängt worden.
Doch nicht Kant, sondern Spinoza und Lessing sind die Geistesheroen, denen der Mann der „vier Fragen“ huldigte; sie herrschten in seiner Bibliothek, auf seinem Arbeitstisch, in seiner Gedankenwelt. Stillwaltende Nothwendigkeit des Weltgeistes, Humanität, Toleranz – das waren die Losungsworte, welche Jacoby zu den seinigen gemacht hatte.
Niemand schien weniger zu einem extremen Politiker geschaffen als er, und in der That athmeten die „vier Fragen“ auch einen sehr gemäßigten Geist. Gegenwärtig giebt es in Preußen keine Partei mehr, die sich nicht mit ihrem Inhalt einverstanden erklären würde. Gleichwohl wurde Jacoby in den folgenden Jahren immer mehr auf die äußerste Linke gedrängt. Der freundliche Arzt, der in seinem einspännigen Doctorwagen durch die Königsberger Straßen fährt, gewöhnt an ein stilles Wirken, hatte kaum angefangen, dem preußischen Staate seine Mixturen, Latwerge und Pillen einzugeben, als er auch immer mehr zu einer hippokratischen Radicalcur schritt. Ein Nathan mit der Jakobinermütze scheint freilich ein undenkbares Bild.
Und doch ist die Lösung des Räthsels nicht schwer. Jacoby ist mehr Philosoph als Politiker. Das Wesen der Philosophie ist die Consequenz, das Wesen der Politik die Inconsequenz. Große Politiker sind diejenigen, welche die augenblickliche Lage benutzen, um ihr Ziel zu erreichen; auf eine Handvoll Widersprüche kommt es dabei nicht an. Das „heute“ hat immer Recht in der Politik, wenn es auch das „gestern“ Lügen straft und von dem „morgen“ verleugnet wird. Staatsmänner, die ihre Zeit beherrschen, muß man abbilden mit dem Kaleidoskop in der Hand als dem Attribut ihrer Göttlichkeit; heute schütteln sie die Figuren so, morgen anders, wie ihre Grün- und Blaubücher beweisen, die in allen Farben schimmern. Auch das parlamentarische Leben ist unmöglich ohne den Compromiß. Die starren Principienmänner, die Philosophen in der Politik, welche dieselbe für eine exacte Wissenschaft halten und ihre Lehrsätze wie Euklid oder mindestens wie Spinoza beweisen wollen, werden rasch von der Bewegung bei Seite geschoben.
Jacoby ist ein Kosmopolit, unsere Zeit macht in großen geschichtlichen Ereignissen nationale Politik mit Blut und Eisen. So ist der Mann der „vier Fragen“, die längst beantwortet sind, in seinem Junggesellenlogis in der Kneiphöf’schen Langgasse ebenso isolirt, wie er es in der Lötzener Festungshaft war, und hofft auf die ungedruckte „Zukunft“, welche die Leitartikel der gedruckten verwirklichen soll![1]
„Der Uebergang der weiland großen Armee des ersten Napoleon auf ihrem Rückzuge aus Rußland über die Beresina kann kaum ein ergreifenderes Bild von dem Elende und den Scheußlichkeiten des Krieges dargeboten haben, als diese Bourbaki’sche Armee bei ihrem Uebertritt über unsere Grenze!“ – Mit diesen Worten nahm ein Freund von mir Abschied, der zugleich mit mir die Trümmer der genannten Armee an sich hatte vorüberziehen sehen. Das war bei Verrières Suisse gewesen, wo sich noch Tags zuvor der schweizerische Commandant geweigert hatte, die französische Armee über die Grenze treten zu lassen. Hatte doch der Befehlshaber der letzteren, der General Clinchant, auf die erste Kunde vom Waffenstillstand, dessen nähere, ihn und seine Armee bekanntlich ausschließende Bestimmungen ihm offenbar nicht bekannt geworden waren, dem schweizerischen Obercommandanten, dem General Herzog, erklären lassen, daß kein französischer Soldat die Schweizer Grenze überschreiten dürfe. Nun aber, ohne Zweifel im Laufe des Tages von seinem Irrthum überzeugt, änderte er seinen Entschluß, und schon am Abend mußte sich die ganze schweizerische Brigade an der Grenze sammeln, da sich die französischen Colonnen derselben bis auf dreihundert Schritte genähert hatten.
Seiner Weisung zufolge wollte sich, wie gesagt, der schweizerische Brigadier dem Uebertritte widersetzen. Während er mit dem französischen Colonnencommandanten unterhandelte, vernahm man aus kurzer Entfernung, vom Joux-Fort her, eine lebhafte Kanonade. Etliche Corps unter dem Befehl des General Billot suchten hier, unterstützt von der Artillerie der Forts, den Rückzug der Hauptarmee zu decken. Unter solchen Umständen fand es der schweizerische Brigadecommandant für angemessen, beim Obercommandanten um neue Verhaltungsbefehle nachzusuchen, und diese lauteten nun dahin, den Uebertritt der Armee nach Niederlegung der Waffen zu gestatten. In der Nacht vom 31. Januar auf den 1. Februar kam der schweizerische Obergeneral selbst nach Verrières, der Uebertrittsvertrag wurde abgeschlossen, und nun begann der Einmarsch der geschlagenen und bis dahin verfolgten Armee.
In endlosen unübersehbaren Zügen in der noch kaum angebrochenen Dämmerung des eisigkalten Wintermorgens, mehr einem gespenstigen Heereszuge, denn einer wirklichen Armee von Lebendigen gleichend, bewegten sie sich heran, die numerisch noch so gewaltigen, aber in ihrer physischen und moralischen Erschöpfung zu gänzlicher Ohnmacht verdammten, in Hunger und Elend verkommenen Trümmer der Ostarmee. Sie kamen mit Reserve, Munitionspark, Mitrailleusen und Gebirgsbatterien, vielfach in buntem Durcheinander, Infanterie, Cavallerie und Artillerie, Zuaven, Turcos, Freiwillige, Ulanen, Lanciers, Kürassiere in weiten blutrothen, und Dragoner in zerfetzten weißwollenen, schmutzigen Mänteln – eine Maskerade, aber eine bunte Maskerade des Todes und der Zernichtung. [219] Zahllose vermochten sich kaum noch vorwärts zu schleppen durch den bis an die Kniee reichenden Schnee des hochgelegenen Jurapasses. Zu Hunderten stürzten Menschen und Thiere nieder, die Letzteren um hülflos zu verenden oder durch einen mitleidigen Schuß oder Bajonnetstich von ihren Qualen für immer erlöst zu werden. Aber vorwärts, vorwärts mußten sie, die noch vor wenig Monden so lebensmuthigen, kampflustigen und jetzt so todesbleichen, abgemagerten Krieger; denn in ihrem Rücken kämpfte, wie erwähnt, die Nachhut noch den Verzweiflungskampf mit dem unaufhaltsam nachdringenden Sieger und mahnte der dumpfe Donner der Kanonen zur Eile.
Etwa zwanzig Minuten von dem kleinen Verrières Suisse findet man eine Pappelallee und dicht an der Grenze das schweizerische Douanengebäude, woselbst die Entwaffnung der unglücklichen Armee durch die schweizerischen Grenzbewachungstruppen vor sich ging. Von Morgens fünf bis Abends sieben Uhr dauerte nur an dieser Stelle der Einmarsch und das betrübende Schauspiel der Entwaffnung. Es versteht sich von selbst, daß ich so lange nicht aushielt; aber das Elend und das Entsetzen, das hier bei Verrières Suisse in wenigen Stunden an meinen Augen vorüberzog, wird mir Zeit meines Lebens unvergessen bleiben. Im riesigen Haufen lagen bald Chassepot, Remington und Peabody, Reitersäbel und Pistolen übereinander geschüttet da, von den ehemaligen Eigenthümern mit fast stupider Gleichgültigkeit oder mit stummer Entsagung den Händen der Wächter eingeliefert. Von ihrer Bedienungsmannschaft gleichgültig verlassen, gähnten die endlosen Reihen der schwarzen, eisernen Feuerschlünde in die kalte, öde Winterlandschaft hinaus, fast bei jedem Schritt fiel mein Blick auf Pferdeleichen und hoch oben kreisten Geier und Raubvögel mit wildem Geschrei, begierig, sich auf die bereite Beute herabzustürzen. Gerade bei Verrières fand ich einen Omnibus von Artignon; die Thür war geöffnet, aber der Besatz der Polster schon halb abgefressen, die Pferde hatten in ihrem Heißhunger ihn zur Speise auserlesen, wie auch den Kutschenschlag, der nur noch zerfressen herabhing. Angeschirrte und nicht angeschirrte Pferde irrten wiehernd über das Schneegefild, und wo sie beisammen hielten, dienten ihnen Geschirr und sogar die Mähnen als gegenseitiges Nahrungsmittel.
Die Mannschaften selbst, kaum entwaffnet, warfen sich da, wo sie standen, in den hohen Schnee oder drängten sich unter den schützenden Dächern der Häuser und in den Fluren und Zimmern der gastlichen Dorfbewohner zusammen. Weiter nach Verrières le français, einem armen, unscheinbaren Orte, begegneten wir allenthalben Verwundeten, die verlassen abseits lagen, Müden, die im Schnee gekauert eine kurze Rast machten, Verwundeten, die nicht mehr weiter konnten, oft ohne Fußbekleidung oder mit durchlöcherten Schuhen, aus denen die halberstarrten Zehen schauten. Die Lippen dieser Unglücklichen bebten, ihre abgemagerten Züge, ihr mattes Auge flehte um eine Labung, die sie dankerfüllt entgegennahmen. Wieder andere schleppten sich mühsam weiter und schienen jeden Augenblick zusammenbrechen zu wollen. Und noch immer diese Kälte, dieser eisige Windhauch von den Bergen, der das Blut der Wunden zu Eis erstarren, den Athem zu Glasperlen erfrieren ließ, die an Kopf- und Barthaaren hingen.
Aus den ärmlichen und volksarmen Grenzorten kamen die Leute, Männer, Frauen und Kinder mit Brod, Wein, Branntwein, mit Allem, was sie besaßen, heraus, um den Verlassenen etwas Stärkendes zu bieten, ihnen aufzuhelfen zum Fortkommen, sie zu stützen, fortzuführen – bei Manchem vergebens, der sterbensmüde, zum Tode krank oder verwundet, dankend mit Blick oder Geberde, oder mit matter Stimme, nur die Erlösung von seinen Leiden erwartete. Dort rief der Eine, an die letzte Lebenshoffnung sich anklammernd, nach Labung, nach einem Trunk, nach Brod und verschlang gierig das Gebotene mit einem Ah! der Hoffnung – dort wies ein Anderer stumm die Hülfe zurück oder sagte: „Laissez-moi mourir!“
Die Officiere inzwischen thaten sich in den Gasthöfen von Verrières gütlich, unbekümmert um das Loos ihrer zu Tode gehetzten Soldaten. Noch mehr! Zwei Soldaten fielen auf der Straße vor Erschöpfung nieder. Zwei Frauen wollten ihnen helfen, sich wieder aufzurichten. Die zu Tode Erschöpften baten, sie lieber ruhig liegen und sterben zu lassen. Das wollten nun hinwieder die beiden barmherzigen Samariterinnen nicht und sie baten zwei gleichgültig vorüberschreitende französische Officiere, denen freilich von Mangel und Erschöpfung nichts anzusehen war, ihnen bei dem Liebeswerke zu helfen. „Laissez-les crever, les canailles!“ (Lassen Sie die Hallunken crepiren!) gaben die menschenfreundlichen Herren zur Antwort und schritten fürbaß, dem Gasthofe zu.
Nein, eine solche Armee war nicht mehr kampffähig. Denn zu allem übrigen Elende gesellte sich auch noch die Aufhebung jeglicher Disciplin. Kein Soldat erweist auch heute noch im Innern der Schweiz seinem vorüberschreitenden ehemaligen Officier, welchen Grades dieser auch sein möge, die sonst üblichen Ehrenbezeigungen; eher spuckt er vor dem hochmüthig und gleichgültig an ihm Vorübergehenden verächtlich aus, oder knirscht ihm eine Verwünschung nach.
Von Kranken und Verwundeten waren inzwischen die Hausräume der rings um Verrières liegenden Orte überfüllt, nirgends ein Unterkommen mehr. Was an Vorräthen vorhanden, reichte kaum für den ersten Tag; die Bewohner in ihrem samaritischen Aufopferungseifer litten bald nicht minder Mangel als die fremden Gäste selbst, als die hier zur Grenzwache bestimmten schweizerischen Soldaten. Aber es war vorgesorgt worden. Fourage- und Lebensmittelwagen langten an.
Die marschfähigen Colonnen oder Corpsabtheilungen hatten gleich nach der Abgabe ihrer Waffen den Weitermarsch angetreten, durch die Felsgalerie in das Thal der tobenden Reusse, durch den dunklen Tunnel in das weltromantische Travers-Thal. Wenn auch in dieser traurigen Lage, bei der Abmattung und Abspannung, die pittoresken Naturgebilde den Einzelnen nicht sonderlich zu fesseln schienen, so war doch bei Manchem der Humor nach der ersten Labung wiedergekehrt, und je mehr die Leute in das Thal hinabkamen, desto reichlicher flossen die Gaben, so in St. Sulpice, in Flanier insbesondere, in Condet, Travers, wo rechts der Straße mit den herübergebrachten Geschützen ein Artilleriepark gebildet wurde, um später nach und nach von den Franzosen unter eidgenössischer Escorte nach Colombier abgeführt zu werden, indessen die Massen der Internirten sich nach Neuenburg zu wenden hatten, und von hier aus in entsprechendster Weise nach den Cantonen vertheilt wurden. Und wirklich, wer Gelegenheit hatte zu sehen, mit welcher Schnelligkeit nach besten Kräften und nach Möglichkeit die Militärbehörden die Beförderung und Unterbringung der massenweise heranrückenden Internirten besorgten, wie bei der oft unbegreiflichen Unthätigkeit der meisten französischen Officiere und Ambulancen die schweizerischen Ambulancen und Hülfscomités den Ambulancedienst versahen, mit welcher Gewandtheit schweizerische, oft der französischen Sprache nicht mächtige Officiere Ordnung in diese fremden Colonnen brachten und sich das Vertrauen der fremden Krieger erwarben, der wird auch erkannt haben, daß das schweizerische Verwaltungs- und Wehrwesen sich in vollständigster Weise bewährte.
Es handelte sich beim Empfange und der Unterbringung dieser Heerestrümmer nicht um Sympathie – die fünfzig von den Franzosen mit herübergebrachten gefangenen Preußen, die freilich in bester Ausrüstung, eine kernige kleine Schaar, sehr merkbar contrastirten mit denen, von denen sie gefangen gehalten worden waren, auch sie fanden ja überall eine nicht minder herzliche Aufnahme, und man hatte für sie ein gesondertes und gutes Local in Neuenburg bereit gehalten, wo sie sich überzeugen konnten, daß die Gaben der Neutralen für sie vielleicht noch reichlicher flossen, als für ihre – Erbfeinde. Der Wohlthätigkeitssinn der Schweiz hatte überall den Empfang bereitet – und sind die Schweizer nicht allenthalben bekannt, daß sie das Unglück zu lindern sich bestreben?
Kaum vierzehn Tage genügten, um die vielen Tausende – nahezu sechsundachtzigtausend – mit dem Dringendsten zu versehen und die Halbverhungerten wieder zu Kräften zu bringen. Manche erlagen seitdem, trotz bester Pflege, ihren Strapazen und den Krankheiten, welche der Hunger und die Entbehrungen hervorriefen. Auf vielen Kirchhöfen zeigt ein einfaches schwarzes Kreuz, vielleicht kranzgeschmückt von mildthätiger Hand, die letzte Ruhestätte eines Franzosen. Die Schweiz hat sich durch diesen momentanen Zuwachs der Bevölkerung nicht erschöpft; sie ist nicht verarmt und wird es nicht werden. Sie findet sich glücklich in dem Gefühle, Unglücklichen die helfende Hand gereicht zu haben, und wohl schwerlich wird einer dieser Franzosen die Zeit vergessen, wo er auf dem schützenden neutralen Schweizerboden ein Obdach und – Menschen fand.[2] Aber unvergessen wird auch der Uebertritt dieser Heerestrümmer bleiben der Schweiz und besonders den Bewohnern ihrer Westgrenzorte.
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Eine Reise aus der Schweiz in’s Elsaß bedingte noch vor wenigen Tagen den Besitz einer Legitimationsurkunde. Dem Besucher eines Schauplatzes, auf welchem der Kanonendonner der letzten, für Deutschland so ruhmvollen und folgenreichen Kämpfe kaum verstummt war, durften auch gewichtige Empfehlungen aus einflußreicher Hand nicht fehlen. So führte mich denn mein Weg zunächst nach Bern, wo mich der deutsche Gesandte, Generallieutenant von Röder, sehr freundlich empfing und auf mein Beglaubigungsschreiben der Gartenlaube hin sofort mit der gewünschten Postkarte versah. Der nächste Morgen fand mich bereits auf der Fahrt nach Basel. Eine Schilderung dieser kurzen Fahrt würde unter gewöhnlichen Verhältnissen und aus rein touristischem Standpunkte nicht in den Rahmen meines Berichtes passen. Aber eben jetzt, da so Viele der internirten Franzosen zu einer größeren Freiheit ihrer Bewegungen gelangt sind, und das Land als Touristen in jeder Richtung durchkreuzen, gewinnt der Aufenthalt im Waggon für jeden ruhigen Beobachter, besonders für den deutschen, ein erhöhtes menschliches und nationales Interesse. Ist ihm doch dadurch Gelegenheit geboten, aus dem regen Meinungsaustausche zwischen Internirten und Eingeborenen ein Spiegelbild der vorherrschenden Stimmungen und Anschauungen zu empfangen und daraus für die verschleierte Zukunft seines neugeborenen Vaterlandes Folgerungen zu ziehen. Leider sind in diesem Zukunftsbilde die Farben trübe und der Horizont schwer umwölkt. Der Deutsche im Verkehr mit Schweizern findet nur in den höheren Gesellschaftskreisen laue und vereinzelte Sympathien. Bei der großen Mehrzahl und besonders bei dem Landvolke wendet sich alle Freundlichkeit, alle Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft den Franzosen zu. Kein Wunder, daß dieser wohlthuende Empfang die internirten Nachbarn veranlaßt, ihr Inneres recht offen herauszukehren und ihre Gesinnungen unverhüllt auszusprechen. Und was dabei hervortritt, das läßt sich in wenigen Worten dahin zusammenfassen: „tiefer, glühender Haß, und fürchterliche Rache, sobald sich hierzu Möglichkeit bietet.“ Nur ein französischer Capitain hatte den moralischen Muth, dem allgemeinen Schreie nach Rache entgegenzutreten, die deutschen Siege als das Ergebniß unserer allgemeinen höheren Bildung anzuerkennen, und den kräftigen Aufschwung Frankreichs nur von seiner friedlichen Entwicklung und der durchgreifenden Reform des französischen Unterrichtswesens zu erwarten.
Wie lange wird es dauern, und wird es überhaupt dahin kommen, daß diese vereinzelte Anschauung sich in weiteren Kreisen Bahn bricht, um auf Frankreichs künftige Entschließungen und Geschicke Einfluß zu üben?!
Die Hoffnung, daß es sich zum Besseren, zur dauernden Befriedigung der beiden großen Nachbarvölker wenden könne, ist erlaubt; aber diese Hoffnung ist eben jetzt noch ein schwaches Kind, und konnte meine trüben Gedanken über das Ergebniß aller seit Wochen gesammelten Erfahrungen nicht bewältigen. So kam ich denn, durch die Begegnungen und Gespräche im Waggon noch mehr verstimmt, nach Basel und einige Stunden später mit dem Abendzuge der seit Kurzem wieder eröffneten französischen Ostbahn über die Grenze unseres im heißen Kampfe wiedererrungenen Elsasses.
Wie heiter und friedlich lag das schöne Land im Schimmer der Abendsonne vor unseren Augen! So heiter mit seiner weitgedehnten, schon von Frühlingswehen angehauchten und vom Sonnenstrahl rosig überglühten Ebene, als habe kein schwerer Sturm darüber hinweggebraust! So heiter, als seien nicht Tausende froher Existenzen hier geknickt worden, als sei alles Leben und Treiben hier friedvoll, gleich der schönen Natur. Und doch ist es anders; doch tritt dem schärfer blickenden Auge schon bei dem ersten Schritte ein Zeichen außergewöhnlicher Zustände entgegen. Kein Feld bebaut, keine Wiese gedüngt, kein fleißiger Arbeiter, kein Gespann auf weite Ferne wahrzunehmen! Und dieselbe Erscheinung in der ganzen Ausdehnung, die ich bis Belfort zu durcheilen hatte. Wie tritt uns hier das erste Wahrzeichen entgegen, daß wir in diesem altdeutschen Lande nicht als Befreier, sondern als Feinde betrachtet werden! Und mit jedem weiteren Schritte mehren sich die Zeichen, daß Mißtrauen, Haß und passiver Kampf hier noch kein Ende gefunden haben. In St. Louis traf unser Zug, in dem kein Platz unbesetzt, und reichlich die Hälfte von dem schöneren Geschlechte eingenommen war, auf die ersten Repräsentanten der Wacht am Rhein, Großherzoglich badische Militärs traten in jeden Waggon, um die Prüfung der abgeforderten Reisepässe vorzunehmen. Bedenklicher gestaltete sich die Sache in Mühlhausen, wo wir bei der Ankunft plötzlich unsere Waggons von bewaffnetem deutschen Militär mit aufgepflanzten Bajonneten umzingelt fanden. Gleichzeitig wurde allen Reisenden der militärische Befehl ertheilt, in den Waggons zu bleiben, bis die Prüfung ihrer Papiere und Bagagen erfolgt sei. Es war nahezu komisch, die ängstliche Aufregung, welche sich aller Reisegefährten bemächtigte, aus dem ruhigen Standpunkte Ihres Berichterstatters zu beobachten. Die Einen glaubten an Unruhen in Mühlhausen, die Anderen vermutheten, daß eine verdächtige Persönlichkeit oder das beabsichtigte Einschmuggeln verbotener Druckschriften aus Basel signalisirt worden sei. Letzteres dürfte auch das Wahrscheinlichste sein; glücklicherweise aber verhalf mir mein Talisman rasch zur ersehnten Freiheit. Ich wartete den Ausgang der Untersuchung nicht ab und eilte in den Gasthof, um dort leider zu erfahren, daß die Eisenbahn zwischen Mühlhausen und Belfort noch nicht in Betrieb sei, da der große Viaduct zwischen Dannemarie und Retzwiller von den Franzosen durch Sprengung mehrerer Pfeiler unfahrbar gemacht, und die Wiederherstellung erst in zwei bis drei Wochen zu erwarten sei. Einstweilen, sagte man mir, gehe die Eisenbahnfahrt nur bis Dannemarie und dort müsse man das Weiterkommen im Wagen dem Zufalle überlassen, oder den dreiundzwanzig Kilometer langen Weg nach Belfort zu Fuß zurücklegen.
Noth kennt kein Gebot! Fort mußte und wollte ich; also rasch zur Eisenbahn. Hier dürfte es am Platze sein, über den unter deutscher Verwaltung stehenden Betrieb der kurzen Strecke bis Dannemarie einige Worte zu verlieren. Denn diese Bemerkungen, die ich zum Theil eigener Erfahrung danke, dürften gerechte Beschwerden der einheimischen Bevölkerung zur Sprache bringen, und deren auch durch deutsches Interesse gebotene Abstellung anregen. So darf man mit Recht fragen, ob es billig sei, für die Strecke „Mühlhausen bis Dannemarie“ denselben Fahrpreis zu fordern, der unter französischer Herrschaft für die ganze Fahrtlinie „Mühlhausen bis Belfort“ galt; – ob es billig sei, den vollen Fahrpreis bis Dannemarie auch von Jenen einzuheben, welche die Eisenbahn nur bis zur Zwischenstation Altkirch benutzen; – endlich ob es billig sei, den Preis für Fahrbillets zweiter Classe abzufordern und die Besitzer dieser Billets in die Waggons dritter Classe zu verweisen, während die im Zuge befindlichen Waggons zweiter Classe den mitfahrenden Truppen eingeräumt werden. Es mag sich hier um provisorische Einrichtungen handeln und jede einzelne Beschwerde als geringfügig betrachtet werden. Aber Fragen dieser Art streifen sehr nahe an das angeborene Gefühl von Recht und Unrecht; sie haben überdies den Nachtheil, Vergleichungen zwischen jetzt und früher hervorzurufen; und im selben Maße, als der Elsässer für jede Verletzung seines wahren oder vermeinten Rechtes höchst empfindlich ist, in gleichem Maße ist es Aufgabe der Deutschen, diesem Rechtsgefühle Rechnung zu tragen, und dem neugewonnenen Bruder mehr und Besseres zu bieten, als die Träger der früheren Herrschaft.
Dannemarie selbst, etwa fünf Minuten vom Bahnhofe auf einer kleinen Anhöhe gelegen, ist ein freundliches Dorf, dessen deutscher Typus entschieden ausgesprochen ist und den deutschen Besucher sofort anheimeln würde, auch wenn nicht aus allen Häusern gutmüthige deutsche Gesichter hervorblickten und der Klang deutscher Sprache überall hörbar wäre. In dem einzigen Gasthause des Ortes hat das deutsche Militärcommando seinen Sitz: an den Eingangsthüren sind deutsche Proclamationen angeheftet und unsere guten Landsleute wandern da überall so wohlgemuth und sorglos herum, als wären sie die wahren Einwohner des Ortes, und alle Anderen bei ihnen zu Gaste gebeten. Und bei alledem keine ersichtliche Spur von Gehässigkeit oder Unverträglichkeit. Die Wirthsleute und die Ortsbewohner, mit welchen ich sprach, gaben vielmehr den deutschen Truppen das Zeugniß strengster Disciplin und des anspruchlosesten Benehmens. Erst später freilich erfuhr ich, daß auch hier das friedliche und freundliche Nebeneinandergehen mehr auf Schein, als auf Wahrheit beruhe, weil die Dannemarier wieder an Frankreich zurückzufallen hofften.
[222] Dannemarie zeigt keine Spur von Zerstörung oder Erschöpfung; die deutschen Truppen, welche durchzogen oder im Orte selbst garnisonirten, erhielten ihre volle Verpflegung aus den täglich eintreffenden Proviantzügen und nahmen die Ortsbewohner nur für Quartier und Feuerung in Anspruch. Dagegen war als empfindliche Folge des Kriegszustandes vollständiger Mangel an Privatfuhrwerken bemerkbar, und ich mußte mich glücklich schätzen, um den Preis von acht Thalern ein offenes, mit einem ausrangirten, ehemals königlich baierischen Dienstpferde bespanntes Wägelchen zu erhalten. Angenehm war die so fortgesetzte Fahrt eben nicht, aber sehr belehrend. Erst von hier aus konnte ich mir aus freier Rundschau einen scharfen Ueberblick der Terrainverhältnisse, des Bodenculturzustandes und der allmählich zunehmenden Kriegsspuren verschaffen.
Letztere traten bald zu Tage: Wiesen und Aecker nirgends bestellt und ganze Strecken, auf denen die reifen Kartoffeln gar nicht ausgegraben und die Kohlköpfe auf freier Erde verfault sind. Hin und wieder stehen auf den unbebauten Feldern verlassene Pflüge und Eggen, und forscht man nach dem Grunde solcher Verwahrlosung, so findet man ihn rasch in den zahlreichen, meistens bedeutenden Dörfern, welche die breite und vortreffliche Hauptstraße nach Belfort durchschneidet. Waren die ersten Dörfer von Retzwiller bis Chavannes noch theilweise bewohnt und durch Einquartierung belebt, so zeigte sich von da ab bis Belfort immer mehr die zunehmende Einsamkeit einer nur durch Karawanenzüge von eintreffenden Proviantwagen und rückkehrenden Artillerietrains belebten Wüste. Ueberall in den Dörfern waren Thüren und Fenster geschlossen, keine lebende Seele, und doch Alles unversehrt, als beschiene die goldene Sonne nur eine in tiefen Schlaf versunkene Stätte.
Bei Bessoncourt trifft man auf die ersten Spuren der deutschen Belagerungsarbeiten, und rückwärts der schmalen Trancheen ragt das erste Kreuz, unter dem unsere gefallenen Brüder ruhen. Hier, etwa sechs Kilometer von Belfort, werden auch die ersten durch französische Kugeln halb oder ganz zerstörten Häuser sichtbar; auch die Felder zeigen allerwärts die durch Projectile aufgerissenen Furchen und Vertiefungen. Und nun mehren sich fortwährend die Anzeichen eines heftigen Geschützkampfes, bis im Dorfe Perouze, drei Kilometer von Belfort, der vollste Ernst des Krieges an uns herantritt. Nahezu die Hälfte des Dorfes ist ein Schutthaufen; doch hat der kaum verkündete Frieden schon einige der flüchtigen Bewohner hierher zurückgeführt, und bei der bescheidenen Bauweise, welche sich in französischen Dörfern überhaupt, und so auch in diesem ganz französischen Dorfe kennzeichnet, dürfte Perouze bald als schönerer Phönix aus der Asche wieder erstanden sein. Wir eilen weiter, an einigen fleischlosen Pferdegerippen vorüber, – wir sehen links und rechts die Berge, oder richtiger gesagt die Hügel immer näher zusammentreten, und endlich entrollt sich vor unseren Augen das imponirende Panorama von Belfort. Inmitten dieses so großartigen als malerischen Landschaftsbildes ragt ein steiler Fels, der in jeder Richtung, am meisten aber auf der abgewendeten Seite, schroff abfällt. Auf ihm thront die stolze Citadelle, und weithin flattert triumphirend die schwarz-weiß-rothe Fahne des norddeutschen Bundes. Rechts der Citadelle und ihres isolirten Felspiedestals erhebt sich eine langgedehnte Anhöhe mit schmalem Grate, auf welchem das vorgeschobene Fort La Justice mit seiner weit sichtbaren Caserne ruht. Dies Fort hat durch die Beschießung allerdings gelitten, kann aber nach militärischem Urtheile rasch wiederhergestellt werden, und steht für das Auge des Laien fast unversehrt da.
Dasselbe gilt von dem zweiten, auf derselben Seite, aber auf einem rückwärts gelegenen Hügel erbauten Fort „La Miotte“ in minderem Maße jedoch von den beiden Forts „Les Barres“ und „de la Ferme“, die mit beiden früher erwähnten Forts und dem kleinen Außenwerke „L’Esperance“ die befestigte Stadt Belfort im Halbkreise umringen.
Wendet sich das Auge auf die Gegend links der Citadelle, so gewahrt man auf zwei aneinanderstoßenden Anhöhen desselben Gebirgszuges die beiden Forts „de la haute Perche“ und „de la basse Perche“, deren ersteres etwas höher liegt. Hier war es, wo ein Sturm der deutschen Truppen vor einigen Wochen mit Verlust von einigen Hunderten Todter und Gefangener zurückgeschlagen wurde. Aber das deutsche Artilleriefeuer, das sich mit äußerster Heftigkeit auf diesen Punkt concentrirte, wirkte so entscheidend, daß die Franzosen die unhaltbare Stellung räumten. Die Deutschen, welche sich nun durch Handstreich des abgegebenen Punktes bemächtigten, fanden ihn nur mit etwa dreißig Mann besetzt, und verwandelten ihn sofort in einen neuen Angriffspunkt, dessen Wirkung um so entscheidender sein mußte, als die Entfernung der Haute Perche von der Citadelle kaum dreitausend Schritte betrug.
Faßt man den Gesammteindruck des geschilderten Landschaftsbildes zusammen, so bleibt für den Naturkundigen kein Zweifel, daß die Anhöhen, die auf beiden Seiten so nahe aneinander herantreten, vor Zeiten zusammenhingen, – durch eine geologische Revolution zerrissen wurden und in diesem Cataclysmus den einsamen Felsblock worauf Belfort ruht, als Wahrzeichen, aber auch zugleich als Hüter des Thales zurückließen. Und als Hüter des Thales, das an diesem Punkte Trouée de Belfort (d. h. Durchbruch von Belfort) heißt, haben ihn die Franzosen wohl erkannt. Denn jedes Auge, so unerfahren es sei, muß bei dem Anblicke der Gegend sofort einsehen, daß die Festung auf dem mittleren Felsen, verbunden mit den starken Außenforts, das ganze Thal des südwestlichen Oberelsasses abschließt, und dem Besitzer dieses Punktes nicht allein die Mittel zur Vertheidigung des rückwärts gelegenen Gebietes, sondern auch den gewaltigsten Stützpunkt zum Angriffe auf den vorwärts liegenden Oberelsaß bietet. Kein anderer Punkt im Oberelsaß, – möge man auch bei Altkirch oder Mühlhausen die ausgedehntesten, kostspieligsten Befestigungen anlegen, kann für uns Deutsche den Schlußpunkt von Belfort ersetzen, und jeder spätere Krieg zwischen Frankreich und Deutschland wird zeigen, wie schwer der französische Besitz Belforts in die Wagschale fallen werde.
Nun zurück zu meinem Wagen, der mich durch die waffenlosen Wälle hindurch in die Stadt Belfort, und nach längerem vergeblichen Suchen vor das einzige unversehrt gebliebene Gasthaus Du Tonneau d’or führte. Dies Mekka der Pilger, in welchem übrigens weder Nachtlager noch Unterkunft für Wagen und Pferd zu erlangen war, liegt am Hauptplatze und gewährt den vollsten Ueberblick auf die Kathedrale, das Stadthaus und den rückwärts abfallenden Theil des Festungsfelsens. An der Außenseite der Festung waren keine ernstlichen Beschädigungen, wohl aber die Eindrücke vieler ohne Durchschlag angeprallter Kugeln wahrzunehmen. Anders soll es sich nach militärischen Erzählungen (denn der Eintritt in die Citadelle wurde keinem Civilisten gestattet) im Innern der Citadelle verhalten. Durch die einfallenden Projectile soll Alles darin so verwüstet und zerstört sein, daß vierhundert Militärs zum Wegräumen des Schuttes verwendet werden. Die zurückgebliebenen Verwundeten der französischen Besatzung sagten mir freilich, die Vertheidigung hätte sich noch bedeutend verlängern können. Sie gestanden jedoch, daß die Munitionsvorräthe schon knapp wurden, und die Preußen ihrerseits versicherten mich, daß bei kräftiger Fortsetzung des Bombardements wenige Tage hingereicht hätten, die Citadelle in einen Trümmerhaufen zu verwandeln. Letztere Meinung dürfte die Wahrscheinlichkeit für sich haben, wenn man beim Durchwandern der Stadt unter dem Gefühle des stets erneuten und wachsenden Schauders die Scenen der Zerstörung überblickt. Gewiß hat Straßburg durch Bombardement, Feuersbrünste und Krankheiten furchtbar gelitten; aber es sind ganze Plätze und Häuserreihen dieser Stadt unversehrt geblieben. Anders erging es in Belfort, das von allen Seiten cernirt und beschossen war. Wohin der Blick sich auch wendet, trifft er auf eingebrochene Dächer, auf weitklaffende Oeffnungen in den Mauern, auf überhängende Fenstergerüste, kurz auf jede Form, in der sich die zerstörende Kraft der Projectile kundgiebt.
Nach Aussage der Franzosen hatten besonders die Geschosse der gezogenen Vierundzwanzigpfünder eine grauenhafte Wirkung. Manches Haus, zum Beispiel das Rathhaus, scheint bei Betrachtung der Vorderfront unversehrt; aber beim Umgehen zeigt sich die ganze Rückseite als eingestürzt. Die Caserne, der Bahnhof, das Artilleriegebäude sind vernichtet. Im Arbeiterviertel haben Kugeln und Brand gleich schauderhaft gewüthet. Ich habe die Stadt in allen Richtungen aufmerksam durchwandert und glaube kaum, daß mehr als fünfzig Häuser der ganzen oder theilweisen Zerstörung entgangen sind. Und doch sind alle die Schrecken der Beschießung nichts im Vergleiche zu den Opfern, welche die beiden Krankheiten Typhus und Pocken während der viermonatlichen Einschließung hinweggerafft haben. Aus kompetenter Quelle wurde mir der
[223] französische Menschenverlust auf sieben Procent der Civilbevölkerung berechnet. Noch jetzt fordern diese furchtbaren Krankheiten zahlreiche Opfer und die Keime dieser Seuche werden noch lange fortwuchern. Denn trotz aller Maßregeln, welche die königlich preußische Regierungsbehörde unter Leitung des Präfecten Freiherrn v. d. Heydt so einsichtsvoll als thätig in Vollzug setzt, bestehen noch viele Räume, aus denen sich die verderblichste Miasmen entwickeln. So ist der große place du manége in seiner ganzen Ausdehnung mit einer dicken Schicht halbverfaulten Strohes bedeckt. Auf diesem Platze ist ein fortwährendes Kommen und Gehen der Fuhrwerke, welche die Militärverwaltung für ihre verschiedene Dienstzweige benöthigt. Es wird dadurch täglich eine neue Schicht von Unreinigkeiten zugeführt, und die Ausdünstungen wirken so penetrant, daß sie den abgehärtetsten Geruchsorganen lästig fallen. Auch an anderen Punkten der Stadt sind die Schutthaufen, welche am Beginne unserer Occupation vielfach die freie Circulation hemmten, nicht hinweggeräumt, und mögen, da die französischen Landstädte keineswegs durch übertriebene Reinlichkeit glänzen, manchen verborgenen Ansteckungsherd umhüllen.
Auf unsere Truppen haben die Krankheiten, welche die Stadtbevölkerung decimiren, noch keinen Rückschlag geübt. Trotz der unbeschreiblichen Anstrengungen, welche den Belagerern durch die in schwierigsten Verhältnissen auszuführenden Erdarbeiten, durch die ungünstige Witterung und durch wiederholte blutige Kämpfe zugemuthet wurden, haben unsere Truppen dasselbe heitere, ruhige und stramme Aussehen, als kämen sie von einer harmlosen Parade. Nur die Landwehr verrieth an einzelnen Individuen Spuren der Ermüdung, und der heiße Wunsch nach Rückkehr in die Heimath macht sich in den Reihen dieser ehrenwerthen Krieger, welche sich in allen Ereignissen des Feldzuges so glänzend bewährt haben, unverhohlen geltend.
Freilich bietet der Aufenthalt in einer arg verwüsteten Festungsstadt, inmitten einer fanatischen Bevölkerung, welche die Gewißheit hat, auch fortan bei Frankreich zu verbleiben, den Besatzungstruppen keine Annehmlichkeit. Ich selbst hatte mehr als Eine Gelegenheit, den Haß der Stadtbewohner und der zurückgebliebenen französischen Soldaten wahrzunehmen. Im Vorübergehen hörte ich zu wiederholten Malen die Worte: „Encore un Prussien! allez, nous prendrons notre révanche!“
Haß und Revanche, das sind die Stichworte des jetzigen Frankreichs, und der Gedanke, daß uns bald ein erneuter Waffengang mit den gedemüthigten Nachbarn bevorstehe, war mein einziger Begleiter, als ich zu vorgeschrittener Nachtzeit die racheglühende Stätte der Zerstörung verließ.
Eine wundervolle, wolkenlose Mondnacht goß ihren friedlichen Schimmer auf die verödeten Gefilde: alle Anklänge des Krieges waren verstummt. Aber in den Gemüthern gar Weniger wohnt der Friede, und mir wurde es schwer um’s Herz, als mehrere mit Hausgeräthe schwer bepackte Wagen der flüchtig gewordenen Landbewohner fast lautlos an mir vorüberrollten, um die verlassene Heimath wieder aufzusuchen. Wie mancher mag da eine eingestürzte, feuergeschwärzte Stätte gefunden und händeringend über das unverhoffte Elend gejammert haben! In dem Bestreben, solch Elend zu lindern, sollten sich Frankreich und Deutschland begegnen. Nur in diesem wechselseitigen Streben liegt der Keim zur Annäherung und Versöhnung, und in dem Vertrauen, daß die Zeit auch die edleren Seiten unserer hartgeprüften Nachbarn wieder zur Geltung bringen werde, liegt unsere einzige Hoffnung, daß der Friede fortdauern und uns die wiedergewonnenen deutschen Landeskinder als wahre Brüder entgegenführen werde.
Der Spinnenesser. Der „Alte Heim“ steht nicht nur in Berlin, wo noch Viele leben, die tagtäglich mit Wohlgefallen sein freundlich Antlitz schauten, sondern, namentlich durch seine Biographie von Keßler, ein treffliches Buch, in ganz Deutschland in so gutem Andenken, daß man immer gern etwas Neues über sein ebenso liebenswürdiges als originelles Dasein erfährt.
Bekanntlich stammt dieser „Feldmarschall unter den Doctoren“, wie ihn der alte Blücher in dem heitern Toast als Collegen begrüßte, aus dem Meiningischen Dorfe Solz, wo die Heim noch heute gleichsam wie Erbpfarrer sitzen. Der Vater des „Alten Heim“, ein Magister vom besten alten Schrot und Korn, hat der Welt auch manche Anekdote geliefert. Eine davon möge hier stehen.
Der älteste seiner Söhne ward, nachdem er als Erzieher des Herzogs Georg, eines großen Fürsten auf einem kleinen Throne, wie ein geistvoller Schriftsteller ihn nennt, seine Aufgabe vollendet, in das Consistorium berufen. Nun kam es nicht selten vor, daß der alte Magister wegen starrsinnigen Benehmens von der geistlichen Behörde zur Verantwortung resp. Strafe gezogen wurde. Ein solcher Fall lag wieder vor. Er sollte wegen ungeeigneter Schreibweise einen Verweis erhalten. Als er nun in den Sitzungssaal eintrat und seinen Sohn mit an dem grünen Tische sitzen sah, wendete er sich auf ihn deutend mit den Worten an den Präsidenten: „Thut mir erst einmal da den dummen Jungen hinaus!“ und es half nichts, man mußte dem Alten willfahren.
Es war gewiß ein muthiges Stück Arbeit des Magisters und seiner Gattin mit einer Einnahme von nicht viel über dreihundert Thalern sechs Söhne studiren zu lassen. Das erklärt die patriarchalische Einfachheit, die in seinem Hause herrschte. Zur Winterszeit diente das ziemlich beschränkte untere Zimmer als Wohn-, Studir-, Schul-, Kinder- und Gesindestube zugleich, und zur Sommerszeit bestand die Bekleidung sämmtlicher Pfarrsöhne nur aus zwei Stücken, aus einem Hemd und einem Paar Beinkleidern. In dem schmucken Kirchlein aber bildet das von Meisterhand gemalte Brustbild des Magisters eine der Hauptzierden, und die Stätte des Friedhofes, auf welcher am 5. September 1775 die sechs Söhne desselben über dem Grabe der Mutter feierlich schwuren, bis zum Tode einander zu lieben und an Gott zu halten, führt von dieser Thatsache noch heute den Namen des Meininger Rütli.
Darüber, wie in Heim die Neigung erwacht sei, Arzt zu werden, berichtet Keßler bekanntlich Folgendes:
„Als der siebenjährige Krieg allerlei Kriegsvolk in das stille Solz führte, erschien auch eines Tages ein Stabsarzt mit einem großen mit breiten goldenen Tressen eingefaßten Hut als Einquartierung im Pfarrhause. ‚So ein Mann möchtest du wohl auch werden,‘ dachte der Knabe, und der Hut kam ihm nicht mehr aus dem Sinn.“
Allerdings mag wohl der goldbesetzte Hut eine äußere Veranlassung zum Hervortreten der in dem Knaben schlummernden Neigung gegeben haben; daß aber diese Neigung schon vorher da und wie fest sie begründet war, darüber habe ich als Beweis vor nicht langer Zeit in der durch ihr Jagdschloß historisch berühmten Zillbach einen noch unbekannten, aber sehr interessanten Zug aus dem Kindheitsleben des alten Berliners vernommen.
Ich traf dort eine Bäuerin aus dem Amte Sand, deren Eltermutter längere Zeit in dem Hause des Magisters als Magd gedient hatte. Sie erzählte mir als wohlverbürgte Familientradition Folgendes.
Als eines Morgens beim Frühtrunk von den Berufskreisen die Rede war, denen die älteren Söhne des Magisters sich zugewendet hatten, trat Ernstchen mit der bestimmten Erklärung: „Ich aber will Doctor werden“ an den Vater heran.
Dieser erwiderte: „Du bist wohl nicht gescheidt, Junge; dazu hätte ich kein Geld. Da würdest Du ja mehr kosten, als alle Deine Brüder zusammengenommen.“
Der Kleine ließ sich aber durch diese abfällige Antwort nicht abschrecken. „Doctor will ich werden! Doctor will ich werden!“ Das war das Verlangen, mit dem er immer wieder den Alten bestürmte. Da nun dieser wußte, daß der Kleine eine natürliche Scheu vor Spinnen hatte, so glaubte er darin ein wirksames Abschreckungsmittel zu finden.
„Dummer Junge,“ sagte er, „wie kannst Du Doctor werden! Du fürchtest Dich ja, wenn Du eine Spinne nur siehst, und ein Doctor muß Spinnen essen können, sonst ist er kein rechter Doctor nicht.“
Betrübt zog der Kleine ab. Aber von dem Tage an sah die Magd, wie er täglich in Scheune, Holz-, Viehstall und Küche auf die Spinnenjagd ging.
Nachdem etwa vierzehn Tage vorüber waren, trat er wieder vor den gestrengen Herrn Papa, ein großes, rings mit wohlgenährten Spinnen gespicktes Butterbrod in der Hand, mit den Worten: „Siehst Du, Papa, es ist mir schwer geworden, aber ich kann’s jetzt.“ Und darauf verzehrte er, scheinbar mit großem Behagen, bis zum letzten Rest das spinnenbelegte Brod.
„Nicht wahr, nun kann ich Doctor werden?“ rief er dann triumphirend aus.
Das rührte des Alten Herz, und er erwiderte: „Nun meinetwegen, Du Spinnenfresser! Für einen Pfarrer bist Du doch zu leicht und flüchtig, zu einem Quacksalber bist Du gut genug. Du wirst den Leuten schon weis machen, was Du willst.“
Und so ward Heim Doctor.Ein Volkslehrer-Seminar in Hamburg. In der Entwicklung der modernen gesellschaftlichen Gliederung ist es ein sehr beachtenswerther Gedanke: die Zwecke des Staates, der Kirche und der Erziehung, ganz von einander zu trennen und in gesonderten Gemeinschaften zu verkörpern. Dieser Gedanke ist es, welcher hier und da die Forderung stellt: die Schule von den Einflüssen des Staats und der Kirche loszulösen und ihren eigenen Weg gehen zu lassen. Dies ist nothwendig, wenn die hohe Aufgabe der Schule, die ihr anvertrauten Zöglinge zu sittlich freien Menschen heranzubilden, erreicht werden soll.
[224] In diesem Sinne hat ein Hamburger Bürger, A. G. Todtenhaupt, bei Gelegenheit der Erörterung über die anderweite Einrichtung des akademischen Gymnasiums in Hamburg, die Gründung eines wissenschaftlichen Volkslehrer-Seminars beantragt und einen Plan vorgelegt, der in der deutschen und fremdländischen Presse sofort große Theilnahme gefunden hat, in Hamburg aber selbst vorläufig wenig Aussicht zu haben scheint, eine Majorität für sich zu gewinnen. Der Gedanke ist nicht neu. Pestalozzi, Fröbel, Professor v. Leonhardi und Andere haben ihn gepflegt und der letztere namentlich in den Verhandlungen des Philosophen-Congresses und in dessen Zeitschrift („Neue Zeit“ in Prag, bei Tempsky) neuerdings wiederholt erörtert. Aber der Ausführung stehen Hindernisse entgegen, welche die wohlgemeinten Rathschläge eines Privatmannes nicht zu beseitigen im Stande sind. Dieser Sprung aus der Aera der Stiehl’schen Regulative und des Systems Mühler zu den Organen freier Menschenerziehung wäre zu kühn. Wir wollen uns bescheiden, wenn der Fortschritt zwischen diesen Extremen ein paar Stationen macht. Es ist wahr: „die herrschende Partei sucht die heranwachsende Generation immer in ihrem Sinne und zu ihren Gunsten zu erziehen.“ Die Kirche will sich gehorsame, demüthige Gläubige, der Staat willige Steuerzahler und fromme Soldaten erziehen. Was der Mensch und die Menschheit als solche brauchen, Staat und Kirche können sich damit schwer befreunden und die „freie Menschenbildung“ jener pädagogischen Idealisten ist in der That das Postulat einer neuen Zeit, welche die Pionniere des Gedankens wohl im Aufriß schon fertig sehen, zu der uns aber noch die Brücke fehlt.
Herr Todtenhaupt, ermuntert durch die Zustimmung namhafter Gelehrter in und außerhalb Deutschlands, hat sein Project in verschiedenen Zuschriften an die Hamburger Bürgschaft warm verfochten und dieselben auch als selbständige Brochüren (Hoffmann und Campe) im Druck erscheinen lassen. Sein Organisationsplan ist tief durchdacht und bis in’s Detail ausgearbeitet. Er verleugnet seine Heimath – das reiche Hamburg – nicht. Als Jahresgehalt der drei die Direction des Instituts bildenden Professoren schlägt er je zwölftausend Mark Courant vor. „An Gehalte von solcher Höhe,“ sagt Freiherr von Leonhardi darüber, „ist man in Europa bisher zwar für Primadonnen, aber nicht für Volkslehrer gewöhnt.“
Wiewohl wir an einen Erfolg der von Herrn Todtenhaupt unternommenen Schritte unter den die pädagogische Welt zur Zeit regierenden Einflüssen nicht glauben, ist das Project doch ein bedeutendes Zeichen der Zeit. Es werden noch Jahre und Jahrzehnte darüber hingehen, ehe diese Ideen Gemeingut werden und zum entscheidenden Kampfe mit der schwarzen Rotte und dem hergebrachten Schlendrian erstarken. Aber schon treten einzelne Plänkler auf und zwar von einer Seite, aus der man sie nicht erwartete. Es ist beachtenswerth, daß dieser Vorschlag nicht von einem Staatsmanne, auch nicht von einem Gelehrten ausgeht, sondern von einem Geschäftsmanne, der seinen Aufschwung zu höherer wissenschaftlicher Einsicht lediglich seinem Privatfleiße verdankt. Es bestätigt sich hierbei die alte Erfahrung von Neuem, daß aller bedeutende Fortschritt im Erziehungswesen nicht ausgegangen ist von staatlich bevormundeten, über einen Leisten geschlagenen Schulen, sondern von sich frei bewegenden Privatanstalten.Frostschäden an Obstbäumen. Wohl von den meisten Obstzüchtern wird man nach dem nun vergangenen, ausnahmsweise harten Winter Klagen hören über so manches Unheil, was derselbe angerichtet hat. Dem Einen wird der vorjährige Trieb der Birnen, dem Andern Pfirsichen und Aprikosen, dem Dritten sein Wein etc. etc. erfroren sein. Und wie manchem Baumschulenbesitzer werden fast alle Triebe sämmtlicher im Vorjahre veredelten Stämmchen, die womöglich nicht einmal die gehörige Holzreife erlangten, absterben, wird somit fast die ganze Arbeit des Vorjahres nutzlos geworden sein!
Doch dagegen giebt es ein ganz einfaches Mittel. Streift man, nach dem ersten Herbstfroste, die Blätter der jungen Triebe, welche nicht selbst abfallen, behutsam von unten nach oben ab, so wird selten ein Trieb vom Froste leiden, weil durch das Abstreifen der Blätter der Trieb seine krautartige Beschaffenheit verliert, um holzig zu werden, mithin der Kälte mehr Widerstand leisten kann als vorher.
Aber auch mancher alte Stamm wird vom Froste gelitten haben und seiner Vernichtung entgegen gehen, wenn ihm nicht zeitig geholfen wird. Darauf aufmerksam zu machen ist der Zweck dieser Zeilen. Nimmt auch, nach Schluß des Wachsthums, also vor und mit dem Blattabfall, der Saftreichthum des Baumes ab, so bleibt doch noch ein gutes Theil wässeriger Bestandtheile in den Zellen und Gefäßen des Stammes zurück, das Holz bleibt grün. Gefrieren diese wässerigen Bestandtheile, so brauchen sie, weil bekanntlich Eis einen größeren Raum einnimmt als die gleiche Gewichtsmenge Wasser, weil weiter auch noch durch die Kälte die Gefäß- und Zellenwände des Stammes zusammengezogen, die Gefäße und Zellen also verengert werden, gefroren viel mehr Platz, als in wässeriger Beschaffenheit und sprengen (gerade wie Wasser, welches gefrierend ein Gefäß sprengt), wenn die Kälte streng wird, die Wände der Zellen und Gefäße, ja selbst die Rinde des Stammes, und es entsteht dadurch, wenn nicht etwas dagegen geschieht, beim Steinobste Harzfluß, beim Kernobste Brand.
Untersuche daher jeder Obstzüchter seine Stämme, und sollte er fasrige Rindensprünge entdecken, so schneide er die Wundränder glatt, entferne dabei die Rinde, soweit sie gelbbraun ist, verstreiche die Wunden, und sie werden ohne Nachtheil für den Stamm verwachsen.
Schließlich sei noch darauf hingewiesen, daß es jedenfalls gerathen sein dürfte, eine Pflanzung junger Stämmchen in diesem Jahre zu unterlassen, denn auch bei jungen Stämmchen dürfte eine, obschon wegen der größeren Dehnbarkeit der jungen Gefäße weniger sichtbare Zersprengung der Gefäße und Zellen vorgekommen sein, die zwar, wenn das Stämmchen an seinem Standorte verbleibt, wenig zu sagen haben würde, aber bei einer Verpflanzung seinem Fortkommen um so leichter gefährlich werden möchte, als es schon die durch die Verpflanzung bedingten Wunden zu vernarben hat.
Wipfra.Die Macht der vollendeten Thatsache. Als der neue König von Spanien, Amadeo, in Madrid einzog, um den Thron der vertriebenen Bourbonen zu besteigen, war die Aufregung der Bevölkerung eine ungeheure, und Alle sprachen davon, ihn zu tödten. Ein Spanier eilte nach Hause und rief seiner Frau zu:
„Gieb mir schnell meine geladene Büchse dort von der Wand, der König wird gleich in den Palast einziehen.“
„Was willst Du mit der Büchse?“ entgegnete die Frau sehr ruhig; „bis Du hinkommst, ist der König längst im Palaste angelangt.“
„Wahrhaftig, Du hast Recht, Frau! Dann bringe mir meinen Mantel, damit ich hingehen kann, um ihm meinen Glückwunsch abzustatten.“
„Des Kaisers Erwachen“. So soll das große Volksfest heißen, zu welchem man in der Goldenen Aue Thüringens sich rüstet, und welches mit großer Pracht auf des Kyffhäusers alter Kaiser- und Sagenburg begangen werden soll. Es ist dabei ein Gedanke ausgesprochen worden, den wir gern der Öffentlichkeit anvertrauen: Es wäre sinnig und schön, meint man, wenn die Fürsten und freien Städte Deutschlands, welche die Kaiserkrone auf ein Hohenzollernhaupt gesetzt, die alte Kaiserburg mit dem Sagenthron der Hohenstaufen als Reichseigenthum dem neuen Kaiser verehrten. Nicht des Kaisers, sondern des Reichs Erwachen ist zu feiern, und wo ein neues Haupt über das Reich wacht, kann der Alte im Berg endlich mit allen seinen Mannen zur ewigen Ruhe eingehen.
Marie B. in Hamburg, Uhlenhorst. Ihr geschmackvolles Kistchen ist richtig angekommen, und werden Sie nächstens über Ihre Gabe sowohl, wie über alle sonst noch eingegangenen Schmuck- und Werthgegenstände, Quittung in der Gartenlaube finden. Bis jetzt wurden nur die Geldsendungen quittirt.
S. H. in Weißenburg. Wir sind Ihnen für Ihren Aufschluß dankbar und berichtigen gerne, daß – entgegen unserer Mittheilung in Nr. 1 dieses Jahrgangs – der Bürgermeister Grimm in Riedselz sich noch der besten Gesundheit erfreut. Uebrigens sind auch andere Journale in derselben irrigen Weise seiner Zeit berichtet worden, wie wir. Möge an dem fälschlich todtgesagten würdigen Herrn das bekannte Sprüchwort sich bewahrheiten.
Deutsches Herz in Triester Brust. Für die Uhr hat sich längst ein Geber gefunden, aber Ihre Kette wird gewiß willkommen sein.
Einer Ostfriesin. In jener Nische des Straßburger Münsters steht die Statue Ludwig’s des Vierzehnten. Uebrigens verdient Ihre Idee, dort neben Chlodwig, Dagobert und Rudolph von Habsburg das Bild des Mannes aufzustellen, der uns Straßburg wiedergab, alle Beachtung.
Emilie D. Gr. Wir bitten um genaue Adresse behufs Rücksendung des Manuscripts.
W. L. Der Titel des Buches lautet: „Franz Xaver Bronner’s Leben, von ihm selbst beschrieben. Zürich bei Orelli, Geßner, Füßli und Comp. 1795–1797. 3 Bde. Mit Kupfern von Lips.“
J. S. Die Adresse ist einfach: An Dr. Herman Schmid in München.
Außer den Schlußcapiteln der Schmid’schen Erzählung „die Zuwider-Wurzen“ wird die Gartenlaube im nächsten Quartal eine größere Novelle von C. Werner, dem unsern Lesern bekannten Verfasser der Erzählung „Hermann“, unter dem Titel „Ein Held der Feder“ zum Abdruck bringen. Aus dem nun glücklich beendeten Kriege aber soll eine Reihe interessanter und unterhaltender Erinnerungen zur Veröffentlichung kommen, denen sich die vortrefflichen Illustrationen unserer Specialartisten Heine, Sell u. A. würdig anschließen werden. Daß daneben auch unsere Beiträge aus dem Gebiete der Naturwissenschaft, der Geschichte, der Biographie etc. die gewohnte Beachtung in ausgedehntem Maße wieder erfahren werden, bedarf kaum der Versicherung.
Im Monat Juni hoffen wir, nach der bestimmten Zusage der Dichterin, mit dem Druck des längst erwarteten neuesten Romans von E. Marlitt beginnen zu können.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: mir