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Die Gartenlaube (1873)/Heft 19

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1873
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[301]

No. 19.   1873.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Glück auf!
Von E. Werner.


(Fortsetzung.)


Arthur fuhr auf, als habe eine Geisterstimme sein Ohr berührt, und blickte um sich. Dort auf der Schwelle, wo sie ihm Lebewohl gesagt für immer, stand sein Weib und in dem Moment, wo er sie erkannte, schwand Besinnung und Ueberlegung. Er machte eine Bewegung, ihr entgegen zu stürzen, und der Aufschrei des Glückes, der sich seinen Lippen entrang, das Aufleuchten seiner Augen verrieth alles, was eine mondenlange Selbstbeherrschung ihr bis auf diese Stunde abgeleugnet.

„Eugenie!“

Die junge Frau athmete auf, als sei eine Bergeslast von ihrer Brust gesunken. Der Blick, der Ton, mit dem er ihren Namen rief, gaben ihr endlich die so lang bezweifelte Gewißheit, und wenn er auch mitten in seiner stürmischen Bewegung inne hielt, wenn er wie zum Schutze gegen sich selbst die alte Maske wieder vorzunehmen strebte und den verrätherischen Blick verschleierte, es war zu spät, sie hatte zu viel gesehen!

„Wo kommst Du her?“ fragte er endlich, sich mühsam fassend, „so plötzlich – so unerwartet – und wie gelangtest Du in’s Haus? Die Werke sind noch in vollem Aufruhr. Du kannst sie unmöglich passirt haben.“

Eugenie näherte sich langsam. „Ich bin erst vor wenigen Minuten angekommen. Den Zugang habe ich mir freilich erst erzwingen müssen; frage mich jetzt nicht wie – genug daß ich ihn erzwang. Ich wollte zu Dir, ehe die Gefahr Dich erreichte.“

Arthur machte einen Versuch, sich abzuwenden. „Was soll das, Eugenie? Was willst Du mit diesem Tone? Curt wird Dich geängstigt haben mit seinen Berichten, trotz meiner Bitte, trotz meines ausdrücklichen Verbotes. Ich will kein Opfer der Pflicht und Großmuth. Du weißt es.“

„Ja, ich weiß es!“ entgegnete die junge Frau fest. „Du hast mich ja schon einmal damit von Dir gewiesen. Du konntest es mir nicht verzeihen, daß ich Dir einmal Unrecht gethan, und der Rache dafür hättest Du beinahe mich und Dich geopfert. Arthur, wer war der Schroffste, der Härteste von uns beiden?“

„Es war keine Rache,“ sagte er leise. „Ich gab Dich frei – Du hast es selbst gewollt.“

Eugenie stand jetzt dicht vor ihm; das Wort, das einst um keinen Preis der Welt seinen Weg über ihre Lippen gefunden hätte, es wurde ihr jetzt so leicht, seit sie sich geliebt wußte. Sie hob das dunkle thränenfeuchte Auge voll zu ihm empor.

„Und wenn ich nun meinem Manne sage, daß ich die Freiheit nicht will ohne ihn, daß ich zurückgekommen bin, um alles mit ihm zu theilen, was uns auch treffen mag, daß ich ihn – lieben gelernt habe: wird er mich dann zum zweiten Male gehen heißen?“

Sie erhielt keine Antwort, wenigstens in Worten nicht, aber sie lag bereits in seinen Armen, und in diesen Armen, die sie so heiß und fest umschlossen, als wollten sie das endlich Errungene nie wieder von sich lassen, unter den leidenschaftlichen Liebkosungen, mit denen er sie überströmte, fühlte Eugenie, wie tief ihn einst ihr Verlust getroffen und was ihre Rückkehr ihm war in solchem Augenblick. Sie sah das Aufstrahlen der großen braunen Augen in einem Glanze, wie sie ihn trotz alles blitzähnlichen Leuchtens darin doch noch nie gesehen. Die gebannte, versunkene Welt war herauf gestiegen aus ihrer Tiefe zum hellsten Sonnenlicht, und die junge Frau mußte doch wohl eine Ahnung haben von all den Schätzen, die sie ihr verhieß, denn sie legte mit dem Ausdruck des hingebendsten Vertrauens ihr Haupt an die Brust des Gatten, als er sich zu ihr herabbeugend leise sagte:

„Mein Weib! Mein Alles.“

Durch das offene Fenster wehte es herein wie ein Rauschen und Grüßen von den grünen Waldbergen drüben. Die Stimme mußte doch auch mitflüstern in dem neu erstandenen Glück; sie hatte es ja mit erbauen helfen. Sie hatte die Beiden längst erkannt, als sie sich selbst noch nicht kannten, als sie noch im herben Trotz und Kampf gegen einander standen und das Trennungswort aussprachen, gerade da, wo ihre Herzen sich fanden. Aber es nützt nichts, dieses Kämpfen und Trotzen der Menschenkinder, wenn sie mit ihrem Lieben und Hoffen in den Bann gerathen, den der Berggeist über sein Reich legt im wallenden Nebel der ersten Frühlingsstunde – und was sich da findet, das gehört zusammen für immer!




Der Tag, der für die Berkow’sche Colonie so stürmisch begonnen hatte, ging verhältnißmäßig ruhiger zu Ende, als man es nach den Scenen vom Morgen hätte erwarten sollen. Ein mit den Verhältnissen Unbekannter hätte vielleicht die Ruhe, die gegen Abend über den Werken lag, für den tiefsten Frieden halten können, und doch war es nur die Ruhe des Sturmes, der einen Augenblick inne hält, um dann mit erneuter Wuth wieder loszubrechen.

Auch in der Wohnung des Schichtmeisters herrschte jene [302] dumpfe, drückende Stille, die so viel Unheil in ihrem Schoße barg. Der Schichtmeister saß stumm in seinem Lehnstuhl am Ofen; Martha machte sich hier und da in der Stube zu schaffen und warf von Zeit zu Zeit einen Blick auf Ulrich, der mit verschränkten Armen schweigend, aber unaufhörlich in dem kleinen Raume auf und nieder ging. Niemand sprach zu ihm und er zu Niemand; das ehemalige Vertrautsein, das bei dem unbändigen Charakter des jungen Steigers zwar oft genug zu heftigen Scenen und Auftritten, aber ebenso oft auch wieder zur Versöhnung geführt hatte, war längst geschwunden. Ulrich herrschte jetzt im Hause so unbedingt, wie draußen bei seinen Cameraden; selbst der Vater wagte es nicht mehr, sich gegen seine Beschlüsse und Unternehmungen aufzulehnen; aber hier wie dort war es nur die Furcht noch, die ihm das erzwang; von Liebe und Vertrauen war nicht die Rede mehr.

Das Schweigen dauerte bereits eine geraume Zeit und hätte vielleicht noch länger gewährt, wäre nicht Lorenz eingetreten; Martha, die durch’s Fenster ihn kommen sah, ging ihm entgegen und öffnete die Thür. Es war doch ein eigenthümlich kaltes Verhältniß zwischen den Brautleuten; trotz des Ernstes dieser Tage, die wenig zu Zärtlichkeiten herausforderten, hätte der Gruß des Mädchens wärmer sein können, hätte vielleicht grade deswegen wärmer sein müssen, und der junge Bergmann schien das zu fühlen, denn seine Miene nahm den Ausdruck der Kränkung an, und er hielt mitten in seiner herzlichen Begrüßung inne, aber Martha bemerke beides nicht einmal, und mit einer raschen Bewegung wandte er sich zu Ulrich.

„Nun?“ fragte dieser, in seinem Gange innehaltend.

Lorenz zuckte die Achseln. „Wie ich’s Dir vorher gesagt habe! Morgen werden sich vierhundert zur Arbeit melden, ebenso viele zögern und schwanken noch. Du bist kaum mehr der Hälfte sicher.“

Diesmal fuhr Ulrich nicht auf, wie wohl sonst bei einer ähnlichen Gelegenheit; die wilde Gereiztheit, die er heute Morgen gezeigt, wo es sich doch um einen verhältnißmäßig viel geringeren Abfall seiner Cameraden gehandelt, stach seltsam ab gegen die fast unnatürliche Ruhe, mit der er jetzt wiederholte:

„Kaum mehr die Hälfte! Und wie lange wird die noch aushalten?“

Lorenz umging die Antwort. „Es ist die ganze jüngere Knappschaft! Die hat von Anfang an zu Dir gestanden und die hält auch bei Dir aus, selbst wenn es morgen wieder etwas an den Schachten geben sollte. Ulrich, willst Du es denn wirklich dahin treiben?“

„Er wird es so lange treiben,“ sagte der Schichtmeister aufstehend, „bis sie alle von ihm abfallen, einer nach dem anderen, bis er zuletzt ganz allein bleibt. Ich hab’s Euch gesagt, Ihr kommt nicht durch mit Euren unsinnigen Forderungen und Eurem unsinnigen Hasse, der bei dem Vater am Platze gewesen wäre, den aber der Sohn wahrhaftig nicht verdient hat. Es war genug, was er Euch bot, das weiß ich, der ich doch am Ende auch in den Schachten gearbeitet habe, und auch ein Herz habe für meines Gleichen, und die Meisten hätten es gern genommen, was ihnen geboten wurde, aber sie wurden ja niedergeschrieen und niedergedroht, bis sich Keiner mehr zu rühren wagte, weil sich der Ulrich in den Kopf gesetzt hatte, Unmögliches zu verlangen. Jetzt ist’s wochenlang gegangen, all das Elend, all die Sorge und die Noth, und ist doch umsonst gewesen. Es kommt doch endlich auch einmal der Tag, wo Weib und Kinder mit ihrem Hunger allem vorangehen, und so weit sind wir jetzt. Du hast’s dahin gebracht, Ulrich, Du allein; jetzt mach’ auch ein Ende damit!“

Der alte Mann war aufgestanden und blickte seinen Sohn beinahe drohend an, aber Ulrich blieb selbst diesem stummen Vorwurf gegenüber, der zu einer anderen Zeit wohl seinen ganzen Trotz herausgefordert hätte, in seiner düsteren Gelassenheit.

„Mit Dir ist nicht zu streiten, Vater,“ entgegnete er kalt, „das weiß ich längst! Du bist zufrieden, wenn Du Dein hartes Brod in Ruhe essen kannst, und was darüber hinausliegt, heißt Dir Thorheit oder Verbrechen. Ich habe Alles an Alles gesetzt! Ich dachte es durchzuführen und hätte es auch gethan, wäre dieser Berkow nicht auf einmal aufgestanden und hätte uns eine Stirn gezeigt wie von Eisen. Wenn’s jetzt mißglückt – nun, ich bin ja noch der Hälfte meiner Cameraden sicher, wie Karl sagt, und mit der werde ich es ihm zeigen, was es heißt, wenn wir unterliegen. Er soll den Sieg theuer genug bezahlen!“

Der Schichtmeister sah auf Lorenz, der mit gesenktem Kopfe dastand, ohne sich an dem Gespräche zu betheiligen, und dann wieder auf seinen Sohn.

„Sieh erst zu, ob die Hälfte Dir treu bleibt, wenn der Herr wieder so dazwischen tritt, wie heut Mittag! Das hat Dir die andere Hälfte gekostet, Ulrich. Meinst Du, es hat nicht gewirkt, wie er sich benahm, vom ersten Tage an, als Ihr anfinget, ihm zu drohen? Meinst Du, sie fühlten nicht Alle, daß er Dir und ihnen gewachsen ist und sie jetzt zur Noth allein zügeln kann, wenn Du einmal aufhörst, ihr Herr zu sein? Heut Morgen haben die Ersten die Arbeit wieder aufgenommen; schon vor drei Wochen hätten sie es gethan, wenn sie es nur gewagt hätten. Jetzt ist einmal der Anfang gemacht, jetzt ist auch kein Haltens mehr!“

„Da magst Recht haben, Vater,“ sagte Ulrich tonlos; „es ist kein Haltens mehr! Ich habe auf sie gebaut wie auf Felsen, und nun ist’s elender Sand, der mir unter den Händen zerrinnt. Berkow hat es gelernt, wie er die Feiglinge an sich zieht, mit seinen Reden, mit seiner verdammten Manier, mitten unter sie zu treten, als ob es gar keine Steine gäbe, die ihm an die Stirn fliegen könnten, gar keine Schlägel, die zur Noth auch einmal den hochgeehrten Herrn Chef treffen, und darum eben wagt sich Keiner an ihn. Ich weiß es, warum er heut auf einmal den Kopf so hoch trug, warum er mitten in das Toben hineinfuhr mit einer Miene, als könnte ihm der Sieg und das Glück jetzt gar nicht mehr fehlen, und ich weiß auch, daß es ihm jetzt zurückkommt – habe ich’s ihm doch selbst in die Arme geführt heut Morgen!“

Die letzten Worte verhallten in dem Zuwerfen der Thür, die er inzwischen geöffnet hatte, es verstand sie Keiner von den Anwesenden. Ulrich trat hinaus in’s Freie und warf sich auf die Bank nieder; es war eine unnatürliche und unheimliche Ruhe, die heut auf seinem ganzen Wesen lag; sie erschien fast beängstigend bei einem Manne, der sonst immer gewohnt war, seiner wilden Leidenschaftlichkeit den Zügel schießen zu lassen. Ob der Abfall seiner Cameraden ihn so tief getroffen, ob es etwas Anderes war, was seit dem heutigen Morgen in ihm wühlte, die stolze Siegesgewißheit, die er noch in jenen Stunden gezeigt, schien jetzt gelähmt, wenn nicht gebrochen.

An dem Gärtchen vorüber floß der breite Bach, der weiter unten die Räderwerke trieb, die freilich jetzt stille standen. Es war ein wildes heimtückisches Gewässer, dieser Bach; er hatte nichts von dem murmelnden silberhellen Blinken seiner Genossen oben im Gebirge, und doch kam auch er aus der Tiefe der Berge, gerade dort, wo die Schachte lagen. Wie oft schon hatte er versucht, harmlos spielende Kinder in seinen Strudel zu ziehen und wenigstens zu schrecken und zu quälen, wo er nicht verletzen und tödten durfte, um sich dafür zu rächen, daß man ihn dem Menschenwerke und Menschenantriebe dienstbar gemacht! Die trüben, reißenden Fluthen erschienen so unheimlich, wie sie im letzten Abendschein dahinschossen, und noch unheimlicher klang ihr Rauschen. Es zischte und murmelte darin, so höhnisch und schadenfroh, als hätten sie dort in der Tiefe dem Erdgeiste all die Tücken und Ränke abgelernt, mit denen er die Menschen umspann, die es immer wieder versuchten, ihm seine Schätze zu entreißen, mit denen er schon so manches junge warme Leben eingefordert und da unten begraben hatte in ewiger Nacht. Es war nichts Gutes, was in diesem Murmeln und Rauschen klang, und es war auch keine gute Stunde, in der es zu dem Ohr des jungen Bergmannes heraufdrang, der unbeweglich hinabstarrte, als lausche er einer geheimnißvollen Stimme.

Eine ganze Weile mochte er so gesessen haben, als ein Schritt dicht hinter ihm ertönte, und gleich darauf stand Martha vor ihm.

„Was willst Du?“ fragte Ulrich, ohne den Blick von der Fluth abzuwenden.

„Ich wollte sehen, wo Du bliebst, Ulrich!“ Es klang wie verhaltene Angst aus der Stimme des Mädchens; er zuckte die Achseln.

„Wo ich blieb? Dort drinnen ist Dein Bräutigam; um den kannst Du Dich sorgen. Mich laß’, wo ich bin!“

„Karl ist schon wieder fort!“ sagte Martha hastig, „und [303] er weiß am besten, daß ihm nichts zu nahe geschieht, wenn ich mit Dir rede.“

Ulrich wandte sich um und sah sie an; es war, als wolle er sich losreißen von den Gedanken, die das Rauschen da unten in ihm aufweckte.

„Höre, Martha, was sich Karl von Dir bieten läßt, das läßt sich so leicht kein Anderer bieten. Ich litte es nicht, daß Du mir so begegnetest. Du hättest nicht Ja sagen sollen, wenn Du nun einmal kein Herz für ihn hast.“

Das junge Mädchen wandte sich mit einer beinahe trotzigen Bewegung ab. „Er weiß, daß ich keins für ihn habe; ich habe es ihm gesagt damals, als wir uns miteinander versprachen. Er bestand doch darauf; ich kann’s nicht ändern, wenigstens jetzt noch nicht; vielleicht lerne ich’s nach der Hochzeit.“

„Vielleicht!“ sagte Ulrich mit einer Bitterkeit, die zu tief und schneidend war, um nur diesen Worten zu gelten. „Es lernt sich ja so Manches nach der Hochzeit, bei Anderen wenigstens, warum nicht auch bei Dir!“

Er schaute wieder hinab in das dunkle reißende Wasser, als könne er sich nicht davon losreißen. Da unten klang und rauschte es wieder, als flüstere es ihm böse, böse Gedanken zu. Martha stand noch immer einige Schritte von ihm entfernt; die scheue Furcht, die seit dem „Schachtunglück“ seine ganze Umgebung bannte, hielt auch sie gefesselt. Wochenlang hatte sie jedes Alleinsein, jede Annäherung vermieden; aber heute war die alte Neigung mächtig wieder aufgewacht und zog sie fast gewaltsam in seine Nähe; diese seltsame Ruhe täuschte sie nicht; sie ahnte, was sich dahinter barg.

„Du kannst den Abfall der Cameraden nicht verwinden?“ fragte sie leise. „Noch steht die Hälfte ja zu Dir, und Karl hält bei Dir aus bis zur letzten Minute.“

Ulrich lächelte verächtlich. „Heute ist’s noch die Hälfte; morgen wird’s ein Viertheil sein, und übermorgen – laß gut sein, Martha! Und was den Lorenz betrifft, der ist von jeher nur mit halbem Herzen dabei gewesen. Er hat zu mir gestanden und nicht zu der Sache, weil ich sein Freund war, und mit der Freundschaft wird es auch bald zu Ende sein. Dazu hat er Dich viel zu tief im Herzen, um mich jetzt noch ehrlich zu lieben.“

Das Mädchen machte eine heftige Bewegung. „Ulrich!“

„Nun, das kann Dich doch nicht mehr kränken! Du hast ja nicht gewollt, als ich Dich bat, meine Frau zu werden. Hättest Du es gethan, es wäre Vieles besser geworden.“

„Es wäre nicht besser geworden!“ sagte Martha entschieden. „Ich bin nicht dazu gemacht, auszuhalten, was Karl Tag für Tag so geduldig trägt, und so wie zwischen ihm und mir wäre es auch zwischen uns Beiden gegangen; nur wäre ich’s da gewesen, die es tragen mußte. Ich hatte ja nicht einmal ein Stück von Deinem Herzen; Deine Liebe war ganz wo anders.“

Es lag ein bitterer Vorwurf in den Worten; aber selbst diese Hindeutung vermochte Ulrich heute nicht zu reizen. Er war aufgestanden und blickte nach dem dämmernden Parke hinüber, als suche er dort etwas zwischen den Bäumen.

„Du meinst, ich hätte das näher und besser haben können, wenn ich’s nur gesucht hätte, und da hast Du Recht. Aber so etwas sucht man nicht, Martha; es packt Einen plötzlich und läßt dann nicht wieder los, so lange noch ein Athemzug in der Brust ist. Ich hab’s erfahren! – Ich habe Dir wehe gethan, Mädchen, wie wehe, das weiß ich jetzt erst; aber glaube mir, es ist kein Segen bei solch einer Liebe; man trägt oft schwerer daran als an dem bittersten Hasse!“

Sie klang seltsam, diese halbe Bitte um Verzeihung in dem Munde Ulrich Hartmann’s, der sonst wenig danach fragte, ob er Jemandem wehe that oder nicht, und es war überhaupt etwas in den Worten, das seinem Charakter sonst unendlich fern lag, eine dumpfe Resignation, ein Schmerz, der nichts Wildes und Leidenschaftliches mehr hatte, aber eben deshalb um so erschütternder wirkte. Martha vergaß Scheu und Furcht; sie trat dicht an seine Seite.

„Was hast Du, Ulrich? Du bist so seltsam heut, wie ich Dich noch nie gesehen habe. Was fehlt Dir?“

Er strich mit der Hand das blonde Haar von den Schläfen und stützte sich auf das Holzgitter.

„Ich weiß nicht! Es liegt etwas auf mir, schon den ganzen Tag lang, was ich nicht los werden kann, was mir alle Kraft nimmt. Ich brauche sie doch wahrhaftig zu morgen, aber sobald ich daran denken will, ist Alles schwarz und finster, als gäbe es gar nichts mehr, was über dieses ‚morgen‘ hinaus läge, als wäre mit diesem ‚morgen‘ Alles zu Ende, Alles!“ Ulrich fuhr plötzlich mit einem Anfluge seines alten Trotzes in die Höhe. „Alberne Gedanken! Ich glaube, das Wasser da unten hat es mir angethan mit seinem verwünschten Rauschen. Ich habe auch gerade Zeit, darauf zu hören. Leb’ wohl!“

Er wollte gehen, das Mädchen hielt ihn angstvoll zurück. „Wohin willst Du? Zu den Cameraden?“

„Nein, ich muß noch einen Gang allein thun. Leb’ wohl!“

„Ulrich, ich bitte Dich, bleib!“

Die kurze Weichheit des jungen Bergmanns war schon wieder vorüber; er riß sich ungeduldig los.

„Laß mich! Ich habe nicht Zeit zum Reden – ein andermal!“ Er stieß die Gartenthür auf und verschwand kurz darauf in der Dämmerung nach der Richtung des Parkes hin.

Martha stand mit gefalteten Händen da und sah ihm nach. Kränkung und bitterer Schmerz stritten sich in ihren Zügen, aber der Schmerz behielt doch die Oberhand. „Es ist kein Segen bei einer solchen Liebe!“ die Worte hallten noch in ihrem Herzen wieder – sie fühlte, es war auch kein Segen bei der ihrigen. –

Inzwischen befand sich Eugenie Berkow allein im Arbeitszimmer ihres Mannes. Es blieb den beiden Gatten nicht viel Zeit, sich dem neu errungenen Liebes- und Lebensglück hinzugeben. Schon zweimal hatte Arthur von ihrer Seite fortgemußt, heut Mittag, wo er sich mitten in die Empörung geworfen und sie für den Augenblick auch bewältigt hatte, und jetzt wieder, wo eine Conferenz mit den Beamten ihn abrief. Aber trotz der Angst um ihn und trotz der Sorge um die noch so finster drohende Gegenwart strahlte das Antlitz der jungen Frau doch von dem Widerschein eines tief innerlichen Glückes, das, nach so langen Kämpfen endlich errungen, vor keinen äußeren Stürmen mehr bebte. Sie war bei ihrem Manne, an seiner Seite, in seinem Schutze, und Arthur schien es nur zu gut zu verstehen, sein Weib alles Andere vergessen zu machen außer diesem Einen.

Da wurde eine Thür geöffnet, und Schritte ertönten im Nebengemach. Eugenie erhob sich, um dem Kommenden entgegen zu eilen, den sie natürlich für ihren Gatten hielt, aber ihr anfängliches Erstaunen beim Anblick der fremden Gestalt wich dem Schrecken, als sie in dem Eintretenden Ulrich Hartmann erkannte. Auch er stutzte und blieb betroffen stehen, als er sie gewahrte.

„Sie sind es, gnädige Frau? Ich suchte Herrn Berkow.“

„Er ist nicht hier. Ich erwarte ihn soeben,“ entgegnete Eugenie rasch, aber mit bebender Stimme. Sie wußte, welch’ eine Gefahr dieser Mann für Arthur war, welche Rolle er hier auf den Werken spielte; dennoch hatte sie nicht gezögert, sich seinem Schutze anzuvertrauen, als ihr heut Morgen keine andere Wahl blieb; aber zwischen diesem Morgen und dem Abend lag jene Stunde, in der sie Zeuge der Beschuldigungen geworden war, die der Oberingenieur ausgesprochen. Es war nur ein Verdacht; aber selbst der Verdacht eines feigen hinterlistigen Meuchelmordes, an einem Wehrlosen begangen, ist etwas Furchtbares; es hatte die junge Frau im vollsten Entsetzen dabei durchschauert. Dem offenen rücksichtslosen Feinde ihres Gatten hatte sie sich noch anvertraut; aber sie bebte zurück vor der Hand, die vielleicht von dem Blute seines Vaters geröthet war.

Ulrich bemerkte die Bewegung nur zu gut. Er blieb auf der Schwelle stehen, aber seine Stimme klang in unverkennbarem Hohne.

„Ich habe Sie wohl erschreckt mit meinem Kommen? Es war nicht meine Schuld, dast ich mich nicht anmelden lassen konnte. Sie sind schlecht bedient, gnädige Frau. Weder auf der Treppe noch auf den Corridoren fand ich einen von Ihren Lakaien. Ich hätte sie zwar sehr wahrscheinlich zur Seite geworfen, wenn sie mir den Eingang gewehrt hätten; aber der Lärm dabei wäre doch immer eine Art von Anmeldung gewesen.“

Eugenie wußte, daß er ungehindert hatte eintreten können; die beiden Diener befanden sich auf Arthur’s ausdrücklichen [304] Befehl im Vorzimmer ihrer eigenen Wohnung. Jetzt, wo alle Gemüther in Aufregung, alle Bande der Ordnung gelöst waren, konnte man ja nicht wissen, ob die Zügellosigkeit Einzelner sich nicht bis zu Angriffen oder wenigstens bis zum Eindringen in’s Haus verstieg. Unruhe und Sorge hatte die junge Frau hinübergetrieben in die Zimmer ihres Mannes, die auf dem anderen Flügel lagen und von dessen Fenstern sie ihn kommen sah; hier freilich war der Eingang unbewacht und sie ganz allein in diesen Räumen.

„Was wollen Sie hier, Hartmann?“ fragte sie, ihren Muth zusammenraffend. „Ich glaubte nicht, daß Sie nach Allem, was vorgefallen ist, es noch versuchen würden, unser Haus zu betreten und bis in die Zimmer Ihres Chefs zu dringen. Sie wissen doch, daß er Sie nicht mehr empfangen kann.“

„Eben deshalb suchte ich ihn, um ein paar Worte mit ihm zu sprechen! Ich dachte ihn allein zu finden. Sie suchte ich nicht, gnädige Frau!“

Er war ihr bei den letzten Worten näher getreten. Eugenie wich unwillkürlich in die Tiefe des Zimmers zurück; er lachte bitter auf.

„Was doch ein paar Stunden nicht alles ändern können! Heut Morgen forderten Sie meinen Schutz und stützten sich auf meinen Arm, als ich Sie mitten durch den Lärm führte; jetzt flüchten Sie sich vor mir, als ob Sie in meiner Nähe Ihres Lebens nicht sicher wären. Herr Berkow hat die Zeit wohl gut benutzt, um mich Ihnen als einen Räuber und Mörder hinzustellen, nicht wahr?“

Die feinen Augenbrauen der jungen Frau zogen sich zusammen, als sie ihre Furcht bemeisternd, kurz und herb entgegnete: „Verlassen Sie mich! Mein Gemahl ist nicht hier. Sie sehen es ja, und auch wenn er jetzt käme, würde ich Sie schwerlich mit ihm allein lassen.“

„Warum nicht?“ fragte Ulrich langsam, aber mit einem finsteren Aufblick. „Warum nicht?“ wiederholte er heftiger, als sie schwieg.

Eugeniens furchtloser Charakter hatte sie schon oft zu Unvorsichtigkeiten verleitet, und auch jetzt dachte sie nicht an die möglichen Folgen ihrer Worte, als sie, seinen Blick fest erwidernd, sich zu der gefährlichen Antwort hinreißen ließ:

„Weil Ihre Nähe schon einmal einem Berkow verderblich geworden ist!“

Hartmann zuckte erbleichend zusammen. Einen Augenblick schien es, als wolle er auffahren in seiner ganzen alten Wildheit, aber es kam nicht dazu. Die starre Ruhe blieb auf seinen Zügen, und seine Stimme behielt den dumpfen verschleierten Ton, den sie während der ganzen Unterredung gehabt hatte.

„Das also war’s!“ sagte er halblaut. „Freilich, ich hätte denken können, daß das zuletzt auch bis zu Ihnen den Weg gefunden hat!“

Die junge Frau sah mit Befremden diese Ruhe, die sie hier nicht erwartet hatte und die ihr trotzdem unheimlich war; aber gerade das reizte sie zu einem noch größeren Wagniß. Der heutige Morgen hatte ihr gezeigt, wie unbeschränkt ihre Macht war, und sie wollte schon um Arthur’s willen Gewißheit darüber, wer ihm im Kampfe gegenüber stand. Sie ahnte, daß die Wahrheit, wenn auch sonst aller Welt, doch ihr hier nicht verweigert werden würde.

„Sie wissen also, was ich meine?“ begann sie von Neuem. „Sie verstehen meine Hindeutung? Hartmann, können Sie die Gerüchte Lügen strafen, die sich an jene unglückselige Stunde knüpfen?“

Er schlug die Arme übereinander und sah finster zu Boden. „Und wenn ich’s nun thäte, würden Sie mir glauben?“

Eugenie schwieg.

„Würden Sie mir glauben?“ fragte er noch einmal, aber mit einem Tone, als hinge an der Antwort für ihn Tod und Leben.

Sie ließ den Blick über sein Antlitz gleiten, das dieselbe qualvolle Spannung verrieth wie seine Stimme; es war noch immer leichenblaß, dieses Antlitz, aber es war ihr jetzt wieder voll und ganz zugewandt.

„Ich halte Sie eines Verbrechens fähig, wenn Ihre Leidenschaftlichkeit gereizt wird – einer Lüge nicht!“

Die mächtige Brust Ulrich’s hob sich unter einem tiefen Athemzuge, und er trat, wie um ihr jede Furcht zu benehmen, noch einen Schritt zurück. „So fragen sie, gnädige Frau! Ich werde Ihnen antworten.“

Die junge Frau zitterte leise, als sie sich auf die Lehne des Divans stützte; sie fühlte die Gefahr einer solchen Unterredung mit einem solchen Manne, aber sie that dennoch die verhängnißvolle Frage.

„Man behauptete meinem Gatten gegenüber, es sei mehr als bloßer Zufall gewesen, daß die Seile rissen an jenem Unglückstage. Was war es, Hartmann?“

„Es war Zufall, oder noch etwas Besseres, wenn Sie wollen – Gerechtigkeit war’s. Unser Chef hatte eine Aenderung an dem Hebewerke anbringen lassen, wie Alles, was er that, nur für die Nothwendigkeit, nicht für die Sicherheit. Was that es denn auch, wenn ein paar Hundert Bergleute, die damit ein- und ausfahren mußten, Tag für Tag dabei in Gefahr kamen? Es wurde ja das Doppelte und Dreifache gefordert, die unsinnigsten Lasten wurden damit gehoben, und die Lasten thaten denn auch endlich ihre Schuldigkeit, nur traf es diesmal keinen von der Knappschaft, sondern den Herrn selber. Eine Menschenhand war es nicht, gnädige Frau, die die Seile gerade in dem Augenblicke reißen ließ, wo sie ihn tragen mußten, und die meinige war’s am wenigsten. Ich sah die Gefahr kommen; wir waren gerade bei der vorletzten Bühne. Ich wagte den Sprung hinauf, und ihn –“

„Ihn stürzten Sie hinab?“ fiel Eugenie athemlos ein, als er inne hielt.

„Nein! Ich ließ ihn nur stürzen. Ich hätte ihn retten können, wenn ich gewollt hätte. Eine halbe Minute war noch Zeit dazu. Freilich galt es mein eigenes Leben; er konnte mich mit hinunterrreißen, wenn ich ihm zu Hülfe kam, aber für jeden der Cameraden, für jeden der Beamten hätte ich das riskirt – für den Mann konnte ich’s nicht. Es schoß mir in dem Augenblick heiß durch den Kopf, was er uns Alles angethan hatte, und daß ihm nur geschah, was er uns täglich zugemuthet, um Geld zu sparen, und daß ich dem Himmel nicht in’s Handwerk greifen dürfe, wenn er ausnahmsweise einmal gerecht sein wollte. Ich rührte die Hand nicht trotz seines Geschreis, und in der Minute darauf war es auch zu spät – die Förderschale stürzte und er mit ihr!“


(Fortsetzung folgt.)




Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen.


Mittel des Ausdruckes. – Lachen und Weinen. – Unvermögen und Indignation. – Staunen, Hohn und Abscheu.


(Schluß.)


Werfen wir nach Darlegung der drei Darwin’schen Principien einen Blick auf die verschiedenen Mittel des Ausdrucks. Da ist zunächst vielen Thieren wie dem Menschen das Stimmorgan ein sehr wirksames Mittel. Ursprünglich mag eine bei starker Erregung des Nervensystems eintretende unwillkürliche und zwecklose Zusammenziehung der Muskeln der Brust und der Stimmritze Veranlassung zur Aeußerung von Stimmlauten gegeben haben, jetzt aber wird die Stimme von vielen Thieren zu verschiedenen Zwecken benutzt; auch scheint Gewohnheit bei deren Verwendung mit in’s Spiel gekommen zu sein. Die Stimme, weil sie unter gewissen, Vergnügen, Schmerz, Zorn etc. veranlassenden Bedingungen gewohnheitsgemäß als nützliches Hülfsmittel angewendet wurde, wird allgemein gebraucht, sobald dieselben Empfindungen oder Gemüthsbewegungen unter völlig verschiedenen Bedingungen oder in einem geringeren Grade angeregt werden. Daß die Thierreihe auch zahlreiche Fälle aufweist, wo Lautäußerungen nicht mit den Athmungswerkzeugen zusammenhängen, kann nur angedeutet werden. Stachelschweine rasseln mit den Stacheln; Störche klappern mit den Schnäbeln.

Nächst den Lautäußerungen ist das Aufrichten und Sträuben


[305]

Gesichtsausdruck der menschlichen Gemüthsbewegungen.
Nach Darwin’s neuestem Buche von Adolf Neumann.

[306] von Hautanhängen, zu denen bekanntlich Haare und Federn zählen, bei den höheren Wirbelthieren ein sehr gebräuchliches Ausdrucksmittel für Zorn und Schrecken, besonders wenn beide verbunden sind oder schnell auf einander folgen: dieses Aufrichten der Hautanhänge, das durch Zusammenziehen gewisser sogenannter glatter, unwillkürlicher Muskeln erfolgt, und das auch bei Kälte eintritt, ist eine vom Willen unabhängige Reflexthätigkeit, die man also nicht als eine zur Erlangung eines Vortheils erworbene Fähigkeit ansehen kann, die aber nichtsdestoweniger leicht eintritt und fast immer von absichtlich ausgeführten willkürlichen Bewegungen, die demselben Zwecke angepaßt sind, z. B. dem Zeigen der Zähne, bei Vögeln dem Ausbreiten der Flügel und des Schwanzes, sowie vom Ausstoßen wilder Laute begleitet ist. Das Eintreten dieser Reflexthätigkeit erklärt Darwin in folgender Weise: „Thiere sind wiederholt durch viele Generationen hindurch von Wuth und Schrecken erregt worden; in Folge hiervon werden die directen Wirkungen des gestörten Nervensystems auf die Hautanhänge beinahe sicher durch Gewohnheit und durch die Tendenz der Nervenkraft, leicht gewohnten Canälen entlang auszuströmen, verstärkt worden sein.“ – „Sobald bei Thieren die Fähigkeit des Aufrichtens hierdurch gekräftigt oder gesteigert war, müssen sie die Haare oder Federn bei rivalisirenden oder in Wuth gerathenen Männchen häufig aufgerichtet und den Umfang ihrer Körper vergrößert gesehen haben. In diesem Falle scheint es möglich zu sein, daß bei ihnen der Wunsch entstanden ist, sich ihren Feinden gegenüber größer und furchtbarer aussehen zu machen, und daß sie dabei eine drohende Stellung annahmen und rauhes Geschrei ausstießen; daß ferner derartige Stellungen und Laute nach einer Zeit durch Gewohnheit instinctiv wurden. Auf diese Weise dürften Handlungen, welche durch die Zusammenziehung willkürlicher Muskeln ausgeführt wurden, zu demselben speciellen Zwecke mit solchen, welche unwillkürliche Muskeln ausführen, combinirt worden sein.“

Vielen Säugetieren bieten Bewegungen ihrer Ohren ein charakteristisches Ausdrucksmittel. Wie verschiedene Seelenzustände vermag z. B. der Hund auf diese Weise auszudrücken! Es würde jedoch zu weit führen, den reichen Schatz interessanter Beobachtungen, den Darwin uns bietet, bezüglich der Ausdrucksformen bei verschiedenen Thieren, auch nur anzudeuten.

Wenden wir uns jetzt zu den besonderen Ausdrucksformen beim Menschen. Selbstverständlich kann aus der reichen Fülle des werthvollen Stoffes, den wir hierüber in Darwin’s Buche vereinigt finden, nur Einiges herausgehoben werden, und ich verweise dabei auf die Figuren umstehender Tafel, die nach einigen der das genannte Buch zierenden Heliotypieen durch den verdienten Porträtmaler der Gartenlaube, Herrn Neumann, mit bekannter Meisterschaft auf Holz gezeichnet wurden.

Wir beginnen mit dem Ausdrucke der Freude, die uns so unverkennbar aus dem glücklichen Kindergesichte (Figur 4) entgegenlacht. Heftige Freude führt zu mancherlei zwecklosen Bewegungen, wie Herumtanzen, in die Hände schlagen, Stampfen, und zum lauten Lachen; das Lachen scheint ursprünglich der Ausdruck großer Freude oder reinen Glücks zu sein; dies zeigen kleine Kinder so gut wie Blindgeborene, Blödsinnige und Geistesschwache. Wie das Lachen des Gekitzelten eine Reflexbewegung ist, so kann auch das ebenfalls unwillkürliche Lachen in Folge einer lächerlichen Idee, obschon nicht im strengen Sinne, doch in analoger Weise aufgefaßt werden. Laut und Bewegungen des Lachenden sind bekannt; ersterer wird durch eine tiefe Einathmung hervorgerufen, welcher kurze, unterbrochene, krampfhafte Zusammenziehungen des Brustkastens und besonders des Zwerchfells folgen, um dessen willen man sich bei heftigem, anhaltendem Lachen ja die Seiten hält und Einem der Bauch wackelt. Häufig zittert hierbei der Unterkiefer auf und nieder, wie das auch bei einigen Arten von Pavianen der Fall ist, wenn sie viel Vergnügen empfinden. Der Mund wird beim Lachen mehr oder weniger weit geöffnet, die Mundwinkel werden stark nach hinten, ebenso wie ein wenig nach oben, und die Oberlippe etwas in die Höhe gezogen. Dieses Rück- und Aufwärtsziehen der Mundwinkel vermitteln die großen Jochbeinmuskeln. Dazu werden auch einige der zur Oberlippe laufenden Muskeln in mäßige Thätigkeit versetzt; die unteren und oberen Kreismuskeln des Auges werden mehr oder weniger zusammengezogen. Es besteht ein inniger Zusammenhang zwischen den kreisförmigen und einigen der zur Oberlippe laufenden Muskeln. Durch dieses Rück- und Aufwärtsziehen der Mundwinkel und das Heben der Oberlippe werden die Wangen nach oben gezogen; es bilden sich charakteristische Falten unter den Augen, und eine scharf ausgesprochene Nasenlippenfalte läuft vom Flügel des Nasenlochs zum Mundwinkel herab. Dazu kommt ein helles Auge, in Folge der Spannung, die von der Zusammenziehung der Kreismuskeln und vom Drucke der in die Höhe gehobenen Wangen, hauptsächlich aber von einer durch beschleunigte Blutbewegung veranlaßten pralleren Füllung des Auges mit Blut abhängt. Dieses strahlende Auge, wie man zu sagen pflegt, ist für den Freudigerregten, den Lachenden bezeichnend. Bei sehr heftigem Lachen werden Thränen abgesondert, und zwar nicht blos bei den Europäern, sondern auch bei den verschiedensten Völkerschaften ferner Erdstriche.

Gehen wir nun vom Lachen, dem Ausdrucke der Freude, zum Weinen, dem Ausdrucke der Leiden des Körpers und der Seele, über. Wir müssen uns da zunächst schreiende Kinder vorstellen; Darwin’s Buch bietet eine ganze Auswahl von dergleichen. Wenn kleine Kinder schreien, und dies thun sie selbst bei geringem Unbehagen, so schließen sie ihre Augen fest, so daß die Haut rings um sie gefaltet und die Stirn gerunzelt ist. Hier scheinen die Augenbrauenrunzler die ersten Muskeln zu sein, welche sich zusammenziehen; sie ziehen die Augenbrauen nach unten und innen und verursachen zwischen ihnen senkrechte Stirnfurchen, während die beinahe zu gleicher Zeit sich zusammenziehenden kreisförmigen Muskeln Furchen rings um’s Auge hervorrufen. Zuletzt ziehen sich die Pyramidenmuskeln der Nase zusammen; sie ziehen die Augenbrauen und die Stirnhaut noch tiefer herab und erzeugen tiefe Querfurchen über den Nasengrund. Bei starker Zusammenziehung dieser Muskeln wird die Oberlippe gehoben, indem sich auch die nach ihr hinlaufenden Muskeln zusammenziehen, und durch dieses Heben der Oberlippe bildet sich von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln eine stark markirte Falte, ähnlich wie beim Lachenden. Das feste Schließen der Lider aber und der hierdurch ausgeübte Druck auf den Augapfel schützt den letztern vor der bei der Erregung während des Schreiacts unvermeidlichen Ueberfüllung mit Blut.

Ganz kleine Kinder vergießen noch keine Thränen, deren Absonderung später die so ganz allgemeine und bezeichnende Ausdrucksform für Leiden verschiedenster Art bildet und, wie bereits angeführt, auch beim heftigen Lachen erfolgt. Nach Darwin ist das Weinen das Ergebniß einer Kette von Vorgängen wie die folgenden: „Wenn Kinder Nahrung verlangen oder in irgend welcher Weise leiden, so schreien sie laut auf, gleich den Jungen der meisten anderen Thiere, zum Theil als ein Rufen nach ihren Eltern um Hülfe, zum Theil in Folge davon, daß jede große Anstrengung erleichternd wirkt. Lang anhaltendes Schreien führt unvermeidlich zur Ueberfüllung der Blutgefäße des Auges, und dies wird zuerst bewußter Weise und endlich gewohnheitsgemäß zur Zusammenziehung der Muskeln rings um das Auge geführt haben, um dasselbe zu schützen. In derselben Zeit wird der krampfhafte Druck auf die Oberfläche des Auges und die Ausdehnung der Gefäße innerhalb derselben, ohne mit Nothwendigkeit irgend eine bewußte Empfindung herbeizuführen, durch Reflexthätigkeit die Thränendrüsen afficirt haben. Endlich ist es durch die drei Principien, daß Nervenkraft leicht gewohnten Canälen entlang ausströmt, das Princip der Association, welches in seiner Wirkungsweise sehr weit ausgedehnt ist, und daß gewisse Handlungen mehr unter der Controle des Willens stehen als andere, dahin gekommen, daß ein Leiden leicht die Absonderung von Thränen veranlaßt, ohne mit Nothwendigkeit von irgend einer andern Thätigkeit begleitet zu sein.“

Für Seelenschmerz, für Gram und Sorge ist eine schräge Stellung der Augenbrauen und ein Herabziehen der Mundwinkel bezeichnend. Was die erstere betrifft, so wird sie dadurch erzeugt, daß die Zusammenziehung der kreisförmigen Muskeln, der Augenbrauenrunzler und des Pyramidenmuskels der Nase durch eine kraftvollere Zusammenziehung der mittleren Bündel des Stirnmuskels zum Theil gehemmt wird. Eine auffällige Folge dieser entgegenwirkenden Muskelthätigkeit sind die Furchen auf der Stirn. Eine Zusammenziehung des ganzen Stirnmuskels bildet Querfurchen über die ganze Breite der Stirn; ziehen sich aber, wie im vorliegenden Fall, blos die mittleren Bündel zusammen, so lagern diese Querfurchen nur auf dem [307] mittleren Theile der Stirn. Dazu kommen nun aber noch senkrechte Furchen, die den äußern und gesenkten Theil der Stirnhaut von dem mittleren und in die Höhe gehobenen scheiden, und durch die Zusammenziehung der Augenbrauenrunzler erzeugt werden.

Die beiden Figuren 1 und 2 unserer Tafel sind Copien zweier in Darwin’s Buche heliotypirt wiedergegebenen Duchenne’schen Photographien eines jungen Mannes, der ein guter Schauspieler war; die eine stellt ihn in seinem natürlichen Zustande vor, während die andere den unverkennbaren Ausdruck des Kummers zeigt. Dieser Ausdruck scheint allen Menschenracen gemeinsam. Darwin erhielt glaubwürdige Schilderungen bezüglich des Vorkommens bei den Hindus, den Dhangars, den Malayen, Negern und Australiern. Bei Melancholie und besonders bei Hypochondrie können diese „Grammuskeln“, wie Darwin die in ihrem charakteristischen Zusammenwirken soeben geschilderten Muskeln kurzweg nennt, beständig in reger Thätigkeit gesehen werden, und die von ihrer fortwährenden Zusammenziehung abhängig bleibenden Linien oder Furchen sind für die Physiognomie solcher Geisteskranker bezeichnend. Auch die Nasenlippenfalte ist häufig bei derartigen Kranken ausgesprochen. Fragen wir aber nun nach der Ursache, warum sich bei Seelenschmerz blos die mittleren Bündel des Stirnmuskels in Verbindung mit denen rings ums Auge zusammenziehen, so giebt uns Darwin folgende Erklärung: „Wir haben Alle,“ sagt er, „als Kinder wiederholt unsere ringförmigen Muskeln, Augenbrauenrunzler und Pyramidenmuskeln zusammengezogen, um während des Schreiens unsere Augen zu schützen; unsere Vorfahren haben viele Generationen hindurch vor uns dasselbe gethan; und obgleich wir wohl mit fortschreitenden Jahren leicht das Ausstoßen von Schmerzensschreien verhindern können, wenn wir uns in Noth fühlen, so können wir doch der langen Gewohnheit wegen nicht immer eine leichte Zusammenziehung der eben genannten Muskeln verhindern; wir bemerken in der That weder deren Zusammenziehung bei uns selbst, noch versuchen wir, sie aufzuhalten, wenn sie nur unbedeutend ist. Die Pyramidenmuskeln scheinen aber weniger unter der Controle des Willens zu sein, als die andern damit in Beziehung stehenden Muskeln; und wenn sie ordentlich entwickelt sind, kann ihre Zusammenziehung nur durch die antagonistische Zusammenziehung der mittlern Bündel des Stirnmuskels gehemmt werden. Das Resultat, welches nothwendiger Weise daraus folgt, daß diese Bündel energisch zusammengezogen werden, ist das Ziehen der Augenbrauen schräg nach innen und oben, das Zusammenfalten ihrer inneren Enden und die Bildung rechtwinkliger Furchen auf der Mitte der Stirn. … In allen Fällen von Noth, mag dieselbe groß oder klein sein, strebt unser Gehirn in Folge langer Gewohnheit danach, gewissen Muskeln einen Befehl zum Zusammenziehen zu senden, als wären wir noch immer Kinder im Begriffe laut aufzuschreien; diesem Befehle aber sind wir durch die wunderbare Gewalt des Willens und die Gewohnheit theilweise entgegenzuwirken im Stande, obschon dies unbewußt geschieht, soweit es die Mittel des Gegenwirkens betrifft.“

Ich erwähnte vorhin noch das Herabziehen der Mundwinkel. Werfen wir einen Blick auf Figur 3. Wer je Kinder beobachtet hat, für den bedarf es keiner Erklärung dieses Bildes. Ich will also blos bemerken, daß diese Geberde, dieses „Mundhängen“ durch Zusammenziehen der (mit K bezeichneten) Herabzieher des Mundwinkels erfolgt. Aber nicht blos Kinder hängen den Mund, auch Erwachsenen ist es eigen, Melancholiker zeigen es namentlich bei Neigung zum Selbstmord, und Darwin erfuhr, daß es auch bei den Hindus, Malayen und Australiern gefunden wird. Die Ursache aber dieser Ausdrucksform liegt in dem nämlichen Princip wie bei der Schrägstellung der Augenbrauen; sie können „als rudimentäre Spuren der Schreianfälle betrachtet werden, welche während der frühesten Kindheit so häufig und so anhaltend sind“.

Betrachten wir jetzt unsere Figur 7, die in Figur 8 ihr Gegenstück findet. „Herr, wie können Sie sich unterstehen, mich so zu beleidigen?“ ruft es uns aus letzterer entgegen, während das entschuldigende Achselzucken der Sieben ein „Ich konnte wahrhaftig nicht anders!“ oder so etwas Aehnliches vorbringt. Dieses Achselzucken der Hülflosigkeit, der Unfähigkeit, der Geduld ist oft von Seitenwendung des Kopfes begleitet; die Stirn ist durch Heben der Augenbrauen in quere Falten gelegt, der Mund geöffnet; die Ellenbogen sind dicht nach innen gebogen; und die gehobenen offenen Hände mit gespreizten Fingern nach auswärts gedreht. Worin mag diese Geberde, deren Nutzen man nicht einsieht und die gleichwohl in allen Theilen der Welt ganz allgemein vorkommt, bei Hindus, Malayen, Mikronesiern, Abessiniern, Arabern, bei Indianern des fernen Westens und Australiern so gut wie bei den Europäern und ebenso auch bei Blinden und Tauben, die sie nicht durch Nachahmung gelernt haben können – worin, fragen wir, mag sie wohl ihren Grund haben? Nach Darwin liegt die Erklärung zweifellos im Principe des unbewußten Gegensatzes, wonach, wie wir in der vorigen Nummer (S. 300) sahen, direct entgegengesetzte Seelenzustände unwillkürlich auch entgegengesetzte Bewegungen veranlassen. „Dieses Princip scheint hier so deutlich ins Spiel zu kommen wie in dem Falle mit dem Hunde, welcher, wenn er sich böse fühlte, sich in die gehörige Stellung zum Angriffe versetzt und sich seinem Gegner so fürchterlich erscheinend macht als möglich, sobald er sich aber zuneigungsvoll gestimmt fühlt, seinen ganzen Körper in eine direct entgegengesetzte Stellung wirft, obgleich das von keinem directen Nutzen für ihn ist. Man beachte, wie ein indignirter Mensch, welcher empfindlich ist und sich einem Unrechte nicht unterwerfen will, seinen Kopf aufrecht trägt, seine Schultern zurückwirft und seine Brust ausdehnt. Er ballt häufig seine Fäuste und bringt einen oder beide Arme in die Höhe zum Angriffe oder zur Vertheidigung, wobei die Muskeln seiner Gliedmaßen steif sind. Er runzelt die Stirn und da er entschlossen ist, schließt er seinen Mund. Die Handlungen und die Stellungen eines hülflosen Menschen sind in jedem einzelnen dieser Punkte genau das Umgekehrte. Der hülflose Mensch zieht unbewußter Weise die Muskeln seiner Stirn zusammen, welche Antagonisten derjenigen sind, welche das Stirnrunzeln bewirken, und hierdurch hebt er seine Augenbrauen in die Höhe. Zu gleicher Zeit erschlafft er die Muskeln um den Mund, so daß der Unterkiefer herabhängt. Der Gegensatz ist in jeder Einzelnheit vollständig, nicht blos in der Bewegung der Gesichtszüge, sondern auch in der Stellung der Gliedmaßen und der Haltung des ganzen Körpers.“ Das Einstemmen der Ellenbogen und Ballen der Fäuste kommt nicht bei allen Racen vor, wenn sie sich indignirt fühlen – und ebenso wird in vielen Gegenden der Erde der hülflose Seelenzustand durch bloßes Achselzucken ausgedrückt, ohne ein gleichzeitiges Drehen der Ellenbogen und Oeffnen der Hände.

In der nämlichen Weise erklärt sich die Geberde des Erstaunens (Figur 9) durch das Princip des Gegensatzes. Dieses Heben der Arme oder doch der Vorderarme, dieses Oeffnen der Hände und Ausstrecken derselben nach hinten mit gespreizten Fingern, es steht in vollkommenem Gegensatze zur Haltung Dessen, der sich im gewöhnlichen, ruhigen Seelenzustande befindet, der nichts thut und an nichts denkt.

Von einem ganz besonderen Interesse aber ist der Ausdruck des Hohnes, welchen uns Figur 5 zeigt. Es ist dies das Bildniß einer Dame, die zuweilen unabsichtlich den Eckzahn der einen Seite zeigt, und welche das mit ungewöhnlicher Deutlichkeit willkürlich thun kann. So konnte nach Ch. Bell der Schauspieler Cooke den entschiedensten Haß ausdrücken, wenn er bei einem schrägen Blicke seiner Augen den äußern Theil der Oberlippe in die Höhe zog und den Eckzahn zeigte. Darwin sagt zu dieser merkwürdigen Ausdrucksweise des Menschen: „Sie enthüllt seine thierische Abstammung; denn Niemand, selbst wenn er in einem tödtlichen Kampfe mit einem Feinde sich auf dem Boden wälzt und versucht, ihn zu beißen, würde versuchen, seine Eckzähne mehr zu brauchen als seine andern Zähne. Wir dürfen wohl nach unsrer Verwandtschaft mit den antropomorphen Affen glauben, daß unsre männlichen halbmenschlichen Urerzeuger große Eckzähne besaßen, und noch jetzt werden gelegentlich Kinder geboren, bei denen sie sich von ungewöhnlich bedeutender Größe entwickeln mit Zwischenräumen in den einander gegenüber stehenden Kinnladen zu ihrer Aufnahme. Wir können ferner vermuthen, obwohl wir keine Unterstützung aus Analogie haben, daß unsre halbmenschlichen Urerzeuger ihre Zähne entblößten, wenn sie sich zum Kampfe bereiteten, da wir es immer noch thun, wenn wir wild werden, oder wenn wir einfach irgend Jemanden verhöhnen oder ihm herausfordernden Trotz bieten, ohne irgend welche Absicht, mit unsren Zähnen wirklich Angriffe zu machen.“

Es steht freilich wohl zu befürchten, daß Worte, wie diese, [308]

bei manchem Leser noch immer nicht mit der wünschenswerthen Ruhe des Einverständnisses aufgenommen werden, bei aller Verbreitung und Anerkennung, welche Darwin’s Lehre bis jetzt gefunden hat. Und so wird es denn wohl kommen, daß Einer oder der Andere die Abstammungsfrage mit jener Geberde des Abscheues von sich weist, die unsere Figur 6 recht hübsch wiedergiebt. Ich kann es ihm nicht sparen, noch folgende Worte Darwin’s anzuhören: „Beim Menschen lassen sich einige Formen des Ausdruckes, so das Sträuben des Haares unter dem Einflusse des äußersten Schreckens, oder das Entblößen der Zähne unter dem der rasenden Wuth, kaum verstehen, ausgenommen unter der Annahme, daß der Mensch früher einmal in einem viel niedrigeren und thierähnlichen Zustande existirt hat. Die Gemeinsamkeit gewisser Ausdrucksweisen bei verschiedenen, aber verwandten Species, so die Bewegungen derselben Gesichtsmuskeln während des Lachens beim Menschen und bei verschiedenen Affen, wird etwas verständlicher, wenn wir an deren Abstammung von einem gemeinsamen Urerzeuger glauben.“ – Und nun bitte ich den Leser, Charles Darwin’s Schriften zur Hand nehmen, und er wird, aus der überzeugenden Fülle wohlverwertheter Thatsachen schöpfend, sein Vorurtheil abwerfen, und seine Anschauungsweise umstimmen. Diese Schriften, von welchen ich hier außer der neuesten, deren Inhalt eben der Gegenstand unsrer Unterhaltung war, namentlich „Die Abstammung des Menschen“ und „Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication“ anführe, sind ja in eleganter deutscher Uebersetzung (im Schweizerbart’schen Verlag.) auch allen Denen zugänglich, die, wie selbst viele Gelehrte, Dank ihrer Schulbildung, mit der englischen Sprache nicht vertraut sind. Ihnen Allen hat Professor Victor Carus, der vor hundert Andern den Vorzug hat, daß sich bei ihm gründliche Sachkenntniß mit einem feinen Verständniß der Sprache vereinigt, durch diese Uebersetzungen einen wesentlichen Dienst geleistet. Nur bei dem persönlichen Verhältniß, welches ihn mit Charles Darwin verbindet, war es möglich, die Arbeit in dieser Weise zu fördern, daß die Uebersetzung zu gleicher Zeit mit dem Originale – ja, die der „Abstammung des Menschen“ sogar noch etwas früher als dieses – an die Oeffentlichkeit treten konnte. Ich bedaure, daß unsere Tafel keine Figur mit dem Ausdrucke der dankbaren Anerkennung aufweist, die ich zum Schluß noch anführen könnte.
Klotz.




Bilder aus dem Ehestandsleben im Orient.
Von Heinrich Freiherrn von Maltzan.
Nr. 1. Eine Todtschlägerin. – Frauenfeindschaft in vielweibigen Ehen. – Zauberei als Mittel, eine Nebenbuhlerin hinwegzuräumen. – Wie sich ein Magier zu helfen weiß. – Hochzeit und Brauttoilette im Orient. – Scene mit dem Schnupftuch. – Eifersucht arabischer Ehemänner. – Die Rache eines geschiedenen Ehemannes.


Vor einigen Monaten stand vor dem Gericht in Algier eine hübsche junge Kabylin, etwa achtzehn Jahre alt, deren für eine Landbewohnerin feine und zarte Züge das Herz der Zuschauer zum Mitgefühl stimmten und selbst auf die Richter nicht ohne Eindruck blieben. Was hatte diese Schöne verbrochen? „O, eine Kleinigkeit!“ würde ein Eingeborener geantwortet haben. Sie hatte nur ihre Mitgattin mit einer Axt todtgeschlagen. Das klingt allerdings schrecklich, wenn man es so trocken und ohne die begleitenden Nebenumstände aussagt. Aber in Wirklichkeit war die Angeklagte mehr zu bedauern, als zu verdammen. Sie war ein Opfer der traurigen Umstände geworden, welche nicht selten die Vielweiberei im Gefolge hat.

Tessalit, so hieß die junge Kabylin, war noch ein halbes Kind, als sie an einen Mann verheirathet wurde, der sich bereits einer älteren Ehehälfte erfreute. Letztere, Chadidscha genannt, wird als eine wahre Xanthippe geschildert. Gegen ihren Mann wagte sie freilich nicht allzu derb aufzutreten. Darin verstehen die Kabylen keinen Spaß. Sie mußte es dulden, daß dieser eine zweite Frau nahm, welche ihr an Schönheit und Liebenswürdigkeit überlegen war, und folglich von dem Gatten mehr geliebt wurde, als sie. Aber der armen Tessalit schwur sie Rache. Dazu fand sich eine gute Gelegenheit, als bald darauf der Ehemann wegen einiger falschen Begriffe über „Mein und Dein“ zu fünf Jahren Gefängniß verurtheilt wurde. Tessalit ahnte, was ihr bevorstand, und floh deshalb zu ihrem Vater. Aber der Gatte ließ sie durch einen seiner Brüder zurückbringen. Als sie kam, wies ihr zwar ihre liebenswürdige Mitgattin die Thür, was ihr sehr willkommen gewesen wäre, wenn sie dadurch die Möglichkeit zur Rückkehr zu ihren Eltern erlangt hätte. Aber nein! Die Xanthippe wußte, daß sie es dort gut hatte. Sie sollte es aber schlecht haben. Darum zeigte sie derselben die Thür und zwang sie, vor dem Hause und zwar im ummauerten Hofe zu bleiben und auch die kältesten und regnerischsten Nächte dort unter freiem Himmel zuzubringen. Sie sah sie nur als ihre Gefangene an, an der sie ihr Müthchen kühlen konnte. Die Zeugen melden von einer Reihe haarsträubender Mißhandlungen, denen die Aermste nun unterworfen wurde: tägliche Schläge, Brennen mit glühenden Kohlen, Hungerleiden und dergleichen mehr. Endlich faßte sich Tessalit ein Herz und machte einen Fluchtversuch. Aber Chadidscha kam ihr nach, überfiel sie mit einem Beil und versetzte ihr damit einige Hiebe. Da indeß der Zorn ihre Hand unsicher machte, so behielt das Opfer doch Kraft genug, ihr das Beil zu entwinden und sich mit demselben gegen die Wüthende zu wehren. Dabei fiel der tödtliche Schlag, der dem Dasein der Xanthippe ein Ende machte. Es war kaum mehr als Nothwehr. Das Gericht faßte es freilich als einen Todtschlag, jedoch unter mildernden Umständen begangen, auf, und verurtheilte sie zu einem Jahr Gefängniß. Nach europäischen Begriffen mag dies hart scheinen. Aber sie konnte ihrem Schöpfer danken, daß sie nicht vor ein arabisches Gericht gestellt worden war, denn ein solches urtheilt nur nach der Thatsache, daß man überhaupt den Tod eines Menschen verursacht hat, und hätte ihr Vergehen wie Mord bestraft.

Dergleichen traurige Ereignisse sind leider in den vielweibigen Ehen keine Seltenheit, wohlverstanden bei den Orientalen. Wie es damit bei den Mormonen und den Secten, welche dem Manne gestatten, mehrere sogenannte „Seelenbräute“ zu besitzen, hergeht, weiß ich nicht zu sagen. Möglich, daß die Mystik über die Eifersucht siegt. Aber die Orientalinnen wissen nichts von Spiritualismus und sind sehr materiell eifersüchtig, äußern auch diese Eifersucht oft auf sehr materielle Weise, wenngleich nicht gerade immer mit Axt und Beil, Gift und Dolch, was übrigens auch keineswegs selten ist.

Bei solchen Gesinnungen ist es manchmal ein Glück, wenn diese Schönen an irgend einem Aberglauben hängen, den sie ihren Rivalinnen gegenüber zur Hülfe rufen; dann wenigstens geschieht den letzteren dabei nur eingebildetes Leid. Ich erinnere mich eines Fekihs[1] aus Marokko, der aber in Dschedda in Arabien lebte und ein ziemlich gutes Geschäft mit dem Ausbeuten des Aberglaubens im Allgemeinen und der abergläubischen Praktiken in Ehestandssachen im Besonderen machte. Dieser Mann wurde vielfach von eifersüchtigen Gattinnen besucht, die ihn gut bezahlten, damit er ihren Rivalinnen einen Schabernak zufüge, und manchmal mehr als einen Schabernak, wenigstens in der Absicht. Ich hatte ihn in Algerien gekannt; als ich ihn in Dschedda wiedertraf, lud er mich in sein Haus ein, um mir verschiedene Raritäten zu zeigen, mit denen er nebenher Handel trieb. Was mir unter seinen Merkwürdigkeiten am meisten auffiel, war eine Anzahl höchst ungestalter kleiner Wachsfiguren, so roh wie die Götzenbilder von Völkern, die auf der tiefsten Kunst- und Culturstufe stehen. Es war übrigens unverkennbar, daß sie weibliche Wesen vorstellen sollten. Ich fragte ihn, was wohl der Zweck dieser Figürchen sein könne. Diese Frage setzte ihn in einige Verlegenheit; daran merkte ich, daß es sich wohl um irgend einen Aberglauben, von seiner Seite natürlich nur um eine Betrügerei handele, die er doch nicht einem Europäer

[309] gegenüber eingestehen mochte. Zum Glück überhob mich jedoch die Ankunft eines Kunden aller weiteren Fragen. Dieser Kunde war ein junger Mann, der, wie ich bald merkte, nur als Beauftragter seiner Schwester, der Gattin eines angesehenen Arabers, kam. Er schien ziemlich aufgeregt und mit dem Fekih unzufrieden, so daß er diesen gleich am Anfang mit einem Wortschwall von Vorwürfen überschüttete. Darüber vergaß Letzterer gänzlich meine Anwesenheit, und so wurde ich gegen seine Absicht Zeuge einer der sonderbarsten abergläubischen Handlungen, die ich jemals gesehen habe. Es war viel von einer „Puppe“ die Rede, mit welcher der Fekih versprochen hatte, irgend welche mysteriöse Dinge vorzunehmen. Aber dieses Versprechen schien er nicht gehalten zu haben. Wenigstens sagten dies die Worte des jungen Arabers:

„Du Schurke!“ so rief er, „Du Betrüger! Du hast das Geld meiner Schwester genommen und doch nicht Deine Zusage gehalten.“

Der Magier schwur bei Allem, was dem Muselmanne heilig ist, daß er es doch gethan habe. Aber der Araber wollte Näheres wissen.

„Hast Du sie vergiftet?“ frug er.

Der Fekih betheuerte, es gethan zu haben. Ich schauderte. Wer war hier vergiftet worden? Jedoch mein Schrecken sollte sich bald legen, denn die Sache war nicht so gefährlich, wie sie lautete.

Der Araber fuhr fort zu fragen: „Hast Du ihr einen Dolch in’s Herz gestoßen?“

Statt aller Antwort hob der Zauberer einen Schleier, der ein kleines Figürchen, ganz den oben geschilderten Wachsbildern gleich, bedeckte. Es stellte gleichfalls eine Frau dar, was man trotz der Plumpheit der Ausführung deutlich sah. Diese kleine Frau von Wachs war mit einem grünlichen Safte überzogen. Das sollte wahrscheinlich das Gift sein. Außerdem hatte sie eine Stecknadel in der Brust stecken, das war der in’s Herz gestoßene Dolch!

Der junge Araber beobachtete scharf die Puppe und überzeugte sich, daß sich Alles so verhielt, wie der Zauberer gesagt hatte.

„Wie lange ist sie schon in diesem Zustande?“ frug er.

„Ich habe sie,“ so lautete die Antwort, „gleich nachdem die Scheicha (Frau eines Scheichs) hier gewesen, vergiftet und zwei Tage später erdolcht.“

Der Kunde schaute sich die Sache nochmals höchst aufmerksam an. Da er aber keinen Fehler entdecken konnte, so wendete er sich unwirsch davon weg. Er ging eine Zeitlang aufgeregt im Zimmer auf und ab, wobei er die Augen trostlos gen Himmel wandte und immer vor sich murmelte:

„Es hat doch nichts geholfen!“

Endlich aber blieb er wie in einem Paroxysmus von Zorn vor dem Zauberer stehen, packte ihn bei der Schulter, schüttelte ihn derb und schrie:

„Sage mir, Schurke, warum hat es nichts geholfen?“

Der Fekih hatte Mühe, sich den Händen des Wüthenden zu entringen. Jetzt neue Betheuerungen seiner Unschuld, wenn überhaupt hier von Unschuld die Rede sein konnte. Er hatte das ganze grauenhafte Mysterium, gerade so wie es die Bezahlende befohlen, ausgeführt. Warum hatte es noch nichts geholfen? O, das war leicht zu erklären! Zum Werke der Magie gehört Zeit. Es waren ja erst acht oder vierzehn Tage verstrichen. Geduld, Geduld und wiederum Geduld (der ewige Endreim aller Zauberer) sei hier vor allen Dingen von Nöthen. Durch Hast, Ungeduld und aufgeregtes Wesen werde aber Alles verdorben. Ja, jetzt habe der junge Mann durch seinen Ausbruch von Wuth eigentlich schon das ganze Werk zunichte gemacht. Diese letzten Worte brachten einen tiefen Eindruck auf den Araber hervor. Es war ein sehr kluger Kniff von Seiten des Magiers. Denn da Zorn und Ungeduld das Werk der Magie zerstören sollten, so wurde nun der junge Mann lammfromm und bat in den flehentlichsten Ausdrücken, der Fekih möge doch das Zerstörte wieder herstellen. Das war eine Gelegenheit, Geld zu erpressen, und sie wurde auch wirklich mit Erfolg ausgebeutet. Der Araber zahlte und nahm dafür das Versprechen beim Weggehen mit, das nächste Mal werde Alles gelungen sein.

Was war das Hexenwerk, das hier gebraut wurde? Ich hatte zu viel mit Arabern verkehrt und auch über ihre abergläubischen Praktiken schon zu Mannigfaches gehört, um lange im Zweifel darüber zu bleiben. Die Wachsfigur stellte die Nebenbuhlerin und Mitgattin der Schwester des jungen Arabers dar. Vermittelst gewisser Zauberformeln behauptete der Magier die Macht zu haben, Jener alles das in Wirklichkeit (aber ohne körperliche Annäherung) zufügen zu können, was er am Bilde symbolisch ausgeführt hatte. Das Bild hatte er mit Gift überzogen; folglich mußte diejenige, deren Abbild die Wachsfigur vorstellen sollte, an Gift sterben. Er hatte es erdolcht; also mußte ihr ein Gleiches geschehen. Starb sie dennoch nicht, so geschah es nicht etwa, weil der Zauber nicht wirkte, sondern lediglich deshalb, weil die Bedrohte Gegenzauber gebrauchte. Und wer war der Hexenmeister, dessen sie sich hierzu bediente? Kein anderer, als der Fekih selbst. Dieser unparteiische Mann pflegte nämlich stets die Verfolgten davon zu benachrichtigen, was gegen sie im Werke sei, und da diese eben so abergläubisch waren, wie ihre Verfolgerinnen, so wandten sie ansehnliche Bestechungssummen auf, um den Zauber zu paralysiren. So betrog er beide Theile. Aber sein Ansehen als Magier wuchs dadurch ebensosehr, wie seine Casse sich füllte, denn jeder Theil suchte den andern an Geschenken zu überbieten. Ein schlauer Betrüger! Indeß zürnen wir nicht allzusehr mit ihm! Wäre er und sein Hexen-Hokuspokus nicht, wer weiß, wie viel Gräuelthaten dann an menschlichen Leibern, statt, wie jetzt, an Wachsfiguren, ausgeführt würden!

Es ließen sich noch viele Beispiele anführen, um die traurigen Folgen der aus der Vielweiberei entspringenden Eifersucht zu zeigen. Indeß wäre es ein Irrthum, zu glauben, daß, weil der Koran dem Muselmann gestattet, mehrere und zwar vier legitime Gattinnen und daneben so viele Sklavinnen als Kebsweiber zu besitzen, wie er versorgen kann, auch wirklich die Mehrzahl von dieser Erlaubniß Gebrauch macht.

Bei den Bauern und Beduinen, denen die Frauen das Feld bestellen und das Vieh weiden helfen, also als Arbeiterinnen nützlich sind, herrscht die Vielweiberei aus ökonomischen Gründen, bei den Pascha’s und andern Vornehmen als Luxus. Bei letzteren ist ein zahlreicher Harem das Aushängeschild ihres prahlerischen Reichthums. Aber beim Mittelstande und überhaupt den städtischen Bürgern finden wir sehr viele einweibige Ehen. In einzelnen Städten, wie zum Beispiel in Algier, besteht sogar die Gewohnheit, daß sich der Mann den Eltern der Braut gegenüber verpflichtet, seiner Gattin keine Gefährtinnen zu geben. Es war das ohne Zweifel ein Hauptgrund jener glücklichen häuslichen Verhältnisse, welche, nach dem einstimmigen Urtheil aller alten Algierer, vor 1830 in ihrer Vaterstadt herrschten. Seitdem hat die Sittenverderbniß sehr überhand genommen. Das Gute, was die Franzosen besitzen, kam nicht nach Algier, wohl aber das Schlechte, denn die Einwanderer waren meist der Auswurf. Daher ein allgemeiner Verfall der Sitten seit jener Zeit, daher die Angst und das Bangen jedes mit Töchtern gesegneten Vaters, bis er dieselben glücklich unter die Haube gebracht hat. Ist ein Mädchen zwölf Jahre alt, so hegen die Eltern keinen andern Gedanken, als es schleunigst an den Mann zu bringen. Aber diesen Wunsch dürfen sie nicht etwa äußern. Die Initiative muß, wie bei uns, vom Freier ausgehen, doch nicht direct, sondern auf Schleichwegen. Dazu dient ihm eine eigene Classe von Weibern, gewerbsmäßigen Ehevermittlerinnen, meist ehrwürdigen Matronen, die eine ganze Liste von Ehestandscandidatinnen führen. Diese verstehen es sehr gut, ihre Waare anzupreisen. Da kein Mann ein Mädchen sehen darf (seine Schwester natürlich ausgenommen) so haben die Vermittlerinnen gewonnenes Spiel, wenn sie ihre Schützlinge so schön wie möglich ausmalen. Da aber eine selbst noch so blühende Beschreibung doch nicht immer den Zweck erreicht, die Männer in den Gegenstand derselben, der ihnen ja nicht zu sehen gestattet wird, verliebt zu machen, so muß ein anderes Lockmittel herhalten, das Geld. Alle diese Mädchen sind reich, wenn man die Mütterchen hört, und auf diesen Zopf pflegen die Araber mit seltener Leichtigkeit anzubeißen. Aber ebenso leicht fügen sich die Enttäuschten nachher in ihr Schicksal. Nur Einer sagte mir einmal in einem schwachen Augenblick: „Ich wußte wohl, daß man mir ein Gänschen aufgeschwatzt hatte, aber ich glaubte, es sei wenigstens ein goldnes Gänschen.“

[310] Ist es der Vermittlerin gelungen, einen Bräutigam einzufangen, so findet meistentheils sehr bald die Ceremonie des Fatiha statt, das heißt, der Ehecontract wird von zwei Notaren vor dem Kadi verlesen und dann das erste Capitel des Koran, Fatiha genannt, in der Moschee für das neue Paar gebetet. Dies ist eigentlich der wirkliche juristische Eheschluß, denn später findet keine religiöse Ceremonie, kein gesetzlicher Act mehr statt. Der Mann verpflichtet sich dadurch zur Zahlung der Morgengabe, welche die Eltern der Braut in Empfang nehmen und für sie verwalten. Das hat zu dem Gerücht Anlaß gegeben, daß der Muselmann seine Frau kaufe. Das ist nun zwar unrichtig, aber die Araber selbst tragen dazu bei, dieses Gerücht zu beglaubigen. Nicht selten wurde ich von Arabern gefragt, ob ich verheirathet sei und wie viel ich für meine Frau gegeben habe. Sie selbst hielten gar nicht hinter dem Berge mit der Summe, welche die Ehehälfte (wie sie sich ausdrückten) sie gekostet hatte. Die Summen schwankten zwischen vierzig und achtzig Thalern, und dabei wurde stets in Anschlag gebracht, ob die Braut Jungfrau oder Wittwe gewesen. Auch hörte ich nicht selten den Ausruf: „Das war zu theuer!“ oder „Das war ein gutes Geschäft!“ etc. Es ist dem Europäer deshalb sehr zu verzeihen, wenn er zu dem Glauben kommt, daß die Orientalen ihre Gattinnen käuflich erwerben.

In der Stadt und bei wohlhabenden Orientalen ist übrigens die Morgengabe ein Nichts neben der meist reichen, oft sehr reichen Aussteuer, welche die Eltern der Braut bestreiten. Die Aussteuer aber ist den Frauen bei Weitem das Wichtigste bei der ganzen Sache. Von welcher Pracht diese oft ist, konnte ich mich einmal im Laden eines algierischen Schneiders überzeugen. Da lag ein Dutzend vollständiger Anzüge, jeder aus Weste, Jacke und sehr stoffreichen, bauschigen Beinkleidern bestehend, alle von schweren gewässerten Seidenstoffen (moiré antique), weiß, blau, gelb, von allen Farben, mit Goldstickereien beladen. Aber dies war nicht das Prächtigste. Daneben bemerke ich ein großes Paket von anderem, noch viel kostbarerem Stoff, so daß ich unwillkürlich zu der Frage kam, ob wohl der arabische Schneider etwa auch Meßgewänder mache? Es war nämlich Gold- und Silberbrocat, silber- und golddurchwirkter Atlas, zu Kirchenschmuck geeignet. Der Schneider sah mich schmunzelnd an und sagte:

„Ja, ja, diese Stoffe tragen allerdings die Papas (katholischen Priester), aber bei uns wäre es Schande für einen Mann, Gold- oder Silberstoff zu tragen. Wir schmücken damit unsere Heiligthümer.“

Letzteres Wort spielte auf die doppelte Bedeutung der Wurzel „Haram“, die zugleich „Heiliges“ (Verbotenes, Unnahbares), und „Frauen“ bedeuten kann, an. In der That waren diese Stoffe von einem Hause in Lyon bezogen, das gewöhnlich nur Lieferungen an die Kirche macht. Und von diesem Meßgewandstoff wurden auch die Anzüge gewählt, Alles für eine und dieselbe Braut! Daneben dann noch die vielen andern Toilettengegenstände, welche Frauen machen, oder die man fertig im Laden kauft, der viele oft sehr kostbare Schmuck, und der Augenzeuge all’ dieser Pracht wird sicher gestehen, daß den Arabern für ihre Bräute nichts zu gut ist.

Leider sind sie nicht zufrieden damit, die Braut durch Schmuck und Kleiderpracht zu putzen, sie wollen auch noch ihre natürliche Hautfarbe verschönern. Zu diesem Zweck hat sich ein eigenes Gewerbe gebildet, das von alten Weibern ausgeübt wird, welche man „Hananna“ nennt. Das Wort kommt von Henneh, einer Pflanze (lawsonia inermis), mit deren Saft den Mädchen Hände und Füße röthlich gefärbt werden. Dies ist gewöhnlich die erste Operation, welche die Hananna vornimmt, nachdem sie die Braut auf den Marterstuhl gesetzt hat, auf dem sie nun vier bis fünf Stunden aushalten muß, um am ganzen Körper geölt, gesalbt, parfümirt, dann im Gesicht erst weiß, wie Kreide, und auf den Wangen roth, wie Mohnrosen, geschminkt zu werden. Darauf folgen andere Toilettenmysterien, wie das Färben der Nägel mit einem bräunlichen Kraut, der Augenränder und Lider mit Antimonium, das Schwärzen und Verlängern der Augenbrauen etc. Bis dahin kann man noch von einer gewissen, wenn auch hyperbolischen Nachahmung der Natur reden. Was aber nun folgt, ist eitel phantastische Kunst. Gold ist ein Metall, das der Araber, je seltener es in seinen Cassen weilt, desto lieber sieht. Damit er dessen geliebten Schimmer nun auch auf dem Angesicht seiner Braut finde, nimmt die Hananna ein Stück dünnsten Goldblechs, schneidet davon zwei Dreiecke und klebt diese auf die Wangen der Braut; auf der Stirn befestigt sie drei alte, meist werthvolle Münzen vom feinsten Zechinengold, auf der Unterlippe ein goldenes Sternchen und auf dem Kinn eine Goldblume.

Bis dahin bleibt die Braut im Hemde sitzen. Jetzt erst wird sie in die kostbaren Gewänder gekleidet und mit Schmuck behangen. Der Schmuck der echten Algiererinnen ist fast nie falsch und von einem Reichthum, der uns ganz außer allem Verhältniß zu den Mitteln der Leute scheint. Aber die Sache erklärt sich, wenn man weiß, daß sie oft auf diese Weise ihr Capital verwahren. Die strengen Moslems dürfen kein Geld auf Zinsen geben. Statt es nun im Kasten einzuschließen, kaufen sie Schmuck dafür. Auf Façon sehen sie nicht, und so können sie im Nothfall den Schmuck fast immer wieder für den Ankaufspreis veräußern. So kommt es, daß oft anscheinend ganz ärmliche Leute Diamanten besitzen. Mit diesen schmücken sie vorzugsweise ihre Bräute. Sie sind meist nur roh geschliffen und grob in Silber gefaßt; aber man findet ganze Diademe, Halsbänder, Armbänder, Fuß- und Beinringe, sowie eine große Anzahl Fingerreife mit diesem edlen Steine reich besetzt, oft in Familien, die nach unseren Begriffen in bescheidenen Verhältnissen leben. Eine deutsche Dame, der ich die obige Beschreibung der Brauttoilette verdanke (denn wir Männer sind natürlich von solchem Anblick ausgeschlossen), erzählte mir, daß an jedem der acht Festtage einer Hochzeit, deren Zeugin sie in Algier gewesen, die Braut in einem andern Schmuck prangte, am ersten in Diamanten, am zweiten in Rubinen, am dritten in Smaragden, den einzigen wirklich geschätzten Edelsteinen. An den folgenden erschien sie mit Amethysten, Topasen, Opalen etc. Aber das galt mehr als ein buntes Spielwerk. Auf jeden Finger steckt man so viel Ringe, als er nur halten kann, und zwar (wenigstens bei vornehmen Leuten) stets nur von einer einzigen Juwelenart, wie man denn überhaupt es gern vermeidet, Steine verschiedener Farben zugleich zu tragen.

Der wichtigste Moment ist für die Braut die sogenannte „Scene mit dem Schnupftuch“. Dabei denke man jedoch nicht an das traditionelle Schnupftuch, das die Sultane ihren Odalisken zuwerfen sollen. Das Schnupftuch ist hier vielmehr ein Geschenk, welches der Bräutigam seiner Vermählten machen muß, wenn er sie zum ersten Mal entschleiert sieht und nachdem sie ihm ihren Namen genannt hat. Diesen hat er nämlich bisher eigentlich noch nicht wissen dürfen. Ist er zum ersten Mal mit ihr allein, dann erst darf er darnach fragen, und dies sind stets die ersten Worte, welche ein neues Paar wechselt. Schüchtern und mit kaum hörbarer Stimme (so schreibt es die Sitte vor, und das haben ihr Mutter und Tanten gehörig eingetrichtert) haucht die Schöne ihren Namen hin. Zum Dank dafür reicht ihr der Mann ein kostbares Tuch, in das gewöhnlich irgend ein Schmuck eingewickelt ist.

Nach dem ersten kurzen Beisammensein der Brautleute stimmt auf ein vom Manne gegebenes Zeichen der zahlreiche Chor von Verwandtinnen und Freundinnen, die während der ganzen Scene vor der Thür des Hochzeitsgemachs stehen geblieben sind, das sogenannte Sugharit (in der gewöhnlichen Sprache Jujuh geheißen) an, jene überaus hohen Kopftöne, die dem Geheul junger Schakale gleichen, und welche, wenn sie auch nicht melodisch sind, doch jedenfalls den Zweck erreichen, im ganzen Stadtviertel gehört zu werden und diesem das glückliche Ereigniß ankündigen.

Acht Tage dauern nun die Lustbarkeiten, das Festessen, Singen, Tanzen (doch nur von gewerbsmäßigen Tänzerinnen), Jubel und Freude ohne Ende, d. h. für die Gäste; denn die Braut ist dabei nicht zu beneiden. Den Morgen bringt sie in den Händen der Hananna, die sie schminkt und putzt, zu, und dann muß sie von Mittag bis Mitternacht auf einer Estrade sitzen, um sich von den Besucherinnen angaffen zu lassen; denn natürlich dürfen sie nur Frauen sehen. Jedes Geschlecht hat bei den Muselmanen sein Vergnügen getrennt. Einen größeren Contrast giebt es übrigens nicht, als der zwischen dem Alltagsleben und dem Hochzeitsjubel bei diesen Völkern. „Jeder Hochzeiter ist für acht Tage ein Sultan“, sagen die Araber und nicht ganz mit Unrecht. Das Beste bei der Sache ist, daß die Brautleute für alle Auslagen [311] durch die vielen Geschenke, welche die Hochzeitsgäste ihnen machen, oft mehr als entschädigt werden.

Mit solchem Jubel und unverhältnißmäßiger Pracht wird ein Bund eingeleitet, der doch (mit wenigen später zu erwähnenden Ausnahmen) im besten Fall bei diesen das Weib so tiefstellenden Völkern nur ein gefühlsarmes Nebeneinanderleben, nicht jedoch ein inniges Herzensverhältniß, ein Seelenbündniß sein kann. Indeß, wie viele Fälle giebt es nicht, wo das „gelbe Gespenst“, die Eifersucht, dazwischen tritt und das Band in furchtbarer Weise zerreißt! Oben war nur von der Eifersucht der Frauen auf einander die Rede, die bei der Vielweiberei eine so große Rolle spielt. Aber leider wüthet sie selbst bei den Ehen, die nicht vielweibig sind. Nur ist es hier hauptsächlich die Eifersucht des Mannes, welche verheerend auftritt. Gewöhnlich denken wir Europäer uns die Eifersucht wie eine chronische Krankheit, die jedoch von Zeit zu Zeit von acuten Anfällen unterbrochen wird, das heißt wie einen dauernd mißmuthigen Zustand, der sich hie und da zu Zornesausbrüchen steigert. Unter den Arabern paßt dies nur auf die rohesten Menschen. Bei der gesitteten Classe sind die Zornausbrüche unterdrückt und selbst der Mißmuth wird mit großer Verstellungskunst verleugnet. Aber der Zorn wüthet im Innern und ruht nicht, bis er sein Ziel getroffen hat. Der Araber, den die Eifersucht ergriffen hat, läßt die Frau, welche sie hervorrief, oft lange Zeit hindurch gar nichts merken. Nach seinem Sittencodex ist sie willenlos, eine Entschuldigung von ihrer Seite leerer Schall. Dennoch verurtheilt sie sein Stolz als dem Tode verfallen, wenn sie ein Denkmal seiner Schande ist. Aber ihr Tod bildet nur ein Nebenmoment. Das Hauptziel ist der Tod des Nebenbuhlers. Dieser ist nicht leicht in’s Werk zu führen, weil auch hierin die heuchlerische Sitte einen Umweg erheischt. Ein Araber würde sich schämen, einzugestehen, daß er einen Mann ermordet habe, weil derselbe bei seiner Frau Glück gefunden. Das hieße ja die Thatsache seiner Schande in die Welt posaunen. Wie aber diesen Zweck erreichen, ohne sich nach den kitzligen Ehrbegriffen dieses Volkes die geringste Blöße zu geben? Darauf giebt folgender Vorfall Antwort, der sich vor etlichen zwanzig Jahren in Algerien ereignet haben soll.

Scheich Walid, der Häuptling eines Stammes, war mit einer jungen Frau vermählt, die er leidenschaftlich liebte. Liebte sie ihn wieder? Er glaubte es, glaubte es lange, bis er sie eines Tages auf freiem Felde (denn auf dem Lande herrscht selbst bei den Arabern eine gewisse Ungezwungenheit) mit einem ihm unbekannten Mann im Gespräch und zwar in sehr freundschaftlichem Gespräch ertappte. Er verrieth mit keiner Miene, daß er sie belauscht habe. Nur erkundigte er sich unter der Hand nach jenem Mann und erfuhr, daß er ein Vetter seiner Frau sei. Nun ist das Verhältniß zwischen Vetter und Base bei den Arabern immer ein höchst eigenthümliches. Man hält es für sehr wünschenswerth, daß sie sich heirathen, ja in vielen Familien sieht man sie, gleichsam von selbst, wie Braut und Bräutigam an. Sie sind nahe genug verwandt, um (bei nicht sehr strengen Stämmen) unbehelligt verkehren zu können, und dennoch entfernt genug, um sich mehr zu sein, als Bruder und Schwester. Dieser Umstand reizte Sidi Walid’s Eifersucht auf’s Höchste. Hätte er seine Frau gefragt, so würde er erfahren haben, daß sie mit ihrem Vetter aufgewachsen und ihn von je her wie einen Bruder betrachtet habe. Statt dessen gab er nur der Eifersucht Gehör. Er beschloß, sich an Beiden zu rächen, zu rächen auf blutige Weise, und da er diesen Entschluß bei kaltem Blut zur Reife brachte, so fand er ein teuflisches Mittel, Beide zu verderben und zwar ohne anscheinend auch nur den Finger aufzuheben.

Er bewog seine Frau, ihren Vetter zum Nachtmahl einzuladen. Dieser kam. Dabei konnte es nicht an Vertraulichkeiten zwischen den Verwandten fehlen. Waren sie auch unschuldig, dem Manne dienten sie zum Vorwand. Als der Vetter fort war, sprach Scheich Walid zu seiner Frau:

„Ich sehe, daß Du eine Neigung zu Deinem Vetter hast. Ich kann Dir deshalb nicht gram sein; denn Vetter und Base sind füreinander bestimmt. Ich will Dir vielmehr Gelegenheit geben, Deine Neigung zu befriedigen. Ich lasse mich von Dir scheiden.“

Bei diesem Worte wollte die Frau eine Einwendung machen. Aber sie sah, daß ihr Mann fest entschlossen war. Sein Wille schien eisern – der eines Weibes gilt bei diesem Volke nichts. Sie wußte, daß ihr nichts übrig blieb, als stillschweigend zu gehorchen.

Der Mann fuhr fort:

„Bist Du von mir geschieden, so wird Dein Vetter ohne Zweifel um Deine Hand anhalten. Heirathe ihn dann! Aber versprich mir Eins: Wenn ich nach einem Jahre an Eurem Zelte vorbeikomme, so eile zu mir heraus und empfange mich in derselben Weise, wie Du mich zu empfangen pflegtest, als ich noch Dein Gatte war.“

Die Frau leistete unbefangen dieses unvorsichtige Versprechen. Sie wurden jetzt geschieden. Da aber ihr Vater inzwischen gestorben war, so blieb ihr keine andere Zufluchtsstätte als das Haus eben jenes Vetters, der jetzt das Oberhaupt ihrer Sippschaft war. Dieses innige Zusammenleben führte wirklich zur Liebe und im Laufe der Tage zur Ehe. Als dies Scheich Walid hörte, entbrannte seine Eifersucht mit doppelter Gluth. Dennoch wartete er ein Jahr. Stets dachte er an das ihm gegebene Versprechen. Als das Jahr vorüber war, ritt er an der Behausung seines Nebenbuhlers vorbei. Da ihn seine ehemalige Gattin sah, erinnerte sie sich ihres Versprechens, kam auf ihn zu und empfing ihn in der alten Weise. Aber ihr neuer Ehemann war nicht fern. Er sah das freundliche Benehmen seiner Frau gegen Den, der einst ihr Gatte gewesen war, und die Eifersucht erfaßte diesmal ihn. Die Leidenschaft machte ihn so wüthend, daß er auf seine Frau zurannte, sie packte und sogleich vor ein Familiengericht stellte, das ihr Todesurtheil aussprach. Bei kaltem Blute wurde sie einige Tage später als Ehebrecherin getödtet. So hatte es Scheich Walid gewollt. So hatte er alle seine Zwecke erreicht. Seine Ehre war im Blute Derjenigen gesühnt worden, die, wie er annahm, sie geschändet hatte. Der Rival fiel auch bald darauf, denn es fand sich ein Bluträcher in der Person eines eben von der Pilgerfahrt nach Mekka zurückgekehrten Bruders der Getödteten, der nicht an ihre Schuld glauben wollte. So wurde er auch an Diesem gerächt, und das ohne eine Hand zu rühren. Außerdem aber konnte Scheich Walid auch noch die Mitgift behalten und die Morgengabe, die er seiner ehemaligen Frau gegeben, zurückverlangen, denn die Familie des Nebenbuhlers hatte seine einstige Gattin als Ehebrecherin erklärt, und diese Erklärung besaß in diesem Falle rückwirkende Kraft. Es war ein Meisterstück von Schlauheit, aber leider auch von blutdürstiger List und Tücke, das Scheich Walid vollbracht hatte.




Pariser Bilder und Geschichten.
Die Kaffeehäuser.
Von Ludwig Kalisch.


Paris zählt mehr als zweitausend Kaffeehäuser. Man darf sich darüber nicht wundern. Dem geselligen Franzosen, der die Weinhäuser nicht kennt, sind sie ein Bedürfniß. Sie sind in Paris ein doppeltes Bedürfniß, da sie bei dem ungeheuren Umfang der Stadt als Zusammenkunftsorte dienen. Man kann sich dort auf halbem Wege begegnen, manche Angelegenheit besprechen, manches Geschäft erledigen, ja, sogar dringende Correspondenzen besorgen; denn in jedem Pariser Kaffeehause werden dem Consumenten die Schreibmaterialien unentgeltlich verabreicht. Welche Bequemlichkeit die Pariser Kaffeehäuser bieten, sieht man erst recht, wenn man einige Zeit in London zugebracht. London hatte im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert seine Kaffeehäuser, und die Bedeutung derselben für den geselligen Verkehr war so groß, daß ihnen Macaulay in seinem Geschichtswerk eine besondere, höchst interessante und belehrende Abtheilung widmet. London hat jetzt nur wenig Kaffeehäuser, wo man noch oben [312] drein keinen Kaffee, sondern nur schlechten Thee trinkt, wo man sich gegenseitig todt schweigt und seinen Nachbar nur bemerkt, wenn er einem die „Times“ in’s Gesicht stößt oder auf die Hühneraugen tritt.

Leider aber wird jetzt in den Pariser Kaffeehäusern auch nicht mehr ausschließlich Kaffee oder ein sonst unschuldiges Getränk genossen. In den jüngsten Decennien hat der Genuß des Absynths selbst in den vornehmsten Kaffeehäusern so sehr überhand genommen und bereits solche Verheerungen angerichtet, daß dieses Uebel allgemeine Bestürzung erregt und die Federn der bewährtesten Publicisten in fortwährender Thätigkeit erhält. Um die Größe dieses Uebels zu ermessen, muß man bedenken, daß es in Paris und dessen Weichbild neben den Kaffeehäusern an achtzehntausend Schenkwirthschaften giebt und daß in jeder dieser Wirthschaften eine größere oder geringere Quantität Absynth verabreicht wird. Die Presse thut alles Mögliche, um von dem Genusse dieses Getränkes abzuschrecken. Man hat den Absynthtrinkern unzählige Male gesagt, daß der Absynth den Menschen früher oder später in eine körperliche und geistige Ruine verwandelt, daß eine sehr beträchtliche Menge der in den Spitälern und Privatheilanstalten verpflegten Fallsüchtigen sowie in den Irrenhäusern behandelten Patienten demselben ihr Uebel zuzuschreiben hat. Auch haben die Experimente, die mit dem Absynth gemacht werden, dessen zerstörende Wirkung auf’s Unzweideutigste bewiesen. Man goß vor dem Publicum in eines der zwei Glasgefäße, in welchem kleine Fische herumschwammen, sechs Tropfen Blausäure, in das andere eben so viel Tropfen Absynth, und die munteren Thierchen starben schneller in diesem, als in jenem Gefäße. Einige Tropfen Absynth genügen, einer Katze epileptische Krämpfe zuzuziehen. Trotz alledem giebt es Tausende und aber Tausende, die den mehr oder weniger langsamen Vergiftungsproceß täglich mit sich vornehmen.

Das Absynthtrinken hat in den Pariser Kaffeehäusern mit dem Tabakrauchen zugenommen und zwar unter dem Empire. Vor dem Staatsstreiche wurde in wenig Pariser Kaffeehäusern, und auch dort nur in den dafür bestimmten Estaminets (Tabaksstuben) geraucht. Jetzt giebt’s in Paris kein einziges Kaffeehaus mehr, in welchem nicht fortwährend Pfeifen, Cigarren und Cigaretten qualmten. Mit der außerordentlichen Verbreitung in den Pariser Kaffeehäusern ist dort die Artigkeit mehr oder minder verschwunden, und es bestehen in Paris nur noch wenige Kaffeehäuser, wo der traditionelle gemessene Ton herrscht, und diese sind just die am wenigsten besuchten. Die äußere Eleganz steht nicht immer in geradem Verhältniß zur Vornehmheit, und das kleine schmucklose Café Tortoni ist bei weitem besser besucht, als das Grand Café oder das Café de la Paix, obgleich beide letztere an prachtvoller Einrichtung alle anderen Kaffeehäuser übertreffen.

Wie in Paris jeder Stadttheil seine eigene Physiognomie hat, so haben auch die Kaffeehäuser, je nach dem Stadtviertel, ihr eigenthümliches Gepräge. So unterscheidet sich auf den Boulevards fast jedes Kaffeehaus von dem anderen durch den Charakter seiner Besucher. Die Kaffeehäuser in der nächsten Nachbarschaft der Theater werden fast ausschließlich von dramatischen Schriftstellern, Schauspielern und Theaterrecensenten besucht. Hier werden die Pläne zu neuen Stücken entworfen, pikante Situationen berathen und über die Personen eines hervorzubringenden Vaudevilles verhandelt. Bekanntlich haben die leichten dramatischen Musenkinder, die in Paris erzeugt werden, gewöhnlich zwei, nicht selten sogar drei Väter. Der Eine liefert den Stoff; der Andere macht den Dialog, oder liefert das attische Salz, um diesen genießbar zu machen. So ist z. B. das Café des Variétés, das sich an der Seite des Theaters gleichen Namens befindet, der Vereinigungspunkt dramatischer Dichter, oder vielmehr Vaudevillefabrikanten, und sonstiger Leute, die am Karren des Thespis beschäftigt sind.

Der Fremde weiß die Physiognomien der Pariser Kaffeehäuser nicht zu unterscheiden, und ahnt nicht, daß dicht neben einem Kaffeehause, das von der soliden tugendhaften Bourgeoisie besucht wird, sich ein anderes befindet, dessen Stammgäste weder solid, noch tugendhaft sind. Es giebt auf den Boulevards viele Kaffeehäuser, in welchen das andere Geschlecht sich zahlreich einstellt. Die ungeschminkte Tugend besucht diese Kaffeehäuser niemals, weil dort das geschminkte Gegentheil allzustark vertreten ist. Manche Kaffeehäuser haben eine specielle Kundschaft, die ihr ganzes Leben hindurch dem Etablissement treu bleibt. So wird das Café de la Régence fast ausschließlich von Schachspielern besucht. Hier vereinigen sich täglich die ausgezeichnetsten Schachspieler von Paris, und wenn irgend ein berühmter Jünger des Palamedes nach der Hauptstadt kommt, unterläßt er es gewiß nicht, sogleich dieses Kaffeehaus aufzusuchen, wo man unausgesetzt den größten Scharfsinn anwendet, um die Könige ohnmächtig zu machen, ohne sich der Anklage des Majestätsverbrechens auszusetzen. Das Café de la Régence hat zu seinen Stammgästen den berühmten Schachspieler Philidor gezählt, dessen Bildniß dort aufgehängt ist und mit innigster Verehrung von seinen Nacheiferern betrachtet wird. Hier hat auch vor mehreren Jahren der Amerikaner Murphy jene großartigen Schlachten geschlagen, in welchen die Ritter fallen, ohne zu verbluten.

Ist nun das Café de la Régence der Sammelpunkt der Schachspielvirtuosen, so ist das Café Manoury bekannt durch die Virtuosen im Damenbrettspiel, welches eben nur diese Virtuosen nicht langweilig finden. Was aber das Dominospiel betrifft, so ist dasselbe die Leidenschaft besonders der kleinen Bourgeoisie, und es giebt in Paris kein einziges Kaffeehaus, wo nicht mit den schwarzäugigen Knochen unaufhörlich geklappert und gerasselt würde.

Es giebt auch in Paris, an der Ecke des Boulevard und der Rue Montmartre, ein Kaffeehaus, in welchem sich Pariser und auswärtige Diamantenhändler versammeln und sehr bedeutende Geschäfte abschließen. Dort werden geschliffene und rohe Diamanten in großer Menge ausgekramt. Die Besucher dieser Diamantenbörse unterscheiden sich gar sehr von ihrer kostbaren Waare, besonders in Bezug auf den Schliff.

Daß manche Kaffeehäuser ein Publicum von einer specifisch politischen Färbung vereinigen, kann man sich leicht denken. Seit vorigem Jahre haben die in der Wolle gefärbten Bonapartisten das Café de la Paix zu ihrem Rendezvous gewählt. Das Crethi und Plethi des Bonapartismus schimpft hier weidlich auf die Männer des vierten September, auf den Präsidenten der Republik, auf die Republik und die Republikaner, auf die Legitimisten und Orleanisten und wiegte sich vor dem Ableben des Ex-Kaisers in der süßen Hoffnung, sobald wie möglich den Mann von Sedan im Triumph nach Paris zurückführen zu können.

In Folge des jüngsten Krieges sind in Paris mehrere Kaffeehäuser verschwunden, die eine mehr als hundertjährige Vergangenheit hatten und ein historisches Interesse gewährten. Ich muß hier besonders das Café Procope erwähnen. Dieses Kaffeehaus, das im Jahre 1689 von dem Sicilianer Procope gegründet wurde, bildete im vorigen Jahrhundert den Sammelplatz der großen Schriftsteller, der kleinen Schöngeister und der Selbstherrscher der Kritik. Diderot, d’Alembert fanden sich hier täglich ein, nicht selten auch der hypochondrische Jean Jacques. Hier spitzte Piron seine Epigramme zu, und hier horchten Alle auf die Stimme des damaligen literarischen Weltbeherrschers Voltaire, der seine Witzpfeile nach allen Richtungen abschnellte. Das Café Procope wurde von vielen Fremden besucht, denen man den Tisch zeigte, an welchem der Verfasser der Henriade zu sitzen pflegte. Das berühmte Kaffeehaus ist aus Mangel an Kundschaft vor Kurzem eingegangen, und wer weiß, in welcher Rumpelkammer sich jetzt der historische Tisch befindet.

Ein anderes Kaffeehaus, unstreitig das eigenthümlichste von Paris, war das Café des Aveugles. Dasselbe befand sich in einem unterirdischen Geschoß des Palais Royal und verdankte seinen Namen dem Orchester, das allabendlich hier spielte. Es bestand nämlich aus lauter Blinden. Sie kamen jeden Abend mit dem Omnibus aus der Blindenanstalt und geigten, flöteten und posaunten ihre altfränkischen Stücke. Zwischen diesen musikalischen Leistungen, die sehr solide Ohren voraussetzten, ließ sich auch eine andere Musik hören, die noch viel solidere Ohren voraussetzte, da sie wie ein heftiges Donnerwetter in die Gehörorgane schmetterte. Ein als Wilder costümirter Mann in Tricot und mit einer hohen bunten Federkrone auf dem Kopfe erschien alle zehn Minuten gleich einem Deus ex machina und schlug fünfzehn Trommeln auf einmal. So plötzlich wie er kam, verschwand er auch wieder und ließ das Publicum, das fast ausschließlich aus Provinzialen und Ausländern bestand, verblüfft und betäubt zurück. Zum Schlusse producirte sich ein Bauchredner und sprach verschiedene Dialoge. Während mehrerer Menschenalter wurde dieses Programm ohne die geringste Abänderung allabendlich ausgeführt.

[313] 

Die ersten Maiglöckchen.
Originalzeichnung von Knut Ekwall.

[314] Am Ende aber gab es in diesem Kaffeehause mehr Blinde als Sehende und fast mehr Trommeln als Ohren. Durch die Belagerung von Paris ward es vollends zu Grunde gerichtet und genöthigt, seine Pforten zu schließen. Die Blinden unternehmen nicht mehr ihre abendlichen Omnibusfahrten, und was aus dem Wilden mit den fünfzehn Trommeln und dem Bauchredner geworden, das wissen die Götter.

Vielleicht wissen die Götter auch, was am Ende aus den vielen Sängern und Sängerinnen wird, die sich jeden Abend in den Cafés-chantants, und zwar während der schönen Jahreszeit in den Elysäischen Feldern und während der rauhen im Innern der Stadt hören lassen. Gar viele dieser lyrischen Künstlerinnen haben eine dunkle Vergangenheit. Unter Ersteren aber giebt es manches verfehlte Genie, manchen Conservatoriumsschüler, von dem man sehr viel erwartete und der den Erwartungen so wenig entsprach, daß er statt der erhofften hunderttausend Franken jährlicher Gage sich mit dem hundertsten Theil begnügen muß und statt, wie er sich einst geschmeichelt, vor gekrönten Häuptern zu singen und von feinen mit Glacéhandschuhen bekleideten Händen applaudirt zu werden, seine zerbrochenen Triller vor der kleinen Bourgeoisie spinnen muß und von Händen bekatscht wird, die niemals Handschuhe getragen und nur oberflächlich gewaschen sind. Indessen kommt es auch vor, daß in diesen Anstalten ein bedeutendes lyrisches Naturtalent entdeckt wird, welches seinen eigenen Werth nicht kennt, von dem glücklichen Entdecker herangebildet wird und dann auf den größten Scenen Europas die Kunstfreunde in Flammen setzt.

Jedes Café-chantant hat eine kleine Bühne, oder wenigstens eine Estrade, auf der nicht nur Sänger und Sängerinnen, sondern auch Schauspieler und Schauspielerinnen ihr Talent zum Besten geben. Es leben in Paris Hunderte, ja Tausende solcher Künstler untergeordneten Ranges. Auf welche Weise enden dieselben? Diese Frage ist schon oft aufgeworfen, aber von Niemandem beantwortet worden. Sie gleichen darin den Spatzen, die man überall in großer Menge sieht und von denen ebenfalls kein Sterblicher weiß, wie sie ihr Leben beschließen. Paris ist ein Ocean. Man kann hier auf tausendfache Art spurlos zu Grunde gehen. Die Verschwundenen lassen keine Lücke zurück.

In den Pariser Vorstädten giebt es sehr viele Kaffeehäuser, wo Getränke von höchst räthselhafter Mischung verabreicht werden, wo der Kaffee weder von Java, noch von Martinique stammt, wo man den Traubensaft erst tausend widrigen Proceduren unterwirft, bevor er der Kundschaft dargeboten wird, und wo in den geistigen Getränken alle Geister herrschen, nur kein guter. Diese Anstalten bilden die Zufluchtsstätten der Armuth und des Elends. Sie sind schlecht beleuchtet und die ganze Einrichtung, wenn hier von Einrichtung die Rede sein kann, entspricht vollkommen dem Stande und dem Zustande der Besucher. Und dennoch gehören diese Anstalten nicht zu den widrigsten. In den alleräußersten Stadttheilen von Paris findet man Kaffeehäuser, in denen neben der Armuth auch das Verbrechen einkehrt. Dort wird der Kaffee, wie man das ekelhafte Gebräu nennt, nicht in Tassen, sondern in dicken Näpfen und der Wein in irdenen Töpfen servirt, und zwar gegen augenblickliche Bezahlung. Die Solidität der Gefäße hat den Grund in der beständigen Gefahr, der sie ausgesetzt sind; und der Wirth hat auch die allertriftigsten Gründe auf die Entrichtung der Consumtion nicht einen einzigen Augenblick zu warten. Er kennt seine Kundschaft und weiß, daß gar Mancher von ihr mit der Themis sehr über den Fuß gespannt ist. Die schmutzigen Hände, welche den Napf oder den Topf ergreifen, haben schon mit falschen Schlüsseln um Mitternacht Zimmer- und Schrankthüren geöffnet, oder sich gar mit Blut befleckt. Mehr als einer dieser Kunden hat einen Theil seines Lebens zwischen dicken Mauern zugebracht und dort auf’s Bitterste bereut – nicht vorsichtiger gewesen zu sein. Der Wirth taugt nicht mehr als die Kundschaft; das Etablissement wird daher von Polizeigehülfen überwacht, die sich in allerlei Verkleidungen unter die Gäste mischen. Diese ihrerseits sind fortwährend auf der Hut und betrachten mit Mißtrauen jedes fremde Gesicht, das sie gewahr werden.

Manche dieser Kaffeewirthschaften dienen zu Spielhöllen und suchen sich in den entferntesten und ödesten Stadtteilen, und dort in halbverfallenen Häusern, zu verstecken. Sie werden aber früher oder später doch entdeckt. Das Nest wird dann ausgehoben und das lose Gevögel in feste Käfige gethan.

Ich habe vor mehreren Jahren eine der oben erwähnten Spelunken besucht und werde niemals den Eindruck vergessen, den dieselbe auf mich machte. Das Etablissement bestand aus einem sehr weiten, sehr hohen Raume, dessen unbekleidete steinerne Mauern von Ruß angeschwärzt waren; ich vermuthe, daß sich in derselben ehemals eine Schmiedeesse befunden. Männer und Weiber verschiedenen Alters saßen auf hölzernen Bänken an langen schmutzigen Tischen, und jedes Individuum hatte einen Topf mit Wein vor sich. Auf den Gesichtern dieser Kundschaft malten sich alle Grade der Verkommenheit. Die Männer waren fast ausschließlich in Blousen mit schlecht zusammengeflickten Lappen gekleidet; die Frauen trugen sämmtlich als Kopfbedeckung ein baumwollenes, über der Stirn geknüpftes Tuch, dessen ursprüngliche Farbe selbst das geübteste Auge nicht mehr entdecken konnte. Ekelhafte Ausdünstungen und Tabaksqualm verpesteten die Luft, so wie der Gesang der Einen, das Geschrei der Anderen und das Klappern der Töpfe das Ohr beleidigten. Die sehr zahlreiche Gesellschaft gehörte größtentheils zum Stande der Chiffonniers, der Lumpensammler, dem letzten aller Stände, in welchen sich alle Hungerer und Lungerer, alle verfehlten Menschen und sehr oft bestrafte Verbrecher flüchten.

Ich hatte mich in einem Winkel an einen Tisch gepflanzt und dachte nur daran, wie ich mit Glimpf wieder in’s Freie kommen könnte, zumal sich viel neugierige und verdrossene Blicke auf mich richteten, als ein alter Mann, der mir gegenüber saß, auf’s Lebhafteste meine Aufmerksamkeit erregte. Er trug einen alten schwarzen Leibrock und einen alten Seidenhut, der bereits stark in’s Roth schillerte. Aber nicht nur durch seine Kleidung, sondern auch durch seine Physiognomie zeichnete er sich vor den übrigen Gästen aus. Das Elend hatte in seinen Gesichtszügen stark gewühlt; doch verriethen dieselben einen Mann, der nicht zu dieser Gesellschaft paßte. Er wurde auch von seiner Tischnachbarschaft mit einer gewissen Ehrfurcht behandelt. Sie nannten ihn „Docteur“. Sein Nachbar zur Rechten ersuchte ihn um ein Mittel gegen ein hartnäckiges Halsleiden, worauf der Alte erwiderte, er würde ihm ein solches verschreiben. In seiner Aussprache glaubte ich einen leichten deutschen Accent wahrzunehmen. Ich hatte mich nicht getäuscht. Auf meine Frage, ob ich einen Landsmann in ihm gefunden, antwortete er sogleich in deutscher Sprache, und ich erfuhr von ihm, daß er wirklich Arzt sei, daß er in Heidelberg das Doctorexamen trefflich bestanden und sein Diplom erhalten habe. Ich bat ihn, mit mir in’s Freie zu gehen. Er zögerte einen Augenblick, willigte aber endlich ein, und zu meinem Erstaunen sah ich jetzt, daß er Holzschuhe trug.

Sobald wir die abscheuliche Kneipe verlassen hatten, sagte ich ihm, daß keine blöde Neugierde, sondern eine aufrichtige Theilnahme meinen Wunsch veranlaßt, mich ungestört mit ihm zu unterhalten.

„Sie sehen in mir eine Menschenruine,“ begann er, indem er die tiefgefurchte Stirn zusammenzog; „aber seien Sie fest überzeugt, daß keine schlechte Handlung mich in den Abgrund gestürzt, in welchem sie mich sehen. Es hat mir weder an Wissen, noch an gutem Willen gefehlt, mir eine geachtete Stellung zu erwerben, sondern an Muth und Gewandtheit. Mit geringen Mitteln, aber voll Hoffnung kam ich nach Paris und zweifelte nicht, bald ein glänzendes Ziel zu erreichen. Ich hatte nicht bedacht, daß in dieser Weltstadt das Wissen und das Talent allein nicht genügen, daß man eine außerordentliche Energie besitzen müsse, um sein Talent und sein Wissen geltend zu machen. Meine Geldmittel waren bald erschöpft. Ich war daher genöthigt, meine Möbel zu verkaufen, meine Wohnung in der Rue Vivienne zu verlassen und ein möblirtes Zimmer im Faubourg St. Denis zu beziehen. Auch dort gelang es mir nicht, eine Praxis zu erwerben. Statt nach allen Enden und Ecken zu laufen, mir Eingang in viele Familien zu verschaffen, mich von Freunden empfehlen zu lassen und mich selber zu empfehlen, blieb ich zu Hause oder studirte in den Bibliotheken, sowohl um meinen Wissensdrang zu befriedigen, als auch meine traurige Lage zu vergessen. Dieselbe erregte nach und nach in mir ein unbezwingliches Schamgefühl, das mich menschenscheu machte. Dadurch sank ich immer tiefer, und seit Jahren lebe ich abgeschieden in diesem [315] Stadttheile unter verworfenem Gesindel. Ich bin ein morsches Wrack, das der brausende und tobende Ocean an eine öde Küste geschleudert.“

Im Laufe des Gesprächs erfuhr ich von dem Unglücklichen, daß er schon seit einer Reihe von Jahren nicht mehr den schmutzigen Stadttheil verlassen, aus Furcht, Jemandem zu begegnen, der ihn früher gekannt, und daß er seinen Namen geändert, damit man ihm niemals auf die Spur komme. „Meinen wahren Namen,“ schloß er mit einer eigenthümlich schmerzlichen Betonung, „meinen wahren Namen wird man selbst nach meinem Tode nicht erfahren.“ –

Ich sah diesen Mann nicht wieder. Was ist aus ihm geworden? Vielleicht weiß es Niemand; vielleicht hat es Niemand wissen wollen.




Blätter und Blüthen.


Carl August, der fürstliche Freund Goethe’s, war nicht nur ein ungewöhnlicher, über seiner Zeit stehender Regent und ein umsichtiger, tapferer Feldherr, was sein schwieriger, mit großer Gewandtheit ausgeführter Rückzug von 1806 beweist, er war auch ein liebenswürdiger Gast, ja, ein einfacher Hausfreund, frei von aller fürstlichen Grandezza. So kehrte er gern in der wahrhaft adeligen Familie des Präsidenten v. Z. ein. Hier neckte er sich besonders gern mit der liebenswürdigen und schlagfertigen Frau des Hauses. Ein Husar pflegte ihn da anzumelden, oft kurz vor seinem Eintreffen. So im Sommer 1825.

Die Familie v. Z. lebte auf ihrem ländlichen Gutssitze zu V. Es war ein schöner, warmer Tag, und die zahlreiche Familie sowie ein Gast, eine jener ungewöhnlichen Frauen aus dem damals schon fast ausgestorbenen Kreise in Weimar, bewegten sich heiter, behaglich in den schattigen Gängen des Parkes, als der bekannte rothe Husar Vormittags nach elf Uhr anritt und ein paar Zeilen brachte, welche den Großherzog von Weimar für ein einfaches Mittagsbrod anmeldeten. „Mein Gott,“ rief die Hausfrau, welche sonst nicht gleich das Concept verlor, „ich habe fast gar nichts im Hause, und gegen ein Uhr will der Großherzog kommen. Um zwei Uhr erwartet er bei uns das Mittagsbrod.“

Die eben noch im großen, schönen Parke gar bewegliche, heiter lebendige Gesellschaft wurde plötzlich stumm, und Jeder zog sich bedenklich in das Haus, in sein Zimmer zurück.

In dem Speisegewölbe prasentirt sich ein Küchen-Solitär – aber ein einziger – ein Rehrücken: – sonst, da und dort – nur Neigen, Ueberreste für das gerade heute sehr bescheidene Mittagsmahl der Hausgenossen. Und ein Großherzog will heute hier zu Mittag essen. Arme Hausfrau!

Gegen ein Uhr kam der alte fürstliche Herr, wie gewöhnlich in seiner grünen, einfachen Pikesche auf der sehr schlichten, harten Jagddroschke mit den zwei russischen Rappen. Der hochbejahrte, noch gar rüstige Herr war hier wie ein alter Bekannter, aber stets ritterlich gegen die Frauen. So saß er später auch mit einem Herrn v. F., den er mitbrachte, an der Tafel, um welche die ganze Familie versammelt war. Die Suppe war abgetragen; der Diener brachte den Rehrücken, diesen Retter in der Noth, und begann an einer Nebentafel zu tranchiren; aber er hatte kaum drei oder vier Stückchen gelöst, als unter dem ungeschickt geführten Messer der Braten vom glatten Teller ausrutscht und in das Zimmer fährt. So lag der einzige Braten des Hauses am Fußboden. Nur die paar von ihm schon abgeschnittenen Stückchen waren gerettet. Was sollte da, auf dem Dörfchen ohne Fleischer, bei den uns bekannten Speisevorräthen geschehen, jetzt noch geschehen? – die Frau des Hauses zuckte zusammen; sie wurde roth und bleich – doch nur einen Augenblick verlor sie die Geistesgegenwart.

„Walther,“ so hieß der Diener, „traget schnell den verunglückten Braten hinunter und lasset Euch den andern geben!“ rief sie und bat den Großherzog um Verzeihung wegen des nun zu erwartenden Aufenthaltes.

Sie schien ruhig; aber was mochte die arme Hausfrau bestürmen! Würde die Köchin so klug sein und die Absicht der Herrin verstehen, den verunglückten Braten säubern, neu zurichten und anständig zurückschicken?

Der Großherzog schien nichts zu bemerken, scherzte und erzählte allerliebst. Da brachte endlich der Diener wirklich den neu zugestutzten Rehrücken wieder und begann von Neuem zu tranchiren. Der Großherzog aber drückte die Hand der Frau Präsidenten und sprach ganz harmlos:

„Liebe Lonny,“ so hieß die Frau des Hauses, „ich bitte mir von der ersten Edition aus.“ Er hatte die Kriegslist der Hausfrau bemerkt, während die übrige Gesellschaft die ihr unbegreifliche Geschichte ängstlich abwartete.

Als später der fürstliche Herr Abschied nahm, schüttelte er der Frau des Hauses die Hand und rief lächelnd:

„Wie gut, liebe Lonny, daß es auch Esel in der Welt giebt! Ohne Ihren geschickten Speisemeister käme ich nicht so stolz auf Sie und nicht so wohl zufrieden mit mir nach Hause.“ Gar rüstig bestieg der Greis seine einfache harte Droschke und fuhr rasch hinweg.
A. Sr.

Ludwig Giesebrecht. Ein Dichter ist gestorben. Ludwig Giesebrecht ist, einundachtzig Jahre alt, am 18. März dieses Jahres zu Jasenitz bei Stettin sanft entschlafen. So fest, so sicher seine Handschrift bis zu seinem Lebensende war, so fest, so klar war sein Charakter, so entschieden ausgeprägt sein Denken und Handeln.

Im Jahre 1836, als der Dichter bereits vierundvierzig Jahre zählte, erschien die erste Auflage seiner Gedichte, der dreißig Jahre später die zweite reich vermehrte und mit biographischen Zwischenbemerkungen versehene folgte – um, wie jene erste, von der großen Menge unbeachtet gelassen zu werden. Wohl schrieb er mir im Jahre 1867: „Ganz so vergessen bin ich wohl nicht, wie Sie es sich vorstellen. Nur die Journalistik hat mich nicht begünstigt, und das ist meine Schuld; ich habe keine Zeit und keine Neigung gehabt, mich als Mitarbeiter an Zeitschriften allgemeinen Inhalts zu betheiligen, ungeachtet ich mehrfach dazu aufgefordert bin.“ In einem andern Briefe fügte er hinzu: „Der Dichter, der Schriftsteller überhaupt, soll, meines Erachtens, kein Paradiesvogel sein, der nur in der idealen Welt schweben und seinen Fuß nicht auf den Boden des wirklichen Lebens setzen will. Ich war im verwichenen Sommer in Nürnberg; ich sah das Haus, in dem Hans Sachs seine Schuhe und seine Gedichte gemacht hat. Es war ein unscheinbarer Bau, noch unscheinbarer, als das Haus Albrecht Dürer’s; aber die beiden Wohnungen haben mich doch sehr bewegt. Wie waren die beiden Meister doch zugleich mitten im zünftigen Handwerk und auf den Höhen der Kunst! Es ist nicht gut, daß wir in unserer Zeit das trennen wollen etc. Sehen Sie, lieber Freund, so denkt ein alter Mann, der nicht an der Spitze der Bewegung unserer Zeit geht, sondern bescheidentlich unter den Zuschauern seinen Platz hat.“

Er ist zu Jasenitz, dem in seinen Gedichten ein ganzes Buch gewidmet ist, bei seiner verwittweten Tochter, der er so liebliche Lieder sang, gestorben. Von dem Schlosse dort, wo er zuletzt gelebt, sang er:

Hier unter hatten vormals ihre Zellen
Gestrenge Chorherrn, die der Welt entsagt;
Von Liebe nicht umjauchzt und nicht umklagt,
Trat keines Weibes Fuß auf diese Schwellen.
Und oben hat einst auf hochgeh’nden Wellen
Der Sinnenfreude, keck und unverzagt,
Ein fürstlich Weib es mit der Welt gewagt;
Auch sie drang nicht bis zu der Liebe Quellen. –
Nun in dem untern mönchischen Gebäu
Seh’ ich als Hausfrau meine Tochter walten
Mit Mann und Kindern, liebend und geliebt,
Und oben ist das Gastgemach des Alten.
Entweicht, der Vorzeit Schatten, und zerstiebt!
Allleben wogt: Schloß Jasenitz ward neu.

Während Giesebrecht als Kind in einer fürstlichen Wiege geschaukelt wurde, die seine Mutter als Ehrengeschenk erhalten, hat er in dem Zimmer gelebt und mag auch da gestorben sein, in dem Elisabeth, die Gemahlin Friedrich Wilhelm des Zweiten, als Geschiedene ihre Tage verbrachte, bis sie nach Stettin übersiedeln durfte, wo man der kleinen unscheinbaren Dame noch in den dreißiger Jahren oft in den Anlagen vor den Thoren begegnete. Giesebrecht war fünfzig Jahre Lehrer am Gymnasium zu Stettin, wo er mit dem Balladencomponisten Löwe in intimer Freundschaft lebte. Als Geschichtsschreiber ist er durch seine „Wendischen Geschichten“ besonders bekannt geworden, wie er denn für den Verein für baltische Geschichte und Alterthumskunde vielfach thätig gewesen ist. Sein ehrenfestes Verhalten als Abgeordneter im Frankfurter Parlament ist bekannt. Selbst seine Feinde konnten ihm die Achtung nicht versagen. In Bezug auf religiöse Ansichten und Streitigkeiten, unter denen ja auch er zu leiden hatte, äußerte er: „So lange das Ministerium Altenstein waltete, blieben dogmatische Unterschiede dem Glauben und Gewissen des Einzelnen anheimgegeben. Anders unter seinen Nachfolgern. Die Kirche und das geistliche Amt erheben früher nicht gemachte Ansprüche, und die Staatsregierung begünstigt sie.“

Es ist gut, gegenwärtig an solche Worte von damals zu erinnern.

Friede ihm!
F. Brunold.

Eine Forderung der Menschlichkeit. Unsere deutschen Eisenbahnen lassen in Bezug auf bequeme Einrichtung Manches zu wünschen übrig; doch würde es schwer fallen, aus der Beschaffung größeren Comforts geradezu eine gesetzliche Verpflichtung zu machen. Ein Ding aber giebt es, dessen Vorhandensein unbedingt gefordert werden kann, weil es der Befriedigung eines unabweisbaren Bedürfnisses dient, das ist – ein Brunnen auf jeder Station, welcher, sofort in die Augen fallend und leicht zugänglich, dem reisenden Publicum Gelegenheit bietet, seinen Durst mit dem natürlichsten Getränk zu stillen und – was jedem an Reinlichkeit gewöhnten Menschen fast ebenso großes Bedürfniß ist – sich von Zeit zu Zeit die Hände zu waschen. Brunnenanlagen haben ja wohl sehr viele Bahnhöfe, aber dieselben liegen in der Regel ganz versteckt und sind daher von dem Fremden nicht aufzufinden; außerdem sind sie gewöhnlich nur für den Gebrauch der Bahnhofsbewohner bestimmt und gegen die allgemeine Benutzung theilweise sogar unter Verschluß gelegt. Wer aber einmal, insbesondere mit Frau und Kindern, einen ganzen Tag bei drückender Sommerhitze auf der Eisenbahn gefahren ist, der weiß, welche Qualen der Durst, nach raschem Verbrauche der vorsorglich mitgenommenen Getränke, namentlich den Kleinen verursacht. Mit Bier denselben zu löschen, dem gewöhnlichen Mittel, wozu die Bahnhofsrestaurationen und ihre „fliegenden“ Kellner Gelegenheit: bieten, erweist sich sehr bald, namentlich für Kinder, als gänzlich verfehlt; denn nach kurzer, augenblicklicher Befriedigung kehrt der Durst nur in verdoppeltem Grade wieder – darauf scheint ja leider die Zubereitung unsere heutigen Lagerbiere berechnet zu sein. Wasserflaschen aber findet man weder in den meisten Restaurationszimmern, noch auf den Servirtellern der Kellner, und jede Nachfrage nach Wasser kann meist nur auf ein mitleidiges Lächeln von Seiten der Letzteren rechnen, welches besagen soll, daß Restaurationen und Kellner nicht dazu da sind, dem Publicum Wasser zu liefern. Dies kann man auch von ihnen, wenigstens umsonst, nicht verlangen, recht wohl aber von den Bahnverwaltungen, für die es unbedingt zur gesetzlichen [316] Vorschrift gemacht werden sollte, jeden Bahnhof mit einem für den Gebrauch des reisenden Publicums bequem gelegenen und gut eingerichteten Brunnen zu versehen. Schreiber dieser Zeilen hat auf seinen Reisen vorläufig nur einen Bahnhof kennen gelernt, welcher sich dieser öffentlichen Wohlthat erfreut, das ist der zu Altenburg, und er passirt diese Station im Sommer nie, ohne auszusteigen und wenigstens den Händen ein erquickendes Wasserbad zu gönnen. Namentlich auch im Interesse der unbemittelten Reisenden, welche oft ihren letzten Groschen für die Fahrkarte aufwenden, muß es geradezu eine Forderung der Menschlichkeit genannt werden, daß denselben auf einer Eisenbahnfahrt die Möglichkeit geboten sei, wenigstens mit einem frischen Trunke Wasser ihren Durst zu löschen.


Bitte und Notiz in der Vermißten-Angelegenheit. Der große Krieg hat zuerst der Fortführung unserer Vermißten-Listen Einhalt gethan: die Listen unserer vermißten Soldaten nahmen ihre Stelle ein und später Bitten und Quittungen in Folge von mancherlei Unglück und Noth. Jetzt, nachdem auch die Nachwellen der großen Zeit allgemach tiefer gehen, mahnt ein währenddeß angeschwollener Stoß von in diesem Augenblicke eintausendzweihundertneunundsechzig Briefen von Aufrufen nach Vermißten an seine Erledigung.

Es ist wohl Jedem einsichtlich, daß es für eine Wochenschrift von dem beschränkten Raume der Gartenlaube geradezu unmöglich ist, diese ganze Briefmasse mit allen ihren Wünschen und Bitten Blatt um Blatt zu berücksichtigen. Wir können nur das Dringendste, Unabweisbarste daraus wählen und müssen dabei namentlich den Armen und Alten, die sich nicht selbst anders helfen können, den Vorzug geben. Eine große Anzahl der Briefe rührt noch von den Jahren 1870 und 1871 her. Gewiß hat mancher damals Vermißte sich seitdem gefunden. Solche Fälle bitten wir uns anzuzeigen, damit wir nicht noch nachträglich vergebliche Aufrufe erlassen.

Wir würden es vor unseren Lesern schwerlich verantworten können, wollten wir zur Abwickelung dieser Angelegenheit selbst in dem beschränkteren Maße unser Blatt in jeder Nummer spaltenweise verwenden. Es ist uns deshalb erfreulich, daß für alle in Nordamerika vermißten Landsleute uns die Umschläge unserer sehr verbreiteten amerikanischen Heftausgabe der Gartenlaube zur Verfügung stehen. Da gerade dort die meisten Verschollenen gesucht werden, so wird die Aufgabe, nach den Vermißten in der übrigen Welt zu fragen, der Gartenlaube wesentlich erleichtert.

Die Erfolge der Nachforschungen sollen indessen stets in der Gartenlaube selbst angezeigt werden.


Jacob Friedrich Fries’ hundertjähriger Geburtstag. Es war nicht blos eine große Zeit Jena’s, sondern des philosophischen Geistes in Deutschland überhaupt, als Männer wie Reinhold, Fichte, Schelling, Fries, Schiller, Oken, Luden etc. in Jena neben gleich würdigen Kräften anderer Facultäten gemeinsam wirkten. Während das politische Deutschland immer kläglicher zerfiel und tiefer versank, reinigten, stärkten und erhoben jene Männer den deutschen Geist für die folgenden Kämpfe, sie rüsteten die Jugend mit dem Muthe der Idee aus, welcher zu den schönsten Thaten und Opfern der Befreiungskriege führte. Zu den verehrtesten Führern jener Jugend gehörte Fries. Am 23. August 1773 zu Barby geboren, betrat er mit dem Beginn unseres Jahrhunderts in Jena den philosophischen Lehrstuhl, den er zur Kanzel der Humanität und Freiheit erhob. Er war es, der mit Kiefer und Oken am Wartburgfeste Theil nahm und die alte Lutherstätte als „der Weihe Boden“, die Gründung der Burschenschaft aber als die zweite große That der deutschen akademischen Jugend nach ihrem Heldenkampfe auf den Schlachtfeldern pries. Es war daher nichts natürlicher, als daß er dem „tollen Jahre 1819“ sofort zum Opfer fiel; er wurde von seinem Lehramt suspendirt; auch er, einer der größten Philosophen aller Zeiten, wurde vom Bundestag, der erbärmlichsten Behörde aller Jahrhunderte, für unfähig erklärt, philosophische Vorlesungen auf der Universität zu halten. Nur den Lehrstuhl für Physik und Mathematik ließ man ihm, weil er da politisch nichts verderben konnte. So wirkte denn der Mann als Schriftsteller fort; erst wenige Jahre vor seinem Tode gestattete man ihm, wieder Vorträge über speculative Philosophie zu halten. Es war kein großes Wagestück, diese gnädigste Erlaubniß: der verehrungswürdige Weltweise war nicht mehr gefährlich; er war seinem siebenzigsten Jahre nahe gekommen und starb in demselben am 10. August 1843.

Die Feier des hundertjährigen Geburtstages eines Mannes, welcher zu den größten deutschen Gelehrten und den tapfersten Kämpfern für Deutschlands Ehre und Freiheit gehört, ist eine deutsche Nationalpflicht; an der Universität Jena oder an Weimar aber ist es, dazu den geschäftlichen Aufruf zu erlassen.
Fr. Hfm.

Alfons Dürr und Jul. Lohmeyer, die beiden Herausgeber der illustrierten Monatshefte „Deutsche Jugend“, haben ihre Zusage beim Beginn des Unternehmens: das Beste darzubringen, was Poesie und Kunst für die Jugend gemeinsam leisten können, auf das Glänzendste in Erfüllung gebracht und in Wirklichkeit eine Jugendschrift geschaffen, die, den Bedürfnissen der Kinderwelt angepaßt, nach allen Seiten hin erziehend und bildend wirkt und selbst den Erwachsenen durch ihre trefflichen künstlerischen Leistungen eine wahre Augenfreude geworden ist. Der jetzt vorliegende geschlossene erste Band der Zeitschrift enthält poetische und prosaische Beiträge von Groth, H. Kletke, Möricke[WS 1], Reiß, Simrock, Sturm, Traeger, etc. etc., die meist von wahrhaft künstlerischen Illustrationen der Meister Paul Thumann, Guido Hammer, L. Pletsch, L. Richter etc. begleitet sind. Das Unternehmen hat sich heute schon einen großen Leserkreis erworben und wird sich unzweifelhaft immer mehr in der Kinderstube einbürgern.




Maiglöckchen.

(Mit Abbildung S. 313.)

     „Ei, was fand ich! Mama, sieh’!
     Blümlein! Und wer brachte die?“

Süßer Schelm, die bracht’ der Frühling,
Schmückte prangend rings die Welt –
Und du stiehlst ihm seine Blüthen,
Kleiner Tolpatsch, Springinsfeld?

     „Sag’ – Herr Frühling, wer ist der?
     Das ist wohl ein großer Herr?“

Mächt’ger Herrscher ist Herr Frühling ;
Ihm gehört die weite Flur,
Und wer ihn bestiehlt, den straft er – –
Horch! Da kommt er – warte nur!

     „Ist Herr Frühling böse?
     Sprich! Mama, o dann fürcht’ ich mich!“

Thränen? Nein, Du sollst nicht weinen!
An mein Herz. Du liebes Kind!
Hörst Du? In den Zweigen leise
Spricht Herr Frühling aus dem Wind.

     „Sag’ mir, was Herr Frühling spricht!
     Mamachen, er zürnt doch nicht?“

Meine Blumen, spricht er, sollst du
Kecklich tragen an dem Hut
Und dir merken, daß Herr Frühling
Freundlich ist und mild und gut.

     „Mama, ruf’ ihn her zu mir!
     Geb’ ihm gleich ein Küßchen hier.“

Alle Kinder hat er gerne.
Ist ja ewig selbst ein Kind,
Doppelt gerne, wenn sie immer
Frisch und gut und fröhlich sind.




Kleiner Briefkasten.

Herrn E. P. in Dresden. Ihr Wunsch soll erfüllt werden, nur nicht in der ausführlichen Weise Ihrer Eingabe. Wenn die Herzen noch dankbar an der alten Erinnerung hängen, werden dazu die nachstehenden Zeilen genügen.

Am 27. October dieses Jahres feiert die „Lehr- und Erziehungsanstalt zu Friedrichsstadt Dresden“, im Volksmund das „Dresdner Freimaurer Institut“ genannt, ihr hundertjähriges Jubiläum. In diesen hundert Jahren haben dreitausendeinhundertdreißig Zöglinge in dieser wohlthätigen Stiftung (die ihre trefflichen Einrichtungen und Bildung für reale Berufszwecke auch zahlungsfähigen Kostgängern und Tagesschülern eröffnet) unentgeltliche Erhaltung und Erziehung genossen. Es ist nun der Wunsch alter Dresdner Genossen und Angehöriger dieser Anstalt, den siebenundzwanzigsten October dieses Jahres festlich zu begehen und möglichst viele der ehemaligen Zöglinge dieses Freimaurer-Instituts dazu in Dresden anwesend zu sehen. Anmeldungen oder sonstige Zuschriften und Zusendungen derselben sind an die Herren Braumeister Ottomar Glöckner, unterer Kreuzweg Nr. 6, und Hofkürschnermeister W. A. Schmidt, Rosmaringasse Nr. 8, in Dresden zu richten.

E. W. in New-York. Wir können Ihnen nur die seit April vorigen Jahres erscheinende Monatsschrift: „Die Perle, Musterblätter für Juweliere und Goldarbeiter. Entworfen, bezeichnet und herausgegeben von Martin Gerlach“, ein ausgezeichnetes Unternehmen, empfehlen. Wir haben die bis jetzt erschienenen neun Hefte eingesehen und waren überrascht von der originalen, echt künstlerischen Erfindung der einzeln abgebildeten Gegenstände, wie von dem vortrefflichen Buntdruck, dessen technische Schwierigkeiten in der glücklichsten Weise gelöst erschienen. Es ist nur zu wünschen, daß bei unsern Kunstgewerben Vorlagen, wie die hier gebotenen, immer fleißiger benutzt werden: es wäre der beste Weg, unsere Abhängigkeit vom Auslande auf diesen Gebieten mit der Zeit gänzlich verschwinden machen.

Ger.-R. N. in V-tz. Auch uns hat das Bild, namentlich die xylographische Ausführung desselben, nicht gefallen, aber wir hatten triftige Gründe, es der Beurtheilung des Publicums zu unterbreiten, und bereuen es heute durchaus nicht, diese Be- und Verurtheilungen hervorgerufen zu haben.

M. in Gbg. Wir kennen die Schriften der in Nr. 14 auf eine Anfrage von Baltimore erwähnten süddeutschen Schriftstellerin auch nicht näher und haben in Katalogen nur gefunden, daß dieselbe vor längeren Jahren Gedichte und kleinere Erzählungen herausgegeben hat, die, an sich ganz lesbar, in dem allgemeinen großen Strome der Literatur ohne große Beachtung untergegangen sein mögen.

A. M. in N. Sie wünschen ein Bild zu besitzen, welches die große nationale Bewegung von 1870 und 1871 in monumentaler Weise verherrlicht. Ihrem Wunsche dürfte keine zeichnerische Darstellung besser entsprechen, als Professor Ille’s „Die Wacht am Rhein“. Dieses Bild, welches die deutschen Helden des großen Krieges und einige Typen aus dem Volke auf einer gruppenreichen, halb historisch, halb allegorisch gehaltenen Wandtafel darstellt, bildet das Schlußtableau zu des Künstlers oft besprochenen Cyklus „Bilder aus deutscher Sage und Geschichte“.


  1. Fekih, eigentlich Schriftgelehrter, Gesetzkundiger, aber oft für Magier, Astrolog etc. gebraucht.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Mörecke