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Die Gartenlaube (1876)/Heft 28

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1876
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 28.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     


Vineta.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


„Um nun aber wieder auf den Anfang unseres Gespräches zurückzukommen –“ sagte er zögernd. „Sie geben es ja selbst zu, daß mein Zögling mir völlig entwachsen ist, und es dürfte somit wohl die höchste Zeit sein, ihn auf die Universität zu senden.“

Herr Witold fuhr mit einem Rucke in die Höhe, daß der Erzieher den eben gethanen Schritt zur Annäherung schleunigst wieder zurückthat.

„Dachte ich es doch, daß wieder so etwas herauskommen würde! Seit vier Wochen höre ich nichts Anderes von Ihnen. Was soll Waldemar auf der Universität? Sich von den Professoren den Kopf noch mehr mit Gelehrsamkeit vollpfropfen lassen? Ich dächte, das hätten Sie schon hinlänglich besorgt. Was ein tüchtiger Gutsherr braucht, hat er gelernt. Er weiß auf Hof und Feldern genau so gut Bescheid, wie mein Inspector; die Leute versteht er besser in Respect zu halten als ich, und im Reiten und auf der Jagd thut es ihm Keiner zuvor. ’s ist ein Prachtjunge.“

Der Erzieher schien diese enthusiastische Ansicht über seinen Zögling durchaus nicht zu theilen. Er wagte das nun freilich nicht laut werden zu lassen, aber er raffte seinen ganzen, offenbar nicht großen Vorrath von Muth zu einer schüchternen Gegenrede zusammen.

„Aber für den Erben von Wilicza dürfte doch am Ende mehr nothwendig sein, als nur die Eigenschaften eines guten Inspectors oder Administrators. Mir scheint, eine höhere akademische Bildung dringend wünschenswerth.“

„Mir ganz und gar nicht,“ rief Herr Witold. „Ist es nicht genug, daß ich den Jungen, der mir an’s Herz gewachsen ist, doch später von mir lassen muß, weil seine Güter gerade in dem verwünschten Polakenlande liegen? Soll ich mich jetzt schon von ihm trennen, um ihn auf die Universität zu schicken, wohin er durchaus nicht will? Daraus wird nichts – absolut nicht! Er bleibt hier, bis er nach Wilicza geht.“

Er that einige so grimmige Züge aus seiner Pfeife, daß sein Gesicht für mehrere Minuten gänzlich hinter den Tabakswolken verschwand. Der Erzieher stieß einen Seufzer aus und schwieg, aber gerade diese stille Resignation schien den tyrannischen Gutsherrn zu rühren.

„Geben Sie sich nur zufrieden, Doctor, mit der Universität!“ sagte er in ganz verändertem Tone. „Dazu bringen Sie den Waldemar doch nun und nimmermehr, und für Sie ist es auch viel besser, Sie bleiben hier in Altenhof. Hier sitzen Sie so recht mitten unter Ihren Hünengräbern und Runensteinen und wie das Zeug alles heißt, an dem Sie den ganzen Tag herumstudiren. Ich begreife freilich nicht, was Sie an dem alten Heidengerümpel Merkwürdiges finden, aber eine Freude muß der Mensch haben, und Ihnen gönne ich sie von Herzen, denn Waldemar macht Ihnen oft genug das Leben schwer – und ich dazu.“

Der Doctor machte eine verlegen abwehrende Bewegung. „O, Herr Witold!“

„Geniren Sie sich nicht!“ sagte dieser gutmüthig. „Ich weiß ja doch, daß Sie im Grunde unser Leben hier für eine ganz heillose Wirthschaft halten, und uns längst davon gelaufen wären, wie Ihre sechs Vorgänger, wenn nicht das alte Heidengerümpel wäre, an dem nun einmal Ihr ganzes Herz hängt, und von dem Sie sich nicht trennen können. Nun, Sie wissen ja, ich bin nicht so schlimm, wenn ich auch hin und wieder einmal auffahre, und da Sie mit Ihren Gedanken doch fortwährend in der Heidenzeit herumstöbern, müßte Ihnen eigentlich bei uns am wohlsten sein. Wie ich mir habe sagen lassen, hatten die Leute damals gar keine Manieren; sie schlugen sich oft aus reiner Freundschaft unter einander todt.“

Dem Doctor schienen die historischen Kenntnisse, die der Gutsherr entwickelte, doch wohl etwas bedenklicher Natur; vielleicht fürchtete er auch eine praktische Anwendung derselben auf seine eigene Person, denn er retirirte unmerklich nach dem Sopha.

„Verzeihen Sie, die alten Germanen –“

„Waren nicht wie Sie, Doctor,“ rief der Gutsherr, dem das Manöver nicht entgangen war, überlaut lachend. „So viel weiß ich auch noch. Ich glaube, von uns Allen kommt ihnen Waldemar am nächsten, also begreife ich gar nicht, was Sie eigentlich an ihm auszusetzen haben.“

„Aber, Herr Witold, im neunzehnten Jahrhundert – weiter kam der Doctor nicht in seiner Auseinandersetzung, denn in diesem Augenblicke krachte ein Schuß, der unmittelbar vor dem offenen Fenster abgefeuert wurde. Die Kugel pfiff durch das Zimmer, und das große Hirschgeweih, das über dem Schreibpulte hing, stürzte polternd herab.

Der Gutsherr sprang von seinem Sitze auf. „Waldemar! Was soll das heißen? Schießt uns der Junge jetzt etwa gar noch in die Stube hinein? Wart’, das Handwerk werde ich Dir legen.“

Er wollte hinauseilen, wurde aber durch den Eintritt eines [462] jungen Mannes daran verhindert, der die Thür öffnete oder sie vielmehr aufstieß, um sie dann in der rücksichtslosesten Weise wieder in’s Schloß fallen zu lassen. Er war im Jagdanzuge, hatte einen großen Jagdhund neben sich und die abgeschossene Flinte in der Hand. Ohne Gruß, ohne Entschuldigung wegen seines gewaltsamen Auftretens, ging er auf Witold zu, stellte sich dicht vor ihn hin und sagte triumphirend:

„Nun, wer hat Recht? Du oder ich?“

Der Gutsherr war wirklich zornig. „Ist das eine Art, den Leuten über die Köpfe wegzuschießen?“ rief er hitzig. „Man ist ja vor Dir seines Lebens nicht mehr sicher. Willst Du den Doctor und mich durchaus aus der Welt schaffen?“

Waldemar zuckte die Achseln. „Warum nicht gar! Meine Wette wollte ich gewinnen. Du behauptetest ja gestern, ich würde von draußen den Nagel nicht treffen, an dem der Zwölfender hängt – da sitzt die Kugel.“

Er wies nach der Wand hinauf. Witold folgte der Richtung.

„Wahrhaftig, da sitzt sie,“ sagte er voll Bewunderung und gänzlich versöhnt. „Doctor, sehen Sie nur, aber was ist Ihnen denn?“

„Herr Doctor Fabian hat wahrscheinlich wieder seine Nervenzufälle,“ sprach Waldemar höhnisch, indem er seine Flinte bei Seite stellte, aber keine Miene machte, seinem Lehrer beizustehen, der halbohnmächtig von dem Schreck in das Sopha zurückgesunken war und noch an Händen und Füßen zitterte. Der gutmüthige Witold richtete ihn auf und redete ihm nach Kräften zu.

„Erholen Sie sich doch! Wer wird denn gleich ohnmächtig werden, weil ein wenig Pulver verknallt ist; die Geschichte ist ja nicht der Rede werth. Es ist wahr, wir hatten gewettet, aber wie konnte ich denn wissen, daß der Junge die Sache auf so unvernünftige Weise in’s Werk setzen würde. Anstatt uns hinauszurufen, damit wir in aller Ruhe zusehen können, feuert er uns ohne Weiteres in die Stube hinein. – Ist Ihnen nun besser? Gott sei Dank!“

Doctor Fabian war aufgestanden und bemühte sich, sein Zittern zu beherrschen, es wollte ihm aber noch nicht gelingen.

„Sie hätten uns erschießen können, Waldemar!“ sagte er mit bleichen Lippen.

„Nein, Herr Doctor, das hätte ich nicht thun können,“ versetzte Waldemar in wenig ehrerbietigem Tone. „Sie standen mit dem Onkel vor dem Fenster zur Rechten, und ich schoß durch das zur Linken, mindestens fünf Schritt seitwärts. Sie wissen doch, ich fehle nie.“

„Künftig aber läßt Du das bleiben,“ erklärte Witold, mit einem Versuche, die Autorität des Vormundes geltend zu machen. „Der Kukuk kann doch einmal mit solcher Kugel sein Spiel treiben, und dann ist das Unglück fertig. Ich verbiete Dir einfür allemal das Schießen auf dem Hofe.“

Der junge Mann schlug trotzig die Arme übereinander. „Das kannst Du, Onkel, aber gehorchen thue ich nicht. Ich schieße doch.“

Er stand vor seinem Pflegevater wie das verkörperte Bild des Trotzes und der Unbändigkeit. Waldemar Nordeck zeigte in seinem Aeußeren den echt germanischen Typus, auch nicht der kleinste Zug erinnerte daran, daß die Mutter einem anderen Volke entstammte. Der hohe, fast riesige Wuchs überragte selbst die stattliche Gestalt Witold’s noch um einige Zoll, aber dem Körper fehlte das Ebenmaß; jede Linie trat scharf und eckig hervor. Das blonde Haar schien in seiner überreichen Fülle eher eine Last für den Kopf zu sein, denn es fiel tief in die Stirn herab und wurde von Zeit zu Zeit mit einer ungeduldigen Bewegung zurückgeworfen. Die blauen Augen hatten einen finsteren Ausdruck, und in Momenten der Gereiztheit, wie jetzt, gewann der Blick sogar etwas Feindseliges. Das Gesicht war entschieden unschön, auch hier zeigte sich jede Linie scharf, unvermittelt – nichts mehr von den weicheren Formen des Knaben, aber auch noch nichts von den festen Zügen des Mannes, der Uebergang trat hier in fast abstoßender Gestalt auf, und die Verwilderung, die sich schon in dem Aeußern des jungen Mannes kund gab, die gänzliche Hintenansetzung aller Formen, diente nicht dazu, den ungünstigen Eindruck zu verwischen, den die ganze Erscheinung machte.

Herr Witold gehörte offenbar zu jenen Menschen, deren Persönlichkeit und Auftreten eine Energie voraussetzen läßt, von der sie in Wirklichkeit auch nicht das Geringste besitzen. Anstatt dem Trotze und der Ungezogenheit seines Mündels in entschiedener Weise entgegenzutreten, fand der Herr Vormund es für gut, nachzugeben.

„Ich sagte es Ihnen ja, Doctor, der Junge parirt auch mir nicht mehr,“ meinte er mit einer Gemüthsruhe, die da zeigte, daß dies der gewöhnliche Ausgang solcher Differenzen war, und daß, wenn es dem jungen Herrn beliebte, einmal Ernst zu machen, der Pflegevater ebenso machtlos war, wie der Erzieher.

Waldemar kümmerte sich um Beide nicht weiter. Er warf sich der Länge nach auf das Sopha, ohne die mindeste Rücksicht darauf zu nehmen, daß seine vom Sumpfwasser durchnäßten Stiefeln in Berührung mit den Polstern kamen, während der große Jagdhund, der jedenfalls im Wasser gewesen war, dem Beispiele seines Herrn folgte und es sich mit der gleichen Rücksichtslosigkeit auf dem Teppiche bequem machte.

Es entstand jetzt eine etwas unbehagliche Pause. Der Gutsherr versuchte brummend seine inzwischen ausgegangene Pfeife wieder in Brand zu setzen, Doctor Fabian aber hatte sich an das Fenster geflüchtet und schickte einen Blick zum Himmel, der deutlicher als Worte aussprach, daß er das Leben hier wirklich für eine „heillose Wirthschaft“ erachtete.

Der Gutsherr hatte inzwischen nach seinem Tabaksbeutels gesucht, den er denn auch richtig auf dem Schreibpulte unter den Sporen und Reitpeitschen entdeckte. Im Begriffe, ihn hervorzuziehen, fiel ihm ein noch uneröffnetes Schreiben in die Hand; er nahm es auf.

„Das hätte ich beinahe vergessen! Waldemar, da ist ein Brief an Dich.“

„An mich?“ fragte Waldemar gleichgültig, aber doch mit jener Verwunderung, die ein ungewöhnliches Ereigniß hervorruft.

„Jawohl. Eine Krone im Siegel und ein großes Schild mit allerhand Wappengethier. Wird wohl von der Fürstin Baratowska sein. Es ist freilich lange her, seit wir mit einem allergnädigsten Handschreiben beehrt wurden.“

Der junge Nordeck erbrach den Brief und durchflog ihn. Er schien nur wenige Zeilen zu enthalten, aber trotzdem stieg auf der Stirn des Lesenden so etwas wie eine Wetterwolke auf.

„Nun, was giebt es?“ fragte Witold. „Sitzt die Verschwörergesellschaft noch immer in Paris? Ich habe den Poststempel nicht angesehen.“

„Die Fürstin ist mit ihrem Sohne drüben in C.,“ berichtete Waldemar; er schien die Bezeichnung Mutter und Bruder absichtlich zu vermeiden. „Sie wünscht mich dort zu sehen; ich werde morgen hinüberreiten.“

„Das wirst Du bleiben lassen,“ sagte der Gutsherr. „Hat sich die hochfürstliche Verwandtschaft jahrelang nicht um Dich gekümmert, so braucht sie es auch jetzt nicht zu thun. Wir fragen wahrhaftig nichts danach – Du bleibst hier.“

„Onkel, jetzt ist es genug mit dem ewigen Befehlen und Verbieten,“ brach Waldemar auf einmal mit solcher Wildheit los, daß Jener ihn mit offenem Munde anstarrte. „Bin ich ein Schulknabe, der bei jedem Schritte erst um Erlaubniß fragen muß? Habe ich mit einundzwanzig Jahren nicht einmal das Recht, selbst über die Zusammenkunft mit meiner Mutter zu entscheiden? Ich habe bereits darüber entschieden, und morgen früh reite ich nach C.“

„Nun, nun, nur nicht gleich so bärenwüthig!“ sagte Witold, mehr erstaunt als erzürnt über diesen plötzlichen Ausbruch eines Jähzorns, den er sich gar nicht erklären konnte. „Meinetwegen reite, wohin Du willst! Ich will nichts mit der Polengesellschaft zu thun haben, das sage ich Dir.“

Waldemar hüllte sich in trotziges Schweigen; er nahm seine Flinte, pfiff seinem Hunde und verließ das Zimmer. Der Vormund sah ihm kopfschüttelnd nach, auf einmal aber schien ihm ein Gedanke zu kommen. Er nahm den Brief, den Waldemar achtlos auf dem Tische hatte liegen lassen, und las ihn gleichfalls durch. Jetzt war es Herr Witold, der bei der Lectüre die Stirn runzelte und bei dem schließlich ein Ungewitter losbrach.

„Dachte ich es doch!“ rief er, mit der Faust auf den Tisch schlagend. „Das sieht der Frau Fürstin ähnlich. In sechs Zeilen stachelt sie den Jungen zur Empörung gegen mich auf; [463] darum also wurde er auf einmal so aufsässig. Hören Sie nur, Doctor, die saubere Epistel:

‚Mein Sohn! Es sind Jahre vergangen, ohne daß ich ein Lebenszeichen von Dir erhalten habe.‘ Als ob sie uns eins gegeben hätte!“ schob der Lesende ein. „‚Ich weiß nur durch Fremde, daß Du noch auf Altenhof bei Deinem Vormunde lebst. Ich befinde mich augenblicklich in C., und es würde mich sehr freuen, wenn ich Dich dort sehen und Dir Deinen Bruder zuführen könnte. Ich weiß nun freilich nicht‘ – geben Sie Acht, Doctor, jetzt kommt der Stachel! – ‚ob Du die nöthige Freiheit zu diesem Besuche hast. Wie ich höre, bist Du trotz Deiner inzwischen eingetretenen Mündigkeit noch gänzlich von dem Willen Deines Vormundes abhängig.‘ Doctor, Sie sind Zeuge davon, wie der Junge uns Beide Tag für Tag maltraitirt. ‚An Deiner Bereitwilligkeit, zu kommen, zweifle ich nicht, wohl aber an der Erlaubniß dazu von Seiten des Herrn Witold. Ich habe es dennoch vorgezogen, mich an Dich zu wenden, und ich werde ja sehen, ob Du so viel Selbstständigkeit besitzest, um diesen Wunsch Deiner Mutter, den ersten, den sie Dir ausspricht, zu erfüllen, oder ob Du ihr selbst diese Bitte nicht gewähren darfst.‘ Das ‚darfst‘ ist unterstrichen. ‚Im ersteren Falle erwarte ich Dich in diesen Tagen und schließe den Grüßen Deines Bruders die meinigen bei. Deine Mutter.‘“

Herr Witold war so erbost, daß er den Brief auf den Fußboden schleuderte. „Und so etwas muß man nun lesen! Meisterhaft ausgedacht von der Frau Mutter. Sie weiß so gut wie ich, welch ein Eisenkopf Waldemar ist, und wenn sie ihn jahrelang studirt hätte, sie könnte ihn nicht besser an seiner schwachen Seite fassen. Der bloße Gedanke, daß ihm Zwang geschehen könnte, bringt ihn außer sich. Jetzt mag ich Himmel und Erde in Bewegung setzen, um ihn zu halten, er wird doch gehen, blos um zu zeigen, daß er seinen eigenen Willen hat. – Was sagen Sie eigentlich zu der Geschichte?“

Doctor Fabian schien in die Familienverhältnisse hinlänglich eingeweiht zu sein und die bevorstehende Zusammenkunft mit dem gleichen Schrecken zu betrachten, wenn auch freilich aus anderen Gründen.

„Um Gotteswillen!“ sagte er ängstlich. „Wenn Waldemar auch in C. mit seinem gewöhnlichen unbändigen Wesen auftritt, wenn er der Frau Fürstin so vor die Augen kommt, was wird sie denken!“

„Daß er nach seinem Vater gerathen ist, und nicht nach ihr,“ war die nachdrückliche Antwort des Gutsherrn. „So, gerade so soll sie Waldemar sehen, dann wird es ihr wohl klar werden, daß er kein allzu gefügiges Werkzeug für ihre Intriguen abgiebt; denn daß da wieder Intriguen gesponnen werden, darauf will ich meinen Kopf verwetten. Entweder der hochfürstliche Geldbeutel ist leer – ich glaube, er ist nie allzu voll gewesen –, oder es soll wieder einmal eine kleine Staatsverschwörung in’s Werk gesetzt werden, und dazu liegt Wilicza so recht bequem, dicht an der Grenze. Was sie eigentlich mit meinem Jungen vorhaben, weiß der Himmel, aber ich werde schon dahinter kommen und ihm bei Zeiten die Augen öffnen.“

„Aber Herr Witold,“ mahnte der Doctor. „Wozu den unglücklichen Riß in der Familie noch mehr erweitern, jetzt wo die Mutter die Hand zur Versöhnung bietet! Wäre es denn nicht besser, endlich einmal Frieden zu schließen?“

„Das verstehen Sie nicht, Doctor,“ sagte Witold mit einer bei ihm ganz ungewöhnlichen Bitterkeit. „Mit der Frau ist kein Friede zu schließen, wenn man sich nicht willenlos ihrer Herrschsucht unterwirft, und weil der selige Nordeck das nicht that, hatte er Tag für Tag die Hölle im Hause. Nun, ich will ihn nicht gerade herausstreichen. Er hatte seine argen Fehler und konnte einem Weibe das Leben wohl schwer machen, aber das ganze Unglück kam doch daher, daß er gerade diese Morynska zur Frau nahm. Eine andere hätte ihn vielleicht lenken, vielleicht ändern können, aber freilich, ein wenig Herz hätte dazu gehört, und von dem Artikel hat Frau Jadwiga nie etwas aufweisen können. Herzlos ist sie von jeher gewesen und hochmüthig dazu. Nun, die sogenannte ‚Erniedrigung‘ der ersten Ehe ist ja durch die zweite wieder gut gemacht worden. Schade nur, daß die Frau Fürstin Baratowska mit Gemahl und Sohn nicht auf Wilicza residiren durfte. Das hat sie nie verwinden können, aber da hatte das Testament zum Glück einen Riegel vorgeschoben, und daß Waldemar nicht noch nachträglich eine Dummheit macht, dafür haben wir mit unserer Erziehung gesorgt.“

„Wir?“ rief der Doctor erschrocken. „Herr Witold, ich habe redlich meine Unterrichtsstunden gegeben, wie es mir vorgeschrieben war, auf das Wesen meines Zöglings habe ich leider nie den geringsten Einfluß üben können, sonst –“ er stockte.

„Wäre er anders geworden,“ ergänzte Witold lachend. „Nun, machen Sie sich keine Gewissensbisse darüber! Mir ist der Junge recht, so wie er nun einmal ist, trotz all seiner Wildheit. Wenn Sie also wollen, ich habe ihn erzogen; wenn das zu den intriguanten Plänen der Baratowski’s nicht stimmt, so soll es mich freuen, und wenn morgen meine Erziehung und ihre Pariser Bildung tüchtig aneinander gerathen, so soll es mich noch mehr freuen. Das ist doch wenigstens eine Revanche für die boshafte Epistel da.“

Mit diesen Worten ging der Gutsherr aus dem Zimmer. Der Doctor bückte sich nach dem Briefe, der noch immer auf dem Fußboden lag, hob ihn auf, legte ihn sorgfältig zusammen und sagte mit einem tiefen Seufzer:

„Und schließlich wird es doch heißen: Ein gewisser Doctor Fabian hat den jungen Erben erzogen. – O du gerechter Himmel!“


Die Herrschaft Wilicza, deren Erbe Waldemar Nordeck war, lag in einer der östlichen Provinzen des Landes und bestand aus einem sehr umfangreichen Gütercomplex, dessen Mittelpunkt das alte Schloß Wilicza mit dem Gute gleichen Namens bildete. Die Art, wie der verstorbene Nordeck in den Besitz dieser Herrschaft gelangt war, wie er schließlich die Hand einer Gräfin Morynska errungen hatte, bildete nur einen neuen Beitrag zu dem in unseren Tagen so oft wiederholten Schauspiele von dem Sinken alter, einst reicher und mächtiger Adelsfamilien und dem Emporsteigen neuer bürgerlicher Elemente, denen mit dem Reichthum auch die Macht zu Theil wurde, die jene einst als ihr ausschließliches Privilegium in Anspruch nahmen.

Graf Morynski und seine Schwester waren früh zu Waisen geworden und lebten unter der Vormundschaft ihrer Verwandten. Jadwiga wurde im Kloster erzogen, und als sie dasselbe verließ, hatte man bereits über ihre Hand verfügt. Das war durchaus nichts Ungewöhnliches in jenen Adelskreisen, und auch die junge Gräfin hätte sich unbedingt gefügt, wäre der ihr bestimmte Gemahl ihr nur ebenbürtig, wäre er nur wenigstens ein Sohn ihres Volkes gewesen. Aber gerade sie hatte man zum Werkzeug von Familienplänen ausersehen, die um jeden Preis verwirklicht werden sollten.

In der Gegend, wo die meisten Glieder der Morynski’schen Familie ansässig waren, war vor einigen Jahren ein gewisser Nordeck aufgetaucht, ein Deutscher von niedriger Herkunft, der aber zu großem Reichthume gelangt war und sich nun hier niederließ. Die Verhältnisse in der Provinz machten es damals einem fremdem Elemente leicht, Boden zu gewinnen, wo man es ihm sonst bedeutend erschwert hätte. Die Nachwehen des letzten Aufstandes, der, wenn auch jenseits der Grenze ausgebrochen, doch die deutschen Landestheile in Mitleidenschaft gezogen hatte, machten sich noch überall fühlbar. Die Hälfte des Adels war flüchtig oder verarmt, in Folge der Opfer, die sie der Sache ihres Vaterlandes gebracht hatten, und so war es für Nordeck nicht schwer, die verschuldeten Güter für die Hälfte ihres Werthes an sich zu bringen und nach und nach in den Besitz einer Herrschaft zu gelangen, die ihm eine Stellung unter den ersten Grundbesitzern des Landes sicherte.

Freilich war der Eindringling von sehr geringer Bildung und abstoßender Persönlichkeit, auch ergab es sich bald, daß er ein durchaus charakter- und gesinnungsloser Mensch war, aber der riesige Besitz gab ihm nichtsdestoweniger eine Macht, die in der Umgegend nur zu bald gefühlt wurde, um so mehr, als sie sich mit entschiedener Feindseligkeit gegen alles kehrte, was Polenthum hieß, vielleicht aus Rache dafür, daß die ausschließlich aristokratische und slavische Nachbarschaft sich mit unverhehlt gegen ihn ausgesprochener Verachtung fernhielt. Mochten nun Unvorsichtigkeiten von dieser Seite vorgefallen sein, mochte der schlaue Fremde auf eigene Hand den Spion gespielt haben, genug, er erlangte Einsicht in gewisse Parteibestrebungen. Dies machte ihn zu einem höchst gefährlichen Gegner und seine Freundschaft geradezu zu einem Gebote der Nothwendigkeit.

[464] Man mußte um jeden Preis den Mann gewinnen, der, wie man längst wußte, zu gewinnen war. Der Bestechung war der Millionär natürlich unzugänglich, so blieb nur seine Eitelkeit übrig, die ihm die Verschwägerung mit einer der polnischen Adelsfamilien als sehr wünschenswerth erscheinen ließ. Vielleicht lenkte der Umstand, daß Wilicza noch bis vor einem halben Jahrhundert im Besitze der Morynski’schen Familie gewesen war, die Wahl gerade auf die Enkelin jenes letzten Besitzers; vielleicht fand sich auch kein anderes Haus, welches seine Tochter oder Schwester zu dem Opfer hergeben wollte, das man von der armen, abhängigen Waise verlangte. Dem rohen Emporkömmling schmeichelte es, daß die Hand einer Gräfin Morynska für ihn erreichbar war; nach einer Mitgift brauchte er nicht zu fragen; er ging also mit vollem Eifer auf den Plan ein, und Jadwiga sah sich bei ihrem Eintritte in die Welt schon einer Bestimmung gegenüber, gegen die sich ihr ganzes Wesen empörte.

Ihr erster Schritt war entschiedene Weigerung, aber was vermochte das Nein eines siebenzehnjährigen Mädchens gegen einen Familienbeschluß, dessen Ausführung man als eine Nothwendigkeit ansah. Als Befehle und Drohungen nichts fruchteten, nahm man seine Zuflucht zu Vorstellungen. Man zeigte der jungen Verwandten die glänzende Rolle, welche sie als Herrin von Wilicza spielen werde, die unbedingte Herrschaft, die sie über einen Mann ausüben müsse, zu dem sie so tief herabsteige. Man sprach ihr von der Genugthuung, daß wieder eine Morynska auf den ihren Vorfahren entrissenen Gütern gebieten solle, von der Nothwendigkeit, aus dem gefürchteten Gegner ein gefügiges Werkzeug der eigenen Pläne zu machen. Man forderte von ihr, daß sie Wilicza und die riesigen Mittel, über welche sein Herr gebot, den Interessen ihrer Partei erhalte – und was dem Zwange verweigert worden war, das erreichte die Ueberredung. Die Rolle einer armen, abhängigen Verwandten war keineswegs nach dem Geschmacke der jungen Gräfin; sie war glühend ehrgeizig, Herzensneigungen und Herzensbedürfnisse kannte sie nicht, und die flüchtig auflodernde Leidenschaft, die Nordeck bei ihrem Anblicke verrieth, ließ auch sie glauben, daß ihre Herrschaft über ihn unbegrenzt sein werde. So gab sie denn endlich nach, und die Vermählung fand statt.

Aber die Pläne, die Berechnung und Eigennutz von beiden Seiten gesponnen, sollten sämmtlich scheitern. Man hatte sich getäuscht in diesem Manne, der, anstatt sich dem Willen seiner jungen Frau zu beugen, nun seinerseits den Herrn und Gebieter herauskehrte, der sich jedem Einflusse, jeder Erhebung unzugänglich zeigte und dessen flüchtige Neigung für die Gattin sich bald genug in Haß verwandelte, als er entdeckte, daß sie ihn und sein Vermögen nur den Interessen ihrer Familie dienstbar machen wollte. Die Geburt eines Sohnes änderte nichts in diesem Verhältnisse. Die Kluft zwischen den Gatten schien im Gegentheile nur noch tiefer zu werden. Nordeck’s Charakter war freilich nicht danach, einer Frau Achtung einzuflößen, diese Frau aber ließ ihn ihre Verachtung in einer Weise fühlen, die jeden Mann auf’s Aeußerste gebracht hätte. Es kam zu furchtbaren Scenen, und nach einer derselben verließ die junge Herrin Wilicza’s das Schloß und floh in den Schutz ihres Bruders.

Der kleine Waldemar, der damals kaum das erste Lebensjahr zurückgelegt hatte, war bei dem Vater zurückgeblieben. Nordeck, wüthend über die Flucht seiner Gemahlin, forderte gebieterisch deren Rückkehr. Bronislaw that, was er konnte, die Schwester zu schützen, und es wäre zwischen ihm und seinem Schwager vielleicht zum Schlimmsten gekommen – da löste unerwartet der Tod die kurze und doch so unglückliche Ehe. Ein Sturz mit dem Pferde auf der Jagd, die er mit wildester Leidenschaft trieb, machte dem Leben Nordeck’s ein Ende, aber auf seinem Sterbebette hatte er noch Kraft und Besinnung genug, ein Testament zu dictiren, das seine Gemahlin um jeden Antheil sowohl an dem Vermögen wie an der Erziehung des Kindes ausschloß. Ihre Flucht aus seinem Hause gab ihm das Recht dazu, und er gebrauchte es schonungslos. Waldemar wurde der Vormundschaft eines ehemaligen Jugendfreundes und entfernten Verwandten übergeben und dieser mit der unbeschränktesten Vollmacht ausgestattet. Die Wittwe versuchte es zwar, dagegen aufzutreten, aber der neue Vormund bethätigte seine Freundschaft für den Verstorbenen dadurch, daß er die Bestimmungen des Testamentes in rücksichtslosester Weise zur Ausführung brachte und jeden Anspruch zurückwies. Witold war schon damals Besitzer von Altenhof und dachte nicht daran, in Wilicza zu bleiben oder sein Mündel dort zu lassen; er nahm den Knaben mit sich in seine Heimath. War es doch eine der letzten Weisungen Nordeck’s gewesen, seinen Sohn gänzlich dem Einfluß der Mutter und der mütterlichen Verwandten zu entziehen, und diese Weisung wurde so streng befolgt, daß der junge Erbe während der ganzen Zeit bis zu seiner Mündigkeit kaum einige Mal in Begleitung des Vormundes nach seinen Gütern kam; er verlebte seine ganze Jugend in Altenhof. Was die riesigen Einkünfte von Wilicza betraf, von denen man vorläufig noch keinen Gebrauch machen konnte, so wurden sie dem Vermögen zugeschlagen, und so sah sich denn Waldemar Nordeck beim Antritt seiner Mündigkeit im Besitz eines Reichthums, mit dem sich in der That nur Wenige messen konnten.

Die Mutter des künftigen Herrn von Wilicza lebte anfänglich im Hause ihres Bruders, der sich inzwischen auch vermählt hatte, aber sie blieb nicht lange dort. Einer der vertrautesten Freunde des Grafen, Fürst Baratowski, verliebte sich leidenschaftlich in die junge, schöne und geistreiche Frau, die ihm denn auch nach Jahresfrist die Hand reichte, und diese zweite Ehe war eine durchaus glückliche. Zwar behauptete man, der Fürst, eine ritterliche, aber nicht besonders energische Natur, beuge sich vollständig dem Scepter seiner Gemahlin, jedenfalls aber liebte er sie und den Sohn, den sie ihm schenkte, auf’s Zärtlichste.

Doch das Glück dieser Verbindung sollte nicht lange ungetrübt bleiben; diesmal freilich kamen die Stürme von außen. Leo war noch ein Kind, da brach das Revolutionsjahr herein, das halb Europa in Flammen setzte. Auch in der polnischen Provinz loderte der so oft schon unterdrückte Aufstand mit neuer Gewalt empor. Morynski und Baratowski waren echte Söhne ihres Landes; sie warfen sich voll glühender Begeisterung in die Revolution, von der sie Rettung des Vaterlandes und Wiederherstellung seiner Größe hofften. Der Aufstand endigte, wie so viele früheren – er ward gewaltsam unterdrückt, und diesmal ging man mit voller Strenge gegen die polnischen Landestheile vor. Fürst Baratowski und sein Schwager flüchteten nach Frankreich, wohin ihnen ihre Frauen mit den Kindern folgten. Die Gräfin Morynska, eine zarte kränkliche Frau, ertrug nicht lange den Aufenthalt in der Fremde; sie starb schon im folgenden Jahre und Bronislaw übergab sein Kind den Händen der Schwester. Ihn selbst litt es nicht länger in Paris, wo ihn alles an den Verlust der leidenschaftlich geliebten Gattin erinnerte. Er lebte unstät bald hier bald dort, und kam nur bisweilen, um seine Tochter zu sehen. Endlich ermöglichte ihm eine Amnestie die Rückkehr in die Heimath, wo ihm inzwischen durch den Tod eines Verwandten das Gut Rakowicz zugefallen war, und er ließ sich auf dem neuen Besitzthume nieder. Anders stand die Sache mit dem Fürsten Baratowski, der von der Amnestie ausgeschlossen blieb. Er war einer der Führer des Aufstandes gewesen und hatte mit an der Spitze der Bewegung gestanden; an seine Rückkehr war nicht zu denken, und Gemahlin und Sohn theilten mit ihm die Verbannung, bis sein Tod auch ihnen die Freiheit zurückgab, ihren Aufenthaltsort zu wählen.

(Fortsetzung folgt.)




Eine „Heldin der Feder“.


Zu den erfreulichsten Errungenschaften dieses Jahrhunderts der Emancipation gehört ohne Frage die freiere Stellungnahme der deutschen Frauen zur Literatur; denn trotz vielfach laut gewordener Stimmen, welche den schriftstellernden Evastöchern den Krieg erklären, dürfte der Satz schwer zu widerlegen sein, daß es gewisse Gebiete der literarischen Production giebt, auf deren Mitbesitz die Frauen ein unbestreitbares Recht erheben dürfen. Wo immer in der Literatur es sich darum handelt, die Welt

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Elisabeth Buerstenbinder.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

des Herzens und das Leben der Gesellschaft zu schildern, wo es auf feine Beobachtungsgabe, auf Tact und Anmuth der Darstellung ankommt, da ist das Weib überall an seinem Platze. Es leuchtet ein, daß somit die Novelle und ihre Nachbargebiete zu den natürlichen Tummelplätzen weiblicher Production gehören, eine Behauptung, die unsere heutige Novellistik vollauf bestätigt; denn auf keinem Gebiete des gesammten modernen Schriftthums dürften die Koryphäen der literarischen Welt so mühelos „bunte Reihe“ machen können, wie gerade auf diesem, ja, die Befürchtung liegt nahe, daß bei einer Gesammt-Assemblée der novellistischen Notabilitäten von heute nicht einmal auf jede Dame ein Herr kommen würde.

Unter den Erzählern der „Gartenlaube“ – denn diese liegen uns hier am nächsten – gebührt E. Werner neben der geistvollen E. Marlitt ein hervorragender Platz. Außer den weiblichen Eigenschaften einer leichtfüßigen Grazie des poetischen Styls und in einzelnen Momenten einer wahrhaft bestrickenden Anmuth in der stimmungsvollen Schilderung der Situationen steht ihrem Talente eine sittliche Energie und dramatische Kraft der Darstellung zu Gebote, welche den oft begangenen Irrthum erklärt: das Pseudonym E. Werner sei nicht der Schleier, hinter dem sich ein bei dem Gedanken an die Oeffentlichkeit erröthendes Mädchengesicht versteckt – es sei das Visir, welches die markigen Züge eines streitbaren Helden der Feder birgt.

Streitbar ist das Talent E. Werner’s in der That in allen seinen Aeußerungen; müssen doch die schlagfertige Opposition und feine Ironie gegenüber den Zuständen der modernen Gesellschaft, namentlich des Pfaffenthums und der Bureaukratie, als das eigentlich Treibende und Bewegende in der Production unserer Dichterin bezeichnet werden.

Abgesehen von zwei unbedeutenderen Erzählungen, einer größeren und einer kleineren, welche in einem süddeutschen Journale unter einem anderen Pseudonym erschienen, trat E. Werner zuerst mit der Novelle „Hermann“, und zwar in diesem Blatte, das sie seither zum ausschließlichen Schauplatze ihrer literarischen Thätigkeit gemacht hat, vor die Oeffentlichkeit. Diese ziemlich unscheinbaren Anfänge der literarischen Thätigkeit unserer Dichterin weisen mit keinem Zuge auf die Bedeutung ihrer spätem Leistungen hin. Aber – wie man ähnliche plötzliche Wandlungen schon oft erlebt hat – nach dem wenig verheißenden Frühling der Werner’schen Productionskraft überraschte uns ein um so üppiger sprießender Sommer mit voll ausgereiften Früchten voll Saft und Kraft: dem „Hermann“ folgte „Ein Held der Feder“.

Diese Erzählung zeigt uns die Verfasserin mit einem Schlage auf dem Höhepunkte ihrer dichterischen Vollkraft. Es würde uns zu weit führen, wollten wir in der gegenwärtigen Skizze, die nur ein flüchtiges Bild von der literarischen Bedeutung [466] Werner’s entwerfen will, auf die Einzelheiten eingehen, welche den Inhalt dieser und der übrigen Prosadichtungen unserer Autorin bilden. Nur so viel sei hier gesagt: die Erzählung „Ein Held der Feder“ hat, auch wenn wir absehen von dem Hineingreifen des deutsch-französischen Krieges von 1870 und 1871 in die Handlung, eine entschieden nationale Grundidee; sie ist eine Art Verherrlichung – und wenn man will: Vertheidigung – des deutschen Wesens und Charakters gegenüber anderen Nationalitäten. Man mag diese Ansicht einseitig schelten – aber man blicke genauer hin, und man wird uns beistimmen, wenn wir den ethischen Kern der Erzählung in dem Charakter des Professors Fernow und seiner Wandelung vom Träumer und Helden der Feder zum Manne der That und Helden des Schwertes finden. Dieser trefflich gezeichnete Charakter des Bonner Professors aber ist zugleich der Typus, eines Deutschen, wie er leibt und lebt; er giebt der Erzählung ihr nationales Gepräge; er macht sie zu einer concret zu Wege gehenden psychologischen Studie über den deutschen Charakter überhaupt. Als eine besondere psychologische Feinheit der Erzählung aber muß die äußerst tactvolle Contrastirung des durchaus auf das Praktische gerichteten amerikanischen und des vorwiegend idealistischen deutschen Charakters – Jane Forest und Fernow – und die innerliche Wandelung bezeichnet werden, welche beide zur gegenseitigen Abklärung und Vollendung durchzumachen haben.

War die Grundidee der Novelle „Ein Held der Feder“ eine national-, so ist sie in Werner’s nächster Erzählung, im „Am Altar“, eine social-polemische. Trat dort das oppositionelle Element dem ästhetischen gegenüber in den Hintergrund, so prasseln hier die zündenden Raketen der Polemik und die paffenden Leuchtkugeln der Tendenz keck und frisch in die Luft. „Am Altar“, von dem die zweite Auflage demnächst erscheinen wird, ist ein mit seltener Feinheit der Beobachtung entworfenes und mit sicherer Hand durchgeführtes Bild aus dem Leben der heutigen Gesellschaft, ein Culturgemälde im schlichten, anmuthigen Gewande der Erzählung, ein Spiegel, vorgehalten den höchsten Würdenträgern der Kirche und des feudalen Adels, ein Fehdehandschuh, ihnen hingeworfen angesichts der Sünden, die sie an Staat und Menschheit begangen. Und um diesen geistigen Mittelpunkt gruppirt sich ein buntes Durcheinander der fesselndsten Menschengebilde, eine reiche Galerie von meistens fein umrissenen Charakteren. Die technische Composition der Erzählung läßt zwar hier und da die Sicherheit einer geübten Feder vermissen, und ein in die Geheimnisse des künstlerischen Schaffens eingeweihter Leser wird an solchen Stellen, wenn er scharf hinblickt, nicht verkennen, daß es eine weibliche Hand ist, welche hier die Fäden gesponnen hat, allein die in mannigfachem Wechsel spannenden und anmuthigen Situationen lassen uns die kleinen Mängel der Erzählung leicht vergessen, und kein Leser wird sich dem zugleich fesselnden und erhebenden Eindrucke dieses bedeutsamen Zeitgemäldes entziehen können.

Auch in Werner’s dritter größerer Erzählung „Glück auf!“ bewegen wir uns auf dem socialen Gebiet. Die Verfasserin versetzt uns mitten in die Arbeiterbewegung der Gegenwart hinein und stellt uns die Contraste des modernen Lebens in typischen Vertretern einerseits der Geld- und Geburtsaristokratie, andererseits des Arbeiterstandes vor’s Auge. Der Conflict ist ein großer und gewaltiger: der Kampf zwischen dem Capitale und der Arbeit – und der Ausgang ein sittlich befriedigender: der Sieg der gesunden Lebenstüchtigkeit über eine blasirte Vornehmheit und Hohlheit. Und diesen Sieg, den wir in den weiteren Kreisen der Novelle sich vollziehen sehen, wir sehen ihn auch in dem engsten Mittelpunkte derselben zum Austrage kommen, in dem mit feiner Menschenkenntniß geschilderten Eheverhältnisse der armen, aber vornehmen Eugenie von Windeg-Rabenau mit dem reichen, aber energielosen Kaufmannssohne Arthur Berkow.

Wenn die Erzählungen „Am Altar“, „Ein Held der Feder“ und „Glück auf!“ drei frische und glänzende Lorbeerblätter im Kranze E. Werner’s sind, so läßt die den Lesern der „Gartenlaube“ zuletzt vorgeführte Schöpfung unserer Dichterin, „Gesprengte Fesseln“, in Handlung und Charakteren die sichere Führung und den großen Zug, den wir sonst an E. Werner gewohnt sind, leider hier und da vermissen; denn trotz mancher Schönheiten im Einzelnen fehlt es in dieser Erzählung an psychologischen Unwahrscheinlichkeiten, namentlich in der Schlußwendung, leider nicht.

An das Erscheinen von E. Werner’s neuester Novelle „Vineta“, von welcher die „Gartenlaube“ in voriger und heutiger Nummer die Anfangscapitel bringt, knüpfen wir die Hoffnung, daß sie uns die geistvolle Verfasserin wieder auf der Höhe ihres Talents zeigen und uns eine neue Seite ihres Schaffens vorführen möge. –

Soviel über das literarische Wirken unserer liebenswürdigen Dichterin. „Und diese Dichterin selbst, wer ist sie, wo stand ihre Wiege, wo lebt sie?“ – immer und immer wieder hört man diese Fragen aufwerfen. Das Publicum will nicht nur an den Werken seiner Lieblingsautoren, es will auch an ihrem Leben Theil haben. So mögen denn einige kurze biographische Mittheilungen über unsere geistvolle Novellistin diese Zeilen schließen!

E. Werner – mit wahrem Namen: Elisabeth Buerstenbinder – ist eine Tochter der nüchternen, kritischen Stadt der Intelligenz, eine Tochter Berlins; sie verleugnet in der durchgehenden Klarheit und Prägnanz ihrer dichterischen Erzeugnisse diese Abkunft nirgends, aber häufige Reisen, sowie der Verkehr mit verschieden gearteten Menschen schützten sie vor Einseitigkeit, nährten das poetische Gemüth in ihr und erweiterten ihren geistigen Gesichtskreis. Beide Einflüsse, die des Daheim und die des Draußen, erzeugten in ihr jene glückliche Mischung von Rationalismus und Romantik, welche ihre Dichtungen kennzeichnet. Im Ganzen läßt sich über das Leben E. Werner’s wenig Interessantes sagen; es ist eben das einförmige Dasein einer deutschen Schriftstellerin; sie hat ihre Vaterstadt niemals dauernd verlassen und, als die Tochter eines gut situirten Kaufmanns von jeher in gesicherten und äußerlich angenehmen Verhältnisse lebend, auch das gewöhnliche Schicksal einer solchen Lebensstellung getheilt, daß nämlich absolut nichts darin passirt.

„Mich haben Erziehung und Umgebung,“ schreibt sie an den Herausgeber dieses Blattes, „von jeher auf innere Erlebnisse angewiesen. Meine Kindheit und Jugend ist ziemlich einsam gewesen, da der Wunsch und die Neigung des Vaters mich und meine beiden Brüder fast gänzlich von der Geselligkeit fern hielten. Ich habe nie eine Freundin, kaum jemals eine Gespielin besessen, und daher mag wohl jene Verschlossenheit stammen, die mir so oft schon zum Vorwurfe gemacht worden. Erst in späterer Zeit habe ich einsehen lernen, was ich dieser Einsamkeit und Abgeschlossenheit, diesem fortwährenden ‚Auf sich selbst gestellt sein‘ Alles zu danken habe. Es bewahrt Charakter, Neigungen und Fähigkeiten vor jeder Zersplitterung und Zerstreuung und hält sie fest und strenge beisammen.“

Wie ein freundlich lächelnder Stern schwebt über dem Leben E. Werner’s, die unvermählt und in rüstiger Schaffenskraft noch heute in Berlin lebt, die treue Liebe und das innige Verständniß der Mutter. „Ich hatte,“ schreibt sie, „das seltene Glück, in meiner Mutter eine Freundin zu besitzen, die mir all die versagten Kinder- und Jugendfreundschaften ersetzte und bei der ich von jeher das vollste Verständniß und die vollste Hingebung für meine Interessen gefunden habe.“

Und mit diesem freundlichen Klange aus dem Leben unserer Dichterin, zugleich aber auch mit dem Wunsche, das reiche Talent, das uns mit so schönen Früchten beschenkt hat, möge noch lange blühen und grünen, finde diese flüchtige Skizze ihren Abschluß!
E. Z.

[467]
Zur Säcularfeier einer Republik.
Von Friedrich Kapp.
(Schluß.)


Es war übrigens hohe Zeit, daß dieser unerläßliche Schritt nicht länger verzögert wurde. Der Congreß mußte befürchten, seinen Einfluß zu verlieren und von den ungestümen Elementen ganz verdrängt zu werden, wenn er jetzt nicht energisch vorging. Schon einen Tag nach seinem Beschlusse vom 10. Juni stimmten zweitausend Philadelphier Freiwillige zu Gunsten der sofortigen Unabhängigkeitserklärung ab; von dieser großen Zahl waren nur vier Officiere und fünfundzwanzig Gemeine dagegen. Jefferson begab sich unverzüglich an die Arbeit und trug seinen Collegen gegen Ende Juni seinen Entwurf vor, welcher mit nur unbedeutenden Veränderungen von ihnen angenommen wurde. Dagegen erfuhr er während einer dreitägigen Debatte im Hause so heftige und scharfe Angriffe, daß Jefferson Mühe hatte, sich zu vertheidigen und daß er schließlich nur durch Franklin’s tröstenden Zuspruch aufrecht erhalten werden konnte. Der Congreß unterdrückte achtzehn Stellen, veränderte zehn und machte sechs Zusätze, welche sich übrigens als wesentliche Verbesserungen herausstellten. Es ist ein häufig vervielfältigtes Facsimile des ersten Jefferson’schen Entwurfes erhalten, so daß man überall den ursprünglichen Text mit der endgültigen Fassung vergleichen kann. Die Verhandlungen selbst dauerten vom 2. bis 4. Juli. Jefferson pflegte später scherzend zu erzählen, daß sie nur durch einen rein äußerlichen Zufall abgekürzt worden seien. Der 4. Juli war nämlich ein sehr heißer Tag und für den im engen Saale tagenden Congreß deshalb besonders unangenehm, weil von einem benachbarten Pferdestalle aus Schwärme von Fliegen durch die offenen Fenster eindrangen und die ehrenwerthen Abgeordneten durch die seidenen Strümpfe in die Beine stachen.

Die Urkunde selbst zerfällt in zwei innerlich und äußerlich von einander geschiedene Theile, in die Einleitung, welche aus einem idealen Naturrechte den Anspruch der Colonisten auf Freiheit und Unabhängigkeit herleitet, und in die Ausführung, welche aus dem Common Law heraus die eigentlichen Beschwerdepunkte gegen die englische Regierung formulirt, während die Schlußsätze die Berechtigung zur Bildung eines souveränen Staates erklären. Was dem Documente die Bewunderung namentlich seiner europäischen Zeitgenossen eingebracht hat und was noch heute die Begeisterung aller politischen Romantiker erweckt, das ist die berühmte naturrechtliche Einleitung, welche ganz im Gegensatz zu früheren und späteren amerikanischen Staatsschriften die Abstractionen der englischen und französischen Philosophie als Sätze von angeblich unumstößlicher Gültigkeit aufstellt. Es sind die bekannten Worte im Eingange, über welche hinaus die wenigsten Leser der Unabhängigkeitserklärung gedrungen sind. Sie lauten:

„Wenn es im Laufe menschlicher Ereignisse für ein Volk nöthig wird, die staatliche Bande, wodurch es mit einem andern verbunden war, aufzulösen und unter den Mächten der Erde einen selbstständigen und ebenbürtigen Rang einzunehmen, zu welchem es durch die Gesetze der Natur berechtigt ist, so erheischt es die dem Urtheile der Welt geziemende Achtung, die Ursachen dieser Trennung öffentlich darzulegen.

Wir halten die nachfolgenden Wahrheiten für durch sich selbst erwiesen, daß alle Menschen einander gleich erschaffen, daß ihnen von ihrem Schöpfer gewisse unveräußerliche Rechte verliehen und daß unter diesen Rechten Leben, Freiheit und Streben nach Glückseligkeit die vornehmsten sind, daß zur Sicherstellung dieser Rechte unter den Menschen Regierungen eingesetzt sind, welche ihre rechtmäßige Gewalt von der Zustimmung der Regierten herleiten und daß, wenn je eine Regierungsform diesen Rechten verderblich zu werden anfängt, das Volk das Recht hat, sie zu ändern oder abzuschaffen und dagegen eine neue einzusetzen, deren Grundlage und Befugnisse von der Art sind, wie sie ihm zur Erlangung seiner Sicherheit und seines Glückes am zuträglichsten erscheinen. Zwar gebietet die Klugheit, schon seit langer Zeit bestehende Regierungen nicht aus geringfügigen und vorübergehenden Ursachen abzuändern. So hat es denn auch die Erfahrung bewiesen, daß die Menschen lieber die Uebel dulden, so lange sie noch erträglich sind, als daß sie durch Abschaffung der Regierungen, an die sie gewöhnt sind, sich selbst zum Rechte verhelfen. Wenn aber eine lange Reihe von Mißbräuchen und Anmaßungen, welche allemal ein und dasselbe Ziel verfolgen, die Absicht verräth, das Volk einem unumschränkten Despotismus zu unterwerfen, so hat es nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, das Joch einer solchen Regierung abzuschütteln und sich nach anderen Wächtern seiner künftigen Sicherheit umzusehen. Von dieser Art ist das langmüthige Dulden dieser Pflanzungen bisher gewesen, und von dieser Art ist nunmehr die sie zwingende Nothwendigkeit, ihr ehemaliges Regierungssystem abzuändern.

Die Geschichte des dermaligen Königs von Großbritannien ist eine Geschichte wiederholter Verletzungen und Anmaßungen, die allesammt geradezu auf Gründung einer unbeschränkten Tyrannei über diese Staaten abzielen. Zum Beweise davon wollen wir der unparteiischen Welt folgende Thatsachen vorlegen.“ (Hier folgen nun die einzeln aufgeführten siebenundzwanzig Beschwerden gegen Georg den Dritten.)

Jefferson war ein viel zu gut geschulter Advocat, eine zu nüchtern praktische Natur, als daß er das schwere Geschütz seiner Beweisführung, Präcedenzfälle und Herkommen, wie sie auf das Verständniß jedes Engländers wirken, verschmäht hätte; allein er führte es wohlweislich erst in zweiter Linie auf, weil das positive Recht ihm selbstredend keine Rechtfertigung für den offenen Aufstand lieferte. Um die Gunst der englischen Opposition und die Sympathien des gebildeten Europas für sich zu gewinnen, mußte die Forderung der unveräußerlichen Menschenrechte in den Vordergrund treten. Wie die ganze Rousseau’sche Schule, wie bei uns Schiller und die hervorragenden Geister der Nation, so glaubten auch die gebildeteren Amerikaner im Gegensatze zu der schlechten Wirklichkeit, dem geschichtlich Gewordenen, an die Wahrheit und Berechtigung ihrer naturrechtlichen Phantasien. Nichts ist deshalb auch ungerechtfertigter, als Jefferson und Genossen der beabsichtigten Täuschung anzuklagen, als sie, wie Schlosser es z. B. thut, zu beschuldigen, daß sie ihre Unabhängigkeitserklärung nur zu dem Zwecke in dem besondern Stile und Geiste ihrer Zeit erlassen hätten, um ihre Sache in Frankreich salonfähig zu machen.

Natürlich läßt sich vom Standpunkte der absoluten Kritik aus fast jeder einzelne Satz der Einleitung bemängeln. Es ist, um hier beispielsweise bei dem zweiten Einleitungssatze stehen zu bleiben, ein Irrthum jener Zeit und keineswegs eine durch sich selbst erwiesene Wahrheit, daß alle Menschen einander gleich erschaffen seien, allein selbst wenn sie es wären, so könnte sie doch nicht gleich bleiben, und so müßten sie höchstens von dem Gesetze gleich behandelt werden. Was ist ferner Freiheit, was heißt das Streben nach Glück, wer bestimmt sein Maß, und ist es für alle Volksclassen dasselbe? Ebenso wenig stichhaltig ist die Rousseau’sche Vertragstheorie von der Entstehung des Staates. Sie wird offenbar von den Colonisten nur angerufen, weil sie nur mittels ihrer den Beweis für die Gerechtigkeit ihrer Sache führen konnten.

Allein wie dem auch sei, die eigentliche Bedeutung der Unabhängigkeitserklärung lag darin, daß sie zuerst die Stimmungen, Strömungen und Ideen der Zeit unter einem einzigen leitenden Gesichtspunkte zusammenfaßte, daß sie der unsinnigen Anschauung von einer gesetzlichen Revolution, welche seit der Thronbesteigung William’s und Mary’s in den englischen und amerikanischen Köpfen spukte, ein Ende machte und daß sie vor Allem eine klare, selbst dem beschränkten Urtheile verständliche Situation schuf.

Es ist bezeichnend für den Geist der ganzen amerikanischen Bewegung, daß nicht der 19. April 1775 mit seinen Gefechten bei Lexington und Concord, sondern der 4. Juli 1776 mit seiner theoretischen Rechtfertigung der Ereignisse den Geburtstag des neuen Freistaates bildet. Jetzt war allerdings erst die letzte Brücke abgebrochen; jetzt erst waren die Halben, Lauen und Verräther von den ehrlichen Freunden der Volkssache geschieden; jetzt erst war der bewußte Uebergang von colonialer Abhängigkeit [468] zu nationaler Selbstständigkeit geschaffen. Fortan kämpften die Vereinigten Staaten unter eigenem Banner einen Krieg auf Leben und Tod gegen England. Nicht mehr hinter ihnen lag ein unmöglich gewordenes gemüthliches Glück; nur vor ihnen zeigte sich das Heil, aber für die nächste Zukunft drohten ihnen schwere Sorgen und Niederlagen. Deshalb ward männliche Aufbietung aller Kräfte für den Sieg und die Freiheit geboten, welche nach siebenjährigem Kampfe endlich errungen wurden.

So ist denn auch der Tag der Annahme der Unabhängigkeitserklärung dem voraufgegangenen und gegenwärtigen Geschlechte der vornehmste und sichtbarste Markstein im Uebergange des Landes zu seiner Selbstständigkeit; so gilt er ihm als der Geburtstag des amerikanischen Volkes und darum feiert dieses ihn heute bei seiner hundertjährigen Wiederkehr als seinen höchsten Jubel- und Ehrentag: Es hat volle Ursache, ihn stolz zu feiern, trotz der großen Schatten, welche die heutige Festtagsstimmung nur zu sehr verdüstern.

Ich bin natürlich weit entfernt davon, diese Schäden irgendwie verschweigen oder beschönigen zu wollen. Ich habe vielmehr zu einer Zeit, wo es in den Augen des biedern gesinnungstüchtigen, namentlich deutsch-amerikanischen Bürgers als antirepublikanisch und servil galt, die unausbleiblichen und verderblichen Folgen nachgewiesen, welche aus der Corruption der herrschenden politischen Kreise und dem schnöden Aemterschacher hervorgehen mußten. Wenn ich mich gleichwohl der neumodischen sittlichen Entrüstung über den bevorstehenden Untergang des amerikanischen Volkes nicht anschließen kann, so glaube ich deshalb klarer zu sehen und billiger zu urtheilen, weil ich nicht den beschämenden Eindruck einer kurzen Spanne Zeit als maßgebend für eine hundertjährige Geschichte erachte, weil ich nicht eine einzige Seite aus dem vollen Leben des Volkes herausgreife, sondern Volk und Land im Spiegel seiner Gesammtleistung und seiner vollen geschichtlichen Entwicklung betrachte.

Es ist wahr, die in den letzten Jahren zu Tage getretene Verderbniß in den politischen Kreisen giebt zu den ernstesten Besorgnissen Anlaß, immerhin aber ist sie im Verhältnisse zu dem großen Ganzen doch nur ein böser Aussatz an einem sonst kräftigen Körper, welcher bei gehöriger Pflege und besserer Behandlung leicht wieder genesen kann. In den denkenden Kreisen beginnt bereits die Einsicht zu tagen, daß es ein Verbrechen an der Nation war, die ganze Regierung und Verwaltung des Landes zu einer Maschine für die Vertheilung der Aemter zu machen und diese den Gesetzgebern als willenlose Beute zu überantworten. Hier liegt der eigentliche Sitz des Uebels. Sobald erst der gegenwärtige Unfug abgestellt, sobald also mit den inneren Ursachen der heutigen Corruption gebrochen und der normale Zustand der Verwaltung europäischer Länder, z. B. Deutschlands, in den Vereinigten Staaten eingeführt ist, werden hier die Politiker von der Bühne verschwinden und an ihre Stelle tüchtige Beamte und wieder hervorragende Staatsmänner treten. Von ihrer Gründung an bis auf Jackson, welcher bekanntlich die Beutetheorie zur Grundlage seines demagogischen Systems erhob, hatte die Union vortreffliche Beamte und Staatsmänner ersten Ranges, welche letzteren die meisten ihrer europäischen Genossen um eines Hauptes Länge überragten. Jetzt ist sie überraschend arm an beiden, weil eben die Politik in ein gemeines Geschäft ausgeartet ist, vor welchem sich fast das ganze Talent der Bürger in’s Privat- und Geschäftsleben zurückgezogen hat. Hier also muß die Reform ansetzen und hier wird sie hoffentlich ansetzen, um das Land von dem auf ihm lastenden Fluche zu befreien.

Im Uebrigen steht der sittliche Werth des Volkes ebenso hoch wie derjenige der großen europäischen Nationen, in einigen Eigenschaften, z. B. männlicher Thatkraft, vielleicht sogar höher, wenn in anderen auch, z. B. moralischem Muthe, niedriger. Daß aber die Amerikaner eines der leitenden Culturvölker sind, ohne welche man sich die moderne Entwicklung gar nicht mehr denken kann, wird so leicht Niemand bestreiten. Wer innerhalb eines einzigen Jahrhunderts in ungestümem Siegeslaufe einen ganzen Continent der Cultur erobert und seine Eisenschienen und elektrischen Drähte vom atlantischen zum stillen Weltmeere legt, wer diese Großthaten nicht auf Geheiß eines fremden Willens, sondern im Geiste des rastlosesten Fortschrittes, im freien Wetteifer der in allen Volksschichten entfesselten, auch aus Europa massenhaft herbeigeeilten Arbeit vollbringt, der giebt gerade durch seinen nie ruhenden und nie befriedigten Thätigkeitstrieb die sicherste Bürgschaft dafür, daß er, wenn auch sein gewaltiger Thatendrang und sein ungebändigtes Streben wohl ausarten mag, sich am Ende doch selbst wiederfindet und selbst regulirt. Was wollen diesen bewußten und unbewußten Triumphen der menschlichen Arbeit und Thatkraft gegenüber einige Hundert schlechter Beamten, ja selbst einige Jahrzehnte städtischer und staatlicher Corruption sagen!

Im ersten Jahrhundert seines Bestehens hat das neue Reich des Friedens und der Arbeit den Boden gewonnen und nach außen hin abgesteckt, welchen es nunmehr in seinem zweiten Jahrhundert im Innern auszubauen und geistig zu erweitern hat. Hoffentlich wird es die äußere Unabhängigkeit in allmählichen, aber sicheren Uebergängen zur höhern Freiheit des Geistes, zur höchsten Gesittung und Schönheit führen. Armuth und Abhängigkeit lassen in der Gesellschaft so wenig wie im Einzelnen fröhliches Behagen des Daseins und frisches Erfassen höherer Culturzwecke aufkommen. Wirthschaftliches Gedeihen und bürgerlicher Wohlstand, die unumgänglich nothwendigen Bedingungen für jeden Fortschritt, sind darum auch die stolzeste Errungenschaft, das kostbarste Besitzthum der Vereinigten Staaten.

Was Faust, am Ende seines Ringens und Strebens angelangt, als das höchstmögliche Glück erkennt und als der Weisheit letzten Schluß preist:

„Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß –“

das ist auf amerikanischem Boden in viel höherem Grade als anderswo zur täglichen Praxis des Volkes geworden. Um im eigenen und der ganzen Menschheit Interesse diese menschlichste Lösung der Faust-Idee immer vollständiger zu verwirklichen, müssen Pflichtgefühl und Arbeit die Genien des Gemeinwesens bleiben, muß nicht der Buchstabe, sondern der Geist des vierten Juli die Gesinnung jedes Bürgers der großen Republik durchdringen. In diesem Sinne aber sei am heutigen glorreichen Tage den Anglo- und Deutsch-Amerikanern ein herzlicher Gruß über das Meer entboten!




Ein geistiger Vorläufer des Columbus.
Kultur- und Lebensbild.

Eine Meile nordöstlich von der unterfränkischen Mainstadt Haßfurt liegt am Fuße seines Schloßberges mit der Ruine der Veste Königsberg das Städtchen gleichen Namens, und weil es noch mehrere Königsberge giebt, Städte und Dörfer, in Preußen, in der Neumark, in Oberhessen, in Böhmen, Tirol, österreichisch Schlesien und Ungarn, so heißt diese kleine sachsen-coburg-gothaische Stadt mitten im baierischen Gebiete Königsberg in Franken. In der sogenannten Schloßgasse daselbst, die zum Amthaus und zur Burgruine hinaufführt, steht rechter Hand und zwischen Gebäuden späterer Zeit ein uraltes Haus, dessen ergrautes Holzgebälk oberhalb des Einfahrtsthores mit allerlei Schnitzwerk verziert ist; auch der fromme Spruch steht daran: An Gottes Segen ist Alles gelegen. Es ist fast ein Wunder zu nennen, daß gerade dieses Haus der Zerstörung der Jahrhunderte und sogar des dreißigjährigen Krieges entgangen ist, dieses Haus, das nicht blos für die kleine Stadt, sondern für die ganze Welt eine so große Bedeutung hat. In diesem alten Hause wurde vor nun gerade vierhundertundvierzig Jahren am sechsten Juni ein Knabe geboren, aus welchem ein Mann wurde, der sich als großer Beförderer der griechischen Sprache und Literatur in Deutschland, als Beförderer der Mathematik, der Mechanik und der Astronomie einen Weltruf, insbesondere aber durch Bearbeitung und Herausgabe des ersten deutschen Kalenders und durch die Entwickelung der nautischen Astronomie [469] sich die größten Verdienste um die Schifffahrt auf dem hohen Meere erworben hat.

Wir legen gerade auf dieses deutsche Verdienst unseres Regiomontanus, unseres großes Todten, besonderes Gewicht, weil es Jahrhunderte lang und noch hart bis in die neueste Zeit nicht blos bei den seefahrenden Nationen, sondern in den regierenden Köpfen Deutschlands selbst zur Modeansicht geworden war, daß Deutschland vor Allem eine Landmacht sei und eigentlich auf der See gar nichts zu suchen habe. Hat doch noch im April 1861 eine der angesehensten englischen Zeitungen (die „Morning-Post“) aller Welt Folgendes kund und zu wissen gethan: „Der Wunsch nach einer deutschen Flotte ist ein nebelhaftes, weinerliches, albernes Sehnen und kann nur einem Volke, das in den Wolken lebt, in den Sinn kommen. Wenn es in Preußen einen Staatsmann gäbe, was nicht der Fall ist, wenn es im preußischen Ministerium

Die Denkmal-Statue des Regiomontanus zu Königsberg in Franken.

einen einzigen guten Politiker gäbe, was auch nicht der Fall ist, so würde er diesem Unsinn von einer deutschen Flotte ein Ende machen. Die Deutschen mögen die Erde pflügen, mit den Wolken segeln oder Luftschlösser bauen, aber nie seit dem Anfang der Zeiten hätten sie den Genius, das Weltmeer zu durchfurchen oder die hohe See oder nur die schmalen Gewässer zu befahren.“

Wenn wir auch diese Auslassungen eines Einzelnen nicht seinem ganzen Volke zur Last legen wollen, so bleibt es doch eine auffallende Erscheinung, daß es trotz der untrüglichsten Anzeichen für den Seefahrts-Beruf der Deutschen, so lange dauerte, bis derselbe auf den eigenen Thronen erkannt und endlich auch vom Auslande anerkannt worden ist.

Schon vor zweiundzwanzig Jahren habe ich (in Frömmann’s „Deutschlands Mundarten“) auf den merkwürdigen Seelenspiegel hingewiesen, den wir vom deutschen Volke in seiner Sprachkarte besitzen. Wenn wir nämlich auf der Landkarte von Mitteleuropa die Grenzen ziehen, bis zu welchen des deutschen Volkes Geist mit seiner Sprache vordrang und Herr wurde, so finden wir sofort, daß im Norden die deutsche Sprache ihre größten Triumphe feierte: dort hatte sie das halbe Norddeutschland erst für sich zu erobern, und machte sich zum Herrn der Ostseeküste weit über die Grenzen des deutschen Reichs hinaus. Die Religion drang kämpfend vorwärts, und wohin die Schwerter der deutschen Ritter nicht reichten, dahin trugen die Schiffe der Hansa deutsche Cultur und deutsche Sprache. Und so sehen wir beide noch heute herrschen von Dünkirchen in Frankreich bis Riga in Rußland. Wie zwei sehnsüchtig und liebend nach dem Meere ausgebreitete Arme strecken sich die Sprachgebiete nach Ost und West die Küsten entlang, – ganz so sehnsüchtig und liebend, wie das gesammte deutsche Volk zum Meere blickt. Wer verlangt ein unumstößlicheres Zeugniß für den Beruf der Deutschen zur Seeherrschaft, als uns die Sprachkarte von Deutschland giebt? Ist sie nicht wirklich hier das vollkommenste Spiegelbild der Seele des deutschen Volkes?

Nicht weniger deutlich und bedeutungsvoll spricht, abgesehen von der Geschichte der Hansa und der noch älteren der Angeln und Sachsen, die Thatsache für uns, daß die Schifffahrt ihre wichtigsten Fortschritte den Arbeiten deutscher Geister zu verdanken hat. Selbst die kühnsten Seefahrer blieben mit ihren Schiffen an die Küsten gebannt, bis unser Regiomontanus durch seine astronomischen Instrumente und Berechnungen sie in den Stand setzte, ihren Weg nach den Sternen zu finden. Das erste Dampfschiff fuhr am 27. September 1707 auf der Fulda von Kassel nach Münden; sein Erfinder, Dionys Papin, war zwar ein Franzose von Geburt, aber Professor der Physik an der deutschen Universität Marburg. Ebenso ist die wichtigste Verbesserung der Dampfschifffahrt durch die Schiffsschraube die That eines Deutschen, Joseph Ressel’s, dessen erster Schraubendampfer im Hochsommer 1829 von der Rhede von Triest aus seine Probefahrt hielt. Ein Deutscher war endlich auch der Erfinder der unterseeischen Schifffahrt, die sicherlich ihre Auferstehung feiern wird, und hoffentlich nicht wieder unter fremder Flagge. – Diese Zeugnisse für den deutschen Seefahrtsberuf wird man wohl gelten lassen müssen; nicht unbemerkt darf bleiben, daß Keiner dieser vier Männer an der See geboren ist, drei davon gehören sogar Süddeutschland an: Franken, Deutsch-Böhmen und Schwaben.

Ein freundliches Geschick will es, daß in derselben Zeit, wo zum ersten Male nach Jahrhunderten wieder eine deutsche Kriegsflotte achtunggebietend das Meer befährt, ein Erinnerungsfest den Namen des ersten der genannten vier Männer zu feiern hat, und an dieser Feier nimmt hiermit auch die „Gartenlaube“ Theil.

Wir kehren in das Städtchen Königsberg zurück, das heute im Festschmucke prangt. Johannes Müller ist der deutsche Name des Mannes, der sich nach der Gelehrtensitte seiner Zeit den latinisirten Namen Regiomontanus, d. h. der Königsberger, gab. Fast noch im Knabenalter bezog er die damals ebenfalls noch sehr junge Universität Leipzig, fand jedoch dort außer seinen philologischen Studien nicht, was er suchte, und wandte sich drei Jahre später (1451) nach Wien, wo Georg Purbach (nach seinem Geburtsorte auch Peurbach genannt) damals der einzige Lehrer der Astronomie in Deutschland war. Die Astronomie gehörte zu den Wissenschaften, welche im Abendlande völlig untergegangen, von den vor den hereinbrechenden Osmanen fliehenden Griechen mit den anderen Wissensschätzen des classischen Alterthums dahin zurückgebracht wurden. Der große Meister fand am jungen Schüler bald einen gereiften Mitstrebenden und Freund und arbeitete mit ihm gemeinschaftlich an der Erforschung und Ausbeutung der für ihre Zeit unschätzbaren astronomischen Reliquien des Alterthums, namentlich des „Almagest“, jenes von den Arabern so benannten „Lehrgebäudes der Astronomie“ des Ptolemäus und Hipparch, das noch bis in das vorige Jahrhundert das einzige Lehrbuch der Sternkunde war. Es ist ergreifend, zu sehen, wie beide Männer, noch befangen von der Annahme ihrer Zeit, daß die Erde feststehe, sich vergeblich abmühten, den Planetenlauf zu bestimmen. Dennoch erregten ihre Arbeiten ungemeines Aufsehen, und dies half auch ihren übrigen Bestrebungen zu manchem Erfolge. Ein Verdienst, das Jeder zu würdigen versteht, welcher begreift, wie schwer das [470] Rechnen mit den alten römischen Zahlen war, ist die Einführung der arabischen (eigentlich indischen) Zahlzeichen und des Decimalsystems, das wir beiden Männern verdanken. Erst von dieser Zeit an konnte das Rechnen auch in den Schulen gelehrt werden und zu seiner unermeßlichen Bedeutung in Handel und Wandel und im ganzen Volksleben gelangen.

Auf eine erfreuliche Erscheinung in jener Zeit macht uns J. H. von Mädler (in einer Lebensschilderung des Regiomontanus in Westermann’s Jahrbuch, 1871) aufmerksam, indem er sagt: „Es darf nicht verschwiegen werden, daß von der ingrimmigen Feindschaft, mit welcher später die Mönchsorden den Naturwissenschaften entgegentraten, damals noch keine Spur zu finden war. Im Gegentheil sehen wir, daß die Wenigen, welche sich damit beschäftigten, von Seiten der Kirche alle mögliche Begünstigung und Förderung erfuhren.“ Kaum war daher die Kunde von den astronomischen Arbeiten der beiden Deutschen nach Rom gedrungen, so kam der berühmte griechische Gelehrte und römische Cardinal Bessarion selbst nach Wien, um Purbach zu sich nach Italien und seinen reichen literarischen Schätzen abzuholen. Purbach war sofort zur Reise bereit, da überraschte ihn, den erst Achtunddreißigjährigen, 1461, der Tod. An seine Stelle trat nun Regiomontanus. So jung er noch war, so groß war doch schon sein Ruhm. „Ueberall,“ sagt Mädler, „wo er sich auch hinbegab, in Bologna, Ferrara, Venedig, galt er für den Gelehrtesten.“ Der Umgang mit Männern, wie Bessarion, Bianchini und besonders mit dem berühmten Griechen Georg von Trapezunt wies ihn auf die Quellensprache der astronomischen Wissenschaft, das Griechische hin, und mit so viel Beharrlichkeit und Glück warf er sich auf dasselbe, daß er bald seinen Meister meistern und ihm Fehler in dessen Bearbeitung des „Almagest“ nachweisen konnte, ein Umstand, der leider eine Entzweiung beider Gelehrten herbeiführte. Für Deutschland brachte diese italienische Zeit des Regiomontanus außerordentlichen Gewinn, denn durch ihn, der damals der größte Kenner der griechischen Sprache und Literatur unter allen Deutschen war, fand das Studium derselben auch in Deutschland Eingang.

Schon damals begeisterte die Italiener der Gedanke, einen Weg nach Indien durch eine Fahrt in den großen Ocean hinein zu suchen, ein Gedanke, den später ihr Landsmann Columbus ausführte, der ja bekanntlich selbst nie erfuhr, daß er einen neuen Erdtheil entdeckt hatte, sondern die Küste des gesuchten Indien erreicht zu haben glaubte. Auch unserm Regiomontanus konnte dieser Gedanke nicht fern bleiben, und er mochte ihn schon damals bei seinen astronomischen Beobachtungen geleitet haben. Sein Hauptwerk in dieser Beziehung, die „Ephemeriden“, erschien jedoch erst 1473. Doch davon später – Nach siebenjährigem Aufenthalte in Italien folgte er (1468) einem Rufe des ungarischen Königs Matthias Corvinus nach Ofen. Der König hatte eine ansehnliche Bibliothek (natürlich von Handschriften, denn die Buchdruckerkunst stand erst im Beginne ihrer Thätigkeit) erworben, die Regiomontanus ordnen sollte und mit seinen eigenen, in Italien gesammelten Schätzen für seine Wissenschaften zu verwerthen gedachte. Da aber unaufhörliche Kriege den König nicht zur Ruhe kommen ließen und sogar die Mittel zur Ausführung der Arbeiten des Regiomontanus fehlten, so siedelte dieser im Frühjahre 1471 nach der Stadt über, in welcher damals Wissenschaften, Künste und Gewerbe zuhöchst in Blüthe und Ehren standen, in das alte Nürnberg.

Hier empfing man den weltberühmten Mann mit offenen Armen. Vor Allen schloß der reiche Patricier und Rathsherr Bernhard Walther sich ihm an. Er ließ ihm nicht nur in der Rosengasse ganz nach dessen Plan eine Sternwarte bauen, die Mädler als die erste des neuen Europa bezeichnen zu können glaubt, ausgerüstet mit Instrumenten, wie nur der Nürnberger Kunst- und Gewerbefleiß sie herzustellen vermochte, sondern er errichtete für ihn auch eine eigene Druckerei, weil die damals dort blühende von Anton Coburger die fremden Schriftzeichen, Tabellen und mathematischen Symbole nicht besaß, welche für den Druck der mathematischen und astronomischen Schriften Purbach’s, welche Regiomontanus hier veröffentlichte, und seine eigenen unentbehrlich waren. Da Regiomontanus in Nürnberg und auf der Nürnberger Universität Altorf öffentliche Vorlesungen hielt, so wurden beide Städte bald Wallfahrtsorte für alle damals in gleichem Geiste Strebenden.

Die lange Reihe von Werken, welche aus dieser Druckerei hervorgingen, und die späteren Ausgaben und Bücher von und über Purbach und Regiomontanus hier aufzuführen, entspricht weder dem Raum noch dem Zweck dieses Artikels. Um so mehr freuen wir uns, unsere Leser auf eine Schrift hinweisen zu können, die als eine Festschrift zu Ehren unseres großen Todten gelten kann; wir meinen die mit ebensoviel Wärme und Begeisterung, als Kenntniß und Fleiß ausgearbeitete Monographie Alexander Ziegler’s: „Regiomontanus, ein geistiger Vorläufer des Columbus (Dresden, 1874).“

Das schon genannte Hauptwerk des Regiomontanus, welches Ziegler zu der weltwichtigen Ehrenbezeichnung desselben berechtigte, sind seine „Ephemeriden“, astronomische Tafeln, in denen der Ort des Standes der Sonne und anderer Himmelskörper auf zweiunddreißig Jahre (1474 bis 1506) zum Nutzen der Seefahrer voraus berechnet war. Wir haben nur angedeutet, daß Regiomontanus auch durch Verbesserung und Erfindiung nautischer Instrumente (wie des sogenannten Astrolabiums und Jakobsstabs) sich um die Schifffahrt Verdienste erworben. Hierüber sagt Ziegler: „Wenn Regiomontanus durch den von ihm erfundenen Gradstock oder Jakobsstab, der während dreier Jahrhunderte nebst dem Compaß das wichtigste Werkzeug in den Händen der Seeleute gewesen ist, der Seefahrt große Dienste erzeigt hat, so ist dies in noch größerem Grade von den Ephemeriden des Regiomontanus zu sagen. – Aus dem Schiffsjournal des Columbus wissen wir mit Bestimmtheit, daß der Admiral diese ‚Ephemeriden‘ am Bord gehabt, denn er selbst sagt, daß er vermittelst derselben die Eingeborenen auf Jamaica, um sie in Schrecken zu setzen und zur Beschaffung von Nahrungsmitteln zu zwingen, drei Tage vorher mit der Mondfinsterniß vom 29. Februar 1504 bedroht habe. Durch die Benutzung seiner astronomischen Instrumente und vornehmlich der Ephemeriden hat Regiomontanus die deutsche Astronomie mit der iberischen Nautik (wohin sein Schüler, der berühmte Nürnberger Weltreisende Martin Behaim, sie trug) verbunden, die Küstenschifffahrt in eine Seeschifffahrt umzuwandeln ermöglicht und jenen berühmten Seefahrern Columbus, Vespucci, Vasco de Gama, Magalhaens u. A. die Füglichkeit an die Hand gegeben, mit Sicherheit sich weiter in den Ocean hinauszuwagen und ihre weltgeschichtlichen Entdeckungen zu Stande zu bringen.“ Was den heutigen Seefahrern der Nautrical Almanac der Engländer, das waren damals die Ephemeriden des Regiomontanus, und lange Zeit blieben sie der unschätzbare Wegweiser, ohne den sich so leicht Niemand auf die offene See wagte.

Nicht weniger Verbreitung fanden des Regiomontanus lateinische und erste deutsche Kalender, deren Drucke Ziegler ebenfalls gewissenhaft verzeichnet; auch über deren Werth ertheilt er eingehende Belehrung. Diese Arbeiten und das Ansehen, in welchem der deutsche Gelehrte nicht blos im Vaterlande, sondern in allen civilisirten Ländern stand, lenkten abermals die Aufmerksamkeit Roms auf ihn. Die Fehler des Julianischen Kalenders erforderten endlich dringend Abhülfe, und so setzte denn Papst Sixtus der Vierte eine Commission in Rom zusammen, zu welcher auch Regiomontanus berufen wurde; als Belohnung für seine Leistungen war ihm schon im Voraus das Bisthum Regensburg bestimmt. Gewiß nicht leicht trennte er sich im Frühjahr 1476 von Nürnberg, das ihm zur zweiten Vaterstadt geworden war; glücklich kam er in Rom an, aber schon am 6. Juli hatte die dort herrschende Pest ihn hingerafft. Die Sage beschuldigt die Söhne des Georg von Trapezunt, aus Rache dafür, daß Regiomontanus Fehler in ihres Vaters Uebersetzung des Almagest gefunden, ihn vergiftet zu haben. Beweise sind nirgends für diese schwere Beschuldigung zu finden. Der große Todte wurde mit allen Ehren im Pantheon des Marcus Agrippa beigesetzt.

Seit diesem Tag der Trauer sind nun vierhundert Jahre vergangen. Die Trauer ist verschwunden, denn was des Mannes Geist gelebt und gethan, hat seine Unsterblichkeit bewährt, – und in diesem Sinne kann der Tag seines Todes mit einem Erinnerungsfeste gefeiert werden, an dem ein gerechter Stolz auch die helleren Farben der Freude nicht zu verhüllen braucht. Tausende werden an diesem Tage sein Andenken segnen, und wenn auch der Mittelpunkt aller Feier seine kleine Vaterstadt ist, so wird doch an mehr als einem Orte gepriesen werden, was der eine Mann gewirkt, und man wird überall übereinstimmen mit unserem edlen [471] Mädler, der da schließt: „Das Wirken des Regiomontanus ist kein unfruchtbares gewesen. In steigendem Verhältniß haben seine Nachfolger auf dem von ihm gelegten Grunde fortgebaut und haben sich nicht beirren lassen von den Gegnern, selbst nicht von den mächtigsten und gefährlichsten, den Mönchsorden. Alle diese Kämpfe sind vorüber, und die Wahrheit hat gesiegt. Das ist es, was wir unserem Regiomontanus verdanken und was alle kommenden Geschlechter ihm verdanken werden; denn immer klarer wird es sich herausstellen, wie wohlthätig die echte Himmelsforschung wirke und wie nichtig und bedeutungslos alles Andere ist, was finstere Jahrhunderte aus ihr zu machen versuchten.“

Unsere Abbildung stellt die Denkmal-Statue des Regiomontanus, ausgeführt vom Bildhauer Mayer in Haßfurt, dar, die am zwölften September 1871 enthüllt worden ist; eine Marmortafel schmückt von heute an sein Geburtshaus; ein geistiges Denkmal ist die Regiomontanus-Schule daselbst, die, eine Gründung des Bürgermeisters Franz Ronge, jetzt zu einer höheren Anstalt erweitert werden soll. Andere Denkmale des großen Meisters sind die Kolossalbüsten in der Walhalla und in der Aula des Gymnasiums zu Coburg, letztere von G. von Dornis; Nürnberg hat ihm in der Kreisgewerbeschule eine Erz-Statue von Burgschmiet errichtet. – Möge immer frisch bei den Nachkommen das Andenken an den wahrhaft großen deutschen Mann fortblühen!
Friedrich Hofmann.




Der Rabbi von Sadagóra.
Von Arnold Hilberg.
(Schluß.)


Der Ruf des „Weisen von Mizricz“ ward rasch ein außerordentlicher. Von weit und breit strömten Personen aller Religionen, Nationalitäten und Stände zu ihm herbei, um Hülfe und Rath zu erflehen. Seine Reichthümer mehrten sich und seine Secte wuchs. Die Propaganda für diese organisirte er gleichfalls in großem Maßstabe. Wanderprediger und Glaubensboten durchzogen in seinem Auftrage die polnische Republik und die angrenzenden Gebiete und gründeten immer mehr chassidische Religionsgemeinden. Einzelne dieser Apostel gelangten selbst zu hohem Ansehen und zu dem Rufe der Heiligkeit. Der neue Glaube fand unter den polnischen Juden rasch ungeheure Verbreitung. Bei all’ seiner Tollheit befriedigte er doch das Gemüth mehr, als die kalte und dürre Talmudscholastik des rabbinischen Judenthums. Dann befreite er seine Bekenner von der Pflicht langen, aufreibenden und fruchtlosen Studiums; er enthob sie der lästigen Kasteiungen und Bußübungen; er war mit einem Worte „eine fidele Religion“, welche die große Masse mächtig anzog.

Dob Beer, der Gründer der Dynastie, die heute zu Sadagóra prunkreich Hof hält, der Begründer des Chassidismus, starb 1772. Sein Sohn und Nachfolger Abraham war ein unbedeutender Mensch, ebenso dessen Nachfolger Salomon. Doch der von Dob Beer geschaffene Apparat arbeitete so vortrefflich, daß die Unbedeutendheit seiner unmittelbaren Nachfolger keine Störung in dem Organismus hervorzubringen vermochte. Der Nimbus ihrer Gottähnlichkeit, der davidischen Abstammung, der messianischen Bestimmung erhob sie hoch über alle Zweifelsucht. Der dritte Zadik nach Dob Beer war Israel, in welchem das ganze Genie, die volle Energie, die ganze geistige Kraft und Ueberlegenheit seines Ahnen wieder auflebte. Er gehört bereits unserem Jahrhunderte an und ist heute noch im ganzen Osten unter seinem Kosenamen „Isruliniu“ populär. Er war der erste „Rabbi von Sadagóra“; sein Sohn Abraham Jacob ist gegenwärtig das Haupt der Chassidim.

In der Nähe von Berditschew liegt ein kleines, schmutziges elendes Judennest, welches Rizin heißt. Vor einigen Jahren, als noch keine Eisenbahn Berditschew mit Kiew verband, hielt die Posttroika ein paar Stunden in diesem Neste und nöthigte die Reisenden, es näher kennen zu lernen. In solch einem elenden Steppenorte ist nicht viel zu sehen; wenn man eines dieser Nester kennen gelernt hat, kennt man sie alle. Aber Rizin hat seine besondere Sehenswürdigkeit, eine Ruine, die jeder Durchreisende in Augenschein nimmt. Es sind das ein paar Backsteinmauerfragmente, die einen Hügel krönen. Reste von Wandmalereien und Sculpturen, einige Säulentrümmer von vollendeter Stilreinheit und Schönheit geben einen Begriff von der einstigen Würde und Pracht des Gebäudes, von dem nichts als diese wenigen Spuren erhalten blieben. Das sind die Ruinen des Palastes Isruliniu’s – er hatte seinen Sitz von Mizricz nach Rizin verlegt –, von dessen Pracht die wunderbarsten Schilderungen coursirten. Architekten, Bildhauer, Maler, Decorateure waren aus Paris und Italien in das entlegene volhynische Nest gekommen, um diesen Bau aufzuführen und auszuschmücken. Mit der Eleganz und der Pracht seiner Ausstattung stand der verschwenderische Aufwand kostspieligen Materials im Einklange. Die Thüren, die Thürverkleidungen und Fenstereinfassungen des großen Speisesaales waren aus Malachit, und der Estrich desselben soll nach einem vermuthlich übertreibenden Gerüchte mit blanken Silberrubeln gepflastert gewesen sein. Der Bernstein ist in Rußland sehr rar und theuer. Die Klinken aller Thüren dieses Palastes waren aus Bernstein. Der verschwenderische Reichthum in Möbeln und Geräthen soll jeder Beschreibung gespottet haben. Weitläufige Nebengebäude umgaben diesen Palast; sie enthielten die Stallungen und Remisen des Zadik. Sein Marstall genoß in der russischen Sportswelt hohen Ruf und die Pracht seiner Carossen erregte den Neid mancher Grandseigneurs. Er fuhr immer sechsspännig; wenn er durch’s Land reiste, waren seine eigenen Relaispferde vorangeschickt. Eine lange Reihe zweispänniger Wagen, in welchen sich die „Gaboim“ befanden, fuhr dem seinigen voran; eine andere Reihe Wagen mit der Dienerschaft, dem Schlächter, dem Küchenpersonale folgte ihm. Eine Cavalcade goldstrotzender tscherkessischer Reiter umgab seine Carosse. Nachts fuhr eine Reihe zweiräderiger Karren mit brennenden Pechtonnen voraus, um den Weg zu beleuchten. Es war ein königlicher Hofhalt, den dieser Zadik führte.

Er gründete sein Ansehen nicht mehr allein auf den Heiligennimbus, der seine Familie umgab, nicht auf die davidische Abstammung und die messianische Prädestination; er imponirte durch seinen Reichthum, den Glanz seines Hofhaltes. Er hatte richtig gerechnet. Die polnischen Juden, an kümmerliche, elende Daseinverhältnisse gewöhnt, wurden durch die königliche Pracht, die ihren Zadik umgab, förmlich geblendet. Nicht der Wunderthäter, nicht der Balschem war es mehr, den sie verehrten, sondern der „Sohn David’s“, der legitime König ihres Volkes, dem sie Unterthanentreue widmeten, zu dem sie mit scheuer Ehrfurcht emporblickten, dem sie legal opferfreudig Tribut zollten.

Isruliniu war noch viel schwerer zugänglich, als seine Vorfahren. Es bedurfte reicher Geschenke, um vor ihn gelassen zu werden. Die Wenigen, die das Glück hatten, ihn einen Augenblick lang persönlich zu sprechen – ein immerhin sehr theuer erkauftes Glück – wurden selbst als geheiligte Personen verehrt und von ihren Glaubensgenossen mit Auszeichnung behandelt und mit Ehrenbezeigungen überhäuft. Die wohlhabenden Chassidim boten Alles auf, um sich diese Ehre erkaufen zu können, und die immensen Reichthümer des Zadik wuchsen immer mehr. Eine Reliquienverehrung, dem monotheistischen Judenthum bishin vollständig fremd, entsproß dieser Vergötterung des schlauen Zadik. Seine Dienerschaft machte mit Gegenständen, die er berührt und dadurch geheiligt hatte, glänzende Geschäfte. Sein Kutscher gestattete, wenn der Zadik von einer Ausfahrt heimkehrte, gegen eine beträchtliche Spende einen Augenblick lang auf den Wagensitz, den er kurz zuvor eingenommen, sich setzen zu dürfen; es galt bei den fanatisirten Chassidim als ein unvergleichliches Glück, sich von dem Kutscher Seiner Heiligkeit diese Erlaubniß erkaufen zu können.

Ein armer Chassid, vom Unglück schwer heimgesucht, war aus einem entlegenen Gouvernement nach Rizin gekommen, um bei dem Zadik Hülfe zu suchen. Die weite Reise hatte seine wenigen Baarmittel erschöpft; er hatte nur noch einen halben Rubel, als er in Rizin anlangte. Das war keine Summe, mit der man sich Eintritt beim Zadik verschaffen konnte. Doch der arme [472]

Die Liebe in Rococo in zwei Bildern.
Originalzeichnungen von W. Kögler in Wiesbaden.


Erstes Begegnen.




Teufel bestand durchaus darauf, nur ihm persönlich sein Anliegen vorzutragen, und wies die Intervention der Gaboim zurück. Man verweigerte ihm natürlich den Eintritt; er setzte sich auf die Freitreppe des Palastes nieder und wartete. Man jagte ihn fort – er kehrte wieder; zwei Tage und zwei Nächte saß er auf der Treppe. Er nahm weder Speise noch Trank zu sich und erklärte, hier den Hungertod erleiden zu wollen, wenn man ihn nicht vor den Zadik lasse. Man trug diesem die Sache endlich vor, und er befahl, ihm den Mann vorzuführen. Als dieser in das Cabinet des heiligen Mannes getreten war, warf er sich zu Boden und streckte ihm den halben Rubel entgegen.

„Rabbi! Zadik!“ rief er, „ich bin ein vom Unglück hart verfolgter, gänzlich zu Grunde gerichteter Mann. Dieser halbe Rubel ist der letzte Rest meines Vermögens. Nehmt ihn wohlgefällig an! Ich kann Euch nicht mehr geben, und verwendet Euch bei Gott, damit ich wieder Glück in meinen Geschäften habe!“

Der Zadik berührte lächelnd das Münzstück, murmelte ein Gebet und sagte dann zu dem armen Kerl:

„Behalte Deinen halben Rubel! Gott wird machen, daß er Dir Glück bringt.“

Freudig trat der so gesegnete Bittsteller aus dem Palaste heraus; draußen harrte bereits eine tausendköpfige Menge, um dem Glücklichen, dem es vergönnt gewesen den Gottesmann zu sprechen, ihre Huldigungen darzubringen. Er erzählte hastig, welchen Bescheid er bekommen. Im Nu begann man auf das zum Talisman gewordene Münzstück zu bieten; seinem Besitzer war es jedoch nicht feil. Endlich bewog ihn doch Einer, es ihm zu überlassen: er bot ihm achttausend Rubel dafür. Das Wort des Zadik hatte sich so erfüllt: der von ihm berührte Rubel hat seinem Besitzer Glück gebracht.

Der Zadik bereiste zuweilen die benachbarten Provinzen. In einem ukrainischen Städtchen besuchte er mit seinem Gefolge das Bad. Bäder und Waschungen spielen in dem Ritual der Chassidim eine große Rolle. Die Bäder in den kleinen russischen Städten sind noch jetzt so eingerichtet, wie es die „Schwitzbäder“ im Mittelalter bei uns waren. In der Stube brennt in einem

[473]

Erstes Belauschen.




großen Backofen ein mächtiges Feuer, in welchem Steine glühend gemacht werden. Mit riesigen Ofengabeln werden diese dann herausgeholt, auf den Boden gelegt und mit kaltem Wasser übergossen; so wird der Dampf in diesen primitiven Dampfbädern erzeugt. Die Badenden sitzen auf Holzbänken an den Wänden entlang. Während der Zadik mit seinem Gefolge in diesem Bade saß und draußen eine tausendköpfige Menge das Haus umdrängte, trat aus einer dunklen Ecke ein Mann vor den Zadik und richtete an ihn eine Anrede. Er wiederholte in ihr alle die Beschuldigungen und Vorwürfe, die in den gegen den Chassidismus gerichteten Schriften wider den Zadik und seine Secte erhoben wurden. Er sprach mit vielem Eifer und wurde immer heftiger und rücksichtsloser in seinen Ausfällen. Der Zadik saß anfangs sprachlos vor Erstaunen über die Kühnheit des unbekannten Eindringlings da, dann gerieth er in Zorn, und als der Sprecher immer leidenschaftlicher und heftiger wurde, sprang er auf und zornbebend herrschte er seinen Begleitern zu:

„Werft ihn in’s Feuer, den Gottesleugner!“

Im Nu wurde der Aermste gepackt und in die hochaufprasselnde Gluth geschleudert; mit Ofengabeln wurde er in den Flammen festgehalten, und der Zadik blieb im Bade, bis sein Opfer gänzlich verkohlt war. Er reiste noch an demselben Tage nach Rizin zurück.

Die ruchlose That ward bald bekannt. Die Wittwe des Ermordeten rief die rächende Justiz an. Aber der metallische Klang der Imperialen und Rubel des Zadik übertönte ihren Jammer. Sie machte, als sie die Fruchtlosigkeit ihrer Schritte einsah, ihre geringe Habe zu Geld und reiste nach Petersburg. Dort erwirkte sie eine Audienz beim Zaar, und dieser entsandte eine specielle Untersuchungscommission an Ort und Stelle. Der Zadik und seine Genossen wurden verhaftet, nach den Casematten von Kiew gebracht und nach mehrmonatlicher Untersuchung unter die Anklage des Meuchelmordes gestellt. Als die Wache sich in seinen Kerker begab, um ihn zur entscheidenden Gerichtssitzung abzuholen, fand sie den Kerker leer – der Gottesmann war verschwunden.

[474] Die Chassidim behaupteten, Engel hätten ihn befreit und entführt; die anderen Leute waren der Ansicht, die Engel wären aus Gold und Silber und hübsch geprägt gewesen. Einerlei, er war der russischen Justiz entrückt und tauchte ein paar Monate nach seinem Verschwinden in dem Ursprungslande seiner Secte, in der Bukowina, auf. Er schlug in Sadagóra seinen Sitz auf, und die vielen tausend Pilger, die früher nach Rizin gingen, wallfahrteten jetzt nach Sadagóra. Als er 1850 starb, übernahm der älteste seiner Söhne, Abraham Jakob, das sehr heilige und höchst rentable Amt eines wundermächtigen Gottesmannes.

Ihm stand ich nun in dem kleinen, geschmackvoll ausgestatteten Empfangssalon gegenüber.

Der Rabbi saß an einem Tischchen; bei meinem Eintreten erhob er sich und ging mir einige Schritte entgegen.

Er ist ein schmächtiges Männchen. Sein etwas schmales, marmorblasses Gesicht ist edel geschnitten. Ein langer, silberheller, doppelspitzer Bart und weiße, kurze, geringelte Schläfenlocken umrahmen es. Die dunklen Augen blicken halbverschleiert und ausdruckslos kühl unter den schön gezeichneten weißen Brauen. Kein Lächeln umspielt die schmalen, blutlosen Lippen, und die hohe, von blauen Aederchen durchschimmerte Stirn ist furchenlos. Ein mattseidener Kaftan umkleidete enganliegend den Leib; das Haupt deckte eine hohe, spitze, schwarzsammtene „Jarmerke“ (Hauskäppchen). Die Nettigkeit und Sauberkeit seines Aeußeren stach wohlthuend gegen den Schmutz und die unordentliche Nachlässigkeit der anderen polnischen Juden ab. Er ging mir hochaufgerichtet, in fast militärischer Haltung, festen Schrittes entgegen, reichte mir zu flüchtiger Berührung seine schmale, weiße Hand und deutete, indem er seinen Sitz wieder einnahm, auf einen Stuhl, der diesem gegenüber stand.

„Sie und zu den Festen nach Czernowitz gekommen?“ sprach er mich eintönigen, schleppenden Tones mit leiser Stimme an, in richtiger deutscher Aussprache, die nur wenig durch jüdisch-polnische Dialect- und Accentanklänge verundeutlicht wurde. „Ich habe gehört,“ fuhr er dann fort, „daß dort eine Universität eröffnet wird; wird auch eine Akademie für Medicin dabei sein?“

„Anfangs nicht.“

„Das ist schade; unsere Leute werden daher trotz der Universität zum Professor nach Lemberg oder Wien fahren müssen, wenn sie krank sind.“

Er sann eine Weile nach, dann fuhr er fort: „Ist es wahr, daß bei dieser Feier der Chor in der griechischen Kirche ganz aus Juden und Jüdinnen bestehen wird?“

„Nicht ganz, aber zu zwei Dritttheilen.“

„Das sollt’ nicht sein.“

Er sah starr vor sich hin. Dann winkte er. Zwei Gaboim standen kerzengerade an der Thür, wohlerzogene Diener, achtsam auf die Winke ihres Herrn, aber taub und blind für Alles, was in ihrer Gegenwart vorgeht. Auf den Wink des Rabbi entfernten sie sich und erschienen bald wieder mit einer großen silbernen Platte, auf der ein Gläschen goldig funkelnden süßen Weines und ein Teller mit Schnitten stark gezuckerten flaumigen Kuchens standen. Der Rabbi lud mich mit einer verbindlichen Handbewegung ein, vom Gasttrunk zu nippen.

„Rabbi,“ sprach ich ihn dann an, „macht es mir klar, weshalb so viele Tausende Euch so inbrünstige Verehrung zollen!“

Er zuckte leicht die Achseln und schwieg. Ich fuhr fort:

„Die Kraft Ihres Gebetes muß eine außerordentliche sein. Man erzählt zahllose Wunder, die Sie durch dasselbe wirkten.“

„Wem Gott helfen will, dem hilft er,“ erwiderte er lakonisch.

„Man sagt, Sie stammen von David ab und der Messias solle aus Ihrer Familie hervorgehen.“

„Die Leute sagen es; ich weiß es nicht.“

Ich hatte mich bemüht, ihm verfängliche Fragen zu stellen; er entschlüpfte ihnen aalglatt mit wohldurchdachten Phrasen, die ihn an der ganzen religiösen Verirrung, deren Mittelpunkt und Träger er ist, als vollkommen unschuldig darstellen sollten. Das beweist aber klar, daß er durchaus kein Fanatiker oder Schwärmer ist, der selbst an seine Heiligkeit oder Wundermacht glaubt, sondern ein vorsichtiger Betrüger, der die Dummheit und den Wahn der Menge auszubeuten weiß. Ich sann einen Augenblick nach, während ein überlegen-spöttisches Lächeln den Mund des Rabbi umspielte, und entschloß mich, mit rohem Finger eine verwundbare Stelle dieses unerregbaren Gemüthes zu berühren. Ein jüngerer Bruder dieses Gottesmannes residirte gleichfalls als Zadik in Leviada in der Moldau. Irgend ein Ungefähr spielte ihm die Satiren des Dr. Isaak Erter gegen den Chassidismus in die Hände. Die Lectüre dieser Schriften machte ihm die Schmach der Rolle klar, die er spielte. Von edler Regung erfaßt, verkündete er muthvoll seinen Abfall vom Chassidismus und enthüllte in flammenden Worten die Charlatanerie, deren Opfer die Verehrer seiner Familie geworden. Wäre die Masse dieser Verehrer nicht eine stupide Horde, sein Auftreten hätte die heilsamsten Folgen haben müssen und jene abscheuliche Mißreligion, deren Begründer Dob Beer gewesen, hätte ein Jahrhundert später durch seinen Urenkel, der den gleichen Namen führte – der Rabbi von Leviada hieß auch Dob Beer – eine heilsame Reform und Reinigung erfahren. Aber sein muthiges Auftreten machte ihn blos zum Gegenstand frommer Trauer für die einen, die den Gottesmann in die Gewalt des Bösen gerathen wähnten, der erbitterten Verfolgung für die anderen, deren fanatischem Zelotismus sein Abfall in die Quere kam. Um dieser sich für ihn immer bedrohlicher gestaltenden Verfolgung zu entrinnen, faßte er den Entschluß, Christ zu werden. Die Ausführung dieses Entschlusses hätte auf das Ansehen seiner Familie die verhängnißvollste Rückwirkung ausüben müssen. Der Rabbi von Sadagóra vereitelte sie; er ließ durch seine „Meschorßim“ seinen Bruder bei Nacht und Nebel entführen und in einem seiner Häuser in Sadagóra ihn in strenger Haft halten. Die Sache gelangte zur Kenntniß der Gerichte in Czernowitz. Mit bewaffneter Macht wurde der Gefangene befreit und in Czernowitz unter Polizeibewachung gestellt. Gegen seinen Bruder wurde die Untersuchung wegen „Menschenraub“ eingeleitet. Sie wurden dann aus unbekannten Gründen niedergeschlagen. Dob Beer schwor seinen Abfall ab, that Buße und lebt jetzt in stiller Zurückgezogenheit in Sadagóa. Welche geheime Umtriebe und dunkle Mittel diesen kläglichen Ausgang der Affaire herbeiführten, wird wohl niemals ganz klar werden. Das alles trug sich im Jahre 1868 zu; auf diese Vorgänge spielte ich an, indem ich an den Rabbi die Bemerkung richtete:

„Man hat mir erzählt, daß einer Ihrer Brüder sich hat taufen lassen wollen.“

„Gott behüte,“ antwortete er mit dem bisherigen Phlegma, „die Leute erzählen so viel über uns, und so wenig ist daran wahr. Mein Bruder hat nur seinem Stande entsagt, er ist aber Jude geblieben.“

Er lenkte dann das Gespräch auf den Vorhang im Betsaal und ließ ein in massives Silber gebundenes Bibelmanuscript auf Pergament, mit hübschen Miniaturen geschmückt, bringen, um es von mir bewundern zu lassen. Sein Neffe und Schwiegersohn, der Nachfolger im Rabbinat von Sadagóra, war in Begleitung von zwei Gaboim eingetreten. Er ist ein junger Mann von einigen zwanzig Jahren und bereits gleichfalls ein Gegenstand frommer Verehrung. In Physiognomie, Gestalt, Haltung und Kleidung ist er dem Rabbi sehr ähnlich. Auch sein Blick ist halbverschleiert und kühl, auch seine Haut ist von durchsichtiger Weiße, nur färbt seine Wangen, die ein kleiner kastanienbrauner, spitzer Bart umrahmt, zartes, rosiges Incarnat. Man erzählt sich in Czernowitz Wunderdinge von der Pracht, mit der seine Vermählung gefeiert wurde. Von weit und breit war man nach Sadagóra geströmt, um den Hochzeitszug zu sehen; für fabelhaft hohe Preise wurden Fenster in den Gassen, die er passiren sollte, gemiethet. Die Braut fuhr in einem mit himmelblauem Atlas ausgeschlagenen reichvergoldeten Prunkwagen, der Bräutigam in einem gleichen, der mit rothem Sammet ausgeschlagen war. Den Wagen der Braut zogen vier Schimmel, den des Bräutigams vier Rappen. Fünfzig „Meschorßim“ des Rabbi in goldstrotzendem Tscherkessencostüm umgaben hoch zu Roß die beiden Wagen, welchen ein langer Zug Equipagen folgte. Pferde und Wagen stammten aus dem Marstall und den Remisen des Rabbi, die fürstlich reich bestellt sein sollen.

Das Gespräch drehte sich um das Alter des Manuscriptes, welches mir gezeigt worden war. Es wurde der Hausgelehrte des Rabbi, ein Herr Leibisch, geholt, der mit einiger Mühe herausfand, daß es im Jahre 5012 „nach Erschaffung der Welt“ geschrieben worden sei.

[475] „Wir zählen jetzt,“ erklärte mir der Rabbi, „das Jahr 5636. Das Buch ist also sechshundertvierundzwanzig Jahre alt.“

Ich verabschiedete mich vom Rabbi und folgte einer Einladung seines Schwiegersohnes, ihn in seinem Hause zu besuchen. Wir gingen wieder über den Hof. Das Gewühl war womöglich noch größer als vordem, doch wich jetzt die Menge mit ehrfurchtsvoller Scheu vor dem jungen Rabbi, der sie keines Blickes würdigte, zur Seite. Wir traten in seine Villa, durchschritten einige hübsch eingerichtete Zimmer und gelangten in das Empfangszimmer. An der Hauptwand desselben stand ein großer Glaskasten mit Silbergegenständen, meist russischer Arbeit.

„Mein Silber,“ bemerkte der junge Rabbi, „stelle ich zum Theil aus, weil ich wenig habe. Der Schwiegervater stellt das seine nicht aus, denn es ist viel, und es ist jetzt nicht mehr Mode, es sehen zu lassen. Beim Großvater Isruliniu war es anders.“

„Man sagt, er hätte sogar einen Tisch aus Silber besessen.“

„Das ist richtig; der Tisch ist jetzt mein Eigenthum.“

Er winkte. Vier Meschorßim traten ein und zogen mit vieler Anstrengung eine große eiserne Kiste, die in einer Ecke stand, hervor. Die Gaboim schlossen die zahlreichen Schlösser derselben auf; der Deckel fiel zurück und eine mächtige Silberplatte, in Hirschleder weich gebettet, blinkte hervor. Mit vereinten Kräften hoben die sechs Männer die Platte heraus und lehnten sie an die Kiste.

Es war eine viereckige Platte mit abgerundeten Ecken, etwa einen Meter lang und einen halben Meter breit. Die Dicke der durchwegs massiv anklingenden Platte mochte beiläufig acht Millimeter betragen; die in den Rand eingeschlagene russische Punze bewies, daß sie aus vierzehnlöthigem Silber bestand. In die obere Fläche war eine Landschaft gravirt: in der Mitte ein Berg mit Stufen, von einigen Palmen und anderen Bäumen umgeben, rechts ein Widder und eine Kuh.

„Was stellt das vor?“ frug ich.

„Die Akeide (die Opferung Isaak’s).“

„Da ist ja aber weder Abraham noch Isaak zu sehen.“

„Es ist verboten,“ erwiderte der junge Rabbi, „einen Menschen abzubilden; darum ist hier nur die Opferstätte und der Widder zu sehen, und überdies eine Kuh, damit das Ganze nicht so leblos aussieht. Die Menschen muß man sich dazu denken.“

Nachdem mir so gründlich die Principien der orthodox-jüdischen Kunst erklärt worden, wurden die übrigen Theile des Tisches aus der Kiste gehoben. Vier Füße – Rehschenkel mit reicher Blätterschmückung am Oberansatz – ein ovaler blumenumwundener Fußkranz, auf vier Löwentatzen ruhend, mit einer von Guirlanden gehaltenen Vase in der Mitte; alles von vierzehnlöthigem Silber in getriebener Arbeit.

„Das ist ein sehr kostbares Stück,“ bemerkte der junge Rabbi, „aber in meinen Augen hat es nur geringen Werth. Ich kann mir so einen Tisch für Geld wieder machen lassen. Werth hat in meinen Augen nur das, was um alles in der Welt nicht wieder zu bekommen ist. Solchen Werth hat aber von allen unseren Besitzthümern nur ein Stück, und das kann ich Ihnen jetzt nicht zeigen, weil wir es am Samstag nicht berühren dürfen. Es ist ein ‚Burstin‘ (Bernstein), so lang (er breitete beide Arme aus); mein Schwiegervater raucht daraus.“

Er holte aus einem Glaskästchen dann einen sehr schön mit hebräischen Quadratbuchstaben beschriebenen Quartband heraus; es war dies der von ihm selbst geschriebene Katalog seiner reichhaltigen, die gesammte chassidische Literatur umfassenden Bibliothek, in die er mich sodann führte.

„Giebt es außer Mendelssohn,“ frug er mich dort im Verlaufe eines literarischen Gespräches, „noch jüdische Schriftsteller, die deutsch schrieben?“

„Gewiß.“

Einer der Gaboim trat rasch auf mich zu.

„Ech mein’,“ redete er mich an, „Schiller war jo auch a Jüd; tomer (vielleicht) nischt?“

Die Kuppeln und Thürme von Czernowitz leuchteten bereits im Abendroth, als ich in die Stadt wieder einfuhr. Die frommen Sadagórapilger hatten mich mit Blicken scheuer Ehrfurcht begleitet; nur wenigen von ihnen wurde das Glück zu Theil, mit dem Rabbi so cordial verkehren zu dürfen, wie ich mit ihm verkehrte. Mehrere Jahre zuvor war der damalige Statthalter von Galizien (die Bukowina war damals ein galizischer Kreis), Graf Mensdorff, nach Sadagóra gekommen. Er wollte den Rabbi sehen, wurde aber nicht vorgelassen. Als er aber auf seinem Verlangen beharrte, empfing ihn der Rabbi endlich, aber – mit einem dichten Schleier vor dem Gesichte, da „kein Ungläubiger würdig ist, den Heiligen von Angesicht zu sehen“. Seitdem ist der Zadik allerdings zugänglicher geworden, denn in die Zeit zwischen damals und heute fällt eine Katastrophe, die den Stolz des Heiligen sehr beugte.

Die russische Regierung, beunruhigt durch die große Masse falscher Assignaten, die auf unbekannte Weise aus dem Auslande in das Reich strömten, sandte ein Heer Polizeiagenten aus, um den Fälschern auf die Spur zu kommen. Die gepflogenen Recherchen ergaben bald die Gewißheit, daß die Falsificate in London fabricirt werden und daß die Chassidim, die alljährlich nach Sadagóra pilgern, die Einschmuggelung derselben nach Rußland besorgen. Die Residenz des Zadik war eine förmliche Messe der Banknotenfälscher, und der Rabbi selbst nahm in mächtiger Weise an diesem Handel Theil. Das Strafgericht in Czernowitz verfügte seine Verhaftung; die Untersuchung förderte sehr gravirende Verdachtsgründe gegen ihn zu Tage. Seine Familie und sein Anhang boten Alles auf, um der Angelegenheit eine für ihn günstigere Wendung zu geben. Aber alle Versuche scheiterten an der Strenge des Untersuchungsrichters. Sie griffen zu einem letzten Mittel, welches die ganze Verschmitztheit dieser Leute beweist. Eine Deputation Bukowinaer Bürger, aus Mitgliedern aller Stände und Bekenntnisse zusammensetzt, erschien vor dem Kaiser und trug ihm die Bitte vor, dem höchst verdienstreichen und ausgezeichneten Richter N., dessen Verdienste bisher nicht die gebührende Anerkennung gefunden zu haben scheinen, ein Zeichen kaiserlicher Gnade zu geben. Der Monarch, gerührt durch diesen Beweis loyaler Gesinnung, ertheilte dem Justizminister die erforderlichen Befehle, und dieser beförderte den verdienten Richter zum Rathe des Oberlandesgerichts in Lemberg. So ward der Rabbi seinen strengen Inquisitor los, und dessen Nachfolger gewann eine mildere Anschauung von der Sache. Noch achtmonatlicher Untersuchungshaft erhielt der Rabbi „wegen Mangels an Beweisen“ seine Freiheit wieder. Die erfreueten Chassidim machten ihm ein Schloß, welches sie dem Grafen Goluchowski abkauften, zum Geschenk. Es liegt in der Nähe seiner Domäne Putek.

Anderen Tages glänzte die Hauptstadt der Bukowina im Festschmucke, um den Einzug der Musen zu feiern. Die Muse wohnt nun in Czernowitz, aber über der Steppe brütet die Nacht, und am Fuße des Secina feiert der Aberglaube und der religiöse Wahn Triumphe. Wird es dereinst Tag in jenen Gebieten werden, aus welchen die Sonne zu uns kommt? Es wage Keiner die Frage zu entscheiden – der menschliche Geist ist unlösbarer Räthsel voll, und die Kette seiner Verirrungen scheint endlos.




O, bleib’ ein Kind!

Du bist ein Kind und sollst es ewig bleiben;
      Das echte Weib bleibt ewig Kind,
Ein weißes Blatt, auf das die Götter schreiben,
      Wie köstlich Mild’ und Einfalt sind.

Ich will Dich sanft auf weichen Händen tragen,
      Wie nur getreue Liebe kann,
Und zu dem Schicksal will ich bittend sagen:
      „O, rühre dieses Kind nicht an!“

Voll Andacht will ich liebend Dich behüten
      Und rastlos sorgen früh und spät,
Daß nicht des Lebens Sturm von Deinen Blüthen
      Der Unschuld duft’gen Staub verweht.

Und wenn im Tod einst meine Augen brechen,
      Dann will ich im Gebete lind
Mit müden Lippen sterbend zu Dir sprechen:
     „Gedenke mein – und bleib’ ein Kind!“

Ernst Ziel.     

[476]

Weltausstellungsskizzen.[1]
Von R. Elcho.
1. Fairmountpark.


Soll ich gestehen, welches von allen Weltausstellungsgebäuden im Fairmountpark zu Philadelphia mir das größte Interesse eingeflößt hat? – Es ist das Aschenbrödel dieser märchenhaften Welt – ein armseliges Blockhaus. Ueber seiner Thür prangt die Inschrift: „Die alten Zeiten“.

Das Haus liegt am Rande der Schlucht, welche sich vom Frauenpavillon bis hinab zu den Ufern des Schuylkill zieht. Es ist ein echtes, rechtes Blockhaus, aufgebaut von rohen Fichtenstämmen, gedeckt mit Schindeln und umkränzt von einem Gärtchen, in welchem Gemüse gepflanzt wird. Wilde Reben klimmen an den Fensterchen des Hauses empor; Bäume rauschen über seiner Dachfirst und verbreiten etwas wie Waldesdunkel um sein Gehege. Und was mir an diesem bescheidenen Bau ein so lebhaftes Interesse einflößt? Nun, ich könnte sagen, es sei das allerliebste Mädchen, das unter der von einem Vordach beschirmten Thür steht und den Eintretenden willkommen heißt, denn das zarte Geschöpf hat die prächtigsten blauen Augen, die noch je ein Dichter besang, und wenn sie etwas erklärt, so bebt ihre Stimme und sie neigt den Kopf, um ihr Erröthen zu verbergen, wie die Waldhyacinthe, wenn der Morgenwind sie küßt. Allein die rosige Miß hat am allerwenigsten mit dem undefinirbaren Zauber zu schaffen, der über der ganzen Schöpfung ausgebreitet liegt; sie ist nur der Sonnenstrahl, der auf eine vergessene Welt fällt.

In dem kühlen Zimmer, welches der Besucher betritt, erblickt man derbe Tische und Stühle, wie sie der Ansiedler des vorigen Jahrhunderts mit seiner Axt zimmerte; in der Ecke am Fenster stehen Webstuhl und Spinnrad friedlich beisammen; die Decke und der Kamin sind mit goldfarbenen Welschkornähren behängt; rostige Gewehre mit Feuerschlössern hängen an derben Zapfen, und auf dem Schüsselbrett beim Feuerherd sind buntfarbene Delfter Geschirre aufgestellt, wie sie holländische Schmuggler den Colonien Amerikas zuführten. Jedes Stück dieser Einrichtung ist ein Kind des vorigen Jahrhunderts und – beim Himmel! – da steigt gar die Herrin des Hauses, eine ehrwürdige Matrone, in der Tracht jener Zeit die schmale Stiege herab, welche zum hochgelegenen Schlafzimmer führt.

Hier athmet alles die Luft einer längst dahingeschwundenen Zeit, und wenn das Haus statt auf dem Ausstellungsgrunde an den wildromantischen Ufern des Wissahickon läge, so könnte man sich zurückträumen in jene Tage, da der Ansiedler noch seine Pflugschar gegen Indianer und Engländer mit den Waffen in der Hand vertheidigte. In jener Zeit bildete das Eden von Amerika, der herrliche Park von Fairmount, noch eine fast ungebrochene Wildniß von der Independence Hall, woselbst der erste Congreß der Colonien tagte, bis zum Indianerfelsen, an dessen Fuß der Wigwam des Häuptlings Todyascuny stand.

Die Culturentwicklung der jungen Freistaaten Nordamerikas ging von dem einsamen Blockhaus der Ansiedler aus und nahm, dank der stählernen Energie und Arbeitskraft seiner Bewohner, einen so rüstigen Fortgang, daß heute die vierzig Millionen Amerikaner ein ebenso großes Schienennetz haben, wie die Staaten von ganz Europa, und daß sie das hundertjährige Geburtsfest der Republik durch einen internationalen Wettkampf verherrlichen können, bei welchem ihr Gewerbefleiß und ihre Erfindungsgabe einen schönen Triumph feiern.

Ehe wir uns die imposanten Schöpfungen betrachten, welche sich vom Lansdowne-Plateau erheben, wollen wir erst zu den alten Zeiten zurückkehren, da noch das Blockhaus an den obern Ufern des Schuylkill stand. Der Fairmountpark spiegelt ein gutes Stück der Geschichte Amerikas wieder, und ein kurzer Streifzug durch seine herrlichen Anlagen und Waldpartien dürfte nicht unergiebig sein.

Philadelphia liegt bekanntlich am Zusammenfluß des Delaware und Schuylkill, und an seine nordwestlichen Stadttheile schließt sich der Fairmountpark an, dessen südwestliche Partien die Ausstellungscommission für ihre Bauten in Beschlag nahm. Der berühmte Park bedeckt mit seinen Anlagen, Brücken, Rasenflächen, Waldstrecken, Seen und Cascaden einen Flächenraum von dreitausend Acker und breitet sich zu beiden Seiten des anmuthigen Schuylkill aus, so daß man einen Ostpark vom Westpark unterscheidet. Selbstverständlich gelangte die Stadt nicht mit einem Schlage in den Besitz des ungeheuren Terrains; der ursprüngliche Stadtpark wurde vielmehr durch Schenkungen und Erwerbungen seitens der Park-Commission im Laufe des letzten Jahrhunderts zu seinem jetzigen Umfang erweitert.

Besitzungen, auf welche der Eigenthümer stolz sein darf, werden von diesem in der Regel mit schweren Sorgen erkauft und erhalten; auch die Steuerzahler der Quäkerstadt mußten das erhebende Bewußtsein, den größten und prächtigsten Park der Welt zu besitzen mit schweren Opfern erkaufen.

Die Communalverwaltung Philadelphias sah sich in den letzten Jahren durch die große Ausdehnung, welche die Stadt gewann, genöthigt, Anleihen aufzunehmen, die eine beträchtliche Höhe erreicht haben. Dieser Umstand hatte zur Folge, daß man den Beschluß faßte, von allen weiteren Erwerbungen zur Abrundung des Parkes abzustehen und die größere Hälfte desselben bis auf Weiteres ihrem Schicksale zu überlassen.

Nichts konnte dem Naturfreunde erwünschter sein, als dieser Beschluß, denn groß genug ist der Park für ihn, und nun durfte er von den Statuen, geschorenen Rasenflächen, sprühenden Cascaden und den Tummelplätzen der eleganten Welt seinen Weg zu einer Wildniß nehmen, wo er auf einsamen Spaziergängen die Natur in ihrem traulichsten Daheim fand.

Als ich vor wenigen Tagen dem Ostparke meinen ersten Besuch abstattete, stieß ich auf der kurzen Fahrt vom Herzen der Stadt bis zum Strande des Schuylkill auf ein unerwartetes Hinderniß. Es waren nämlich in der Nacht zehntausend Tempelritter in Philadelphia angekommen, welche am Morgen ihr Stiftungsfest, oder welche Feier es sonst sein mochte, durch großartige Aufzüge in den Hauptstraßen der Stadt einleiteten. Der Zug war der Art mit kriegerischem Pomp ausstaffirt, daß naive Europäer hätten glauben können, es sei eine schlagfertige Armee im Anzuge. Musikcorps in militärischen Phantasieuniformen schritten den einzelnen Abtheilungen voran, dann kamen hoch zu Roß die Ordensmeister, dann die Bannerträger und endlich die unabsehbaren Schaaren der Templer, deren jeder ein gezogenes Schwert trug. Die Brust jedes Ritters war mit Orden und Abzeichen bedeckt; schwere Ritterhandschuhe, ein weißes Bandelier, wehende Straußfedern auf einem Marschallshute vollendeten den militärischen Aufputz.

Die Pferdebahnwagen überwanden endlich auch die Festblokade und ich landete am Ausgange der Greenstreet, dort, wo jedes der rothen Ziegelhäuser von einem blühenden Garten umgeben ist. Herrliche Anlagen führen zum Flusse und den Wasserwerken hinab. An dieser Stelle hatte sich einst William Penn sein einfaches Landhaus erbaut, und er konnte sich kaum eine prächtigere Stelle am Schuylkill aussuchen.

Ein Thurm ragt von den beiden Rasenflächen zu den Felsen auf, und seine Spitze, mit den Steinmassen verbunden, bietet einen prächtigen „Luginsland“. Der Schuylkill ist an dieser Stelle der Breite nach aufgestaut, sodaß seine Wasser alle den Wasserwerken zuströmen. Die letzteren liegen am Ufer, dicht unter den Felsen, und ihre mächtigen Maschinen pumpen täglich fünfunddreißig Millionen Gallonen Wasser in die hochliegenden Reservoirs, durch welche die Brunnen und Röhrleitungen der Stadt gespeist werden.

Die Wasserwerke mit ihren Tempelbauten, mächtigen Quais, plätschernden Fontainen und bunten Landungsbrücken beim große Damme gewähren ein reiches und belebtes Bild. Auf den hellgrünen Wassern des Flusses gleiten schnelle Dampfer und Ruderboote [477] hin und her, und in der Ferne erblickt man die Bauten des zoologischen Gartens am Westufer und eine Anzahl mächtiger Brücken, über welche von Zeit zu Zeit ein Eisenbahnzug hinwegbraust. Drunten im Thale tritt man in den Schatten hoher Baumkronen, sieht Equipagen und Reiter über die Kieswege jagen und findet auf breiter Rasenfläche, beschattet von Trauerweiden, die Bronzestatue des unvergeßlichen Lincoln. Das Denkmal, welches das dankbare Volk dem Andenken des hochverdienten Präsidenten weihte, liegt fast dicht am Fuße „der Hügel“.

Diese Hügel haben dadurch eine historische Bedeutung erlangt, daß sie von dem Landhause des berühmten Robert Morris gekrönt wurden, der auch die herrlichen Anlagen schuf, in deren dunkeln Schattenbäumen jetzt ein ganzes Heer bunter Singvögel nistet. Robert Morris war bekanntlich jener vortreffliche und patriotische Finanzmann, welcher Washington’s Unternehmungen im Freiheitskriege in so bewundernswerther Weise unterstützte. Morris sorgte für Waffen, Kleider, Lebensmittel und Geld während der langen Kriegsjahre, und als Washington endlich den letzten entscheidenden Schlag in Virginien ausführen wollte und es ihm hierzu an Mitteln gebrach, brachte Morris die für die damalige Zeit ungeheure Summe von 1,400,000 Dollars auf. Diese Unterstützung genügte, um die gekräftigte Armee nach Virginien zu führen, woselbst der britische Löwe Cornwallis mit seiner Armee bei Yorktown zur Uebergabe gezwungen wurde.

In der Independence-Hall zu Philadelphia glänzt das Portrait dieses wackeren Patrioten und auch das seiner Frau. Morris war ein behäbig und jovial aussehender Herr; um seinen Mund spielt ein feinsinniges Lächeln, und seine Augen blicken klug und entschlossen in die Welt. Ganz wie Benjamin Franklin trägt er ein ärmliches Gewand, und sein weißes Haar ist einfach und schlicht nach hinten gekämmt. Frau Morris dagegen präsentirt sich als eine fashionable Dame, die einen hohen Turban mit Straußfedern auf dem Kopfe trägt.

In dem gastlichen Hause des reichen Finanzmannes verkehrten lange Jahre die Helden der Republik, dann, mit einem Schlage, brach das Glück des Robert Morris zusammen, und „die Hügel“ kamen unter den Hammer.

Als der Congreß der unabhängigen Staaten nämlich sich seinen legislatorischen Aufgaben widmete, hatte Robert Morris für die Schuldhaft plaidirt und die Annahme derselben durchgesetzt. Später ließ er sich mit zwei Freunden in eine Speculation ein, die fehlschlug und in Folge der Treulosigkeit seiner Compagnons seinen Ruin herbeiführte. Morris wurde nun selber zur Schuldhaft verurtheilt, allein in Ansehung seiner hohen Verdienste um’s Vaterland bot man ihm die Freiheit an. Der charaktervolle Mann wies dieses Anerbieten standhaft von sich, indem er sagte: „Ein Gesetzgeber darf kein Gesetzbrecher sein.“ Vier Jahre blieb Morris im Gefängnisse, dann erlöste ihn das Bankerottgesetz. Bald nach seiner Befreiung starb der amerikanische Crösus, welcher die Hügel zum Schauplatze des ganzen Parks gemacht hatte, arm und verlassen in einer der dürftigsten Wohnungen der Stadt.

Auf den Hügeln findet man jetzt eine Restauration an der Stelle, wo das Landhaus von Robert Morris stand, dann ein Observatorium, zum Ausblicke über Stadt und Land, ferner ein epheuumranktes Blockhaus, welches Grant im Kriege zum Hauptquartiere von City-Point machte, und endlich den Platz, auf welchem man Alexander von Humboldt ein Denkmal errichten will. Der Entwurf zu dieser Statue ist bereits da; es fehlen nur noch die dreizehntausend Dollars, um denselben auszuführen.

Hinter den Hügeln findet man eine der schönsten und sicher die breiteste Brücke der Welt. Dieselbe ist aus Eisen construirt, sieht ungemein leicht und gefällig aus und verbindet die schöne Girard Avenue an der Ostseite mit der Westseite des Parks. Unter der Brücke öffnet sich dem Wanderer ein Felsentunnel, der ihn zu den romantischen Schluchten und Bergen des oberen Theiles des Ostparks führt. Selten habe ich einen so raschen und ergötzlichen Wechsel der Scenerie gefunden wie hier. Bald steigt man in eine tiefe schattige Schlucht hinab, in der ein Bach in wilden Sprüngen über die Felsen wirbelt und das Moos und die Baumwurzeln an seinen Ufern mit einem silbernen Sprühregen übergießt; bald kommt man auf sonnige Höhen, wo der schlanke Robin sein bronzeartiges Gefieder in der Sonne erglänzen läßt, und der schillernde Blauvogel in allen erdenklichen Tönen sein Weibchen lockt.

Auf dem Mount Pleasant liegt im Schatten uralter Bäume ein Landhaus, das an die Sommerresidenzen unserer Duodezfürsten aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts erinnert. Es ist ein steinerner Rococobau mit zwei Seitenpavillons. Erbaut wurde dieses Mount-Pleasant-Landhaus von John Macpherson, dem Vater des tapferen Revolutionshelden William Macpherson, und wenn ich nicht irre, dem Urgroßvater des kühnen und ritterlichen Birdseye Macpherson, der leider während des letzten Bürgerkrieges in Tennessee sein junges Leben ließ. Die idyllische Besitzung ging später in die Hände des Verräthers Benedict Arnold über, und zuletzt residirte hier unser braver Landsmann General von Steuben, dessen Portrait neben dem des Barons de Kalb im Sitzungssaale der Independence-Hall aufgehängt ist.

Ein rosiger Blumengarten, dessen Duft uns der Wind schon von Weitem entgegenträgt, bedeckt die zunächst liegenden Erdbeerhügel. An den Berghängen im Norden ragt die Todtenstadt von Laurel-Hill aus dem tiefen Grün der Baumgruppen hervor. Hier liegen in stiller Waldeinsamkeit die Familiengräber reicher Bürger Philadelphias. Wie auf dem Père Lachaise zu Paris, so wandelt man auch hier durch lange Gassen von Marmorobelisken, Mausoleen, Statuen und stolzen Sarkophagen. Ich habe selten einen friedlicheren Kirchhof gesehen, wie den von Laurel-Hill, allein das Vergnügen, hier schlafen zu dürfen, wird mit schwerem Golde aufgewogen. Ich sah einen mäßig großen Begräbnißplatz, der Tags zuvor für die stattliche Summe von fünfzehntausend Dollars erworben wurde.

Der nördlichste Theil des Ostparks wird vom Bache Wissahickon durchflossen, und hier nimmt die Scenerie den wildesten und romantischsten Charakter an. Vor hundert Jahren jagten hier noch die Indianer unter ihrem Häuptling Todyaseuny den Hirsch, als jedoch der Krieg ausbrach, folgten sie dem sagenhaften rothen Schwan, der Tag für Tag gen Westen zieht.

In das Dunkel dieser Wälder zog auch der deutsche Schwärmer Johann Velpius gegen Ende des siebenzehnten Jahrhunderts, um die Wiederkunft Christi abzuwarten. Mit seinen vierzig Anhängern saß der Fanatiker in den Höhlen beim Wissahickon und schmachtete nach dem tausendjährigen Reiche, bis ihn im Jahre 1708 der Tod von seiner Eremitage abrief. Die Jünger begruben ihren Meister, und da sie des unfruchtbaren Harrens müde waren, schlugen sie sich seitwärts in die Büsche und fingen an zu arbeiten.

Ganz am Rande des Parkes liegt Germantown, eine der ältesten Ansiedlungen Pennsylvaniens, berühmt durch das blutige Treffen, welches hier zwischen den Engländern und Washington’s Armee stattfand. Noch etwas weiter finden wir das Spring-Brook-Mansion zu Holmesburg, jenen prächtigen Landsitz des berühmten Tragöden Edwin Forrest, welchen dieser bei seinem Ableben der Schauspielergenossenschaft des Landes als Invalidenhaus vermachte. Hier können die alt gewordenen Histrionen die langentbehrten Reize des Landlebens genießen, bis sich auch über ihr Dasein jener dunkle Vorhang senkt, der die Scene für immer schließt, wenn auch die ganze Welt Bravo riefe.

Soweit der Ostpark; der Westpark ist in seinen nördlichen Partien wenig interessant; erst die Belmont-Schlucht, in welcher einst der irische Dichter Thomas Moore einen Sommer verbrachte, bietet mit ihren kühlen Quellen, bemoosten Felsen und verschlungenen Pfaden eine so reizende Wildniß, daß man aus ihrem tiefen Waldesschatten gar nicht mehr heraustreten möchte. Ersteigen wir die Höhe des einsamen Ridgelom oder die Terrasse von Belmont-Mansion, so breitet sich vor uns ein Panorama von staunenswerther Pracht aus. Der Blick schweift zu den Ufern des Schuylkill hinüber; im Südosten breitet sich Philadelphia aus, die friedliche Stadt der Bruderliebe. Aus dem Meere kleiner rother Ziegelhäuser ragen eine Anzahl stolzer Monumentalbauten auf, wie Riesen unter den Zwergen. Die hohe Kuppel da in der Ferne, welche im Sonnenlichte glänzt und flimmert, überwölbt das Schiff der Kathedrale von Sanct Peter und Paul. Der gewaltige Granitpalast mit seinen normannischen Erkern und Thürmen ist die Freimaurerhalle, und jenen weiße Marmorbau im griechischen Tempelstile, dessen [478] Formen sich so edel im Vordergrunde abheben, kennt man in ganz Amerika; es ist das Girard-College, in welchem alle Waisenknaben von Philadelphia die vortrefflichste Erziehung erhalten. Auf den Thüren dieses segensreichen Instituts steht laut dem Willen des Stifters Girardt: „Hier findet kein Priester Einlaß.“

Von Belmont-Mansion und dem danebenliegenden Observatorium übersieht man auch den dicht am Fuße des Hügels liegenden Ausstellungsplatz, der sich über das Lansdowne Plateau und die danebenliegenden Schluchten von George-Hill bis zum Sweet-Briar, einem Höhenpunkte am Schuylkill, erstreckt und von etwa hundertsiebenzig Bauten bedeckt wird.

Der von einer hohen Umfriedigung eingeschlossene Ausstellungsgrund hat beinahe die Gestalt eines Dreiecks, dessen Grundlinie von der Haupthalle und der Maschinenhalle gebildet wird. Diese beiden gewaltigen Bauten stellen eine fast ununterbrochene Front von viertausend Fuß dar. Der ganze Ausstellungsplatz umfaßt einen Flächenraum von zweihundertsechsunddreißig Acker.

Das aus Eisen und Glas gebaute Hauptgebäude gewährt einen recht imposanten Anblick. Die Farbe des Gebäudes ist die der hellen Bronze, doch sind die Kanten dunkel und bilden kräftige Linien. Ein Wald von Fahnen und Panieren flattert von den Thürmen und Dächern. Auch die Maschinenhalle ist ein ansehnlicher Bau, doch faßte die Commission hier wie beim Hauptgebäude mehr die praktischen Zwecke in’s Auge als die Schönheit der Architektur. Es galt vor allem bei diesen Kolossalbauten, die inneren Räume mit Licht und Luft zu versehen; dieses Resultat ist in glücklichster Weise erreicht worden.

Die Memorial-Halle, welche hinter dem Hauptgebäude und mit diesem in einer Parallele liegt, sollte ein Monumentalbau werden, und auf diesen verwandte man die Summe von 1,500,000 Dollars und betraute mit dem Entwurfe und der Ausführung des Gebäudes den deutschen Architekten Schwarzmann.

Unser genialer Landsmann hat mit diesem Werke einen glücklichen Wurf gethan. Der moderne Renaissance-Bau ist in hellem Granit ausgeführt, und seine stattliche Façade gewährt auf der hohen Terrasse einen erquicklichen Anblick. Das Centrum ist von einem hohen Dome überwölbt, welcher die Figur der Columbia trägt. Der Haupteingang im Centrum besteht aus drei mit korinthischen Säulen eingefaßten Bogenthüren, und das Centrum selbst ist mit den beiden Eckpavillons durch schöne Arcaden verbunden, welche den Blick auf kleine reizende Blumengärten gestatten. Die Ornamentation des Gebäudes ist sehr reich, aber nicht überall glücklich ausgeführt, namentlich steht die lange Columbia mit dem Kranze des Siegers so kerzengerade und steif auf der Weltkugel, wie ein Gedankenstrich auf dem Punkte. Wie ich höre, soll Schwarzmann auch die Absicht haben, Frau Columbia um ihre erhabene Stellung zu bringen und die Kuppel durch eine Gruppe zu schmücken. Um die breiten zur Terrasse führenden Treppen nicht ganz leer ausgehen zu lassen, hat man dieselben mit zwei Pegasussen geschmückt, denen die mit der Leier bewaffnete Poesie zur Seite geht. Dem Bildhauer wollte es nämlich absolut nicht gelingen, die Poesie, wie es sich gebührt, auf’s hohe Pferd zu bringen, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil die Flügel des edeln Dichterrosses der Reiterin keinen Platz für ihre Füße gewährten; so machte er aus der Noth eine Tugend und ließ die dichterische Muse neben dem Pegasus herlaufen. Die kolossalen Flügelrosse waren zuerst für das Wiener Opernhaus bestimmt, allein hier erregte es Anstoß, daß die Poesie neben dem Pegasus einherschreite, und man ließ das gewaltige Bronze-Ornament nicht auf’s Dach. Jetzt soll ein Amerikaner die verwaisten Flügelpferde erworben und der Ausstellungscommission zum Geschenke gemacht haben. Einem geschenkten Gaule schaut man bekanntlich nicht in’s Maul, zumal wenn derselbe ein Pegasus ist.

Das Innere der Memorial-Halle können wir uns bei gelegenerer Zeit betrachten. Nehmen wir den Weg durch eine von drei schlanken Brücken überspannte Waldschlucht, so erblicken wir auf der nächsten Höhe, umgeben von wahrhaft herrlichen Gartenanlagen, einen buntfarbenen maurischen Glaspalast, welchen gleichfalls der Architekt Schwarzmann erbaut hat. Dies ist die Horticultur-Halle, und ihre phantastische, echt orientalische Schönheit entzückt jeden Beschauer. Wie ein funkelndes Diadem krönt dieser luftige Bau die mit Rasenflächen, duftigen Blumenbeeten, blühenden Bosquets, Pavillons und Statuen bedeckte Höhe. Die herrlichen Anlagen ziehen sich von hier aus südwärts bis zu dem See vor der Maschinen-Halle, aus dessen Mitte eine mächtige Fontaine hervorschießt, und im Norden bis zu der Schlucht, welche die Horticultur-Halle von der Agricultur-Halle trennt. Die letztere gehört auch zu den großen Bauten und liegt mitten in einem Cedernwäldchen. Diese Halle besteht aus einem Mittelschiffe und drei Querschiffen, ist aus Holz und Glas im Spitzbogenstile gebaut und erinnert mit ihren gothischen Thürmen, grünen Dächern und gewaltigen Rosetten an den Eingangspforten an irgend einen mittelalterlichen Klosterbau.

Zu diesen Riesenbauten gesellt sich noch das gleichfalls sehr stattliche Ausstellungsgebäude der amerikanischen Regierung, welches in Form eines Kreuzes construirt ist, sowie der anmuthige Frauenpavillon. Damit ist jedoch die Aufzählung der schönen und interessanten Bauten noch lange nicht erschöpft. Da ist ein luftiger Sommerpalast der Japaner am Abhange einer waldigen Schlucht mit zierlichen Vorgärten zu erwähnen, dann ein schönes schwedisches Schulhaus, aus Fichtenholz gezimmert, ferner ein kleiner maurischer Palast, in welchem Kaufleute von Marokko Töpferwaaren und Teppiche ausstellen. In einer schönen Cottage zeigt die Singer’sche Firma ihre exact gearbeiteten Nähmaschinen.

An den schattigsten Plätzen erheben sich die Regierungsgebäude, unter denen das deutsche durch geschmackvolle Bauart hervorragt. Hierbei ist es nur zu bedauern, daß die deutsche Ausstellung mit dem hübschen Villenbau in gar keinem Einklang steht und sich nur durch Krupp’s große Kanone unter den übrigen Nationen hervorthut. Unter den Regierungsbauten amerikanischer Staaten sind die von New-Jersey, Ohio und Colorado besonders bemerkenswerth. Für die photographischen Werke ist auch ein besonderer Pavillon erbaut, dann hat man der Presse eine geräumige Villa als Hauptquartier eingerichtet; ferner findet man einen Pavillon, in welchem Reisebillets nach allen Punkten der Welt, soweit diese durch Dampfer und Eisenbahnen erreichbar sind, verkauft werden, und endlich eine Bank, ein Postbureau und andere Einrichtungen, welche den Zwecken des Publicums dienen. In ihrer Gesammtheit bedecken die Ausstellungsbauten ein Terrain, welches um ein Dritttheil größer ist, als das der Wiener Ausstellung. Da nun diese Bauten über das weite Terrain verstreut liegen, so hat man, damit sich der Besucher der Ausstellung nicht allzusehr mit Laufen plage, zwei Eisenbahnzüge mit offenen Sommerwagen eingerichtet, welche in munterem Tempo die schaulustige Menge durch die ganze Ausstellung führen. Diese Fahrt kostet nur fünf Cents, und man genießt dafür in raschem Wechsel den Anblick von Scenerien, welche in der That bewundernswerth sind. Auf dieser Fahrt bemerkt man auch das Zeltlager der Cadetten von Westpoint, welches gleichfalls einen Theil der Ausstellung ausmacht, dann ein gut eingerichtetes Feldhospital, ein Feldtelegraphen- und Signalamt, und was dergleichen Dinge mehr sind.

Ueber die Schlucht bei der Horticulturhalle fährt – nein, sagen wir lieber reitet – eine seltsam construirte Locomotive mit einem hohen Sommerwagen. Diese neuconstruirte Maschine soll einem ganz besonderen Zwecke dienen; sie soll nämlich die New-Yorker Stadteisenbahn befahren, welche auf hohen eisernen Pfählen über die Dächer und Straßen der Stadt geht. Von einer gewöhnlichen Locomotive befürchtet man doch, daß sie einmal in die leere Luft entgleisen und dann furchtbares Unheil anrichten könne. So hat man denn ein spitzwinkeliges Schienengeleise gebaut, auf welchem Locomotive und Waggons gleich einem Reiter sitzen. Der Zug ruht auf dem obersten Geleise, allein ein Kastenbau geht bis hinunter zu den breit auseinanderstehenden Schienen der Basis und klemmt sich hier mit wagerecht liegenden Rädern gegen diese Geleise fest. So wird ein Entgleisen ganz unmöglich und man fährt so gefahrlos über die tiefe Schlucht, als hingen die Schienen nicht in der Luft, sondern lägen auf der festen Erde.

Wie belehrend die Commission der Ausstellung nach jeder Richtung hin zu wirken suchte, geht am klarsten aus den Leistungen der Maschinenhalle und der Regierungsausstellung hervor. Vorläufig sei nur erwähnt, daß man die Firma Gillender und Sohn veranlaßte, eine vollkommene Glasfabrik als Ausstellungsobject einzurichten, in welcher große Oefen im Betrieb [479] sind und die ganze technische Seite der Glasfabrikation dem Publicum gezeigt wird.

Für den Comfort der Ausstellungsbesucher ist in der aufmerksamsten Weise gesorgt worden. In allen größeren Ausstellungshallen findet man gut eingerichtete Absteigequartiere mit Waschbecken, Trinkgeschirren etc.; überall sind Bänke zum Ausruhen angebracht, die keiner Steuer unterworfen sind. Im Schatten hoher Baumgruppen concertirt Tag für Tag die Gilmore’sche Capelle.

Die Centennialausstellung ist, dank dem kühnen Unternehmungsgeist und der Thatkraft der Amerikaner, eine Weltausstellung großartigen Stils geworden, und ich kann nur jedem Deutschen, der Geld und Muße hat, dringend rathen, sich dieselbe anzusehen. Die Gefahren und Beschwerden der Seereise sind im Sommer gering, zumal die deutschen Dampfer, namentlich die des Bremer Lloyd, jetzt mit der lobenswerthesten Sorgfalt vorgehen und die Verpflegung auf diesen Schiffen eine glänzende ist.

Kunst und Kunstgewerbe waren auf der Pariser und Wiener Weltausstellung besser und reicher vertreten, als dies hier der Fall ist, allein die moderne Seite der Industrie kam noch nie so vollendet zur Anschauung wie auf der Centennialausstellung.

Wird es für uns Deutsche nicht interessant sein, zu erfahren, mit welchen Hülfsmitteln sich im Laufe eines Jahrhunderts die junge Nation von der Wildniß des nordamerikanischen Continents emporarbeitete und eine wunderbare Welt in’s Leben rief? Nun, Alles, was zwischen der ersten rohen Culturarbeit im Urwald und dem sinnreichsten Maschinenbetrieb in der gewaltigen Metropole, was zwischen dem Blockhaus und der Entfaltung der Kunstblüthe in der Memorialhalle liegt, das zeigt uns jene märchenhafte Welt im Schooße des Edens von Amerika.




Blätter und Blüthen.

Ein Grundbesitz der deutschen Nation in Italien. Welchem Kunstfreund oder Kunstkenner ist nicht die durch deutsche Maler weltberühmt gewordene Serpentara bekannt, jener mit einem Eichenhaine bestandene Hügel in der Nähe von Olevano im Sabinergebirge, der den Namen von dem gewundenen Pfade hat, der auf seinen Gipfel führt. Von ihm herab schweift der entzückte Blick über die classische italische Landschaft des Sabinergebirges, über die schönen Formen der Volskerberge, die sich vom Apennin zwischen den pontinischen Sümpfen und dem Flusse Sacco abzweigen und bis zu fünftausend Fuß erheben, und endlich bis zu der graublauen Linie, die das Tyrrhenische Meer mehr ahnen als erkennen läßt. Welcher Landschaftsmaler, der das Ziel und den Graal Aller – Rom erreichte, und sollte er auch nur ganz kurze Zeit dort sein, pilgerte nicht nach Olevano, einem der angenehmsten, lieblichsten „Malernester“ – wir gebrauchen einen Ausdruck von Woldemar Kaden in seinem Aufsatze des zweiten Bandes von Hillebrand’s „Italia“. In dem erwähnten, jenes Stück Italien trefflich schildernden Aufsatze: „Die Malernester im Sabinergebirge“ heißt es: „In diesen Bergen, dieser riesigen Felsenwiege erstand die neue deutsche Landschaftsmalerei. Hier, in dieser Luft, in diesem erhabenen Glanze des römischen Lichtes wuchsen ihr die Schwingen, und wie zu einer Urstätte des Schönen wallfahrten die deutschen Landschafter nach dem alten Olevano, um die Farben ihrer Palette aufzufrischen an dem belebenden Hauche dieser Landschaft.“ – Und so ist es in der That. Alljährlich sehen wir eine Menge deutscher Künstler dort fleißig der Natur ihre Geheimnisse ablauschen, sehen sie versuchen, je nach Vermögen die Schönheiten der Landschaft in sich aufzunehmen und wiederzugeben. – Welch’ anderer Flecken schöner Erde böte aber wohl auch mehr, wirkte poetischer auf den Künstler und selbst auf den Dichter? Der die Natur ideal erfassende und stilvoll reproducirende Maler findet selten instructivere Gegenstände für seine Kunst als hier. Nirgend anderswo tritt der organische Zusammenhang verschiedener, das Schöne in der Natur bestimmender Momente so klar hervor, wie hier in und um Olevano und namentlich in der nahen Serpentara, die für den Künstler so reiche Schätze in Motiven, Terrains, Baumgruppen, Fernen und Einzelstudien birgt.

Der Entdecker dieser seit fast einem Jahrhundert fort und fort von den deutschen Malern gehobenen und selbst von deutschen Dichtern (Waiblinger, Scheffel) gepriesenen Schätze war natürlich – wen wird es noch Wunder nehmen? – ein Deutscher, Joseph Anton Koch (1768 bis 1839), der alte Koch, der mit Reinhardt der classischen Landschaft Vollendung zu geben strebte. Er lenkte mit Anderen die Landschaftsmalerei wieder in jene Bahnen ein, die ein Claude Lorrain zuerst betreten und auf denen erst das neunzehnte Jahrhundert dieses Kunstgenre nach hundertjährigem Verfalle zu so hoher Blüthe und Entfaltung führte, daß es heute ebenbürtig mit jeder Gattung der Malerei in die Schranken treten kann. Bekanntlich beginnt die malerische Darstellung der Natur erst im Mittelalter, und erst später, im siebenzehnten Jahrhundert, gewinnt die heroische Landschaft, besonders, wie erwähnt, durch Claude, Form und Gestaltung – sie wird zum besonderen Genre. Wie bei Claude läßt es sich auch bei Poussin, Salvator Rosa, Domenico Carracci und Anderen nachweisen, daß sie für ihre landschaftlichen Kunstschöpfungen die ergiebigen Fundstätten der Gegend um Rom benutzten, die ihnen die Motive für großartige Stimmungen und reiche Details gewährten.

Die Gegend von Olevano indessen ist bei keinem ihrer Bilder nachweisbar, und nur erst seit Koch ist Olevano der Wallfahrtsort der Landschaftsmaler, vorzugsweise der deutschen, deren berühmteste wir im Album der Casa Baldi, der Künstlerherberge par excellence, seit Koch eingeschrieben finden. Gar häufig auch ließen sie ihre Spuren mit dem Zeichenstifte zurück, und so finden sich dort z. B. vom jetzigen Director A. von Werner, der so rasch Namen und Bewunderung errungen, eine ganze Reihe von vorzüglichen Portraitskizzen in einem der letzteren Jahrgänge, der hochangesehene Namen der Künstlerwelt nennt, wie die Deutschen Ludwig Richter, Rottmann, Harry, Fries, Fohr, Draeger, Preller, Vater und Sohn, Willers, Dreber, Reinhold, Schirmer, Hoffmann (Wien), Hertel (Berlin). Die genannten Alle studirten dort fleißig die Natur, holten dort reiche Beute, Stoff und Nahrung für ihre Bilder, denen der Stempel Olevanteser Poesie aufgedrückt ist, denn wie die Landschaftsmalerei im siebenzehnten Jahrhundert, wo sie sich erst zum besonderen Genre gestaltete, vorwiegend den Künstlern romanischer Race angehörte, ist sie in unserem Jahrhundert, wo sie nach ihrem Verfalle im vorhergegangenen einen überraschenden Aufschwung nahm, beinahe ausschließlich die Domäne der germanischen, die unbestritten auf diesem Gebiete die meisten lorbeergekrönten Vertreter zählt.

In der stolzen und langen Reihe deutscher Landschafter ragt als einer der Gewaltigsten der noch in rüstiger Schaffenskraft lebende Fr. Preller in Weimar hervor, dessen herrliche deutsche Waldbilder, Marinen und überall gekannte Compositionen aus der Odyssee seinen Weltruhm befestigten. Auch ihn hatte es bei seinem neulichen Aufenthalte in Rom wieder nach Olevano gezogen, wo er in früheren Jahren der häufige Gast der Casa Baldi war, die seit Koch in den Händen der Familie Baldi ist. Das Gasthaus liegt oberhalb des Bergstädtchens Olevano auf einem grünen Hügel, und die Leser der „Gartenlaube“ sahen beide schon in Nr. 10 des 1874er Jahrganges. Zwischen Olevano – eine halbe Stunde von diesem entfernt – und dem noch höher thronenden Felsenneste Civitella liegt nun die Serpentara, jener durch unsere großen deutschen Landschafter geweihte und immer wieder bevorzugte Eichenhain, dem auch Preller zahllose Blätter seiner klassischen Baumstudien entlehnte. Der schöne kleine Eichenwald von zierlichem und markigem Wuchse ist heute, nachdem er glücklich der Gefahr entronnen, seine mehr als hundertjährigen Bäume von dem Beile gefällt zu sehen, Eigenthum unseres deutschen Kaisers. Der von den Künstlern gleichfalls geschätzte Hain im altclassischen Thale der Egeria vor dem cazenischen Thore in Rom, wo König Numa die Unterweisungen der Nymphe empfing, entging dieser Gefahr nicht. Unsere materiellen Bedürfnisse, unsere modernen Institutionen sind die Feinde der Künstler und Poeten. Ingenieure bedurften zu ihren Eisenbahnschwellen die dauerhaften Stämme der Steineiche auf der Serpentara, seit Langem das Entzücken unserer Landschafter und das immer wieder gesuchte Object für ihre Studien. Schon war der Kaufvertrag zwischen zwei Bauern von Civitella, den Eigenthümern, und den Bahnlieferanten, die das geschätzte Material in den fernen Bergen ausgewittert hatten, unterzeichnet, da ereilte die Nachricht, eine Schreckenskunde für unsere Künstler und Kunstfreunde, den Landschaftsmaler Edmund Kanoldt, einen begeisterten und tüchtigen Kunstjünger des Meister Preller, der sich damals, im Sommer 1873 in Italien aufhielt. Von einem Freunde kam ihm die Mahnung, sofort von Terracina nach Olevano aufzubrechen, wolle er seine geliebten Eichen auf der Serpentara noch einmal sehen. Auf diese Hiobspost hin schrieb Kanoldt sofort unzählige Briefe nach allen Seiten hin und suchte durch persönliches Erscheinen am Platze der Gefahr Einhalt zu thun, welche dem schönen Haine drohte. Nur um zweihundert Lire mehr, als die Holzlieferanten zahlen wollten, handelte es sich, und Kanoldt entwickelte sofort die regste Thätigkeit, seine Freunde in Rom, und zunächst die deutsche Gesandtschaft daselbst in ihrem so verdienten Vertreter Herrn von Keudell für seinen Plan zu interessiren, die Serpentara-Eichen anzukaufen. Er fand, in Rom eingetroffen, zu seiner freudigen Ueberraschung die briefliche Mittheilung, daß Kunstfreunde in Leipzig in ihrem oft bewährten nicht kargenden Sinne für die Kunst zweihundert Thaler bereits beigesteuert hatten. Auf Victor Scheffel’s Betreiben hatte ein Künstler in Karlsruhe tausend Lire zugesagt. Wen sonst finden wir so opferfreudig als die Deutschen, wenn es sich um die Interessen der Kunst handelt, und welcher Nation sonst steckte die Begeisterung für das Schöne in Natur und Kunst gewissermaßen im Blute, wenn nicht der deutschen?[2] So sagt auch Kaden: „Es ist eine famose Mitgift unserer deutschen Nation, daß wir Alle so ein Stückchen Künstlernatur im Herzen mit herumtragen.“

Nach den gleich anfangs reichlich eingegangenen Spenden galt es Kanoldt nicht nur die Bäume, sondern auch den Grund und Boden zu gewinnen, und hierzu versprach Herr von Keudell mit größter Bereitwilligkeit seine Beihülfe. In drei Monaten war Kanoldt so glücklich, die zum Ankauf nöthige Summe beisammen zu haben, nachdem er in unermüdlicher Weise überall hin correspondirt, wo er Interesse für die Sache zu erwarten hatte. Fünfhundert Lire steuerte noch ein Wiener Künstler bei, und das Uebrige floß allmählich in kleineren Posten von fünf und zehn Lire zusammen. Der Gesandtschaftsnotar in Rom schloß am 25. September 1873 den Kaufcontract mit den früheren Eigenthümern aus Civitella, so daß der Grund und Boden mit den Bäumen das unveräußerliche [480] Eigenthum der deutschen Künstler und Kunstfreunde wurde. Unser Gesandte, Herr von Keudell, ließ zum Schutze gegen unbefugtes Betreten von Weidevieh eine staggionata (Umzäunung) darum ziehen, die indessen in keiner Weise störend wirkt. Ein Pächter in Uniform mit dem deutschen Wappen auf der Brust schützt das Heiligthum unserer Künstler vor jeglichem Frevel. Um aber dieses kleine Eigenthum deutscher Nation in den allerbesten Händen zu wissen, baten die Erwerber unseren hochverehrten Kaiser Wilhelm, dasselbe als Schenkung anzunehmen, der denn das Ersuchen freundlich gewährte und sofort die fernere Erhaltung und Bewachung der Serpentara durch einen Wächter verfügte, denn ein solcher thut allerdings sehr noth im Lande Italien. Unsere Serpentara – so nennen wir sie gern in patriotisch gehobenem Gefühl – mißt übrigens nur achtundzwanzigtausendundvierzig Quadrat-Meter und ist mit nur etwa hundert Eichen bestanden, allein die herrlichen auf ihrem mageren Grund langsam, gedrungen und in markigster und dennoch zierlichster Form gewachsenen, nicht sehr hohen Bäume bieten dem suchenden Auge des Künstlers immerfort Neues, Ueberraschendes, Schönes; sie geben eine unerschöpfliche Fundgrube vortrefflichster Einzelstudien, und wie die Lorelei am Rhein den Schiffer, lockt die Serpentara den deutschen Künstler. Betrachten wir die so großartig zu unseren Füßen sich ausbreitende Landschaft, welche in der Form und der satten südlichen Farbe wie für den Maler geschaffen ist, betrachten wir den gewaltigen Felskamm, der sich in die Tiefe stürzt, das hoch auf dem Felsen ragende Civitella, das malerische Olevano und die anmuthigen Linien der Volskerberge, so müssen wir den scharfen Künstlerblick eines Koch bewundern, des Entdeckers dieser italischen Pracht und Herrlichkeit,[3] dessen Manen befriedigt auf die That Kanoldt’s niederschauen, die zu künden man uns nicht tadeln wird.

Edmund Kanoldt, ein Künstler in den dreißiger Jahren, zählt zu den tüchtigsten Schülern Preller’s. In seinen Bildern tritt unverkennbar jener ideale Zug hervor, den wir bei seinem Meister bewundern und welcher unerläßlich ist, um der classischen Landschaft jene Vollendung zu geben, durch welche sie sich vor dem Stimmungsbilde und der bloßen „Ansicht“ auszeichnen soll. Aus Kanoldt’s Mappe, die er mit fleißigen und interessanten Studienblättern, außer in Olevano und in der Serpentara, in der römischen Campagna, dem Sabinergebirge, in den Abruzzen, in Apulien, in der Basilicata und in Calabrien bei mehrjährigem Aufenthalte in Italien füllte, werden eine große Anzahl Bilder dem Publicum in Erinnerung sein, die im Prachtwerke „Italien“ (Stuttgart 1875), in der „Leipziger illustrirten Zeitung“ und anderswo durch den Holzschnitt zur Vervielfältigung kamen. Ein großes Oelbild von Kanoldt: „Eichen im Winde“, schuf der Maler nach Motiven einer Landschaft bei Olevano; wir erwähnen desselben, weil es in der Concurrenz des deutschen Künstlervereins in Rom den Preis erhielt und für die Erxleben’sche Stiftung angekauft wurde. Ein größeres Oelbild Kanoldt’s ist im Besitze der Frau Seeburg in Leipzig; ein anderes befindet sich in Moskau in Privathänden, wo der Künstler vor seiner Uebersiedelung nach Karlsruhe einige Zeit lebte.

Gern erkennen wir Kanoldt’s That an, durch Energie und rastlosen Eifer „des Malervolkes wahren Himmel“, die Serpentara, gerettet und hoffentlich für alle Zukunft dem deutschen Künstler erhalten zu haben.V.     


  1. Wir glauben mit unserem Herrn Specialcorrespondenten mit Recht voraussetzen zu dürfen, daß die Eröffnungsfeierlichkeiten der Weltausstellung zu Philadelphia unseren Lesern bereits aus den zahlreichen Schilderungen der Tagesblätter hinlänglich bekannt sind. Herr Elcho wird daher sofort mitten in das bewegte Leben der Ausstellung hineingreifen und die Hauptmomente desselben in einer Reihe frisch entworfener abgeschlossener Bilder an den Augen der Leser vorüberführen.
    D. Red.
  2. Wir wollen hier der uneigennützigen, kostspieligen Ausgrabungen bei Olympia in Griechenland gedenken, welche die preußische Regierung vornehmen läßt.
  3. Auch Scheffel rühmt in seinem „Abschied von Olevano“ (Gaudeamus V)
         „– der Serpentara kühne, immergrüne Eichenpracht.“

Erleichterungen beim Telegraphen-Verkehr. Seitdem Post und Telegraphie im Deutschen Reiche zu einer Verwaltung verschmolzen sind, werden dem Publicum mannigfache Vortheile geboten, welche die Benutzung beider Verkehrsmittel wesentlich erleichtern. Mehr und mehr hört die räumliche Trennung der Post- und Telegraphen-Aemter auf, und man kann bereits bei vielen dieser Verkehrsanstalten sowohl Postsendungen wie auch Telegramme einliefern, was namentlich für die Bewohner großer Städte, wo die Entfernungen beträchtlich sind, eine erhebliche Ersparung an Zeit und Mühe ist. Zwei neue Einrichtungen der deutschen Verkehrsverwaltung verdienen aus denselben Gesichtspunkten hier besonders hervorgehoben zu werden, zumal sie noch wenig bekannt geworden sind.

Wer ein Telegramm empfängt, ist häufig genöthigt, sofort telegraphisch zu antworten. Wenn er nun eines eigenen Boten entbehrt, so besorgt ihm auf sein allerdings unmittelbar nach dem Empfange der Depesche auszudrückendes Verlangen der überbringende Telegraphen-Unterbeamte die Depesche zu dem Verkehrsamte. Die Telegraphenboten sind verpflichtet, fünf Minuten lang auf die Ausfertigung eines Telegramms zu warten, auch über die Gebühren etc. Auskunft zu geben und sodann die Depesche zur Telegraphen-Anstalt mitzunehmen. Außer den Gebühren für das Telegramm sind für diese Dienstleistung nur zehn Pfennige an den Boten zu entrichten.

Eine andere Einrichtung verspricht besonders in der Reisezeit einen nicht zu unterschätzenden Vortheil für das mit Bahnzügen reisende Publicum. Seit Kurzem werden nämlich von den sämmtlichen Bahnposten der Reichspost – wie solche sich fast in jedem Zuge befinden – unterwegs Telegramme angenommen und an die nächsten Telegraphen-Anstalten weiter befördert. Die Bahnpost, welche durch die Aufschrift „Kaiserl. Deutsche Reichspost“ auf den Postwaggons oder durch die Bezeichnung „Post“ mit einem Briefmodell darunter in den Bahnzügen kenntlich und daher leicht aufzufinden ist, nimmt die Telegramme jedesmal nach derjenigen Station mit, von welcher die Beförderung nach dem Bestimmungsorte am schnellsten erfolgen kann. Man hat daher nur einfach eine Postkarte zu nehmen, das Telegramm darauf auszufertigen und solches der Bahnpost im Zuge zu übergeben. Die Bezahlung der Gebühren erfolgt entweder baar oder kann durch Aufkleben von Postfreimarken bewirkt werden. Selbst solche in den Briefkasten der Bahnpost gelegte Telegramme, für welche die Gebühren nicht voll bezahlt sind, befördert die Bahnpost gleichwohl unverzögert; die Nachtaxe wird vom Empfänger eingezogen.

Erwägt man, wie oft unterwegs die Nothwendigkeit sich ergiebt, in wichtigen Fällen Versäumtes durch ein Telegramm nachzuholen und wie andererseits die Telegraphen-Aemter auf den Bahnhöfen bei Zügen, die kurze Haltestellen haben, wie die Schnellzüge, nur schwer oder unter Gefahr des Zurückbleibens zu erreichen sind, so wird der große Nutzen, welcher aus dem Vorhandensein einer bequemen Annahmestelle für Telegramme bei den Bahnposten für das reisende Publicum hervorgeht, von selbst einleuchten.

Eine weitere Verkehrserleichterung ist am 1. Juni 1876 in’s Leben getreten, indem es von diesem Zeitpunkte ab gestattet ist, Geldbeträge, welche telegrafisch überwiesen werden sollen, unmittelbar bei den Reichs-Telegraphen-Aemtern einzuzahlen, während dies früher nur bei den Postämtern zulässig war. Die Einrichtung ist nach dem Grundsatze: „Zeit ist Geld“ als Fortschritt anzusehen, der ebenfalls dem Publicum zu Gute kommt.G. T.     


Billiges Fleisch aus überseeischen Ländern. Die alte, durch Liebig’s Fleischextract doch nur sehr unzureichend gelöste Aufgabe, die unermeßlichen Viehweiden Südamerikas und Australiens für das bedürftige Europa nutzbar zu machen, ist gegenwärtig von drei verschiedenen Richtungen her in erfolgreichen Angriff genommen. Der eine Lösungsversuch des Problems, frisches Fleisch unverdorben über den Ocean zu bringen, gründet sich auf die von der neueren Physik geschaffene Möglichkeit, ohne großen Kostenaufwand dauernde Frosttemperatur in allen mit Fleisch beladenen Räumen eines Transportschiffes erhalten zu können. Es ist hier zuvörderst zu bemerken, daß Verpackung des Fleisches in Eis den beabsichtigten Zweck nicht erfüllt; erst vor Jahr und Tag verdarb eine ganze Schiffslast in Eis verpackten australischen Fleisches, ehe sie den Ort ihrer Bestimmung erreichte. Es ist eben trockene und stärkere Kälte nöthig, als schmelzendes Eis gewähren kann. Der Wunsch, das während der Belagerung von Paris öfter im Ueberfluß vorhandene Pferdefleisch für längere Zeit vor dem Verderben zu bewahren, führte damals den Physiker Tellier dazu, Kältekammern einzurichten, in denen die Temperatur durch zweckmäßige Verdampfung von Methyläther beständig mehrere Grade unter Null erhalten wird. Da dieselben sich sehr gut bewährten, um Fleisch ohne irgend welche Präparation mehrere Monate frisch zu erhalten, so hat er neuerdings nach seiner Methode ein großes Dampfschiff von neunhundert Tonnen zu einem Frostmagazin (Frigorifique) umgestaltet, welches inzwischen wohl seine Probefahrt angetreten haben wird und gleichzeitig bestimmt ist, kühl zu haltende Delicatessen der alten Welt (Biere, Weine, Gemüse, Obstarten etc.) über den Aequator zu schaffen. – Aehnliche bauliche Einrichtungen würde ein Fleischerhaltungsverfahren beanspruchen, welches die Pariser Physiker Paul Bert und Alvaro Reynoso im vergangenen Jahre entdeckt und zuerst probirt haben, und welches darin besteht, das frische Fleisch unter einem sehr erhöheten Luftdrucke in gasdichte Behälter einzuschließen. Die Genannten haben nämlich gefunden, daß in verdichteten Gasen aller Art die Fäulniß vollkommen unterbleibt, und ein Rinderviertel, welches am 20. September vorigen Jahres in einen derartigen Behälter eingeschlossen worden war, wurde am 27. März dieses Jahres so wohlerhalten daraus hervorgezogen, daß es ohne Beanstandung als frisches Fleisch hätte verkauft werden können. Das Fleisch scheint in der verdichteten Luft sogar „den Weg alles Fleisches“ halb und halb zu vergessen, denn nachdem es eine Weile in dem Behälter zugebracht, widersteht es, herausgenommen, auffallend lange dem Verderben. Man sollte denken, daß es nicht schwer sein könnte, aus Metall umfangreiche luftdichte Räume für den Transport größerer Lasten herzustellen, und daß ein solches Verfahren vortheilhafter sein müßte, als beständige Abkühlung. – Am schnellsten hat sich die Praxis eines dritten Verfahrens bemächtigt, welches auf der fäulnißwidrigen Kraft der borsauren Salze beruht und erst im vorigen Jahre von dem Chemiker A. Herzen in Florenz bekannt gemacht worden ist. Derselbe fand nämlich, daß Fleischstücke, die man ohne besondere Vorsichtsmaßregeln in eine saure Boraxlösung eingelegt hatte, nachdem sie zwei tropische Seereisen mitgemacht, nach dem Abwaschen und Kochen oder Braten eine prächtige, gesunde Speise lieferten. Es hat sich sogleich eine Gesellschaft gebildet, die aus Südamerika so präparirtes Fleisch nach Frankreich und Belgien einführt und bereits einen wohlerhaltenen Transport erhalten hat. Man läßt das Fleisch der frischgeschlachteten und geviertheilten Thiere in Buenos-Ayres 24 bis 36 Stunden lang in einer Auflösung von 8 Theilen Borax, 2 Theilen Borsäure, 3 Theilen Salpeter und 1 Theile Kochsalz in 86 Theilen Wasser liegen und packt es dann in Fässer. Der Salpeter- und Salzzusatz hat sich zur Erhaltung der rothen Farbe günstig erwiesen, doch ist natürlich von keiner Pökelung die Rede. Vor der Zubereitung wird es gut gewässert, um die übrigens fast geschmacklose und unschädliche Boraxmischung zu entfernen, und im Uebrigen wie frisches Fleisch behandelt. Für beide Erdtheile dürfte damit ein bedeutsamer nationalökonomischer Fortschritt angebahnt sein, für den einen durch Verwerthung eines bisher fast werthlosen Naturproductes, für den andern durch billige Beschaffung des werthvollsten Nahrungsmittels.C. St.     


Julius Otto-Bund. In Dresden wurde am 6. Mai zu Ehren des Componisten Julius Otto – weltbekannt ist sein Lied „Das treue deutsche Herz“ – bei Gelegenheit seines Jubiläums und Rücktrittes vom Amte durch die bedeutendsten Gesangvereine Dresdens unter Vortritt der „Liedertafel“ ein Bund gegründet, welcher den Namen „Julius Otto-Bund“ führen und die ihm beigetretenen Vereine jährlich zweimal zu gemeinsamem und Wettgesange vereinigen soll. Der gefeierte Jubilar, Sängervater Otto, war zugegen und leitete die Hauptgesänge.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.