Die Gartenlaube (1879)/Heft 16

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1879
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[261]

No. 16. 1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.


Im Schillingshof.
Von E. Marlitt.
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.


Unterdessen war die Majorin in die Küche zurückgekehrt; sie hatte einen Brodlaib aus dem Schranke genommen und schnitt tüchtige Stücken für ein paar im Flur stehender Bettelkinder ab. Auch der Rath kam herein; Felix hörte seinen festen Schritt auf den Steinfließen der Küche; er ging auf die Wohnstube zu, blieb aber plötzlich wie auf einen Ruck stehen.

Das eine Küchenfenster stand offen, und draußen im Hofe sagte ein Tagelöhner zu der Magd, die eben mit einem Arm voll frischen Klees nach den Ställen ging: „Du, der Alte drüben im Schillingshofe hat ja den Adam Knall und Fall fortgejagt; der Kutscher sagte es eben – dem thut’s leid.“

„Geh’ an Deine Arbeit! Für Eure Klatscherei zahle ich keinen Taglohn!“ rief der Rath hinaus. Der Mann fuhr zusammen, als träfe ihn diese herrische Stimme wie ein Messerstich.

Klirrend schlug der Rath das Fenster zu und griff nach einem der Trinkgläser, die sich spiegelblank auf einem Mauersims an einander reihten. „Leidest Du es denn, daß die Leute vor Deinen Augen die Zeit todtschlagen und schwätzen?“ fragte er finster seine Schwester.

„Die Frage war überflüssig; Du weißt, daß ich auf die Hausgesetze halte so gut wie Du,“ versetzte sie abweisend, wenn auch ohne alle Empfindlichkeit. „Aber Adam hat das Gesinde rebellisch gemacht. Er ist der Kohlengeschichte wegen doch noch entlassen worden und war auch hier im Hause, um Dir abermals vorzulamentiren; der Mensch drohte in seiner kopflosen Bestürzung mit einem Sprung in’s Wasser –“

Felix war währenddem auf die Schwelle der Wohnstube getreten; er sah von der Seite, wie der Onkel mechanisch an seinem dünnen Kinnbart drehte und das gegenüberliegende Ganggeländer mit den trocknenden Pferdedecken und Kornsäcken hin- und herirrenden Blickes so angelegentlich musterte, als höre er nur mit halbem Ohr, was seine Schwester sagte.

„Bah – Larifari!“ fiel er ein, ihre Rede kurz abschneidend. „Wer’s sagt, der thut’s nicht.“ Er hielt das Trinkglas unter das Brunnenrohr und trank das frische, perlende Wasser mit einem Zuge aus. „Ich werde übrigens diesem Herrn von Schilling schließlich doch ein wenig auf den Mund klopfen müssen; er treibt mir’s zu bunt in seiner kindischen Wuth,“ fügte er hinzu, das leere Glas niedersetzend. Er fuhr sich mit dem Taschentuch über Kinn- und Lippenbart, aber auch wiederholt über die Stirn, als sei auch sie feucht geworden.

„Das wäre ja dann die Rechtfertigung, die Adam verlangt, Onkel; er will nichts anderes, als das auffallende Zusammentreffen von Deiner Seite aus beleuchtet wissen“ rief Felix hinüber.

Der Rath fuhr nach ihm herum. Er hatte große, graublaue Augen, welche mit dem Selbstbewußtsein eines Mannes, der nie um einen Schritt vom Rechtsboden weicht, durchdringend, in das Gesicht anderer Menschen zu sehen pflegten; aber sie konnten auch versteckt unter den überhängenden Brauen hervorglimmen wie verhaltene Funken. Dieser halbverschlossene Blick glitt an dem Neffen empor, der in eleganter Kleidung hoch und schlank und sehr vornehm auf der erhöhten Schwelle stand, und streifte dann vergleichend an der verschossenen Joppe nieder, die der Herr Rath selten mit einer besseren vertauschte.

Die Bemerkung des jungen Mannes blieb unbeantwortet. Der Onkel lächelte nur sarkastisch; er schlug mit dem Taschentuch hängengebliebene Halme, Erd- und Kohlenreste von seinen Kleidern, die dicke Staubschicht von den Stiefeln, und dabei mit dem Kopfe nach Felix hindeutend, sagte er beißend zu seiner Schwester:

„Er steht da, wie das leibhaftige Modenkupfer, Therese – so frisch vom Schneider weg, so glatt und geleckt! Das flotte Röckchen da müßte sich famos in Scheuer und Kohlenschacht ausnehmen, Felix.“

„Es ist auch nicht dazu gemacht, Onkel; was gehen mich Scheuer und Kohlenschacht an!“ versetzte Felix, seine Empfindlichkeit unter einem flüchtigen Lächeln verbergend.

„Ach wie – so rasch und willig findest Du Dich mit der großen Wandlung in Deinem Leben ab? Da siehst Du nun, Therese, was ich immer sage: diese idealen Köpfe sind reicher als wir; sie werfen Hunderttausende von sich wie Kieselsteine und verziehen keine Miene dabei. Hm, mein kleiner Veit hat Dir einen schlimmen Streich gespielt, Felix – das Klostergut ist kein Pappenstiel.“

Das Ohr des jungen Mannes war von jeher peinlich geschärft für die Modulation in des Onkels an sich wohlklingender Stimme; er hörte auch jetzt einen fast wilden Triumph über die Geburt des Kindes, Schadenfreude und den Wunsch, ihn zu reizen, aus den Bemerkungen heraus.

„Gott sei Dank, ich habe kein neidisches Herz; möchte das Kind zu Deiner Freude heranwachsen!“ sagte er ruhig, und sein schönes, offenes Gesicht trug das Gepräge der Wahrhaftigkeit, des reinen Bewußtseins. „Wenn Du aber glaubst, Geld und Gut seien mir gleichgültig, dann irrst Du; nie habe ich lebhafter gewünscht, ein reicher Mann zu sein, als gerade jetzt –“

[262] „Hast Du Schulden?“ fiel der Rath scharf ein und trat gespannt auf den Sprechenden zu.

Der junge Mann warf stolz den Kopf zurück und verneinte.

„Nun denn – wozu? Hält Dich Deine Mutter zu kurz? Und möchtest Du noch mehr solch überflüssigen Firlefanz in Dein Knopfloch hängen, wie Du ihn hier trägst?“ Er war auf die Thürstufe getreten und fixirte die Berloques, die an dem Uhrkettenring des Neffen hingen. Mit spitzem Finger zog er ein kleines goldenes Rund hervor, von welchem ein farbiges Funkeln ausging. „Alle Wetter, die Steinchen sind ja echt! – Ist das Dein Geschmack, Therese?“ rief er über die Schulter in die Küche zurück.

Die Majorin hatte eben ihre blauleinene Küchenschürze abgenommen und hing sie an einen Nagel. Sie kam gelassen, ohne jedwedes Zeichen von Interesse herüber.

„Ich kaufe nie dergleichen moderne Spielereien,“ antwortete sie mit einem prüfenden Seitenblick auf das Schmuckstück, dann aber heftete sie ihr dunkles Auge durchdringend und mit dem Ausdrucke des Untersuchungsrichters auf das wie mit Blut übergossene Gesicht des Sohnes. „Von wem ist die Kapsel?“ fragte sie kurz.

„Von einer Dame –“

„Mein Sohn, junge Mädchen haben selten so viel Geld zu verschenken,“ warf der Rath ein, indem er das Steingefunkel wohlgefällig hin- und herspielen ließ; „will Dir sagen, Felix, von wem das kostbare Andenken ist – von Deiner alten Freundin, der Baronin Leo in Berlin; eine ehrwürdig graue Locke ist drin – wie?“

„Nein, Onkel, eine glänzend braune,“ entgegnete der junge Mann rasch, als sei ihm diese falsche Vorstellung unerträglich – ein stolz glückseliges Lächeln irrte dabei um seinen Mund, aber gleich darauf stockte ihm der Athem; er hatte die Entscheidung herbeigeführt, ohne alle Vorbereitung, und nun standen ihm diese zwei Eisenköpfe gegenüber – Malice und Sarkasmus auf den Lippen des einen, und der andere mit dem unwillig überraschten, durchbohrenden Blicke; nie war Felix diese Wolfram’sche Familienseele in beiden Gesichtern so vernichtend entgegengetreten, wie in diesem peinlichen Moment.

„Ich möchte den Namen der Dame wissen,“ sagte seine Mutter lakonisch und genau mit der Beichtigermiene, die sie vor Jahren angenommen, wenn ihr Knabe in Gesellschaft eines fremden Kindes betroffen worden war. Sie las in den Zügen ihres Sohnes mit der ganzen Schärfe ihres Verstandes und Urtheils; sie sah auch jetzt, wie er mit qualvollen Gefühlen kämpfte, und gerade das ließ sie ohne Rücksicht, unerbittlich vorgehen.

„Mama, sei gut!“ bat er weich und flehentlich: er ergriff ihre beiden Hände und zog sie gegen seine Brust. „Lasse mir Zeit –“

„Nein!“ unterbrach sie ihn entschieden und zog die Hände aus den seinen. „Du weißt, ich mache stets sofort reinen Tisch, wenn ich eine Differenz zwischen uns bemerke – und hier liegt eine bedenkliche. Glaubst Du, ich lasse mich herbei, eine ganze, lange Nacht über den dunklen Weg zu grübeln, den Du offenbar gehst? – Ich will den Namen wissen.“

Die großen, blauen Augen des jungen Mannes funkelten auf in tiefverletztem Gefühl, aber er schwieg und strich sich, nach Fassung ringend, wiederholt mit der Rechten über die Stirn und die prachtvollen, aschblonden Haarwellen, die sie umrahmten.

„Bist ja ein Hauptheld!“ warf der Rath derb und ironisch hin. „Thust ja gerade, als ginge es Dir und dem braunen Lockenkopf an den Kragen. – Hm – ein Bettelmädchen ist’s nicht; sie hat Brillanten zu verschenken, aber mit der Familie, mit der Herkunft hat es seinen Haken – wie? – Du hast alle Ursache, die Sippe zu verleugnen – Du schämst Dich –“

„Schämen? Ich sollte mich meiner Lucile schämen?“ fuhr der junge Mann rückhaltslos auf – um seine Selbstbeherrschung war es geschehen. „Lucile Fournier! – Fragt nach ihr in Berlin, und ihr werdet hören, daß ihr der ganze junge Adel zu Füßen liegt, daß sie sofort in eines der ersten Grafengeschlechter heirathen könnte, wenn sie es nicht vorzöge, mir zu gehören. Aber ich weiß sehr gut, daß eine exotische Blume nicht in den deutschen Ackerboden paßt; ich weiß ebenso, daß Alles, was Kunst heißt, auf dem Klostergute schlecht angeschrieben ist; ich habe mit hartnäckigen Vorurtheilen zu kämpfen, und das machte mich für einen Augenblick befangen, nicht für mich selbst, sondern weil ich sicher bin, daß in der ersten Ueberraschung verunglimpfende Worte über mein Mädchen fallen werden – und die ertrage ich absolut nicht.“

Er schöpfte tief Athem und sah jetzt fest und furchtlos in das Gesicht seiner Mutter, welche, die Hand auf die Tischecke gestemmt, die erblaßten Lippen in den Winkeln tiefgesenkt, starr wie von Stein, ihm gegenüber stand. – „Lucile’s Mutter ist eine berühmte Frau,“ setzte er kurz und entschlossen hinzu.

„So?!“ fragte gedehnt der Rath. „Und der Herr Vater? Ist der nicht berühmt?“

„Die Eltern leben getrennt, wie“ – der junge Mann wollte sagen: „wie die meinen“ – aber ein wildes Auflodern im Auge der Majorin ließ ihn die letzten Worte verschlucken. Nach einem kurzen Schweigen sagte er rasch, wie um der unsäglich peinlichen Spannung sofort ein Ende zu machen: „Madame Fournier ist die Ballerina –“

„Ach was, sprich doch deutsch, Felix!“ fiel der Rath mit cynischem Sarkasmus ein. „Sage, die Tänzerin, die mit kurzem Röckchen und nackter Brust Abends über die Bretter fliegt – brr“ – er schüttelte sich und lachte höhnisch auf – „das wird die künftige Schwiegermutter sein, Therese!“ – Mit strengem Vorwurf erhob er den Zeigefinger gegen die Schwester, und sein scharfgeschnittenes Gesicht erstarrte förmlich in dem menschenfeindlich finsteren Gepräge, das seine Mitbürger an ihm haßten. „Weißt Du noch, was ich Dir vor fünfundzwanzig Jahren prophezeit habe?“ fragte er. „Du wirst die unverständige Wahl Deines Gatten in Deinen Kindern verwünschen – sagte ich nicht so, Therese? Da ist’s nun – das ist sein Blut, das leichte Soldatenblut – Nun schüttle das verhaßte Element ab, wenn Du kannst!“

„Das kann ich freilich nicht mehr,“ antwortete sie tonlos; „aber die leichte Waare, die es mir in’s Haus bringen will, die werde ich abschütteln – darauf verlasse Dich!“

Ein Geräusch in der Küche machte sie verstummen. Eine Magd war unterdessen mit einem Korbe voll Spinat eingetreten und schickte sich an, das Gemüse auf dem Küchentische vorzurichten. Die Majorin ging hinüber, schickte das Mädchen hinaus und schob den Riegel vor die Thür, die nach der Flur führte, dann kehrte sie zurück.

Dem jungen Mann klopfte das Herz zum Zerspringen, als diese Frau im langwallenden Trauerkleid, mit dem völlig entfärbten, aber in jedem Zuge entschlossenen Gesicht festen, raschen Schrittes auf ihn zukam, um „kurzen Proceß zu machen“. Unwillkürlich fuhr seine Hand nach dem Medaillon.

Ein kaltes Lächeln glitt bei dieser Bewegung um die Lippen seiner Mutter.

„Kannst ganz ruhig sein! Das unanständige Präsent da berühre ich ganz gewiß nicht mit meinen ehrlichen Händen – man weiß, woher die Brillanten der Tänzerinnen zu stammen pflegen.... Du wirst so verständig sein, auf meinen Wunsch und Willen hin das Geschenk eigenhändig abzulegen; wenn nicht – dann wird nach schlimmen Erfahrungen eine Stunde kommen, in welcher Du es voller Ekel von Dir wirfst –“

„Nie!“ rief er stürmisch, unter einem halb bitteren, halb jubelnden Auflachen; er hatte das Medaillon losgenestelt und drückte es inbrünstig an seine Lippen.

„Narrenspossen!“ murmelte der Rath grimmig zwischen den Zähnen, während die Augen der Majorin plötzlich in verhaltener Leidenschaft flimmerten. Eifersucht durchschütterte diese anscheinend in Kaltsinn und nüchterner Berechnung gefestete Natur. „Narrenspossen!“ wiederholte der Rath, als Felix das Andenken in der Brusttasche barg und mit zärtlich innigem Blick die Hand darauf preßte, als drücke er sein Mädchen selbst an das Herz. – „Schämst Du Dich gar nicht, vor uns ernsthaften Leuten solche Theaterstückchen aufzuführen? Ich begreife überhaupt nicht, wo Du den Muth hernimmst, hier auf dem Klostergute, Deiner respectablen Familie gegenüber, solche Liaisons zu erwähnen, von welchen andere junge Leute aus gutem Hause nicht zu reden pflegen –“

„Onkel!“ unterbrach ihn der junge Mann, seiner nicht mehr mächtig.

„Herr Referendar?!“ höhnte der Rath kalt zurück. Er schlug die Arme unter, und sein blitzendes Auge fixirte unverwandt und verächtlich das glühende Gesicht des Neffen.

[263] „Du machst Dich lächerlich mit Deiner sittlichen Entrüstung mein Sohn,“ sagte die Majorin und griff gelassen nach der Rechten, die Felix in unwillkürlicher Drohung gehoben hatte. Sie war wieder der Gleichmuth selbst; weder Sohn noch Bruder hatten die unheimliche Flamme in ihrem Blick bemerkt. „Der Onkel hat Recht – es gehört Muth dazu, vor uns von dieser Menschenclasse zu sprechen –“

„Mehr Muth ganz gewiß nicht, als meine arme Lucile braucht, um ihrer Familie die Liebe zu mir einzugestehen,“ unterbrach sie der junge Mann erbittert. „Madame Fournier macht ein Haus in Berlin wie eine Fürstin; ihre alte Mutter aus vornehmer, wenn auch verarmter Familie präsidirt im Empfangssalon, den Persönlichkeiten aus den ersten Ständen aufsuchen. Arnold von Schilling kann Dir am besten sagen, daß wir Beide in der glänzenden Gesellschaft meist sehr unbedeutende Nebenfiguren gewesen sind.... Und in diesem Kreise ist Lucile seit einem Jahre der Mittelpunkt, der Abgott Aller. Sie ist schöner noch als ihre Mutter und ebenso talentvoll; für Mutter und Großmutter ist sie ein aufgehender Stern –“

„Willst Du mir nicht sagen, welche Rolle die Ehefrauen der Besucher in Madame Founier’s Salon spielen?“ unterbrach die Majorin kurz und schneidend die Schilderung.

Ihr Sohn schwieg bestürzt, und seine Augen suchten unsicher den Boden. „Die meisten dieser Herren sind unverheirathet –“

„Und die verheiratheten lassen ihre ehrbaren Frauen zu Hause,“ ergänzte sie mit einem unbeschreiblichen Gemisch von unterdrücktem Groll und eisiger Verachtung. „Wenn Du glaubst, mich mit der forcirten, kläglich nachgeäfften Vornehmheit dieser Tänzerinnensalons zu blenden, so irrst Du Dich gründlich – ich kenne die Lockerheit, den Sumpf hinter der gemalten Leinwand, und diese Kenntniß habe ich theuer genug erkauft.“

Felix schrak zusammen vor dem grellen Licht, das diese Worte in das Dämmerdunkel seiner Kindererinnerungen, über gewisse unbegriffene Vorgänge im Königsberger Elternhause warfen – jetzt verstand er sie; jetzt wußte er, weshalb sich die Mutter, bis zur Unkenntlichkeit vermummt und verschleiert, spät Abends von seinem Bettchen weggestohlen hatte; sie war heimlich dem Vater nachgegangen.... Diese Erkenntniß raubte ihm den letzten Rest von Hoffnung – es galt nicht allein mehr gegen „spießbürgerliche Vorurtheile“ anzukämpfen, die beleidigte Ehefrau, die sich in ihren Rechten durch jene „Menschenclasse“ beeinträchtigt gesehen hatte, stand in starrer Unversöhnlichkeit vor ihm. Ihn überkam eine Art von Verzweiflungsmuth.

„Ich darf und will Dein strenges Urtheil nicht anfechten, weil ich nicht weiß, was Du erlebt hast,“ sagte er, sich die äußere Fassung erzwingend. „Im Grunde denke ich ja ähnlich – obgleich ich schwören kann, daß im Fournier’schen Hause Anstand und Sitte nie verletzt werden, aber ich will auch mein Mädchen nicht von der Bühne weg heirathen, und deshalb bin ich jetzt hierher gekommen. Lucile hat die Bretter noch nicht betreten, obgleich sie bereits als vollendete Künstlerin gilt. Madame Fournier, deren Stern im Erbleichen ist, hat sie selbst unterrichtet; sie glaubt so fest an eine große Zukunft ihrer Tochter, die sie allerdings mit auszubeuten wünscht, daß sie selbst die ernstgemeinten Bewerbungen des Grafen L. um Lucile’s Hand ignorirt. Lucile soll in der nächsten Zeit debütiren, und dem muß ich um jeden Preis zuvorkommen –“

„Tanzt das Mädchen gern?“ warf die Frau Majorin trocken ein.

„Ja, leidenschaftlich gern. Aber sie will der eigenen Lust am Beruf, dem Ruhm und Glanz einer solchen Laufbahn entsagen um meinetwillen“ – seine Stimme sank und nahm den Klang unendlicher Weichheit und Zärtlichkeit an – „Du kannst darnach ermessen, wie lieb sie mich hat, Mama.“

Ein anspruchsvolles, spöttisches Kopfnicken der Majorin war die Antwort.

„Und die ausbeutelustige Mama in Berlin hat, wie mir allmählich klar wird, keine Ahnung von diesen beglückenden Plänen und Wünschen?“ fragte der Rath.

„Nein,“ antwortete Felix gepreßt – es lag so viel aufreizender Hohn in jeder Bewegung, jedem Ton des Inquirirenden. Dennoch bezähmte er sich und setzte hinzu: „Ich muß als ehrlicher Mann erst feststellen, was ich Madame Fournier’s eigenen Plänen und den Bewerbungen des anderen Freiers gegenüber in die Wagschale legen darf.“

„Nun darüber kannst Du doch unmöglich im Unklaren sein,“ sagte der Rath. „Ich dächte, Deine Besoldung als Referendar ließe sich unschwer beziffern – sie dürfte just ausreichen, um Mademoiselle Fournier’s Stecknadelbedarf zu bestreiten.“

Eine Flamme der Entrüstung, der zornigen Scham schlug über das Gesicht des jungen Mannes hin, aber noch hielt er an sich.

„Ich bin entschlossen, aus dem Staatsdienste zu scheiden und mich hier in der Stadt als Notar niederzulassen –“

In diesem Augenblicke legte sich die Hand der Majorin schwer auf seine Schulter, und noch nie hatte ihm die Stimme seiner strengen Mutter so unerbittlich, so vernichtend geklungen, wie jetzt, wo sie sagte:

„Besinne Dich, Felix! Ich vermuthe, Du sprichst im Fieber. Um die Nebel in Deinem Kopfe gründlich zu zerstreuen, will ich Dir souffliren, was Du dieser Madame Fournier, die ein Haus macht wie eine Fürstin, die eine hochadlige Partie für ihre Tochter zurückweist und millionenfachen Reichthum von den Balletsprüngen ihrer Schülerin erwartet, der strengen Wahrheit gemäß zu sagen haben wirst: ,Ich habe keine Carrière vor mir, besitze keinen Heller eigenen Vermögens und muß von dem leben, was mir meine Clienten einbringen. Ihre Prinzessin Tochter wird die Kochschürze umbinden und wohl oder übel schadhafte Wäsche ausbessern müssen; ihre gesellschaftlichen Talente kann sie bei mir nicht verwerthen; denn die gute Stube eines unbemittelten Notars ist kein Empfangssalon, in welchem sich hochgräflicher Besuch einzufinden pflegt – meiner Mutter aber darf ich sie nie vor die Augen bringen.’“

„O Mutter!“ rief der junge Mann.

„Mein Sohn,“ fuhr sie fort, ohne den Aufschrei von Schmerz und Qual zu beachten, „Du wünschtest vorhin reich, sehr reich zu sein, und, wie ich jetzt verstehe, hattest Du allen Grund dazu, denn ein ‚fürstlicher’ Haushalt braucht Batzen. Du meinst nun, das Vermögen Deiner Mutter falle bedeutend in die Wagschale, und darin hast Du vielleicht nicht ganz Unrecht, aber dieses Vermögen ist Pfennig um Pfennig, Groschen um Groschen von einer braven, ehrlich arbeitenden Familie drei Jahrhunderte hindurch sorgfältig aufgesammelt worden, und das sage ich Dir“ – sie hob die Rechte, und ihre ebenmäßige, hohe Gestalt reckte sich in unerbitterlicher Strenge imponirend auf – „ehe ich das Vermächtniß meiner Familie in einer liederlichen Theaterwirthschaft verprassen lasse, eher vermache ich es bei Heller und Pfennig an den Namen Wolfram zurück – darnach richte Dich!“

„Das ist Deine endgültige Entscheidung, Mutter?“ fragte der Sohn mit blassen Lippen, und seine schönen blauen Augen blickten wie erloschen.

„Meine endgültige Entscheidung. Schlage Dir das Mädchen aus dem Sinne. Du mußt es können – das sage ich Dir ein- für allemal. Ich will nur Dein Bestes – später wirst Du mir’s danken.“

„Für zerstörtes Lebensglück dankt man nicht,“ versetzte er, und jetzt erhob sich seine Stimme in unaufhaltsam hervorbrechendem Groll zu einem allmählich anwachsenden Sturm, den er selbst nicht mehr zu beschwören vermochte. „Schütte Du Deine Capitalien immerhin dem kleinen Wolfram in die Wiege! Sie sind Dein Ererbtes; Du kannst damit schalten und walten, wie es Dir beliebt. Dagegen hast Du Deinen Einspruch in meine Herzensangelegenheit verwirkt. Du greifst stets egoistisch in mein Leben ein, als sei ich Deine Sache, ein Gegenstand ohne Blut und Leben, ein Stück Wachs, das Du im Wolfram’schen Geiste beliebig ummodeln könntest. Du hast einst meinem Schicksalsgang eigenmächtig eine Wendung gegeben, die ich einen unverantwortlichen Raub nenne. Ich war damals ein Kind, das an Deiner Hand mitgehen mußte, wohin Du es führtest. Jetzt aber habe ich meinen eigenen Willen – ein zweites Mal lasse ich mich nicht in unmenschlicher Grausamkeit berauben.“

„Jesus!“ stöhne die Majorin auf, als habe sie einen Todesstoß erhalten. Sie hatte eine halbe Wendung, wie zur Flucht, nach der Thür zu gemacht – dort stand sie mit unwillkürlich erhobenen Händen und starrte voll Entsetzen nach dem Sohn zurück. Dem Rath aber lief eine dicke Zornader über die Stirn hin; er ergriff den jungen Mann am Arme und rüttelte ihn in brutaler Weise.

„Was ist das für eine Sprache, Du armseliger Bursch!“ [264] schalt er. „Was hat man Dir gestohlen, Du Habenichts? Wirst Du mir wohl erklären, inwiefern Du beraubt worden bist?“

„Als man mir das Vaterhaus nahm,“ entgegnete Felix mit erschütterndem Klang der Stimme, indem er durch eine energische Wendung die Hand des Onkels von sich schüttelte. „Wenn ein Vater stirbt, so ist das eine Fügung des Himmels, der sich die Kinder unterwerfen müssen – niemals aber sollten Menschen Vater und Sohn auseinanderreißen; denn sie sollen sich ergänzen; sie gehören zusammen, weit mehr noch als Mutter und Sohn.... Und mein Vater hat mich unsäglich lieb gehabt. Ich weiß heute noch, was ich gefühlt habe, wenn er mich in stürmischer Zärtlichkeit an sich preßte, an sein starkschlagendes Herz, der schöne, stolze, herrliche Soldat, den man leichtsinnig schilt, weil er kein Philister gewesen ist.“

Er schwieg und athmete tief auf, als sei das Ausgesprochene eine die ganzen Jugendjahre hindurch getragene Bergeslast gewesen. Seine Mutter hatte bei seinen letzten Worten die Thürstufe, auf der sie gestanden, verlassen; er hörte, wie draußen ihr Gewand schwer und langsam über die Steinplatten der Küche hinschleifte; er hörte, wie sie die schmale nach dem Hinterhof führende Glasthür öffnete – dann sah er sie mit gesenktem Kopfe über den Hof gehen und in dem gegenüberliegenden Hintergebäude verschwinden. Dort führte eine Thür nach dem Garten.

„Verlorener Sohn!“ stieß der Rath mit vor Ingrimm erstickter Stimme hervor. „Das verzeiht Dir Deine Mutter nie. Geh, mache, daß Du aus meinem Hause kommst! Hier ist kein Raum mehr für Dich. Ich kann den Himmel nicht genug preisen, daß er die Wolframs in meinem Kinde neu aufblühen läßt und ihr altes Stammhaus vor der fremden Kukuksbrut bewahrt.“

Er ging hinüber in sein Zimmer und schlug die schwere, metallverzierte Thür klirrend hinter sich zu, während der junge Mann schweigend, mit fliegenden Händen das einzige Erbe aus dem Vaterhause, das silberne Eßbesteck, zusammenraffte, um ebenfalls die Wohnstube zu verlassen.



5.

Wie betäubt ging er durch die Küche und schob den Riegel der Thür zurück. Beim Oeffnen scholl ihm Stimmengeräusch entgegen; es hatte sechs geschlagen; die Hausflur war mit Frauen und Kindern erfüllt, und über den vorderen Hof her kamen sie immer noch geströmt, die Abendkunden des Klostergutes, die blechernen und irdenen Henkeltöpfe oder den Steinkrug in der Hand. Die Stallmagd hatte eben zwei Eimer voll schäumender Milch auf den Fußboden niedergesetzt und sah sich staunend um, denn der Platz am Schanktisch war noch leer – zum ersten Mal, seit sie auf dem Klostergute diente; selbst am Sterbe- und Begräbnißtage der seligen Frau Räthin war der Posten pünktlich eingenommen worden in dem Augenblick, wo die Milch von den Ställen hergebracht wurde.

Felix schritt rasch durch die versammelten Leute. Sonst hatte ihn der „Milchhandel“ dergestalt angewidert, daß er stets um diese Zeit über ein verstaubtes Hintertreppchen gegangen war, um dem Menschenandrang in der Hausflur auszuweichen. Heute sah er mit zerstreutem Blick über die Köpfe der Wartenden hinweg; er bemerkte nicht, wie er gegrüßt wurde, wie sich die Frauen und Mädchen heimlich anstießen und den bildschönen jungen Herrn mit den Augen verfolgte, während er flüchtigen Fußes die kreischende Treppe hinaufsprang – zum letzten Mal. Nie, nie wieder wollte er zurückkehren in das dunkle Haus, in diesen von Mönchen gebauten und von einer engherzigen, phantasiearmen Familie durch alle Generationen hindurch sorglich conservirten Sarg, dem die Menschenseelen angepaßt wurden, indem man jede schüchtern hervorwachsende Schwinge abschnitt, jeden traditionswidrigen Geistesfunken mit dem Fuße austrat.

Die kleine Reisetasche des Ausgewiesenen lag noch droben im Giebelzimmer auf dem Tische; die mußte er holen. Er wollte mit dem Nachtzuge nach Berlin zurück; vorher aber seinen Freund Arnold im Schillingshofe sprechen. Das waren die einzigen klaren Entschlüsse, die sich empor rangen aus den aufgestürmten Wogen namenloser Erbitterung, aus dem Wirbel, in welchem sein furchtbar erregtes Gehirn kreiste. Bis hinunter zu dem Grundgedanken, wie es nun werden sollte, kam er nicht – immer wieder wälzte sich das Geschehene durch seinen Kopf.... Er war vorgestern von Berlin abgereist – Madame Fournier, die augenblicklich in Wien gastirte, hatte ihrer alten Mutter geschrieben, daß der Hoftheaterintendant auf ihren Wunsch, Lucile demnächst auf der Bühne des Kärnthnerthor-Theaters debütiren zu lassen, einzugehen scheine; diese Nachricht hatte ihn tief erschreckt, den er verhehlte sich nicht, daß ihm die Geliebte halb und halb verloren sei, wenn sie einmal ihren Triumphzug begonnen habe. Und sie selbst hatte ihn in leidenschaftlicher Ungeduld gedrängt, seine Verhältnisse sofort zu ordnen und dann nach Wien zu gehen, um persönlich mit ihrer Mutter zu verkehren – und nun war Alles in den ersten Stunden gescheitert. –

Er preßte die Hände gegen die heftig klopfenden Schläfen, als könne er mit dieser einen verzweifelten Bewegung seinen zerrütteten, aus der Bahn geschleuderten Gedankengang wieder einlenken, einen leitenden Faden in dem ungewissen Dunkel finden, in das er aus der Sonnenhelle seiner sanguinischen Hoffnungen mit geblendeten Augen gestürzt war.... Er hatte sich mit seiner Mutter entzweit für immer. Das sagte der Onkel nicht allein, er fühlte es selbst, daß sie ihm die unzerstörbare, enthusiastische Liebe zu seinem verschollenen Vater nie verzeihen, noch weniger aber die Rücksichtslosigkeit vergessen werde, mit der er endlich seinem stillschweigend getragenen kindlichen Schmerz Luft gemacht hatte.

Wie schroff und hart, wie unbeugsam war sie ihm aber auch gegenüber getreten! So war es immer gewesen. Da hatte es nie ein mütterlich sanftes Zureden und Vorstellen, nie, so lange er denken konnte, jenes teilnehmende Mitversenken in des Kindes Freud’ und Leid gegeben, das die Lust heller erglühen macht und das Weh sänftigt, wie das Streicheln einer weichen, linden Hand – ihre ganze Erziehungsweise war ein barsches Commando gewesen.... Und wie blitzschnell war sie vorhin mit dem Entschlusse, ihr einziges Kind zu enterben, fertig geworden – ja, zu schnell, selbst für eine augenblickliche Eingebung! – Das war wohl schon vorher gedacht worden. – Und jetzt kroch ein finsterer Argwohn schlangengleich an dieses arglose, bis dahin im idealen Vertrauen förmlich aufgehende Herz des Jünglings heran und packte es wie ein Dämon. Wie, wenn der Familienfantismus seiner Mutter so weit ging, daß ihr der Vorwand nicht unwillkommen gewesen war, ihr großes Erbtheil den Wolframs wieder zuzuwenden?

Er lief, wie von Harpyien verfolgt, im Giebelzimmer auf und ab.... Nimmermehr! Ein solch entsetzlicher Verdacht entwürdigte ihn selbst; er war eine Befleckung seiner eigenen Seele, eine Art von unedler Revanche, die ihm die Schamröthe auf die Wangen trieb.... Da lag noch das Schreibeheft auf dem Tische; das Verzeichniß der aufgeschlagenen Blattseite bewies unwiderleglich die treue Sorge, mit der die Mutter seiner Zukunft gedacht hatte; freilich war die verzeichnete Wäsche nur für den Ausstattungsschrein einer jungen Frau im Sinne der Majorin, einer vornehmen Beamtentochter, oder der Erbin eines reichen Fabrikherrn bestimmt gewesen; aber das that doch dem Impuls keinen Abbruch. Und dort im Fensterbogen hing das Bild ihres Sohnes; wenn sie arbeitend am Tische saß, mußte sie bei jedem Aufblicke in sein Gesicht sehen. Nein, liebeleer war ihr Herz nicht, wenn auch ihre starren Vorurtheile, ihre geradezu männliche Strenge gegen sich selbst und ihre Angehörigen ihr den Anschein völliger innerer Kälte gaben.

Zögernd griff er nach seiner Ledertasche und warf den Riemen über die Schulter – er war zum Fortgehen gerüstet. Dennoch blieb er stehen und horchte gespannt, ob nicht wohlbekannte Schritte über den Vorsaal kämen.... Es verstand sich von selbst, daß er das Klostergut auf Nimmerwiederkehr verließ, aber schmerzbewegt gestand er sich, daß es ihm unmöglich sei, von seiner Mutter für immer zu gehen, ohne ihr gesagt zu haben, wie ihm seine leidenschaftliche Heftigkeit ihr gegenüber leid thue; er mußte sie noch einmal sehen, selbst – wenn sie sein Abschiedswort in verächtlichem Schweigen anhören und nicht erwidern sollte.

(Fortsetzung folgt.)
[265]

Calculators auf dem Frühlingsspaziergange.
Originalzeichnung von August Plinke in Weimar.

[266]
Marpingen – wie Wunder entstehen und vergehen.[1]

Ein Culturbild aus der Gegenwart von Fridolin Hoffmann.

I. Der Dunstkreis der Erscheinung.

„Der blühendste, aufgeklärteste, heiterste, regsamste Theil Deutschlands: Rheinland und Westfalen, schickt vierzig ultramontane Abgeordnete in die Landesvertretung. Wahrlich, eine verlorene Schlacht an der Loire wäre ein geringeres Unglück für die Nation, als diese Niederlage.“ So schrieb „ein Rheinländer“ in einem „Wunsch zur Kaiserkrönung“ betitelten Artikel der Augsburger „Allgemeinen Zeitung“ vom 5. December 1870, nachdem vierzehn Tage vorher die Landtagswahlen in Preußen stattgefunden hatten. Mehr als einmal ist der angeführte Passus in den Parlamenten zu Berlin gerade von der Seite selbstgefällig wiederholt worden, gegen die er vom Verfasser gemeint war; indem man der Welt immer wieder zu Gemüthe führte, daß dieser räumlich beschränkte Theil Preußens, dessen Abgeordnete zwei Dritttheile der Centrumspartei im Landtage bilden, „eingestandenermaßen“ der geistig geweckteste von ganz Deutschland sei, sollte der Welt ein günstiger Schluß über die genannte Partei geradezu auf die Lippen gelegt werden.

Die von dem „Rheinländer“ der Bevölkerung seiner Heimath zuerkannten Eigenschaften sind gewiß nicht unverdient, wenngleich, wie die erwähnten Wahlen, so auch das leichtgläubige Verhalten eines großen Theiles dieser Bevölkerung den weltbekannten Vorgängen zu Marpingen gegenüber ein anderes Urtheil herauszufordern scheint. Vielleicht gelingt es, den Widerspruch einigermaßen zu vermitteln, wenn man die guten gemüthlichen und geistigen Grundeigenschaften der in Rede stehenden Volksstämme von dem zufälligen Einfluß trennt, den ihr kirchliches Bekenntniß unter der Dauer des Culturkampfs auf sie ausübt. Auch die Marpinger Vorgänge erscheinen nach Ursprung und Verlauf in entschiedenem Zusammenhang mit dem Culturkampf. Ein in der baierischen Rheinpfalz, also in der Nähe des Wunderreviers erscheinendes „conservativ“-protestantisches und daher den Tendenzen der Centrumspartei in platonischer Liebe ergebenes Blatt drückte das mit den Worten aus: der Culturkampf dränge das Volk zum Glauben an die Wunder und zum Festhalten an denselben. Der in dem eben beendeten Marpinger Processe als Schutzzeuge geladene ehemalige Redacteur der Berliner „Germania“, Dr. Paul Majunke, erklärte das Interesse, welches er der Sache gewidmet habe, am 7. März 1879 vor dem Gerichtshofe zu Saarbrücken unter Anderem mit der sich ihm aufdrängenden Erwägung: „daß in dem großen Geisterkampfe, welcher augenblicklich in Preußen tobte, derartige Manifestationen einer übernatürlichen Welt durchaus erklärlich seien“. Von einem Pastor Schwaab zu Urexweiler wurde, gleichfalls beim Zeugenverhör, folgende Aussage constatirt: „Die Regierung hat uns so gequält; nun wollen wir ihr auch einmal ein Schnippchen schlagen." In welchen Ideenkreisen die Geistlichkeit des betreffenden Theils der Trierer Diöcese sich in den letzten Jahren bewegte, zeigt auch eine bei dem Pastor Schneider in Alsweiler bei Marpingen von der Behörde vorgefundene Broschüre, welche laut dem Titel Anleitung darüber giebt, „wie man Revolution macht“. Wenn eine Revolution, heißt es darin, Aussicht auf Erfolg haben solle, müsse sie von langer Hand vorbereitet werden. Es müsse in die breitesten Volksschichten die Unzufriedenheit mit den bestehenden staatlichen Zuständen hineingetragen und die Erbitterung gegen die Behörden dauernd genährt werden etc..

Ein viel stärkeres Verbindungsglied zwischen den Marpinger Wunderdingen und der kirchenpolitischen Situation in Deutschland hat die Centrumspartei selbst dadurch geschaffen, daß sie, weil die Staatsbehörde gegen das Weiterwuchern des Schwindels einschreiten zu müssen glaubte, sich zum Anwalte der Marpinger aufwarf, und zwar vor dem versammelten preußischen Landtage. Und der Wortführer von damals – die Verhandlung fand am 16. Januar 1878 statt – der Advocat Julius Bachem, Stadtverordneter zu Köln, ließ es sich auch nicht nehmen, den Beschuldigten jetzt, bei den mündlichen Verhandlungen vor dem Zuchtpolizeigerichte zu Saarbrücken vom 3. bis zum 15. März, als Vertheidiger zur Seite zu stehen. Der junge Mann hat sich vor fünf Jahren als Rechtsbeistand des inzwischen abgesetzten Erzbischofs Melchers die Sporen verdient und seitdem in allen namhafteren Culturkampfs-Processen am Rhein die Rolle des St. Michael mannhaft weiter gespielt. Mag das ganze vernünftige Deutschland mit Staunen, Scham und Ekel die Dinge vernommen haben, welche in der ersten Märzhälfte zu Saarbrücken an’s Licht kamen – die Hoffnung wäre eine eitele, daß die geistlichen und politischen Anwälte der Marpinger Vorgänge ihr Selbstgefühl durch die Bloßlegung der scandalösen Fundamente jenes Wunderschwindels auch nur um einen nennenswerthen Grad sich herabmindern ließen. Wer über die clericale Jugendbildung und Schulung des Volksgeistes die schützenden Flügel ausbreitet, muß wohl oder übel auch die Früchte davon mit in den Kauf nehmen. So wahr der clericale Geist nie aufhören wird den Wunderglauben zu fördern, so sicher werden Aeußerungen desselben in der Art der Marpinger stets dessen unausweichliche Folgen bleiben. Nicht in den gegen Einzelne erhobenen Beschuldigungen liegt die culturhistorische Bedeutung des Marpinger Processes, sondern in dem, was dabei bekannt geworden ist über die Natur des römischen Kirchenthums und über die Früchte der clericalen Jugendbildung.

Als die „Gartenlaube“ – Seite 740 des Jahrgangs 1872 – ausführlich erzählte, wie Herr Laurent, Bischof von Chersonesus in partibus infidelium, als apostolischer Vicar zu Luxemburg angesichts seiner Seminaristen im Jahre 1843 einen Teufel austrieb und dabei constatirte, daß der „Böse“ verschiedener Sprachen mächtig sei, da lachte man laut auf in allen fünf Welttheilen. Die Möglichkeit solcher Vorfälle überrascht immer auf’s Neue. Die Abneigung unserer Zeit, an übernatürliche Eingriffe in den Verlauf der irdischen Dinge zu glauben, beruht in den großen Massen nicht auf tieferer wissenschaftlicher Erkenntniß, sondern auf der durch wiederholte Erfahrung bestärkten Wahrnehmung der täglich vor unseren Augen sich darlegenden klaren Naturordnung. Dieser der Orthodoxie so widerwärtige „Zeitgeist“ ist im Wachsen, und das ist begreiflich, denn mit gutem Recht sagt Tyndall, wo er in seinen „Fragmenten“ vom „brennenden Dornbusch“ redet und von dem Stillstand der Sonne und des Mondes im Buche Josua: „Hätten wir es nur mit leichtgläubigen Erzählungen der Alten zu thun, wären diese Erzählungen nicht zugleich verknüpft mit Worten unvergänglicher Weisheit und mit Beispielen von moralischer Größe, welche unerreicht dastehen in der Geschichte des Menschengeschlechts – längst schon hätten sowohl die Wunder wie die Beweise für deren Vorkommen aufgehört, zu den Ueberlieferungen der verständigen Menschheit zu gehören.“ Vielleicht stützt sie auch, daß die Wundergläubigen nach ihrem Dafürhalten Herren der Natur sind: mit ihrem Gebet vermögen sie dem Himmel – wie sie selbst oft sich ausdrücken – „Gewalt anzuthun“. Eine directe Wirkung auf die Naturvorgänge besitze, sagen sie, ihr Wille allerdings nicht, aber in ihren Bittgebeten meinen sie gleichsam den Ausheber von dem Schlagwerk der Uhr in Händen zu haben, um sie, die göttliche Macht für ihre momentanen Bedürfnisse in Bewegung setzend, schlagen zu lassen nach ihrem Belieben. Das war allerdings eine vielfach tröstende Weltanschauung, aber sie hatte ihre Kehrseite in der abergläubischen Furcht vor den Mächten der Hölle, wie sie sich in so trauriger Weise betätigte in dem Verfahren gegen Teufelsbündler, Hexen und Zauberer. Man weiß, was die zügellose Phantasie selbst der Rechtsgelehrten an der Hand der Theologen in dieser Beziehung geleistet hat. Ebensowohl wie man vom Himmel gut Wetter erbetete, konnte man auch durch Teufelsgunst verheerende Gewitter über die Felder verhaßter Nachbarn hinführen. Im Jahre 1600 wurden zu München sechs Uebelthäter auf einmal [267] hingerichtet, welche unter Anderem „ain und zweintzig Hagel und Schauer gemacht“ hatten; im Jahre 1666 am 9. Januar ebendort der achtundsiebenzigjährige Simon Altsee von Rodenbach durch unsagbare Martern zum Tode gebracht, weil er elf namentlich aufgezählte Orte verhagelt zu haben schuldig befunden worden war.

Das kirchliche Ritualbuch, dessen sich der vorhin erwähnte, noch heute in Aachen lebende Bischof Laurent bediente, steht andauernd in voller Geltung. Die damit charakterisirte Weltanschauung ist also die geistige Atmosphäre, in welcher sich fortwährend der Volksunterricht in den katholischen Gegenden bewegt, soweit die Geistlichen ihn noch in Händen haben. Die Macht, welche die Wechselwirkung zwischen dem Menschen und der leblosen Natur beherrscht, ist der durch Gebet lenkbare, hier belohnende, dort strafende „Finger Gottes“; von Zeit zu Zeit greift dann der „Böse“ dazwischen, um sich auch sein Theil zu sichern. Um gegen den Letztern sich zu wehren, hat man jedoch das Weihwasser und sonstige Segnungen. So kam auch zu Marpingen der Ortspfarrer Neureuter und ein benachbarter Amtsbruder, als ihnen im Jahre 1877 der Verdacht aufstieg, ob nicht, möchten auch die ersten Erscheinungen himmlischer Natur gewesen sein, später doch „diabolische“ Einflüsse mit untergelaufen wären, auf die tiefsinnige Idee, dies durch Weihwasser zu erproben. Hinter dem Rücken der in’s Pfarrhaus beschiedenen drei Wunderkinder goß der Pfarrer Hammer aus der von Neureuter ihm dargereichten Flasche in die hohle Hand und besprengte damit die drei lebendigen Räthsel. Leider kamen die zwei Gottesgelehrten trotz des Weihwassers über ihre Frage nicht mit sich in’s Reine.

Glücklicher war Dr. Paul Majunke. Dieser erklärte im Zeugenverhör am 7. März: „Bei mir war die Frage, ob die Vorgänge von Marpingen natürlicher oder übernatürlicher Art seien, schon bald, nachdem ich dort hingekommen war, entschieden; nur darüber war ich noch im Zweifel, ob sie einen göttlichen oder einen diabolischen Ursprung hätten. Ganz gewiß aber scheint mir ein diabolisches Element im Spiel gewesen zu sein, als die kleine Margarethe Kunz die gehabte Erscheinung vor dem Criminalcommissar widerrief."

Die eben genannte jetzt elfjährige Margarethe Kunz, der Keim, aus welchem der ganze Schwindel erwuchs, ist, wie aus dem Proceßmaterial zu erkennen, in ihrem ländlichen Kreise das im Kleinen, was Dr. Paul Majunke in der Weltpolitik und im Großen. Die Lust am Fabuliren und das Bewußtsein, es zu können, haben sie zu dem gemacht, was sie geworden ist; die winkenden Vortheile, die drohenden Nachtheile hielten sie dann in ihrer Rolle fest, oder ließen sie zeitweilig aus derselben herausfallen, je nachdem.

Auch der zeitgeschichtliche Hintergrund ist bei der Beurtheilung der Marpinger Vorgänge nicht außer Acht zu lassen, denn auch bei geistigen Epidemien – und das Anwachsen des in Rede stehenden Schwindels war eine solche – kommt Ansteckungsstoff zu einer vorhandenen krankhaften Disposition. Der Keim der ganzen modernen Marien-Erscheinung-Krankheit ist jedenfalls in den Ereignissen von Lourdes zu suchen; der deutsch-französische Krieg brachte einen weiteren Trieb; die Muttergottes-Erscheinung zu Pontmain am 17. Januar 1871, zwischen sechs und neun Uhr Abends, fünf Tage nach Verlust der benachbarten Stadt Le Mans an die deutschen Truppen. Wie die zu Le Mans erscheinende „Semaine du Fidèle“ in ihrer Nummer vom 18. Februar umständlich erzählte, sahen bei Poutmain vier kleine Mädchen aus einer Klosterschule über dem Dach einer Scheune die heilige Jungfrau in sternbesäetem Gewande und goldener Krone. Eine aufleuchtende Inschrift forderte zum Beten auf und verhieß „Erhörung in kurzer Zeit“. Von da an war die Muttergottes fortwährend auf der Wanderschaft.

Am 7. Juli 1872 begann sie ihre Vorstellungen im Elsaß und zwar im Gehölze von Krüth, einem Weberdorfe im Weilerthale, Kreis Schlettstadt. Auch hier waren kleine Mädchen die begnadigten Seher. Bald kam die Erscheinung allein, bald mit dem Jesuskinde, mit dem heiligen Joseph, mit Engeln, einmal sogar mit Pius dem Neunten. Am 10. Januar 1873 schleuderte die Muttergottes ein Schwert gegen den Rhein; ein anderes Mal sah man sie auch vor einer verschlossenen Kirchenthür stehen, einen preußischen Wachposten daneben, wie als ob dieser sie hindere, einzutreten. Der Schwindel bei Krüth, der an manchen Tagen bis zu 15,000 Menschen zusammenführte, dauerte bis in den Sommer, wo ihm durch die Einquartierung einer Compagnie Sachsen in dem genannten Dorfe ein Ende gemacht wurde. Aber nun zeigte sich die Muttergottes an anderen Orten – man zählte deren schließlich über dreißig –, auf den Arsenalgräben von Metz, auf den Schlachtfeldern von Weißenburg, bei St. Quirin im Kreise Saarburg, zu Rimlingen im Kreise Saargemünd. An einzelnen dieser Orte blieb sie Monate lang.

Bevor wir uns specieller dem Marpinger Spuk, der am 3. Juli 1876 begann, zuwenden, sei, der Vollständigkeit halber, im Vorbeigehen noch der Erscheinungen von 1877 und 1878 zu Dittrichswalde im Ermlande, welchen die „Gartenlaube“ bereits früher (1878, Nr. 2[WS 1]) einen längeren Artikel widmete, sowie des kurzen Besuches gedacht, den die Muttergottes im April 1877 der Regensburger Diöcese machte. In dem Bezirke Deggendorf an der Donau – der Name erinnert an den großen Judenmord von 1337 wegen angeblicher Verunehrung des Abendmahlbrodes – liegt das von Karl dem Großen gegründete Benedictinerstift Metten. An einem in der Nähe befindlichen Ort, Mettenbuch, erschien die Muttergottes einigen Kindern mehrmals bei einem Gesträuche und heilte Kranke. Das Wallfahren zu diesem Heiligthume und die an solchen Orten emporwuchernden Geschäfte mit sogenannten Devotionalien, Extra-Gebeten, gedruckten Heilungs- und Wunderberichten etc. war am Schlusse des Jahres 1878 zur schönsten Blüthe gediehen, als der Regensburger Bischof Ignaz Senestrey dem Unfuge mit einem Mal ein Ende machte; er erklärte, die eingehendsten Prüfungen angestellt und Alles, was man Wunderbares von Mettenbuch erzählt habe, als haltlos und grundlos erfunden zu haben. Dessen hatte man sich von diesem sonst so jesuitenfreundlichen Manne auf keiner Seite versehen, aber die Ehre, die ihm für diese Entschiedenheit gebührt, hätte man sich in Straßburg, Trier und im Ermlande auch verdienen können. Jetzt, nachdem der am besten „beglaubigte“ Marpinger Trug durch die Enthüllungen des Prozesses ein Ende mit Schrecken genommen hat, ist es für eine solche Errungenschaft zu spät.

Der preußischen Staatsbehörde war, nachdem der Ortsgeistliche zu Marpingen, Pastor Neureuter, den Unfug ostensibel nur „gewähren“ ließ, thatsächlich aber förderte, und das Domcapitel zu Trier ausdrücklich jede Mitwirkung zur Hemmung des Schwindels und Bloßlegung seines Untergrundes abgelehnt hatte, keine andere Handhabe zu diesem Zwecke geblieben, als die Erhebung der Anklage wegen Betruges gegen den genannten Ortsgeistlichen, einige umwohnende Pfarrer, die Eltern der drei minderjährigen Wunderkinder, zwei Literaten, die durch ihre in mehr als 60,000 Exemplaren verbreiteten Broschüren für die Verbreitung und gläubige Annahme der vorgeblichen Erscheinungen gewirkt hatten, und einige andere völlig unbedeutende Persönlichkeiten. Zur Anwendung kam also der § 263 des Reichs-Strafgesetzbuches: „Wer in der Absicht, sich oder einem Dritten (hier die Kirche zu Marpingen) einen rechtswidrigen Vermögensvortheil zu verschaffen, das Vermögen eines Anderen dadurch beschädigt, daß er durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstellung oder Unterdrückung wahrer Thatsachen einen Irrthum erregt oder unterhält, wird wegen Betruges mit Gefängniß bestraft, neben welchem auf Geldstrafe bis zu 1000 Thaler sowie auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden kann. Sind mildernde Umstände vorhanden, so kann ausschließlich auf die Geldstrafe erkannt werden.“

Es lag der Staatsbehörde um so mehr nahe, auf Grund dieses Paragraphen die Anklage zu erheben, als die Gerichte bereits an verschiedenen Orten der Rheinprovinz Solche verurtheilt hatten, welche, gereizt durch die Marpinger Erfolge auch in pecuniärer Beziehung, Concurrenz-Wunderorte zu etabliren versuchten.

Die Erscheinungen zu Marpingen hatten, wie schon bemerkt, Anfangs Juli 1876 begonnen. Schon im März des folgenden Jahres zeigte sich die Muttergottes auch auf der Gappenacher Mühle bei Polch im Regierungsbezirke Coblenz in einer Flasche Marpinger Wassers. Der schon früher den Gerichten einmal verfallene stark verschuldete Müller hatte, wie einstmals der Doctor Faust, „viel Zulauf, das läßt sich denken“. Im Keller fand man, als die Polizei der Sache Einhalt that, noch 450 Mark und 640 Kerzen als Votivgaben; außerdem hatte der Müller schon [268] Einiges von seinen Schulden aus dem Erlös abgetragen. Das war gewiß brav, aber dennoch wurden er und seine Frau zu je 200 Mark Geldbuße und je 15 Monaten Gefängniß verurtheilt; ein Helfershelfer, der in falschen Attesten verschiedene Leute die Erscheinungen hatte bezeugen lassen, kam mit 5 Monaten davon. Gleiche Betrügereien kamen am 9. Januar 1878 vor dem Zuchtpolizeigericht in Saarbrücken und am 25. Februar dieses Jahres vor der correctionellen Appellkammer in Bonn zur Aburtheilung. Der eine Unfug hatte zu Berschweiler, einem Dörfchen in der Nähe von Marpingen, der andere zu Merzbach bei Bonn gespielt. Das Gericht verhängte über die Hauptanstifter des ersteren Betrugs 6 bis 10 Monate Gefängniß, über den des zweiten eine solche von 6 Monaten und über eine Helferin eine von 14 Tagen.

Zu Marpingen war unseres Erachtens anfänglich der Gelderlös nicht das treibende Motiv, weder für die jugendlichen Erfinder, noch für die geistlichen und literarischen Förderer des Schwindels, später jedoch erschien er den einen wie den anderen als willkommene Zugabe. Auf diese Art erfüllten aber die Betreffenden ja nur die christliche Ordnung und erfuhren dann mit Recht an sich die in der heiligen Schrift gemachte Verheißung: „Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit; das Uebrige wird euch dann in den Schooß geworfen werden.“ Nicht gerade in den Schooß wurde es den Wunderkindern zu Marpingen geworfen, aber doch dicht zur Hand: in „Kaulen“, die sie, vor der angeblichen Erscheinung knieend, zwischen sich und letzterer in den Boden gemacht hatten. Fiel, so erzählte ein Zeuge, ein besonders großes Stück, etwa ein Thaler, so hob das geriebenere der drei Gnadenjungferchen das augenfällige Geldstück von der Erde auf und zeigte es mit verstohlenem Schmunzeln seinen Genossinnen. Wir nehmen gerne an, daß Pastor Neureuter von diesen Opfergaben nichts in seine Privattasche gesteckt hat, aber sein Kirchenrechner hat nach eigener Angabe – und zwar ohne jegliche controllirte Buchführung – so wie es ihm die Pfarrersköchin und andere Weiber in Cigarrenkistchen oder der Schürze brachten, vereinnahmt und ohne Ueberschuß für Renovationen an der Kirche verausgabt: im Jahre 1875 (also dem Jahre vor der Erscheinung) 29 Mark; im Jahre 1876 aber schon 200 Mark; im Jahre 1877, wo der Schwindel in’s Kraut schoß, 3984 Mark; im Jahre 1878 sank der Erlös wieder auf 2500 Mark; am 3. September hatte sich die Muttergottes, ganz ihrem am 11. August 1876 den Wunderkindern mitgetheilten Programm gemäß, nach einer vierzehnmonatlichen Besuchsperiode wieder verabschiedet. Da der frommen Pilger während des Jahres 1877 an Wochentagen 600 bis 700, an Sonntagen 6000 bis 8000 – am 2. September sogar 13,000 – am Wunderorte gezählt wurden, so ist die Aussage eines der Belastungszeugen, die Opfergaben hätten in diesem Verhältniß täglich 100 bis 500 Mark betragen, nicht unglaublich.

Ein anderer Zeuge erzählte von einem am Orte der Erscheinung aufgestellten „Kartoffelkorb mit Geld: Thalern, Fünfgroschenstücken und kleiner Münze“. Ein Kaufmann in der benachbarten Stadt Ottweiler, der seit 1873 Geschäfte mit Marpingen machte, erklärte, diese seien seit 1876 viel besser gegangen; er habe, während er früher mit großem Gelde bezahlt worden, seit der genannten Zeit auffällig viele Rollen mit kleiner Münze von dort erhalten, und diese seien vom Pfarrer Neureuter verpackt und signirt gewesen, ein Beweis , daß diese kleine Münze von Letzterem bei seinen Pfarrkindern gegen Großgeld ausgewechselt worden war.

Wie viel die beiden Broschürenschreiber, ein Caplan Dicke zu Minden in Westfalen und ein Redacteur Dr. Thoemes zu Ehrenfeld bei Köln, an Honorar eingeheimst haben, waren sie ja nicht verpflichtet, vor Gericht zu documentiren; ein ansehnlicher Extragewinn, auf den der Zweitgenannte den Mund bereits gespitzt hatte, ist ihm schnöde entgangen. Er hatte sich nach den Angaben der Eingeweihten von dem ihm befreundeten Maler Jodel zu Stuttgart ein Bild der Erscheinung zeichnen lassen und suchte nun das Vervielfältigungsrecht dieser Darstellung bei verschiedenen Verlegern zu Trier, Kevelaer etc. um 4000 Mark zu verwerthen. Ein anderer Speculant war ihm bereits zuvorgekommen. Der greise E. Deger zu Düsseldorf hatte, wie man sagt, auf Andrängen einer hochstehenden Dame, der Rücksicht auf seine redlich erworbenen Ehren so weit vergessen, daß er ein ähnliches Bild entwarf, und die photographischen Nachbildungen hiervon hatten den Markt bereits überschwemmt. Die Thoemes-Jodel’sche Erfindung wurde schließlich doch im Buchhändler-Börsenblatt seitens der Faber’schen Buchhandlung in Mainz ausgeboten – im Victoria-Format zu sechszig Pfennig. Dr. Thoemes stellte vor Gericht seine Interesselosigkeit in das hellste Licht mit der Erklärung, daß er, als Niemand ihm für sein Bild habe etwas geben wollen, es zuletzt umsonst zur Verfügung gestellt habe; sowie mit der weiteren Erklärung, daß er die 4000 Mark dem Bau einer Capelle an der Gnadenstelle gewidmet haben würde, wenn er sie bekommen hätte.

Der Kern der Marpinger Erscheinung und das traurige Ende, welches diese Angelegenheit in den jüngsten Tagen vor den Schranken des Strafgerichts erfuhr, werden in dem zweiten Artikel ihre das Ganze abschließende Darlegung finden.




Abhärtung.
Von Fr. Dornblüth.

Die ursprünglich so weiche und empfindliche Haut der Hohlhand und der Finger wird bekanntlich durch häufiges Handhaben harter Gegenstände allmählich so fest und widerstandskräftig, daß sie ohne Schaden Reibungen verträgt, welche ungewöhnten Händen Schwielen und Blasen verursachen würden. Ferner ist bekannt, daß durch regelmäßig gesteigerte Ausarbeitung der Muskeln in Verbindung mit methodischem, anfänglich sanftem, aber allmählich nachdrücklicherem Reiben und Kneten das Fleisch so fest wird, daß endlich selbst derbe Stöße und Schläge, die bei nicht Abgehärteten Beulen und Blutunterlaufungen hervorrufen, gar keine merklichen Folgen nach sich ziehen.

Durch Emittelung des specifischen Gewichts ist es dem Professor Jäger in Stuttgart gelungen, nachzuweisen oder wenigstens höchst wahrscheinlich zu machen, daß solche Abhärtung auf einer Verminderung des Körpergehaltes an Wasser und Fett gegen eine Vermehrung der festen, eiweißartigen Körperbestandtheile beruhe. Diese Umwandlung geschieht dadurch, daß Gewöhnung und Uebung vermehrten Zufluß von Ernährungssäften und gesteigerte Ernährung der betreffenden Körpertheile hervorrufen; der Saftzufluß darf aber nicht das Aneignungs- und Wachsthumsvermögen der Theile überschreiten, denn alsdann sind Ausschwitzungen wässeriger oder blutiger Flüssigkeiten (Wasser- und Blutblase), Störungen des Zusammenhanges und der Ernährung der verletzten Theile u. dergl. m. die Folge der übermäßigen Reizung. Diese Art von Abhärtung gelingt also nur bei vorsichtiger Reizung, bei nicht zu häufiger Wiederholung und nicht zu rascher Steigerung derselben, sowie bei genügender örtlicher und allgemeiner Ernährung.

Mit geistigen Anstregungen ist es nicht anders: mäßige und vorsichtig gesteigerte Geistesarbeit vermehrt die Geisteskräfte; übermäßige Anstrengung erschöpft sie. Letzteres sehen wir z. B. bei Kindern, die zu früh in die Schule kommen oder mit Lernen und anderen Schularbeiten überlastet werden. Die Geistesarbeit vollzieht sich auf Kosten der im Gehirn vorräthigen Stoffe und Kräfte; wird von diesen mehr verbraucht, als in Ruhepausen – durch Schlaf und Nahrung – ersetzt werden kann, so leidet die Leistungsfähigkeit. Wenn es von Schülern heißt, sie halten in späteren Jahren nicht, was sie früher versprochen haben, so dürfte meistens Ueberanstrengung die Schuld tragen, und wenn man nicht bei den ersten Zeichen der Ermattung für Schonung und Ersatz sorgt, so wird man den Schaden nur schwer wieder gut machen können.

Haben wir bisher mäßige, aber oft wiederholte Reizungen als wesentliche Grundlage der Abhärtung kennen gelernt, so verhält es sich bei der Abhärtung gegen Witterungseinflüsse ganz ebenso, wenngleich der Zusammenhang oft nicht so klar und einfach erscheint. Wer eine mehrwöchentliche Sommerfrische am Meer oder im Gebirge durchmacht und sich dabei zweckmäßig verhält, der

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Bilder von der Weichselüberschwemmung. Nach der Natur gezeichnet von Robert Aßmus.
1. Thorn mit den Resten der Weichselbrücke. 2. Vor dem Brückenthor bei Thorn. 3. Durchbrochener Damm bei Gurske. 4. Treidlersteg bei Brahnau. 5. Czarnowo.
8. Kilanowski’sches Haus auf der Fischerei bei Thorn. 7. Fährmannshaus bei Schulitz.

[270] wird weit weniger empfindlich gegen Hitze und Kälte, gegen Wind und Regen nach Hause zurückkommen; wer indessen in der thörichten, aber viel gehegten Meinung, am Meere erkälte man sich nicht, oder die Gebirgsluft mache alle Fehler wieder gut, seine Sommerfrische mit Unvorsichtigkeiten beginnt, der wird ebenso sicher Katarrh und Rheumatismen oder noch schlimmere Dinge davontragen, wie der solcher Arbeit Ungewohnte vom Turnen und Rudern Beulen und Schwielen, vom Bergsteigen lahme Beine. Auch hier gilt es, den Reiz der Leistungsfähigkeit anzupassen, durch öftere Wiederholung der Reizung und durch die erforderliche Pflege aber die Organe allmählich an immer stärkere Reize zu gewöhnen und dadurch auch gegen bedenkliche Einflüsse abzuhärten.

Am wichtigsten ist auf diesem Gebiete die Abhärtung gegen Erkältung, von der zu einem nicht geringen Theil unsere ganze Gesundheit und selbst unsere Lebensdauer abhängt. Den abkühlenden und erkältenden Einflüssen aber ist vorzugsweise unsere Haut ausgesetzt; erst in zweiter Reihe die Athmungswerkzeuge, die viel seltener die Folgen eingeathmeter kalter Luft, als die Folgen einer Hautverkühlung zu tragen haben; noch seltener werden die Verdauungswerkzeuge (durch kalten Trunk oder Gefrorenes) unmittelbar erkältet, vielmehr haben auch sie öfter die Folgen einer Erkältung der Körperoberfläche zu büßen und sind ebenso wie die übrigen im Unterleibe eingeschlossenen Organe besonders durch Erkältung der Füße gefährdet. Die Abhärtung gegen Erkältung hat dem zufolge vorzugsweise die Haut in’s Auge zu fassen, namentlich die weiche, leicht schwitzende Haut, welche deshalb am meisten gefährdet ist, weil die Verdunstung der Hautfeuchtigkeit beträchtliche Wärmemengen bindet, sodann aber auch deshalb, weil diese Haut weniger Widerstandskraft gegen schädliche Einflüsse hat, als die feste, derbe Haut. Die planmäßige Abhärtung wird also diese Neigung zum Schwitzen zu beseitigen streben, womit dann zugleich eine größere Festigung des ganzen Hautorgans erzielt wird.

Das mildeste Reizmittel für die Haut ist die Luft, welche durch ihre ungehinderte Einwirkung den Blutzufluß zur Haut und dadurch deren Ernährung fördert; die Einwirkung kühler Luft macht zugleich die Athembewegung tiefer und kräftiger, fördert den Blutkreislauf und steigert hierdurch den allgemeinen Stoffwechsel und die gesammte Ernährung. Wird der Körperoberfläche mehr Wärme entzogen, als aus dem Innern ersetzt werden kann, so leidet der Organismus durch die zu große Abkühlung; daher können Leute mit schwachem Stoffwechsel, mit bleicher, kühler Haut, Blutarme und Herzschwache, weniger Wärmeverlust ertragen und müssen ihre Abhärtungsversuche auf anderem Wege betreiben. Ihnen gebührt zunächst allgemeine Kräftigung durch gute Ernährung mit sehr mäßiger Körperbewegung; der Genuß der freie Luft ist auch ihnen unumgänglich nothwendig, aber sie bedürfen des Schutzes wärmerer Kleidung, wie sie auch im Winter mehr Wärme nöthig haben. Da sie nicht fähig sind, sich durch kräftige und langandauernde Bewegung genügend zu erwärmen, so ist wenig anstrengende, von Ruhezeiten unterbrochene, aber häufiger wiederaufgenommene Körperbewegung erforderlich, und wie hierdurch allmählich Kräfte und Wärmebildung gemehrt werden, so muß dann in gleichem Schritte die Wärme des Zimmers und der Kleider heruntergesetzt werden.

Zum Schweiß geneigte und sich leicht erhitzende Personen dagegen bedürfen, wenn nicht eine besondere Krankheit zu Grunde liegt, geringerer Zimmerwärme und weniger dichter Kleider (und Betten), wie überhaupt bei ihnen alles vermieden werden muß, was den Schweiß hervorrufen oder vermehren könnte, mit Ausnahme kräftiger Körperbewegung, welche durch sich selbst Gegen- und Heilmittel bietet. Die Zimmer und die Kleidung solcher Menschen müssen besonders luftig sein, weil der beständige Luftwechsel die Schweißbildung erschwert; dagegen ist es oft nöthig, daß sie leichte wollene Unterkleider tragen, welche den Luftwechsel nicht hindern, im Gegentheil wegen ihrer Porosität sogar begünstigen, aber die Haut gegen rasche Temperaturwechsel mehr schützen, als leinene oder baumwollene Unterkleider. Diese Leute werden auch gut thun, wollene Hemden zu tragen, wenn sie eine Sommerfrische am Meere oder im Gebirge zur Abhärtung benutzen wollen, weil sie in diesem Schutze sich sicherer den Wärmewechseln aussetzen können, was doch für die Erreichung ihres Zweckes unbedingt nothwendig ist. Kräftige Körperbewegung bei mäßiger, nicht erhitzender und fettarmer Nahrung ist daneben zur Kräftigung unerläßlich. So wird die meist vorhandene Neigung zum Fettansatz bekämpft und der Säftestrom von der Haut abgeleitet.

Die Kräftigung der Haut erfordert aber neben diese Maßregeln noch unmittelbare Eingriffe: nämlich kalte Waschungen, Abreibungen mit dem naßkalten Leinentuch, Regen-, Fluß- und Seebäder, besonders die vorzüglich wirksamen Meerbäder. Der hautabkühlenden und hautkräftigenden Wirkung des kalten Wassers müssen starke Reibungen und ausreichende, aber nicht übertriebene Körperbewegung, wenn irgend möglich im Freien, folgen, wodurch Erkältungen zugleich am sichersten vermieden werden. Bei schwächeren Personen, namentlich auch bei jüngeren Kindern, beginnt man mit den milderen Formen der Wasseranwendung, in der so eben genannten Reihenfolge, und steigt allmählich zu den kräftigeren auf. Die Seebäder sind um so wirksamer, je kühler, salzreicher und bewegter das Wasser ist. Dies der Vorzug der Herbstbäder, namentlich in der Ostsee, wobei aber auch die kühlere Luft von Wirksamkeit ist.

Wenn die Haut und das Gefäßsystem sehr empfindlich und erregbar sind, was sich durch Blutwallungen, fliegende Hitze, Herzklopfen und Neigung zu Blutungen neben der leicht eintretenden Schweißbildung zu erkennen giebt, so ist besondere Vorsicht und ärztliche Ueberwachung nöthig. Hier ist die Cur oft mit warmen Sool- oder Seebädern zu beginnen, die aber immer nur mäßig warm und allmählich kühler genommen werden müssen und sehr zweckmäßig mit einer kühlen Uebergießung oder Abregnung zur schnelleren Festigung der Haut geschlossen werden.

Bei mageren, dürftig genährten und im Allgemeinen schwächlichen Personen, sowie auch bei ganz kleinen Kindern würde die beträchtliche Wärmeentziehung durch kaltes Wasser in fast jeder Form der Anwendung zu viel Kräfte hinwegnehmen; hier sind zunächst lauwarme Bäder (warm genug, um kein Frieren zu veranlassen) und höchstens kühle Abreibungen oder Abwaschungen einzelner Körpertheile in Anwendung zu bringen, bis durch gute Nahrung, Aufenthalt und Bewegung im Freien etc. der Körper hinreichend gestärkt ist, um die kräftigeren Methoden der Kaltwasserbehandlung zu ertragen. Oft ist es nöthig, durch warme Einhüllung, sogar im Bette, oder durch erwärmende Getränke den nach dem Bade fortdauernden Wärmeverlust zu beschränken und die Wärmeerzeugung zu befördern. Die abkühlende Behandlung – das darf nie vergessen werden – kann nur dann von Nutzen sein, wenn ihr durch die innere Kraft des Organismus erhöhte Erwärmung nachfolgt; denn wie bei allen anderen Arten der Abhärtung soll auch bei der Abhärtung der Haut gegen Erkältungen ihre Festigung durch vermehrten Blutzufluß und bessere Ernährung ihrer Bestandtheile, einschließlich ihrer Nerven und Blutgefäße, erreicht werden.

Zugleich mit der Kräftigung der Haut und der allgemeinen Ernährung durch die oben geschilderten Abhärtungsmethoden gewinnt auch die Schleimhaut der obere Athemwege, besonders der Nase und des Halses, sowie der größeren Luftröhren, welche besonders Erkältungen ausgesetzt sind, eine größere Widerstandskraft gegen jene Reizungen, und selbst die so viel tiefer und geschützter liegenden Organe des Unterleibs nehmen an der allgemeinen Kräftigung theil. Wesentlich verhilft dazu auch das bereits erwähnte durch Bewegung, namentlich im Freien, und durch die vorübergehende Hautreizung angeregte Bedürfniß zu tieferen Athemzügen, wodurch die Lunge besser ausgelüftet, das in derselben kreisende Blut vollständiger von Kohlensäure befreit und reichlicher mit Sauerstoff versehen, das Athmungsorgan selbst allmählich vergrößert wird. Diese mit den abhärtenden Hautreizungen verbundene Steigerung der Athmungsthätigteit mahnt uns aber wieder zu der Vorsicht, daß wir nicht solche Abhärtungsversuche unternehmen, wenn irgend ein Theil der Athmungswerkzege sich in gereiztem oder krankem Zustande befindet; denn jedes geschwächte oder kranke Organ verlangt Ruhe und Schonung, so viel ihm davon bei den unaufschiebbaren Bedürfnissen des Lebens gewährt werden kann; die Athmungsorgane verlangen also unter solchen Umständen Verringerung des Athembedürfnisses durch Ruhe und Vermeidung jeder Reizung, durch Aufenthalt in warmer, aber reiner Luft, sowie geeignete Behandlung der gereizten Schleimhäute und Beseitigung des Hustenreizes.

Bei aller Verschiedenheit des Abhärtungsverfahrens im Einzelnen läßt sich, wie wir sehen, der Grundsatz feststellen, daß die Reizung des abzuhärtenden Organs nicht größer [271] sein darf, als um einen mäßigen, zu seiner besseren Ernährung ausreichenden Blutzufluß hervorzurufen, und daß sie deshalb die Fähigkeit des Organismus zur Gegenwirkung nicht übersteigen darf; ist letzteres der Fall, oder kehrt der Reiz zu häufig wieder, so ist nicht Stärkung, sondern Schwächung (oder Krankheit) die Folge. Auch ergiebt sich hieraus, daß Abkühlung nicht gleichbedeutend ist mit Abhärtung, denn die Abkühlung kann nur dann als Reizung dienen und als Nachwirkung den Blutzufluß und die Ernährung steigern, wenn sie rasch vorübergeht, während andauernde oder zu lange fortgesetzte Abkühlung die Blutströmung und Ernährung herabsetzt. Unter solcher Verkennung der Verhältnisse haben besonders häufig Kinder zu leiden, die sich nicht zur Wehre setzen und nicht einmal klare Auskunft über ihre Gefühle geben können. Weit ausgeschnittene Kleider, kurze Röckchen, die kaum bis an die Kniee reichen, baumwollene Socken und Schuhe mit papierdünnen Sohlen bilden oft die ganze Kleidung der Kinder, und darin sollen die zarten Geschöpfe, die vermöge ihrer kleineren Körpermasse weniger Wärme erzeugen, aber verhältnißmäßig mehr abgeben als Erwachsene, ihre Eigenwärme erhalten. Am besten ergeht es ihnen noch bei bedeutender Kälte, wo blaugefrorene Arme und Gesichter nebst Frost an Händen und Füßen schreiend an Abhülfe mahnen; sonst werden Durchfälle, die von Erkältung des Unterleibes und der Füße herrühren, gern irgend einer kleinen Süßigkeit, Husten und Schnupfen dem unvermeidlichen „Zug“, Mandelanschwellung und Stockschnupfen den Scropheln zugeschrieben. Kinder sollen gleich den Erwachsenen in ihren Kleidern wie in ihren Betten sich behaglich warm fühlen; nur dann können sie sich gesund entwickeln und die Widerstandskraft ausbilden, deren sie zum Leben bedürfen und die wir durch ein vernünftiges Abhärtungsverfahren zu stärken suchen.

Gute Ernährung, aber keine Ueberfütterung, Schutz gegen schwächende Einflüsse aller Art, gegen Entbehrungen ebenso wohl wie gegen Kälte oder Hitze, gegen Frieren wie gegen Schwitzen, Gewöhnung an die freie Luft und an kräftige Körperbewegung und endlich sorgsame Hautpflege durch vernünftige Benutzung des Wassers: das sind kurz die Grundzüge der Abhärtungslehre, deren verständige Befolgung viel Leid und Ungemach verhüten, Gesundheit und Schönheit begründen und sicherstellen kann.




Ein Fremdling unter Deutschlands Strömen.


Um alle großen Ströme Deutschlands hat Lied und Sage des deutschen Volkes den Schimmer der Romantik gebreitet, nur nicht um den größten Strom des Ostseegebiets, die Weichsel. Nehmen wir Schenkendorf’s schönes Lied von der Marienburg aus, so haben wir unter unsern nationalen Dichtungen kaum eine, deren Boden das Weichselgebiet ist, und die reiche und ruhmvolle Geschichte der deutschen Colonisation in den Landstrichen an der Weichsel hat weder die Dichter anzuregen noch den sagenspinnenden Volksgeist zu fesseln vermocht! Liegt das wohl daran, daß an den Ufern dieses Stromes ein Geschlecht seßhaft geworden, das zwar stark, zähe und arbeitsam, aber auch kühlen und vorwiegend praktischen Sinnes ist, das nichts gemein hat mit den leichtlebigen, phantasiebegabten Söhnen des Rheinlandes? Oder liegt es daran, daß der Strom trotz der Jahrhunderte alten glorreichen Geschichte der Städte an seinem untern Laufe – Thorn, Culm, Marienburg und Danzig – im Wesentlichen ein slavischer Fluß ist? Denn das ist er in der That nach Ursprung und größtentheils auch Verlauf wie nach der Physiognomie des Verkehrs auf seinem Rücken, ja, wenn man will, auch der Eigenart seines Wesens nach.

Wie im slavischen Volkscharakter die schneidendsten Gegensätze neben einander schlummern, die heitere Lebenslust und die glühende Leidenschaft, so trägt auch die Weichsel ein verschiedenes Gesicht je nach der Stimmung des Augenblicks. Heute fließt sie dahin in sonnigem Glanze, und ihr Schimmer belebt die einfache, melancholische Landschaft, die in ihrer schwermüthigen Stimmung einen eigenen, auswärts noch lange nicht genug gewürdigten Reiz ausübt; freundlich spiegelt sich in ihr der Abendhimmel, dessen Wolkenbildungen gerade in dieser Gegend selten schöne Schauspiele darbieten. Morgen aber rast sie dahin in unwiderstehlicher Leidenschaft, zerstört die aufgerichteten Deiche und vernichtet meilenweit die Früchte menschlichen Fleißes. Hier dient die alte hochberühmte Wasserstraße, welche seit Jahrhunderten den Verkehr Polens mit der Ostsee vermittelte und auch heute noch trotz der Concurrenz der Eisenbahnen für die Ausfuhr von Getreide und Holz aus Rußland höchst wichtig ist, willig der Schifffahrt; dort führt sie den Schiffer tückisch auf eine der vielen Untiefen, die der von ihr mitgeführte Sand bildet. Hier bringt sie dem Niederungsbewohner erwünschten Zuwachs zu seinem Besitzthum, indem sie durch Anschwemmungen die zahlreichen „Kämpen“ oder angeschwemmten Inseln vergrößert, die mit ihren Weidenpflanzungen, über denen ab und zu die Möve herschießt, der Weichsellandschaft ein so charakteristisches Gepräge geben. Dort spült sie unerbittlich alljährlich große Strecken ab und entführt dem Landmann sein Eigenthum.

Zu einer Jahreszeit ganz besonders trägt die Weichsel den Typus des Landes, dem sie entstammt. Das ist im Spät-Frühling und Sommer, wenn die Holzflöße, Traften genannt, aus Galizien und dem obern Polen mit ihrer Bemannung herniederschwimmen nach den Weichselstädten. Eine fremde Welt ist’s, die Grenzscheide zweier Culturen, deren Vertreter in diesen Flößern, „Flissaken“ geheißen, zu den deutschen Ufern des Stromes herabkommen. So verschiedenartig wie das Gemisch der Stämme in jenen Gegenden, ist auch ihre Tracht; begnügt sich der Eine mit dem leinenen Beinkleid und dem darüber getragenen Hemd oder weißen Mantel, so trägt der Andere einen ausrangirten österreichischen Militärmantel, und der Dritte – in glühender Sonnenhitze! – den weißen, mit dem Gürtel zusammengehaltenen Schafpelz und die viereckige Mütze.

Ein Zug aber ist Allen gemeinsam: derjenige beglückender Genügsamkeit bei der größten Armuth. Wenn sie nur ein Stück Brod, einen Häring, möglichst viel Schnaps und etwas Hoffmanns-Tropfen haben, sind sie vollständig zufrieden mit ihrem Geschick, und wenn sie vielleicht gar noch eine Fiedel, eine Ziehharmonika ihr eigen nennen, so haben sie die höchste Glückseligkeit erreicht, die auf Erden denkbar ist. Denn die Liebe zur Musik ist, wie fast allen slavischen Stämmen, auch diesen Flissaken angeboren. Wer von ihnen es nur einigermaßen erschwingen kann, der nimmt sicher eine Geige von daheim mit, wenn der Holzhändler ihn zur Reise nach Danzig miethet; hat er’s nicht gekonnt, so kauft er bestimmt in der ersten preußischen Stadt, wo Halt gemacht wird, irgend ein musikalisches Instrument, auf welchem der Natursohn seine Kunst versucht. Eigenthümliche Klänge, meist ohne Rhythmus und Tact und doch nicht unharmonisch, entlockt er seinem Instrument; begeistert lauschen die Genossen, wenn sie, sich sonnend, um ihn herumlagern auf den Plätzen der Stadt; in langem Zuge folgen sie dem vorauschreitenden Spieler durch die Straßen hin zu dem schmalen, flachen Kahn, der dem Canoe gleicht und wegen der Gefahr des Umschlagens „Seelenverkäufer“ genannt wird. Nur wenige Mann, theils stehend, theils am Boden liegend, können in solchem Canoe zur Traft fahren. Und wenn der Abend gekommen und im Strome die Feuer sich spiegeln, an welchen der Flissak auf der Traft sein frugales Abendbrod sich kocht, wenn dem Uferbewohner der ganze Strom besäet erscheint mit diesen Lichtern und ihren Reflexen im Wasser – dann dringt zum Ufer der klagende Ton der Geigen herüber durch die laue Abendluft; der Flissak, der arme, unwissende, in Schnaps verkommene Sohn des Ostens, hat nach seiner Art seine Weihestunde und strömt das, was er dunkel ahnt und was ihm doch nie zum Bewußtsein kommen kann, in seinen Phantasien aus.

Wie grundverschieden aber von dieser Idylle ist der Eindruck, den die Weichsel im Frühjahr macht, wenn das wachsende Wasser die Eisdecke hebt und der Strom, in seinem Laufe beschleunigt, die großen, oft zwölf Fuß starken Eisschollen dem Meere zutreibt! Wohl ist es wahr, auch andere Ströme Deutschlands zeigen sich zuweilen in dämonischer Gestalt, aber der Weichsel ist in dieser Hinsicht keiner vergleichbar. Denn die Gefährlichkeit des Hochwassers, das Verheerende seiner Wirkung wird bei der Weichsel verdoppelt durch das Eis, das bei den anderen selten in Betracht kommt. Wo das Hochwasser allein keine Katastrophe [272] herbeiführen könnte, da verstärkt das Eis die Gewalt der Strömung oder, was noch schlimmer ist, da bildet es durch Ansammlungen großer Massen von Schollen einen Damm gegen das Wasser, der sich mächtig dem Strom entgegenwirft und ihn zurücktreibt, daß er, sich anstauend, heraustritt über die Deiche, welche ihn in seine Grenzen bannen sollten, und nun seine Fluthen und die von oben her nachdrängenden Eismassen über die unter dem Niveau des Strombetts liegenden Ebenen des Flußthals ergießt. In diesen Ansammlungen der Eismassen, den sogenannten Stopfungen, liegt die große Gefahr eines Eisgangs, und diese Stopfungen kommen eben bei der Weichsel viel häufiger vor als bei irgend einem anderen Strome Deutschlands.

Die Hauptursache davon ist die eigentümliche Gestaltung des unteren Weichsellaufes. Sechs Meilen oberhalb der Weichselmündung, an der Montauer Spitze, spaltet sich der Strom in die eigentliche Weichsel und die Nogat. Letztere theilt sich eine Meile vor ihrem Ausflusse zunächst in zwei Arme und fließt dann, fortgesetzt sich in kleinere Arme spaltend, durch nicht weniger als 27 Rinnen in das Haff.

Bilder von der Weichselüberschwemmung. Nach der Natur gezeichnet von Robert Aßmus.
8. Das Reimann’sche Schankhaus bei Thorn.

Die eigentliche Weichsel theilt sich drei Meilen oberhalb ihrer Mündung, am sogenannten Danziger Haupt, wieder in die Danziger und die Elbinger Weichsel, welche nun in gerade entgegengesetzter Richtung, die eine west-, die andere ostwärts, der See zulaufen. Die Danziger Weichsel bewirkte 1840 einen Durchbruch der Dämme bei Neufähr, wodurch der weitere Stromlauf ein todter Arm wurde; die Elbinger Weichsel theilt sich 1 ½ Meilen oberhalb der Mündung in 17 Arme, in denen sie sich in das Haff ergießt. Diese seltsame Zerklüftung hat schon seit Jahrhunderten den Anlaß zu heftigen Kämpfen gegeben; Danzig sowohl wie Elbing suchten das Wasser der ungetheilten Weichsel für sich zu erlangen, und die Kämpfe um die Montauer Spitze bilden ein gar lehrreiches, hier nur leider zu weit abführendes Capitel von den Nachtheilen engherziger Bestrebungen, die nur das nächstliegende Interesse verfolgen und dabei das Wohl des Ganzen außer Acht lassen. Der Kampf ist jetzt dahin entschieden, daß man durch die sogenannte Coupirung der Nogat versucht hat, die Wassermenge, die durch die Nogat, und diejenige, welche durch die Weichsel abzufließen hat, in ein bestimmtes Verhältniß zu bringen und den Eisgang ausschließlich der Danziger Weichsel zuzuwerfen. Aber die Natur machte die Berechnungen der Techniker zu Schanden; der Eisgang der ungetheilten Weichsel hat sich wiederholt in die Nogat geworfen, welche ebenso wenig wie die Elbinger Weichsel im Stande ist, diese großen Eismassen aufzunehmen, und so entsteht denn für die Nogat-Niederung mit jedem Eisgang die Gefahr, daß die Eismassen aus der Nogat in die Niederung dringen – eine Gefahr, welche die entsetzlichste Gestalt 1855 annahm, als die Dörfer Groß- und Klein-Montau und Klossowo beinahe gänzlich von der Erde vertilgt wurden. Die anderweite Regulirung des Stromes ist schon lange geplant, eine bestimmte Entscheidung ist aber bei den verschiedenen sich widerstreitenden Interessen noch nicht getroffen worden. Durch Pulversprengungen, welche auf weite Strecken eine Rinne in der Weichsel bildeten, hat man in den letzten Jahren den Abzug des Eises durch die Weichsel sichern und das Eis von der Nogat fernhalten müssen.

Außer diesen für den unteren Lauf der Weichsel geltenden besonderen Verhältnissen aber liegt der gefährliche Charakter der Weichsel auch in der geographische Lage im Allgemeinen. Auf ihrem 144 Meilen langen Laufe von Süden nach Norden berührt die Weichsel Länder von sehr verschiedenem Klima. Wenn im Norden die Eisdecke der Weichsel noch fest gefroren liegt, ist oft in Polens Ebenen plötzlich mit aller Macht der Frühling in’s Land gekommen und hat der Weichsel neue Wassermassen gebracht, die Eisdecke zerbrochen und dem Norden zugesandt. In schnellem Strom schwimmen die Eisschollen, sich drängend und in einander schiebend, herab; auf Meilen weit haben sie die Eisdecke vor sich her aufgebrochen – da plötzlich wird ihre Macht aufgehalten; das Grundeis hat eine Stopfung gebildet, oder die starke Eisdecke des Nordens leistet noch Widerstand. Nun thürmen sich die Schollen zu gewaltigen Eisbergen auf einander; das Rauschen des [273] Wassers wird übertönt von dem Geräusch der Eismassen, die an einander stoßen, sich aufrichten zusammensinken, an einander sich reiben, sich fester und fester verpacken. Wie im Kaleidoskop wechselt das Bild, das sich dem Auge darbietet, in jeder Minute: hier steigt ein Eisberg empor, dort bricht eine senkrecht in Hauses Höhe emporgerichtete Scholle; jede neu ankommende Scholle kämpft mit der festliegenden um ihren Platz. Immer stärker wird der Eiswall, der dem Strome Einhalt gebietet; langsamer fließt das Wasser heran, bis es ganz zum Stehen kommt. Mit jeder Stunde steigt der Strom, der in normalen Zeiten etwa 3000 Fuß breit ist, bei Hochwasser aber natürlich eine viel größere Breite hat; in wenigen Stunden ist das Wasser um mehrere Fuß gewachsen.

Bilder von der Weichselüberschwemmung. Nach der Natur gezeichnet von Robert Aßmus.
9. Dammdurchbruch bei Czarnowo.

In solcher Lage sind nur zwei Fälle möglich: entweder es gelingt dem Drucke des fortwährend steigenden Wassers, die Eisstopfung zu lösen und das Eis zum Weichen zu bewegen – dann nimmt der Eisgang seinen normalen weiteren Verlauf und die Gefahr ist beseitigt – oder die von oben herab kommenden Eis- und Wassermassen, denen die Stopfung den Weg verlegt, suchen sich einen Weg durch den Uferdamm – und dann ist das Besitzthum der Niederungsbewohner schutzlos dem wüthenden Elemente preisgegeben; der Strom hat seine Fesseln gebrochen und rächt sich für den ihm angethanen Zwang, indem er Meilen weit das von fleißiger Menschenhand bestellte Land verheert. Wohl ist der Niederunger nicht müßig gewesen; er kennt ja die Tücke des Stromes, der ihn bedroht, und sobald aus Warschau die Nachricht von dem Beginn des Eisganges eintrifft, eilt er seine Vorkehrungen zu treffen. Mit Spannung wird jeder Depesche entgegengesehen, welche das deutsche Generalconsulat in Warschau nach Thorn sendet und welche von dort aus nach allen Weichselstädten weiter telegraphirt wird; gilt es ja, aus den Wasserstandsnachrichten die Gefahr zu bemessen, welche droht. Schon haben die Eiswachen die Dämme bezogen, mit Pfählen, Strauchwerk, Dünger, Erde bemühen sie sich, die gefährdeten Stellen zu schützen und dem Durchdringen des Wassers durch den Damm vorzubeugen. Ueberall auf der ganzen Uferlinie herrscht Leben, Thätigkeit, Bewegung. Daheim wird das Vieh in Sicherheit gebracht, in weniger gefährdete Gehöfte oder auf die Heuschuppen; die ganze bewegliche Habe des Besitzers bringt man nach dem Boden des Hauses, und die Familie richtet sich dort oder in den höher gelegenen Kirchen, Schulen oder Gehöften häuslich ein, so gut es geht. Aber damit sind auch die Sicherheitsmaßregeln des Niederungers erschöpft; das Weitere muß er dem Elemente überlassen, dessen Walten er mit Bangen entgegensieht.

Das ist der Eisgang auf der Weichsel, wie er sich alljährlich, bald mehr, bald minder gefährlich abspielt, mit schlimmerem Ausgang als in diesem Frühjahr seit langer Zeit nicht. Das Eis war im Winter bei viel höherem Wasserstande als sonst zum Stehen gekommen; die verhältnißmäßig milde Witterung hatte die Eisschollen aufgeweicht und dadurch geeigneter gemacht an einander zu kleben und Stopfungen zu bilden. Wie verhängnißvoll diese Stopfungen zu werden vermögen, sollte sich bald zeigen.

In der Nacht zum 18. Februar begann bei Thorn der Eisgang. Eine Stopfung, welche sich unterhalb Thorns gebildet hatte, brachte das Eis bald wieder zum Stehen. Am 18. Februar Mittags setzte es sich in der vollen Breite des Stromes abermals in Bewegung, und nun nahm das Drama schnellen Fortgang. Ueberall, an den verschiedensten Stellen, waren Stopfungen eingetreten und führten Katastrophen herbei. Schon am Nachmittag brach der Damm der Thorner Niederung bei Schmolln; unaufhaltsam drang das Wasser in die Oeffnung und überschwemmte die rechts der Weichsel gelegene Niederung; weitere Dammbrüche bei Pensau und Czarnowo folgten; die häufigen Stopfungen unterhalb hinderten den Abfluß der Wassermengen, und der Morgen des 19. Februar beleuchtete eine einzige große Wasserfläche. Das Werner’sche Haus in Schmolln war von den Fluthen weggespült worden; bei Thorn war die hölzerne Brücke über einen Weichselarm fortgerissen, das Zollhaus mit dem Krahne am Weichselufer von den Eismassen zusammengedrückt; zwei Häuser in der Fischerei-Vorstadt waren [274] arg zerstört worden; zwei andere Häuser am Weichselufer, das Otto’sche und das Reimann’sche Schankhaus, lagen da wie in’s Eis verpackt.

Abgeschlossen von aller Welt, mitten im Wasser und Eise, durchlebten die Bewohner der Ruine Dybow, Thorn gegenüber, und die Schiffer, welche mit ihren Kähnen unter den Bäumen der Bazarinsel Zuflucht gesucht hatten, entsetzliche Stunden. Wohl hatte der Eisgang im Hauptstrome, in Folge der Stopfungen unterhalb, schon am Abend wieder aufgehört, aber mit um so stärkerer Macht nahm das Eis seinen Weg durch den linken Nebenarm der Weichsel nach der linksseitigen durch Dämme nicht geschützten Niederung. Vom Kaszczoreker Sand bis hinüber nach Rudak, von den Festungswerken, die sich bei Thorn an der rechten Seite des Stroms erheben, bis zu dem Damme der Posen-Thorner Eisenbahn, den das Wasser schon zu unterspülen begann – Alles nur eine einzige Wüste von Wasser und Eis. Hier die Eisschollen, in barocken Gestaltungen an einander geschoben und auf einander gethürmt, ruhig liegend, aber jeden Augenblick bereit, bei eintretender Strömung dahin zu gleiten mit furchtbarer Gewalt; dort Wasser und Eis in rasendem Laufe vorüber eilend und Tod und Verderben bringend.

Ebenso traurig sah es in den Niederungsdörfern aus, in Gurske, Schmolln, Pensau und Czarnowo. Nicht allen Bewohnern war es gelungen, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen; vierundzwanzig entsetzliche Stunden verlebten einzelne auf den mitten im Wasser stehenden Häusern, ehe es den Nachbarn gelang, mit Kähnen heranzukommen und sie an’s Land zu bringen. Und zu aller dieser Sorge des Augenblicks noch die bange Frage: was wird die nächste Zukunft bringen? Werden sich die Eisstopfungen unterhalb langsam lösen, wird das Eis von oberhalb auch nicht mit Macht nachdrängen und dann vollends zerstören, was das Wasser verschonte?

Die Bewohner des linken Weichselufers befanden sich in keiner besseren Lage. Die Ländereien von Nessau, Schulitz, Fordon – alle bieten sie denselben trübseligen Anblick – Wasser und Eis, so weit das Auge reicht, nur hier und da ein Baum, ein Dach aus den Fluthen hervorragend, oder allerhand Mobilien, Spiegel, Schränke, Wiegen und Hausgeräth in den Fluthen schwimmend – und der Mensch machtlos dem verheerenden Elemente gegenüber. Ueberall die nämlichen Eisstopfungen , die das Wasser anstauen und übertreten lassen! Die Ortschaften der Culmer Niederung, Grenz und Roßgarten, sind auf’s Höchste bedroht; ein Militärcommando geht eiligst von Culm ab, an der Erhöhung der Dämme zu arbeiten. Die Fischereivorstadt bei Culm steht unter Wasser. Aus der Schwetz-Neuenburger Niederung und aus Schwetz selbst kommen herzzerreißende Nachrichten; eine Eisstopfung, die von der Graudenzer Brücke bis nach Deutsch-Westfalen reicht, setzt die Niederungsdörfer und die Altstadt Schwetz unter Wasser. 135 Häuser, meist von der Armuth bewohnt, sind in der Altstadt von Schwetz dem Elemente preisgegeben, theils schon zerstört, theils dem Einsturz nahe. Aus den Dächern hervor, unter die sie geflüchtet, bringen die Armen, zitternd vor Aufregung und Kälte, ihre wenigen Habseligkeiten bis in die späten Nachtstunden hinein in Kähnen nach der höher gelegenen Neustadt, wo sie in der Stadtschule, im Kreishaus, in Restaurationen vorläufig Obdach finden und die Mitglieder des Frauenvereins in edlem Wetteifer Hunderten von Nothleidenden Nahrung darbieten. Verzweiflung und Dankesgefühl, Furcht und Hoffnung kämpfen in den Herzen. Von Danzig ist ein Militärcommando nach Deutsch-Westfalen abgegangen, um die Eisstopfungen durch Sprengungen zu beseitigen; wird die Hülfe zeitig genug kommen – oder werden auch die bis jetzt verschonten Häuser und mit ihnen die Habe, die zurückgelassen werden mußte, ein Raub der Wellen werden?

Die Hoffnung hat nicht betrogen. Das Unglück, so groß es ist, hat seine Grenzen erreicht. Die Stopfungen lösen sich, das Wasser verläuft sich. Am Nachmittag des 19. Februar hat das Wasser bei Thorn seinen höchsten Stand erreicht mit 25 Fuß 2 Zoll, den höchsten, welchen die Weichsel in diesem Jahrhundert dort gehabt. Nur die Eisgänge der Jahre 1579, 1584 und 1719 mit respective 28 Fuß, 27 Fuß 4 Zoll und 26 Fuß 1 Zoll hatten höheren Wasserstand. Langsam, sehr langsam beginnt das Wasser zu fallen, aber dieser langsame Verlauf erweist sich als ein Glück für die unteren Weichselgegenden; denn das Hochwasser hat Zeit sich zu vertheilen; das Eis kann sich allmählich lösen; ganz normal vollzieht sich der Eisgang im untern Stromlaufe, wo sonst die Gefahr am größten ist. Mit Ende Februar können die Bewohner der Weichselwerder aufathmen; die Weichsel hat ausgetobt. Auf dem Lande, welches der Strom mit seinen Eismassen überzogen, hat er compacte Eismauern bis zu 15 Fuß Höhe zurückgelassen. Als phantastische Eisgebirge, mit seltsam geformten Kuppen, mit Grotten und Thälern liegen die gefesselten Riesen da; die Kraft, die ihnen Leben gab, ist verschwunden; gestern noch der Schrecken der Männer, sind sie heute der Spielplatz der Knaben, und in wenigen Wochen hat die Frühlingssonne ihnen ein Ende gemacht.

Der Schaden, welchen Eisgang und Ueberschwemmung angerichtet, ist noch nicht zu berechnen. Härter als die Zerstörung der Gebäude trifft die Bewohner der Niederungen der Schaden an den Dämmen, zu deren Wiederherstellung die Deichverbände verpflichtet sind, und die Versandung ihrer Ländereien. Mehrere Fuß hoch hat die Weichsel an vielen Stellen den guten, fetten Niederungsboden mit Sand bedeckt, als wolle sie ihrem Zerstörungswerk, auch nachdem sie in ihr Bett zurückkehren mußte, Dauer verleihen. Aber ein kerniger Schlag Menschen sind diese Colonisten, die seit den Tagen der Ordensritter zu verschiedenen Epochen, namentlich unter Friedrich dem Großen, aus allen Theilen Deutschlands nach den Weichselniederungen sich gezogen haben und seitdem, im Gegensatz zu der gemischten Bevölkerung der „Höhe“, einen rein deutschen Stamm und den Kern der bäuerlichen Bevölkerung in dem vorwiegend vom Großgrundbesitz bewirthschafteten nordöstlichen Deutschland bilden. Sie verzagen nicht; mit frischem Muthe, mit unvergleichlicher Ausdauer und mit der alten Anhänglichkeit an die liebgewordene eigene Scholle gehen sie immer wieder von Neuem daran, die Wunden zu heilen, die ihnen die tückische Weichsel schlug, und wenn sie, wie zu hoffen, von der Staatsregierung dabei unterstützt werden, wird es ihnen auch diesmal gelingen.[2]

R. Hupfer.




Ein Schillerpreis-Gekrönter.
Von Otto Hammann.


An einem Herbsttage des Jahres 1870 war auf dem Zettel des Theaters an der Wien zu lesen: „Der Pfarrer von Kirchfeld, Volksstück mit Gesang in vier Acten von L. Gruber.“ Obgleich Aller Augen sich damals auf das Kriegsschauspiel richteten, war das Theater am Abend bis an die Decke gefüllt. Allerlei Gerüchte waren unter die Leute gekommen, dieses Stück eines gänzlich unbekannten Autors enthalte freisinnige Ideen; das Cölibat der Priester würde darin lächerlich gemacht, die Herrschaft des Papstthums bekämpft. Gewiß stellte die größere Zahl der Theatergänger sich den Pfarrer von Kirchfeld als einen niederträchtigen Kerl vor, der unter erheuchelter Frömmigkeit das bekannte Hocuspocusspiel mit der Religion treibt, der hetzt, statt versöhnt, der salbungsvoll die Tugend predigt, um hinter der Gardine mit cynischem Lächeln sich ihrer Verletzung zu freuen. Ein Volksstück! Was für tolle Ungereimtheiten wird es da wieder zu sehen geben, welche Metamorphosen werden die Personen durchleben, um die Wiener zum Lachen zu bringen, und wie plump und aufdringlich wird die freisinnige Tendenz des Stückes den Leuten in’s Gesicht gesagt werden! Was sollte auch von Gruber, den kein Mensch kannte, Gutes kommen! [275] Auch ich dachte mir, ehe ich das Stück kannte: der Pfarrer ist ein niederträchtiger Kerl. Aber das war weit gefehlt.

Der Herr Graf von Finsterberg trägt nicht umsonst seinen Namen. Als Patron von Kirchfeld ist er mit dem jungen Pfarrer der Gemeinde, Namens Hell, unzufrieden, weil dieser, die reine Menschenliebe predigend, seine Gemeinde abhält, thörichte Wallfahrten anzustellen, weil er sie nicht gegen die Obrigkeit aufhetzt, und weil er es sogar geschehen läßt, wenn Einer eine Lutherische heirathet. Der Graf versucht es denn, ihm einmal den Standpunkt klar zu machen. Aber da ist er ganz an den Unrechten gekommen; selbst die Drohung mit Excommunication kann den Wackeren nicht schrecken.

Doch eine Feindschaft von anderer Seite soll ihm gefährlich werden. In Kirchfeld lebt ein ganz gottvergessener Lump, der, verbissen und verbittert, von den Menschen nicht viel wissen mag. Der Wurzelsepp ist nicht immer so verwildert gewesen; ein Brautzug, der einen katholischer Buben und eine lutherische Dirn’ auf’s Bezirk zur „Zwifileh’“ geleitet, macht ihm seine ganze Vergangenheit wieder lebendig: sein Unglück wurde, daß er eine Lutherische nicht heimführen durfte, weil der frühere Pfarrer das ganze Dorf, die eigene Mutter gegen ihn aufgehetzt hatte. Daher besonders sein Ingrimm gegen die Geistlichen, von denen er gern einmal einen in der Lage sehen möchte, in der er sich vor zwanzig Jahren gewunden hat wie ein Wurm.

Und die Gelegenheit kommt! Auf Empfehlung eines alten Collegen hat der Pfarrer die Annerl, eine verwaiste, lebfrische Dirn, zu sich in’s Haus genommen. Das brave, harmlose Mädchen hat bald das Herz des jungen Pfarrers gefangen, und der Sepp ist’s, der ihm triumphirend zum Bewußtsein bringt, daß er liebt und durch seine Liebe elend werden muß, wenn er nicht einen frommen Betrug spielen will. Er hat nämlich hinter dem Gartenzaun ein trauliches Gespräch des Pfarrers mit der Annerl belauscht und gesehen, wie er ihr ein Kreuz seiner Mutter geschenkt hat. Und wie Hell noch so steht, beglückt, die reinste Menschenliebe im Herzen, schwingt sich sein Feind über den Zaun, um sich für die schöne Unterhaltung zu bedanken, mit der ihm der Pfarrer eben unbewußt die Zeit vertrieben. Jetzt hat er einen da, wo er die Pfaffen alle haben möchte, und das ganze Dorf soll’s wissen, es sind so lauter gute Christen. Bald ist denn in der That ganz Kirchfeld gegen den Pfarrer aufgebracht; hat doch auch die Anna in gutmüthiger Eitelkeit das geschenkte Kreuz offen vor den Leuten getragen und so bestätigt, was ihnen der Sepp erzählt. Als sie die traurigen Folgen sieht, ist sie auf’s Tiefste betroffen; um sich ihre Empfindung für den Pfarrer rein zu bewahren und zugleich dem ganzen Gerede ein Ende zu machen, verlobt sie sich dem Michel, einem treuherzigem kernigen Burschen, der in einer köstlichen Scene um ihre Hand wirbt. Mit wie schöner Einfalt weiß sie den Mann, den sie über Alles verehrt und dem ihr Scheiden so bitter weh thut, zum Ausharren bei seiner Pflicht zu ermahnen! Unterdessen hat den Wurzelsepp der einzige Schmerz getroffen, der ihm widerfahren konnte: seine alte Mutter hat im Wahnsinn sich selbst getödtet, und er muß fürchten, daß das Letzte, was sie begehrte, ein ehrliches Begräbniß, ihr verweigert wird. Mißtrauisch geht er zum Pfarrer, aber der weiß ihn zu treffen, wo er ein Herz hat, selbst will der Pfarrer die Leiche zu Grabe geleiten, selber will er, dem der Sepp so tiefes Weh zugefügt, für die Todte sprechen. Und wie der verkannte Pfarrer ihn gerade jetzt mit tröstenden Worten ermahnt, zur Gemeinde zurückzukehren, da ist Sepp’s Hohn dahin, und mit voller Leidenschaft ruft er aus:

„Mach Du mit mir, was Du willst! Du – Du bist doch der Rechte.“

Doch die größte Selbstüberwindung steht dem Pfarrer noch bevor, da er versprach, selbst vor dem Altar die Hände des Brautpaares in einander zu legen. Und kaum hat er das ungeheuere Opfer den Pflichten seines Standes gebracht, als ihn gerade dafür Strafe trifft, daß er ein ehrlicher Hirt seiner Gemeinde war: er ist auf Betreiben des Grafen Finsterberg entsetzt und wird vor das Consistorium zur Verantwortung wegen seiner Amtsführung gezogen. So geht er denn, indem er, hoffend auf die freie Kirche im freien Vaterlande, zum letzten Mal seine geliebte Gemeinde segnet. –

Welch urkräftiger, lebensfrischer Odem wehte von der Bühne herunter, als das Stück zum ersten Mal gegeben wurde! Das Schicksal eines durch willkürliche Satzungen um sein Liebstes betrogenen, edlen Mannes mußte in den Herzen der Zuhörer das tiefste Mitleid erregen; sie hatten ein wahres Volksstück gesehen. Die Unnatur muß bekämpft, der Menschlichkeit muß ihr Recht werden – das ist das Thema des Stückes, welches letztere ebenso gut wie Gutzkow’s „Uriel Acosta“ ein lichtfreundliches Tendenzdrama genannt werden kann; und diese Tendenz ist mit solcher Zartheit und Würde behandelt, der Conflict ist in so rein menschlicher Weise durchgeführt, daß „Der Pfarrer von Kirchfeld“ wegen seiner poetischen Schönheiten, der humoristischen Erfassung des Volkslebens, der kräftigen Zeichnung der Charaktere, des trefflichen Dialogs, der in seinem mundartlichen Theile eine gewaltige Schlagkraft besitzt, und endlich wegen der gesättigten poetischen Stimmung, die über die einzelnen Scenen ausgegossen ist, noch seine Anziehungskraft bewahren wird, wenn schon lange der Kampf der Humanität gegen blinden Götzendienst sein Ende gefunden haben wird.

In den Zeitungen aber, die andern Tags voll waren des Lobes, tauchten wunderliche Vermuthungen über den Verfasser auf; er müsse ein Geistlicher sein, nur ein solcher könne die Bitterniß und Entsagung so treu und schön schildern; nein, sagte ein Anderer, ein solcher Geistlicher hätte niemals eine Liebesscene schreiben können, wie die zwischen Michel und der Anna. Endlich machte Einer gar dem wackeren Gruber die Verfasserschaft streitig. Wer war der Dichter? Ludwig Anzengruber ist der Sohn eines Beamten, der, von einer Bauernfamilie Oberösterreichs stammend, nach Wien eingewandert und einige Jahre nach der Geburt unseres Dichters gestorben war. Die Familie war arm, und Ludwig ging, nachdem er als Praktikant in einer Buchhandlung thätig gewesen, unter die Schauspieler. Aber sein wahres Talent konnte nur dichterisch von der Bühne herab wirken.

Bei seinen früheren schriftstellerischen Arbeiten hatte er nach seinen eigenen Angaben keine- anderen Muster als Schiller und Shakespeare, einige Arbeiten seines Vaters, etliche Stücke Grillparzer’s und anderer Autoren, darunter keinen einzigen in mundartlicher Sprache. Kotzebue und Iffland studirte er lediglich der Routine wegen. Als er 1867 seine schauspielerische Laufbahn die ihn in der Provinz herum geführt hatte, aufgegeben, ging er wieder zurück in die Hauptstadt, wo er Novellen schrieb und für Witzblätter arbeitete. Um indessen der Gefahr journalistischer Vielschreiberei zu entgehen, wurde er 1869 Beamter der Polizei in Wien. Einen Polizeibeamten hatte nun gewiß Niemand hinter dem Verfasser des Stückes vermuthet. Seit dem Erfolg desselben lebt er als Schriftsteller in Wien. Verheirathet hat er sich im Jahre 1873.

Nach dem „Pfarrer“ hat der Dichter noch gegen ein Dutzend Stücke geschrieben, in denen allen seine gerühmten Vorzüge sich mehr oder weniger äußerten. Er ist im Grunde ein revolutionärer Geist, welcher der Handlung, die stets nur von den Charakteren sich ableitet, gleich Shakespeare, eine tiefere Lebensanschauung zu Grunde zu legen weiß, während das Studium Schiller’s ihm bei der Führung der dramatischen Situation, der Erreichung sogenannter „großer Scenen“ Wegweiser wurde.

Anzengruber besitzt den Glauben an die Menschheit, den der Volksdichter haben muß, und dieser Glaube heißt ihn die großen, befruchtenden, segensreichen Ideen der Geistes- und der Herzensbildung – die Aufklärung – unter das Volk tragen. In „Elfriede“, Schauspiel in drei Aufzügen, kämpft er gegen die Verlogenheit unserer gesellschaftlichen Zustände, indem er mitten in sie hinein die kernige Gestalt des Dr. Knorr, eines biedern der Wissenschaft ergebenen Auswanderers, stellt. Anzengruber hat hier auf den Reiz des Dialektes, sowie auf den Eindruck des Originellen, den seine Behandlung der Bauernwelt hervorbringt, verzichten müssen. Desgleichen in „Hand und Herz“, Trauerspiel in vier Acten, in welchem Stück sich eine gewisse Vorliebe für das Grelle, eine Aehnlichkeit mit Otto Ludwig zeigt. Vor Allem liebt es unser Volksdichter, sittliche und sociale Probleme zu lösen, markig, oft schroff, aber immer erschütternd wahr. So schildert er auch in einem seiner jüngsten Stücke, „Das vierte Gebot“, die Folgen schlechter Kindererziehung, den Fluch, ehrlose oder hartherzige Eltern zu haben. Sein viertes Gebot heißt: Erziehet eure Kinder so, daß sie Vater und Mutter lieben müssen! Wie in „Hand und Herz“ hat das Gemälde keinen das Einzelne harmonisch verbindenden Gesammtton, weil die Localfarben zu grell aufgetragen sind und des versöhnenden Gegensatzes entbehren.

[276] An erschütternder Wirkung wetteifert mit Ludwig’s „Erbförster“ Anzengruber’s „Meineidbauer“. Dieser ist durch einen falschen Schwur, der die Kinder seines Bruders um Hab und Gut brachte, zu Reichthum und – zu seiner Frömmigkeit gekommen. Geehrt und nur verachtet von dem eignen Sohn, dem Mitwisser seiner Schuld, sucht er mit Zähigkeit die Früchte seines Verbrechens und die Ehre seines Namens sich zu erhalten; ja in einer düsteren, nächtigen Scene schießt er auf den eignen Sohn, in dessen Besitz er den verhängnißvollen Brief wähnt, der seine Schuld enthüllen kann. Wie er dann stirbt und die Geschwisterkinder in Liebe sich vereinigen, das ist alles so großartig und doch menschlich wahr, so erschütternd und versöhnend geschildert, daß man staunend steht vor dem das Volksleben bis in die Tiefe ergründenden Genius.

Unter Anzengruber’s Komödien ist neben dem „G’wissenswurm“ die genialste „Die Kreuzelschreiber“. Die verheiratheten Bauern von Zwendorf haben unter Anführung des Gelbhofbauers eine Döllinger-Adresse unterschrieben, die meisten mit Kreuzeln statt ihres Namens. Der Caplan hetzt nun sämmtliche Weiber des Dorfes auf, die eheliche Gemeinschaft zu lösen, bis die Männer ihre Unterschrift zurückgezogen und eine Bußfahrt nach Rom versprochen haben. Den Männern sind die Burschen des Dorfes gegenüber gestellt, an ihrer Spitze der alte Steinklopferhans, eine der köstlichsten Figuren unserer Bühne, ein wahrer Dorfspinoza, dessen tiefer Humor Alle am Narrenseil führt. Dieser Steinklopferhans arrangirt nun eine herrliche Bußfahrt, zu der die Dirnen des Dorfes die Männer begleiten sollen. Natürlich ziehen es die eifersüchtigen Frauen vor, ihre Männer daheim bei sich in der Wirthschaft zu behalten.

Anzengruber’s Eigenart, die ihn so hoch über Andere erhebt, besteht einerseits in der scharf ausgeprägten Zeichnung seiner Charaktere, anderntheils in der stimmungsvollen Behandlung der Scenen, die sich oft wohl als Bilder für sich darstellen, aber doch nie lose aus der consequent geführten Handlung herausfallen. Unter den Charakteren entzücken besonders die Bösen und die Lumpe. Seine Bösewichter sind aber nicht verdorben von Haus aus; sie sind durch Schicksale, durch verfehltes Leben, verfehlte Liebe schlecht geworden, weshalb immer bei ihnen irgendwo ein Stück Herz zu entdecken ist. Die Stellen wo dieses Stück Herz, wie beim Wurzelsepp, zur Geltung kommt, führen zu den größten dramatischen Effecten. Seine Bauern haben nichts von der ideal-schönen Gelecktheit, wie sie neuerdings in unseren Dorfgeschichten heimisch geworden. In erster Linie ist immer das allgemein Menschliche in ihnen ausgeprägt, ungleich aber von der besonderen Denk- und Empfindungsweise des Standes soviel hinzugethan, wie für den Eindruck der Naturechtheit nötig ist.

In den Komödien weiß der Dichter nichts von niederer Situationskomik; nicht das schallende Lachen ist sein Erfolg, sondern das stille Lächeln, in welchem sich jenes tiefe Behagen ausdrückt, das aus dem Humor der Stimmung entspringt, dem dichterischen Humor, wie er aus den Empfindungen der Personen hervorleuchtet. Anzengruber’s Sprache vermeidet jedes Kalauern; sie ist nicht reich an Witzen, wohl aber überreich an feinen Pointen, treffenden Wendungen, die namentlich bei dem Gebrauch des Dialekts sich einfinden. Der Dialag ist von einer Schlagkraft und Knappheit, die kein Glied entbehrlich macht.

Es ist von Andern hervorgehoben worden, daß die Gemüths- und Lebensart der oberösterreichischen Bauern den kräftigen und eigenartig individuellen Gestaltungen eines Dichters wie Anzengruber besonders entgegenkommen mußte. Seine Charaktere können ihre volle Wirkung nur durch die besten Schauspieler erreichen, die schlicht und einfach genug sich geben, um natürlich zu sein, und dabei doch Gluth der Empfindung genug besitzen, um das Herz zu ergreifen und zu entzünden. Weiter dankt es der Dichter der Gewohnheit seiner Bauern, frischweg eine Stimmung oder einen lustigen Einfall im Volksgesang ausklingen zu lassen, daß seine Couplets und Lieder nicht als lose Zuthaten am Stück hängen, sondern organisch dazu gehören.

Ein Dichter, der so aus dem Herzen des Volkes spricht, ist eine Macht für das Volk. Hoffentlich wird auch das norddeutsche Publicum trotz der Schwierigkeiten des Dialekts sich immer wärmer seinen Stücken zuwenden. Freilich: nur an großen Bühnen können dieselben wirken; denn eine schlechte Aufführung vertragen sie nicht.

Die jüngste Vertheilung des „Schiller-Preises“ hat neben Wilbrandt und Nissel auch den Dichter des „Pfarrers von Kirchfeld“ berücksichtigt. Es ist die Stimme der berufenen Kritik, welche hiermit ihr Urtheil gesprochen hat. Das Publicum hat unter der Wirkung der Anzengruber’schen Schöpfungen der Kritik vorgegriffen und ihm früher den Kranz auf’s Haupt gedrückt. Das ist sicher: Anzengruber ist ein echter Poet; er ist neben Wilbrandt der kräftigste Dramatiker, den unser Theater gegenwärtig besitzt.




Blätter und Blüthen.


Calculators auf dem Frühlingsspaziergange. (Mit Abbildung Seite 265.) Seitdem der Maler Karl Reinhardt in Dresden die Subaltern-Beamten-Figur des Herrn „Calculator“ als eine berechtigte Eigenthümlichkeit der königlichen Residenzstadt an der Elbe erfunden hat, läßt dieselbe nachstrebenden Kunsttalenten auf dem Tummelplatz des – Gottlob! – noch allezeit gern gefeierten Scherzgottes Komos keine Ruhe: sie vermehren das gemüthliche Geschlecht fort und fort, und so laufen immer unterschiedliche neue „Calculators“ in der illustrirten Welt herum, welche, wie das Mädchen aus der Fremde, in jedem jungen Jahre die Frühlingsauen unsicher machen. Der Herr Calculator ist ein naher Verwandter des Berliner Eckenstehers Nante, des Frankfurter „Bürgercapitains“, der Münchener Herren Eisele und Beisele und wie die Locallieblinge vieler anderer Orte alle heißen, die als Originaltypen örtlicher Absonderlichkeiten auch außerhalb ihres heimathlichen Kreises mit Vergnügen begrüßt und als willkommene Boten allgemeiner Erheiterung aufgenommen wurden. Allerdings haftet die Bescheidenheit, welche als besonderes Kennzeichen des „höflichen Sachsen“ gilt und seiner Personalbeschreibung mit vollem Rechte angefügt wird, auch dem Herrn Calculator an; er hat sich nicht so in die große Oeffentlichkeit gedrängt, wie die oben genannten seiner weltberühmt gewordenen Vettern, desto fester aber steht er aus dem heimathlichen Boden, wo sein bereits aus dem irdischen Jammerthal geschiedener Erzeuger ihm sogar eine bleibende journalistische Stätte in einem Fünfpfennigblättchen seines Namens gestiftet hat, das offenbar, wie so viele andere seines Gleichen, ebenfalls „einem längst gefühlten Bedürfniß“ abhilft. Daß der Herr Calculator, dem mit Naturnothwendigkeit zu seiner geringen Einnahme eine starke Familie beigelegt wird, für letztere die Vergnüglichkeiten da aufsucht, wo sie am wenigsten kosten, macht ihn besonders schätzenswerth, und eben deshalb ist seine und der Seinen Lustwandelung in die schöne Gegend, namentlich zur Zeit der „Boombluth“ (Baumblüthe), ein Gegenstand wiederholter Darstellung geworden. Für die Art und Weise, wie unser Zeichner „Calculators“ aus einem solchen Frühlingspaziergang belauscht und abconterfeit hat, lassen wir das Bildchen selber sprechen.

F. H.




Berichtigung. In meinem Aufsatze über die Fabrikinspectoren, welchen die „Gartenlaube“ jüngst veröffentlichte, hatte ich, gezwungen, den Stoff in engem Rahmen zusammen zu fassen und mehr die wohlthätigen Wirkungen der Einrichtung als ihre geschichtliche Entwickelung zu schildern, aus den Berichten der preußischen Fabrikinspectoren als aus der reichsten Quelle geschöpft. Zu meinem lebhaften Bedauern ist dadurch der Irrthum entstanden, als ob nur der größte Staat des deutsche Reichs die segensreiche Initiative auf diesem Gebiete ergriffen hätte; ich bemerke deshalb ausdrücklich, daß auch im Königreiche Sachsen schon seit 1872 Fabrikinspectoren mit gleich erfreulichen Erfolgen wirken, wie im Königreiche Preußen.

Franz Mehring.




Kleiner Briefkasten.

K. in D. Sie mögen Recht haben, wenn Sie die Ansicht, daß im Döllingerschacht „der sündlichste Raubbau getrieben worden sei“, eine Ansicht, von welcher auch unser Artikel über die bekannte Teplitzer Katastrophe (in Nr. 10 dieses Jahrgangs) Notiz nimmt, für eine unverbürgte, dem wahren Sachverhalt nicht entsprechende Mutmaßung erklären, wie dergleichen immer auftauchen oder Nahrung erhalten, wenn das aufgeregte Volk nach den unbekannten Ursachen eines folgenschweren Naturereignisses sucht. Auch auf anderer Seite sind wir Ihrer Auffassung der Sachlage begegnet. Wir können aber kaum einen Stein auf unsern Berichterstatter werfen, der in der Verwirrung jener Tage die Reise nach Teplitz machte und das Material für den Aufsatz sammelte, um so weniger, als auch er doch nur die Notiz mit einem „soll“ einführt. Vorstehende Zeilen an dieser Stelle dürften übrigens für den Zweck ausreichen, den Betheiligten in den Augen unserer Leser gerecht zu werden.

W. Kl. und F. May in Berlin. Nicht geeignet! Verfügen Sie über das Manuscript!

W. A. in Stettin. Wir bitten um Angabe Ihrer vollen Adresse, da wir Ihnen Offerten zu machen haben.

Eine Mutter in E. Ihre Anfrage wegen des „Neuen Buches der Welt“ (Stuttgart, Julius Hoffmann) können wir nur in günstigem Sinne beantworten; das Unternehmen wird nach gesunden pädagogischen Grundsätzen und mit gutem Geschmack redigirt; die Holzschnitte sind wahre Cabinetstücke, auch die Farbendrucke vielfach wirksam und gefällig. Ueber den Preis der Monatshefte wird Sie der Umstand hinwegführen, daß Sie selbst, als Erwachsener, mit Befriedigung werden an der Lectüre dieser Jugendzeitschrift Antheil nehmen können.

E. B. und F. A. Die Antwort auf eingesandte Gedichte ist, wie bereits oft erklärt, Abdruck oder Vernichtung. Briefliche Erwiderung ist in diesem Falle durchaus ausgeschlossen.


  1. Angesichts des soeben gesprochenen Urtheils über die Veranstalter der Muttergottes-Erscheinung in Marpingen und deren Mitschuldige dürfte ein nochmaliges Zurückkommen auf diese Kundgebung des modernen Religionsschwindels, dem wir bereits in unserer Nr. 40 von 1877 einen eingehenden Artikel widmeten, an der Zeit sein. Wir bringen die nunmehr abgeschlossene Angelegenheit mit obigem Culturbild aus berufener Feder auch für unsere Leser zum Abschluß.
    Die Redaction.
  2. Von einem Hülfscomité in Schwetz sind Aufrufe zur Hülfe für die von den Fluthen der Weichsel um Hab und Gut gebrachten sehr zahlreichen Bewohner jener Niederungen in der Presse verbreitet worden; auch sie sind, wie die Klagen vom Spessart, vor den verheerenden Wogenstürmen der Theiß verhallt. Der Szegediner Wohlthätigkeitsdrang hatte sein gutes Recht; vielleicht besinnt man sich aber nun auch auf die patriotische Pflicht, die verarmten deutschen Colonisten nicht sich, ihrer Arbeitskraft und der Hülfe des Staats allein zu überlassen sondern jenen deutschen Fleiß so zu unterstützen, daß er seiner Arbeit wieder froh werde.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: 1879, Nr. 2