Die Gartenlaube (1880)/Heft 18

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1880
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 18.   1880.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Martha und Maria.
Novelle von Hieronymus Lorm.
1.

Unter den europäischen Culturvölkern haben nur die Russen, insofern man sie dazu zählen darf, einen richtigen Begriff von ländlicher Einsamkeit. Um sie als solche zu empfinden, darf man natürlich nicht ein Bauer sein oder irgend einem Berufe angehören, der außerhalb der Städte erfüllt wird; denn ländliche Einsamkeit empfindet nur, wer früher ihr Gegentheil, den Glanz der gebildeten Geselligkeit in großen Städten, kennen gelernt hat.

In allen Culturländern schlingt sich ein Rest dieses Glanzes, ein Widerschein städtischer Lebensformen in die ländliche Einsamkeit des kleinsten Dorfes mit hinein. Nur in Rußland, mit seinen unendlich weiten, unwegsamen Straßen und seinen eingegrenzten Standesverhältnissen, kann die ländliche Einsamkeit mitunter eine Welt für sich allein werden, mit eigenen, ihr ausschließlich angehörenden Lebensbedingungen, eine Abgeschiedenheit, die über Alles hinausreicht, was ein halbwegs gebildeter Gesellschaftsmensch in dieser Beziehung jemals geschaut und empfunden hat.

Sergey Iwanowitsch Nikrachewsky war aber keineswegs ein blos halbwegs gebildeter Mensch. Er hatte bis zum Jahre 1856 alle kriegerischen Affairen seines Vaterlandes in Asien wie in Europa als Officier mitgemacht. Wenn ihm diese Aufgabe auch nicht gestattet hatte, seine Liebe zur Naturforschung und zur Philosophie gründlich zu befriedigen, so hatte er seinem Beruf doch stets die Zeit und die Ruhe zur Selbsteinweihung in die Wissenschaften abzuzwingen gewußt. Da übrigens wahre Bildung nicht aus der unfruchtbaren Anhäufung von Kenntnissen besteht, sondern sehr wörtlich als etwas, das sich auf Grund der erworbenen Kenntnisse selbstständig im Menschen gebildet hat, folglich als eine Weltanschauung aufzufassen ist, so war Sergey Iwanowitsch Nikrachewsky, als er fünfunddreißig Lebensjahre zählte, in diesem Sinne ein gebildeter Mann.

Er war von Natur aus zur Melancholie angelegt, hatte jedoch eine stark ausgeprägte Neigung, alles Thun und Lassen sittlich zu begründen, sodaß er sich einem Hang zu müßiger, gedankenloser Trübseligkeit, zu andauernder Verdrießlichkeit nicht überließ. Schamhaft verhüllte er vielmehr die in seinem Gemüthe wurzelnde Melancholie wie einen Fehler, wie eine Schuld und gewann seinen wissenschaftlichen Ueberzeugungen einen Gleichmuth ab, der als ruhige Heiterkeit erschien.

Die wahre Beschaffenheit seines Innern hätte nur der errathen können, welcher seinen allgemeinen Aeußerungen besondere Aufmerksamkeit geschenkt haben würde. So sprach er zum Beispiel gern und viel über das Verhältniß des Glaubens zum Wissen, und weil einem ernsthaften und nicht frivolen Ungenügen am Glauben stets ein inniges Verlangen nach dessen Tröstungen, ein hingebendes Versenken in die heiligen Schriften vorhergehen muß, so war er ein bibelfester Philosoph. Oft äußerte er in verschiedenartiger Gesprächsform, das wahre Martyrium des Heilandes wäre nicht gewesen, daß er an's Kreuz genagelt wurde, sondern daß er wieder auferstehen mußte.

In solcher Lebensstimmung war es natürlich, daß er die Erbschaft eines kleinen Gutes im nordöstlich von Moskau gelegenen Gouvernement Kostroma mit dem Entschlusse antrat, die eigene Scholle nicht mehr zu verlassen und ein Gegengewicht zum beständigen Widerwillen, womit ihn das Treiben der Welt, besonders in Gestalt der politischen Zustände seines Vaterlandes, erfüllte, in der Abkehr von ihr, in der Einsamkeit zu suchen. Wer sich ausschließlich landwirthschaftlichen Beschäftigungen widmet, ohne einen raffinirten, einen andern als den von selbst sich ergebenden Gewinn daraus ziehen zu wollen und folglich ohne zu einem vielgestaltigen Menschenverkehr genöthigt zu sein, der befreit sich gewissermaßen vom politischen Charakter seines Landes und gehört nur noch dem Naturleben in der allgemeinen menschlichen Bedeutung desselben an.

So einsam nun auch Sergey dahinlebte, er gab auch dieser Lebensform so wenig wie seiner Melancholie einen fanatischen Anstrich. Bereitwillig unterbrach er vielmehr seine Einsamkeit, wenn dies von einem Interesse des Gemüths oder einer sittlichen Pflichterfüllung erheischt wurde. Die Beziehung zu seinem Freunde Nikolai Alexandrowitsch Towaroff schloß solches Interesse und solche Pflicht mit ein.

Towaroff war zehn Jahre älter als Sergey und war dessen Vorgesetzter im Militärstande gewesen. Beide Männer waren von früh an durch ein starkes Freundschaftsgefühl verbunden, ohne daß sie sich über dasselbe jemals ausgesprochen hätten. Ihre Gespräche waren im Gegentheil ein beständiges feindselig scheinendes Streiten. Denn obgleich Towaroff nicht wie Nikrachewsky eine fertige Gedankenwelt in sich trug und überhaupt dem Nachdenken nicht zugethan war, bildete doch seine Auffassung der Dinge einen vollständigen Contrast zur Weltanschauung des Freundes. Towaroff war mit der Beschaffenheit der Welt vollkommen zufrieden und behauptete oft, er wäre der glücklichste Mensch in dieser Welt, wenn die äußeren Umstände seine gute Laune nur einigermaßen unterstützt, ihm nur ein wenig die Last der Sorgen erleichtert hätten. Denn wie die Disposition der Gemüther, war auch das Schicksal der Freunde entgegengesetzter Art. Sergey Iwanowitsch [286] Nikrachewsky besaß mehr, als seine wesentlichsten Bedürfnisse erheischten; Nikolai Alexandrowitsch Towaroff weniger, als selbst die Nothwendigkeit erforderte. In jungen Jahren hatte er viel vergeudet und zwei Jahre nach seiner Mündigkeit ein armes Mädchen geheirathet.

Wäre es aus Liebe geschehen, der Bund wäre ihm vielleicht zum Segen gereicht, das Seelenglück hätte ihn in Bezug auf andere Besitzthümer genügsamer gemacht. Es war aber nicht aus Liebe geschehen, sondern aus – guter Laune, aus jenem holden Leichtsinn, der sich von wüster Tollheit durch das Edle der Absichten unterscheidet. Das Mädchen hatte ihm in dem Grade gefallen, daß er keine Verführungskünste anwenden mochte, aber es hatte ihm nicht in dem Maße gefallen, daß er auf dasselbe nicht, ohne zu verzweifeln, hätte verzichten können.

Er fand bald keine Freude mehr an seinem Hause, obgleich es niemals zu offenen Conflicten zwischen dem gutmüthig lebensfrohen Manne und der still demüthigen Frau gekommen war. Die Geburt einer Tochter beglückte ihn nur in bescheidenem Maße, weil sich seine Phantasie vom Besitz eines Sohnes besonders erfreuliche Vorstellungen gebildet hatte, und als auch das zweite Kind weiblichen Geschlechtes war, schickte er die Mutter sammt den kleinen Mädchen auf sein Gut im Gouvernement Wladimir.

Das Gut stammte von einem seiner mütterlichen Verwandten, Andreeff, und führte darum noch immer den Namen Andrejewo. Es bildete so ziemlich den Inbegriff seiner letzten Habe, war aber auch schon bis über die Schornsteine des Herrenhauses mit Schulden belastet. Alle heilige Zeit einmal besuchte dort Nikolai Alexandrowitsch seine Familie. Als seine Gattin starb, war es für ihn gerade an der Zeit, den Abschied vom Militär zu nehmen. Er fand zu Hause am Sarge seiner Frau zwei halberwachsene Töchter, Matrjona und Milinka, deren weitere Pflege und sorgsame Erziehung fortan allein zu übernehmen der hell durchsichtige Vorwand war, weshalb er nicht mehr nach Moskau oder Petersburg zurückkehrte, sondern von jetzt an ununterbrochen die erzwungene „Ruhe mit Würde“ genoß.

Die ältere Tochter, Matrjona, hatte schwarze Haare und in derselben Farbe funkelnde Augen; sie hatte sich gleich nach dem Tode der Mutter bereit und geschickt gezeigt, die Geschäfte der Haushaltung auf sich zu nehmen. All die kleinen Kunststücke, um die würdige Repräsentation des Hauses und zugleich einen wenn auch nur mäßigen Comfort auf dem Wege äußerster Sparsamkeit zu erreichen, hatte Matrjona der Mutter treu abgelernt.

Die jüngere Tochter hingegen, eine zarte blauäugige Blondine, verrieth einigen Widerstand gegen Beschäftigungen, welche sie mit dem Namen Prosa belegte, und befand sich außerordentlich wohl, wenn sie ungestört den schönen Künsten, namentlich aber der Lectüre sich hingeben durfte.

Matrjona's Vorliebe für haushälterische Obliegenheiten hatte zur Folge, daß das Mädchen fast ausschließlich mit ihnen betraut war, wobei die um ein Jahr jüngere Schwester sie nur wenig unterstützte. Indessen ward Matrjona deshalb doch nicht der Pflicht enthoben, an dem Unterricht in wissenschaftlichen Gegenständen ausgiebig theilzunehmen. In der Kindheit hatte diesen Unterricht eine Bonne besorgt, die später Gouvernante und, als die Mädchen dem zwanzigsten Lebensjahre nahe kamen, Gesellschafterin genannt wurde. Ernsthaft aber und in strenger Form ertheilte den Unterricht ein Deutscher, der in der nahen Kreisstadt als Sprachmeister lebte und schon bei Lebzeiten der Mutter, da die Mädchen in das Backfischalter getreten waren, jede Woche für zwei Tage nach Andrejewo kam. Die Sommerferien und die Weihnachtswoche brachte er dort stets als Gast zu, jedesmal mit zwei schweren Kisten ankommend, die seine Bücher enthielten, und ein Päckchen mit seiner Wäsche unter dem Arme tragend.

Er führte den Namen Hesekiel Nazarus und ließ sich Doctor tituliren, eine Gefälligkeit, die man ihm auch ohne weitere Prüfung des Thatbestandes gern erwies. Da er niemals lachte und beständig rauchte, so hatte er den Mädchen keine sympathische Erscheinung sein können, und der Vater, Nikolai Alexandrowitsch, ließ, so oft er des Sprachmeisters ansichtig geworden war, den stereotypen Witz vernehmen:

„Der Doctor Nazarus steht im Geruch der Gelehrsamkeit und des Tabaks.“

Trotzdem widmete Milinka ihrem Lehrer in deutscher Sprache und Literatur sowie in Geographie und Geschichte einen unbegrenzten Respect, eine bis zur Demuth gehende Hochachtung vor seinen Kenntnissen, während Matrjona in die gebotene Ehrerbietung einen leisen Zug von Spott und Verachtung zu mischen nicht unterlassen konnte.

Wenn man sie darüber zur Rede stellte, so erwiderte sie lachend: „Ich würde dem Doctor Nazarus gewiß sehr gut sein, wenn ich ihn nur immer, noch bevor ich ihn zu sehen bekomme, erst waschen könnte.“

Hesekiel Nazarus hatte für Rußland, das er bereits seit dreißig Jahren bewohnte, große Vorliebe. Den Grund wußte Niemand, aber es kümmerte sich auch Niemand darum. Die Thatsache genügte, um ihn sowohl beim Gutsherrn wie bei den dienenden Hausgenossen in unwandelbare Gunst zu setzen. Stets hatte er ein Lob für russische Eigenthümlichkeiten auf den Lippen, und eine Entschuldigung vorkommender Ungeheuerlichkeiten drückten wenigstens seine Mienen aus.

Er pflegte gewohnheitsmäßig und ohne weiteres Nachdenken dasjenige, was er vor einem Menschenalter, bevor er Deutschland verlassen, an Büchern und Schriften kennen gelernt hatte, für die neueste deutsche Literatur zu halten. So sagte er in den fünfziger Jahren: „Soeben ist eine neue Erzählung von H. Clauren erschienen, dem ersten jetzt lebenden Romanschriftsteller der Deutschen. Das Buch ist freilich selbst in Moskau noch nicht zu haben, aber die russischen Buchhandlungen müßten Zauberer sein, wenn man bei so großer Entfernung eine so rasche Beförderung von ihnen verlangen könnte.“

Das Herrenhaus in Andrejewo empfing außer dem Doctor Hesekiel Nazarus nur selten einen Gast. Es wurde neben der Gutsherrschaft blos noch von dienstthuenden Leuten bewohnt, und deren waren nur drei an der Zahl: die schon erwähnte Gesellschafterin, eine uralte Köchin und ein Kutscher. Letzterer konnte sein wichtiges Amt nicht zu jeder Zeit bekleiden, einfach aus Mangel an Pferden. Nikolai Alexandrowitsch wußte an denselben stets einen unleidliche Fehler zu entdecken, so oft ihm die Fütterung eine unerschwingliche Last zu werden drohte, und nach der Veräußerung, unter dem Vorwand, die entsprechende Rasse erst suchen zu müssen, die Wiederanschaffung lange hinauszuschieben. Besuche von und bei Gutsnachbarn fanden nicht statt; denn je umfassender die russische Gastfreundschaft sich gestaltet, die nicht blos die Bewirthung des einzelnen Besuchers, sondern auch die seiner Angehörigen und Dienerschaft und oft für mehrere Wochen erfordert, um so mehr trug man Bedenken, das Herrenhaus von Andrejewo damit zu belasten, was zur natürlichen Folge hatte, daß auch die Bewohner des letzteren es niemals zu dem Zwecke verließen, um bei Freunden in der Nachbarschaft gastliche Aufnahme zu finden.

So verlief das Leben auf Andrejewo in einer ununterbrochenen Einförmigkeit, welche jede sich zufällig darbietende Abwechselung oder Neuerung im Lichte eines großen Ereignisses erscheinen lassen mußte. Als solches wurde es denn auch aufgenommen, als der geliebteste Freund und ehemalige Camerad Towaroff's, als Sergey Iwanowitsch Nikrachewsky im Gouvernement Kostroma sich ansiedelte. Die erste Meldung von diesem Ereigniß brachte Nikolai ganz außer sich vor Freude.

„Dieser einzige Mann,“ rief er, „ersetzt mir das Officierscasino in Moskau, die Bälle in Petersburg und die Jagden bei Kiew. Wie sehne ich mich, mit ihm grob zu werden! Denn er ist ein schwarzgalliger Misanthrop, dem man zuweilen einen Schlag geben muß, um ihn wieder auf einen vernünftigen Weg zu bringen. So lange er es aber nicht zu bunt treibt, so lange man ihn gewähren lassen kann, ist er ein bezaubernder Mensch.“

Auch Sergey freute sich, dem alten Freunde räumlich näher zu kommen und die Gespräche und Discussionen über die zwischen ihnen herrschenden Verschiedenheiten der Lebensauffassung zu erneuern. Sergey, der auch durch die Sanftmuth und Gelassenheit beim Disputiren ein Gegensatz zu Nikolai war, liebte diesen über Alles, ohne sich eines andern Grundes dafür bewußt zu sein, als daß er im Freunde den Ausdruck der reinsten Lebensfreude bewunderte, die, wenn sie nicht momentane Betäubung ist, sondern zur Natur des Gemüthes gehört, auf Andere stets anziehend und erfrischend wirkt. Da beide Freunde für das Briefschreiben nicht eingenommen waren, so hatten sie sich während langer Trennung über ihre gegenseitigen Verhältnisse kaum eine Kunde gegeben.

Nicht lange dauerte es, und die Besuche Sergey's waren [287] ein nothwendiger Bestandtheil des Lebens auf Andrejewo geworden. Mit Staunen und doch mit kaltem Gleichmuth sah und beobachtete er die schön erblühten Töchter des Freundes, die eben in der Vollgewalt ihres Reizes standen. Die Unterhaltung im Familienkreise gab den Mädchen Gelegenheit, ihre Gesinnungen, Wünsche, Lebenshoffnungen auszusprechen. Sergey fand dann, wenn er sich den langweiligen Weg der Heimkehr durch Nachsinnen verkürzte, genügenden Grund, sich über sich selbst zu wundern. Denn ohne dabei die äußere Erscheinung im Geringsten in Anschlag zu bringen, empfand er doch, soweit er derartigen Eindrücken überhaupt zugänglich war, mehr Wohlgefallen an der durchaus praktisch gesinnten Matrjona, als an der zu schwärmerischen Gefühlen und Abstractionen geneigten Milinka, während nach seiner eigenen Natur und Denkungsweise gerade das Gegentheil hätte der Fall sein sollen.

Er hatte eines Tages Gelegenheit, die verschiedenen Charaktere der beiden Mädchen zu erörtern. Denn er genoß die Ehre, bei sehr schlechtem Wetter und weil wieder einmal Nikolai's Pferde zu große Fehler gehabt hatten, in seinem eigenen Wagen Herrn Hesekiel Nazarus nach der Kreisstadt zu bringen.

Der deutsche Sprachmeister hatte schon lang entdeckt, daß Nikrachewsky mit der Philosophie nicht unbekannt und stets wißbegierig war, mehr darüber zu erfahren. Nazarus selbst war in der Leibnitz- Wolff'schen Schule stecken geblieben und vollkommen überzeugt, daß Alles, was später auf diesem Gebiet an den Tag getreten und was er zufällig nicht mehr gelesen, durchaus keine Bedeutung hatte. Als Sergey, der mit Kant vertraut war, nach diesem fragte, antwortete Nazarus:

„Ja, ich weiß, das ist einer von den Neueren, aber die Jungen taugen alle gar nichts. Ich bedaure sehr, mein guter Herr, daß Sie meine Werke nicht gelesen haben.“

„So!“ rief Sergey höchst überrascht, „das will ich nachholen! Wo sind denn die Werke zu haben?“

„Sie sind nicht geschrieben,“ erwiderte Nazarus, heftige Rauchwolken von sich stoßend; „ich habe niemals freie Zeit dazu gehabt, und außerdem verträgt meine Natur das Schreiben nicht gut. Ich nicke regelmäßig dabei ein und schlafe meinen Lesern das Beste weg. Uebrigens,“ fuhr er nach einer Pause fort, „darf man, um Weltweisheit zu schöpfen, nicht zu weit in die Jahrhunderte zurückgehen. Denn ohne Rauchen läßt sich nach meiner Meinung nichts Gescheidtes ausdenken. Der Tabak kam erst nach der Entdeckung Amerikas zu uns; Weltweisheit läßt sich also frühestens vom sechszehnten Jahrhundert erwarten.“

Sergey erwiderte hierauf nichts, um den Gedanken nicht aussprechen zu müssen, daß er sich mit dem Sprachmeister nicht wohl in Wissenschaft werde ergehen können. Weil aber Nazarus doch unverkennbar ein frommer Mann war, sagte Sergey:

„Sie haben gewiß bemerkt, Herr Doctor, daß die Töchter meines Freundes Nikolai Alexandrowitsch von sehr verschiedener Natur sind. Mir ist dabei heute eine Bibelstelle in's Gedächtniß gekommen, ohne daß ich mich im Moment darauf besinnen könnte, wie sie eigentlich lautet.“

Das war für Nazarus eine willkommene Gelegenheit, zu zeigen, wie bibelfest er war. Er fragte nur noch, worin die Verschiedenheit bestehen möge, die Sergey meinte; denn von selbst war der Sprachmeister niemals darauf gekommen, psychologische Bemerkungen anzustellen. Sergey erklärte ihm nun, daß Matrjona ihm den Eindruck einer durchaus dem realen Leben zugewendeten Seele mache, während Milinka nicht bezweifeln lasse, daß ihr Herz und ihre Geistesrichtung idealeren Interessen sich zuneige. Mehrmals mußte Sergey diese Auffassung auseinander setzen, ehe der alte Lehrer verstand, was der Edelmann meinte. Dann aber besann er sich wenig mehr und sagte:

„Sie haben an das Evangelium Lucas gedacht, Capitel 10, Vers 38 bis 42.“

Dann citirte er sogleich wörtlich:

„Es begab sich aber, da sie wandelten, ging er in einen Markt. Da war ein Weib, mit Namen Martha, die nahm ihn auf in ihr Haus. Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria; die setzte sich zu Jesu Füßen und hörte seiner Rede zu. Martha aber machte sich viel zu schaffen, ihm zu dienen. Und sie trat hinzu und sprach. 'Herr, fragst Du nicht darnach, daß mich meine Schwester lässet allein dienen? Sage ihr doch, daß sie es auch angreife!' Jesus aber antwortete und sprach zu ihr: 'Martha, Martha, Du hast viele Sorge und Mühe, eins aber ist noth. Maria hat das gute Theil erwählet, das soll nicht von ihr genommen werden.'“

Nazarus fügte seinem Citat hinzu:

„Merkwürdig, daß es hier keine Parallelstelle in den anderen Evangelien giebt.“

„Die Parallele finden wir im Leben,“ sagte Sergey, „und doch –“

Er schwieg.




2.

Als Sergey nach einigen Tagen in Andrejewo erschien, fand er den Arzt im Hause. Man hatte ihn aus der Kreisstadt kommen lassen, weil Towaroff von einem Krampfanfall war ergriffen worden. Der Arzt kam nun täglich und schien es besonders darauf abgesehen zu haben, die Wirkungen eines Besuches Sergey's zu beobachten.

Dieser gab sich unbefangen wie gewöhnlich der Unterhaltung mit Nikolai hin. Es handelte sich diesmal um eine Verwandte Sergey's, um die Gräfin Varinka Wladimirowna Tschatscherin in Petersburg, die Schwester seines verstorbenen Vaters. Sie war längst Wittwe; ein Sohn war auf dem Felde der Ehre geblieben, eine Tochter in Frankreich verheirathet. Die Trennung von ihrem einzigen noch lebenden Kinde schmerzte sie sehr; dennoch konnte sie sich nicht entschließen, Rußland auf die Dauer zu verlassen.

Die Tante Sergey's war keineswegs damit einverstanden, daß Sergey sich nach dem Verlassen des Militärdienstes wie ein Schwärmer, wie ein Sonderling in die Einsamkeit zurückzog. Sie wollte, daß er die ihm günstigen Chancen benutze, um im Staatsdienst von Neuem Carrière zu machen, und schrieb ihm lange Briefe, um ihm diese Ueberzeugung beizubringen.

Nikolai Alexandrowitsch war ganz derselben Meinung.

„Die Gräfin Tschatscherin ist eine Frau nach meinem Herzen,“ rief er; „ich verliere sehr viel an Dir, das weißt Du, Sergey Iwanowitsch; die Teufel der erzwungenen Weltflucht, der Langenweile werden sich mir wieder auf Brust und Nacken setzen. Aber alle Teufel der Erde und der Hölle sollen mich nicht verleiten, einen guten Freund in seiner verstockten Dummheit zu bestärken!“

„Was verstehst Du unter verstockter Dummheit?“ erwiderte Sergey ganz gelassen; „daß ich nicht die Uniform ausgezogen haben will, blos um eine Livrée dafür anzuziehen?“

Dem guten Nikolai stieg auf diese Rede das Blut in's Gesicht.

„Da bist Du wieder bei Deinem Thema!“ begann er eine lange Strafpredigt, in deren Verlauf seine Aufregung stets größer und seine Stimme stets lauter wurde. Als die Aufregung Nikolai's am stärksten geworden war, trat der Arzt in's Zimmer. Er untersuchte den Zustand Nikolai's und gab dann, indem er sich von diesem verabschiedete, Sergey einen leisen Wink. Nikolai durfte sein Gemach nicht verlassen, und Sergey gehorchte dem Winke und begleitete den Scheidenden. Als sie außer der Gehörweite des Kranke waren, erklärte der Arzt, daß die Gespräche der Freunde für den leidenden Towaroff lebensgefährlich wären, gerade weil er die ihm daraus erstehende Aufregung so sehr liebte, wie ein Branntweintrinker den Rausch, und daß es gut wäre, wenn die Zusammenkünfte für einige Wochen unterbrochen werden könnten; nur dürfe Towaroff den wahren Grund der Unterbrechung nicht ahnen.

Sergey ließ sich dies gesagt sein. Zum Freunde zurückgekehrt, warf er sich wie erschöpft in einen Sessel und sprach:

„Ich bin hinausgegangen, um frische Luft zu athmen. Unsere Debatten greifen meine Nerven an. Ja, ich habe Nerven, wie mir der Arzt soeben betheuerte. Bisher glaubte ich, Nerven wären ausschließlich ein Bestandtheil des weiblichen Körpers. Zehn Jahre jünger als Du, Nikolai, bin ich um zehn Jahre älter nach meiner Schwäche und leiblichen Beschaffenheit. Wir dürfen, um meinetwillen, eine Zeit lang nicht mehr zusammen kommen.“

Nikolai war sehr erschrocken.

„Wie lange willst Du fortbleiben?“ fragte er.

„Ich weiß es nicht,“ antwortete Sergey, „aber ich will Dir eine Art Vertrag vorschlagen.“

Man war jetzt im November, und sie kamen überein, daß [288] sie sich am Neujahrstage wiedersehen wollten, nach vorausgegangener brieflicher Verständigung, ob in Andrejewo oder bei Sergey. Sollte jedoch für Einen von ihnen ein wichtiges, selbst nur ein ungewöhnliches Ereigniß eintreten, das er dem Andern mündlich mittheilen müsse oder wolle, so wäre eine Ausnahme zu machen, und in diesem Falle könne Einer den Andern ungehindert besuchen. Selbst den beiden Mädchen, als er ihnen Lebewohl sagte, vertraute Sergey nicht den wahren Grund an, weshalb er für längere Zeit Abschied nahm.

Beide Schwestern waren schmerzlich bewegt, daß sie den Freund ihres Vaters bis zu Neujahr nicht wiedersehen sollten. Der Tag ging eben zur Neige; das Wetter war grau und unheimlich geworden und Schneewolken zogen am Himmel hin. Matrjona verließ plötzlich den Salon und lief zu Wania, dem alten Diener, der Sergey immer begleitete. Sie kehrte zurück und erklärte mit eifrigen Worten, daß Sergey für die plötzliche Verschlimmerung des Wetters nicht genügend ausgestattet sei. Sie bat ihn, Wania zu erlauben, einen Pelz des Vaters, ein Fell und einen Teppich für den Wagen mitzunehmen, was jener mit Dank zuließ.

Während ihrer Entfernung hatte Sergey eine tiefer gehende Unterhaltung mit Milinka geführt. Nachdem er ihr den Inhalt seines letzten Zwiegespräches mit Nikolai angedeutet, war sie fast begeistert in der Zustimmung zu den Motiven, welche Sergey für sein Zurückziehen von der Welt geltend machte. Er war davon so angenehm bewegt, daß er sich nicht enthalten konnte, auch die ältere Schwester zu einer Entscheidung über die Frage aufzufordern. Er gab ihr zuvor noch die Gründe für seine eigene Entscheidung an.

Matrjona dachte einen Augenblick nach und sagte dann sehr gelassen: „Die Richtigkeit der Motive zu beurtheilen, die zur Weltabgeschiedenheit veranlassen können, bin ich wohl zu jung und zu unerfahren. Ich glaube jedoch, daß Grundsätze allein hier gar nichts zu sagen haben, sondern nur das Wichtigste und Köstlichste, was ein Mensch nach meiner Meinung besitzt, seine Gemüthsstimmung, eine entscheidende Stimme hat. Ob Einer sich wohler in der Einsamkeit oder in der Welt fühlt, davon hängt es ab. Man kann zur Noth für einen Andern denken, wenn er selbst keine Einsicht hat, aber man kann für keinen Andern fühlen. Und das Glück, das hier die Wahl bestimmen soll, liegt doch immer nur im Gefühl.“

Dies klang nicht so schmeichlerisch wie der Beifall, den ihm Milinka gezollt hatte, aber es lagerte sich wie ein Stoff zu fernerem und langem Nachdenken in seiner Seele ab. Vorläufig, im stillen Hinbrüten während der Heimfahrt, kleidete er diesen Stoff nur in die oft halblaut wiederholten Worte: „Matrjona und Milinka – Martha und Maria.“

Gänzlich entfernt aber war er von dem Gedanken, diesen Gegensatz als eine Frage zu fassen, und „Martha oder Maria“ vor sich hinzusagen.

(Fortsetzung folgt.)




Ein Mozart-Diner bei Schikaneder.

„Noch einmal sattelt mir den Hippogryphen zum Ritt in das alte romantische Land!“ so beginnt Wieland seinen „Oberon“. Die Phantasie hat die Fähigkeit und daher die Erlaubniß, auch die denkbar weitesten Klüfte zu überbrücken. Zeit und Raum sind für sie in der That keine realen Dinge. Sie gruppirt Alles, was für sie zusammengehört, in einem idealen Raume und drängt es in einen gedachten Moment zusammen. Wie hätte der weltberühmte „kaiserlich königliche Kammercompositeur“ Gluck, ja nur der kaiserlich königliche Hofcapellmeister Salieri nebst den vornehmen Primadonnen vom kaiserlich königlichen Hoftheater bei einem vorstädtischen Theaterprincipal von dem Schlage Schikaneder's sich je zu Tische befinden sollen? Auch Mozart's schöne Schwägerin, Aloysia Lange, ließ ja nach seinem eigenen Berichte ihr eifersüchtiger Mann „nirgends hin“. Gar nun aber zur Zeit der „Zauberflöten“-Composition, als Mozart viel mit Schikaneder verkehrte und von ihm in der That durch mannigfache Veranstaltung heiterer Geselligkeit bei guter Laune erhalten wurde, war Gluck längst todt und Haydn befand sich in London. Und dennoch, so wenig historische Richtigkeit ein solches „Diner zu Ehren Mozart's bei Schikaneder“ haben kann, so berechtigt ist der bildende Künstler zu einer derartigen Zusammenfassung gleichzeitiger berühmter Persönlichkeiten in einem einzelnen Augenblicke und gegebenen Raume, wie seine Darstellung sie braucht.

Denn ihm steht ein höheres Moment zur Seite, die ideale Wahrheit. Diese sämmtlichen musikalischen Berühmtheiten nebst Haydn und Albrechtsberger weilten in der That zu gleicher Zeit in Wien und „sogen an seiner Sphäre“. Und daß diese Sphäre auf unserem Bilde sich in dem leichtlebigen fliegenden Theaterdirector Schikaneder darstellt, entspricht dem allgemeinsten Charakter des damaligen Wiens, das in der That in dem Paradiese eines naiv heiteren, unbefangenen Sinnendaseins lebte. Die Mutter dieser reichen Kunstentfaltung in der glänzenden Zeit Kaiser Joseph's des Zweiten war eben solche freiere Regung und vollere Spende der Natur. Sie entband die Phantasie wie die Sinne, und was wäre dem Künstler, zumal dem schaffenden Musiker, mehr Bedingung des Schaffens, ja des Lebens! Daß Mozart trotz des glänzenden Anerbietens Friedrich Wilhelm's des Zweiten in Wien verblieb, ja daß selbst Beethoven, der Sohn des ernsteren Nordens, das gleiche Anerbieten ausschlug, obwohl er die Sphäre Oesterreichs und Wiens erst so kurze Zeit gekostet hatte, sagt hier Alles. Die wohlig anheimelnde wärmere Art des Südens und vor allem Wiens band diese Geister an die Stätte, an welche nur Haydn und Albrechtsberger zugleich in der Eigenschaft als geborene Oesterreicher gefesselt waren.

Gluck, aus Baiern stammend, war mit dem böhmischen Granden Lobkowitz nach Wien gekommen und verlebte, nachdem er die Welt mit dem Ruhme seiner „Iphigenie“ und seiner „Armide“ erfüllt hatte, seine alten Tage aus freien Stücken in Wien, das doch damals noch nicht entfernt die Anerkennung seines Genius zeigte, die Paris ihm gezollt. Unter seiner Protection führte Salieri, ein geborener Venetianer, 1769 in Wien seine erste Oper auf. Sie gefiel; er ward der „Abgott des Kaisers“ – und verblieb ebenfalls in Wien bis zu seinem Tode im Jahre 1825. Gleicher Weise fesselte der Genius loci, um ein Wort Goethe's zu gebrauchen, denjenigen Künstler an Wien, der den Musikruf der Stadt zuerst durch alle Welt führte, Mozart. Er war durch den Zufall von Salzburg, wo er geboren ist, nach Wien gekommen: sein Erzbischof, der vorübergehend in Wien weilte, hatte ihn zu sich berufen. Der sehr hochmüthige geistliche Fürst wollte sich mit ihm „gloriren“. Mozart aber weiß es fertig zu bringen, daß er ganz in Wien bleibt. Der Geist dieses Wiens und Oesterreichs hatte es ihm angethan. „Soll ich meinen guten Kaiser ganz verlassen?“ entgegnete er „gerührt und nachdenkend“ auf die königlichen Anerbietungen in Berlin.

Er hatte sich aber zugleich diesem liebenswürdig-heiteren Genius des Landes sozusagen persönlich verbunden, indem er in diesem Wien seine Frau, seine geliebte Constanze, fand. Zwar war sie ebenfalls von außen her in's Land gekommen. Aber die Familie Weber, der auch der Componist des „Freischütz“ angehört, war eine ursprünglich österreichische. Constanze war ihrer hochbegabten Schwester, der berühmten Sängerin Lange, nachgezogen, und Mozart gewann in ihrem Hause eine ruhige Zuflucht, als er sich mit dem harten Erzbischofe überwarf, der ihm „überall wie ein Lichtschirm“ war und ihn vor Allem nicht freiwillig in Wien lassen wollte. Und daß Aloysia Lange gerade neben ihm sitzt? „Bei der Lange war ich ein Narr – das ist wahr, aber was ist man nicht, wenn man verliebt ist! Ich liebte sie aber in der That und sehe, daß sie mir noch nicht gleichgültig ist – und ein Glück für mich, daß ihr Mann ein eifersüchtiger Narr ist und sie nirgends hinläßt und ich sie also selten zu sehen bekomme!“ So schreibt Mozart selbst 1781 in den Briefen an seinen Vater, als er denselben überzeugen will, daß er diesmal kein „Narr“ ist und es sehr ernst meint, wenn er „die Weberische“, seine liebe Constanze, heirathen will. Man findet das Portrait der schönen Sängerin, die uns hier den Rücken zukehrt, in meinem Buche „Mozart's Leben“.

Beethoven's späterer Lehrer, der Theoretiker Albrechtsberger endlich war unweit der Kaiserstadt in Klosterneuburg geboren

[289]

Eine Festtafel zu Ehren Mozart’s bei Schikaneder.
Nach dem Gemälde von A. Borckmann in Berlin.
Haydn. Albrechtsberger. Mozart. Salieri. Signora Cavalieri. Schikaneder. Gluck.
                                                                                     Madame Lange.

[290] und sog also recht eigentlich an der Sphäre seiner Heimath. Das Gleiche gilt von Joseph Haydn, der an der ungarischen Grenze zu Hause war. Seine Anhänglichkeit an Wien und Oesterreich bethätigte er in gleicher Kraft wie Mozart: so verführerische Anträge ihm bei seinem Ruhmesaufenthalte in London von der königlichen Familie gemacht wurden, er ging nach Wien zurück, wo ihn eine Luft umspielte, die das Land der „Goldfüchse“ einem richtigen deutschen Musikantengemüthe nie und nirgends zu bieten vermochte.

Die Signora Cavalieri war eine echte italienische Primadonna. Mozart hat zwar in der „Entführung“ eine Arie „ein wenig ihrer geläufigen Gurgel geopfert“, aber in der großen Arie: „Mich verläßt der Undankbare“, die er ihr für die erste Aufführung des „Don Juan“ in Wien eigens hinzuschrieb, ihrem Talente und ihrer Kunst dann wieder eine herrliche Frucht seiner Muse dargebracht.

Ganz zuletzt der Herr „Principal“ – nämlich Schikaneder! „Er war dem sinnlichen Genuß sehr ergeben, ein Schwelger und Mädchenfreund, je nach Umständen ein Parasit und ein leichtsinniger Verschwender, und nicht selten trotz großer Einnahmen von seinen Gläubigern hart bedrängt,“ so schildert ihn ein Freund und jahrelanger Capellmeister seines Theaters auf der Wieden, der aus Beethoven's Leben bekannte J. Seyfried. Schikaneder war als vagirender Musikant zu einer Schauspielertruppe in Augsburg gestoßen, hatte die Pflegetochter des Principals geheirathet und kam zur Zeit der Composition des „Figaro“ nach Wien, wo er sich mit Mozart, den er schon in Salzburg gekannt hatte, wieder näher befreundete. Die Noth war es, die ihn im Todesjahre des unsterblichen Meisters zu ihm führte. Sein Theater im Starhembergischen Freihause stand am Rande des Abgrundes. Er kam zu Mozart, ihn um eine „Zauberoper“ zu bitten. Es war die „Zauberflöte“. Das Gartenhaus, in dem Mozart dieses sein unsterbliches Werk schrieb, steht heute auf dem Kapuzinerberge in Salzburg; für seine Erhaltung wird soeben in ganz Deutschland gesammelt. Sich selbst stellte Schikaneder, der den Text verfaßt, in dem Federmann Papageno dar, leichtsinnig, genußsüchtig, furchtsam, aber zugleich hülfreich gutmüthig. In dem Kometenschweife des unsterblichen Werkes, das doch in seinem Kerne zusammenfaßt, was an wahrer Humanität und Seelenreinheit in jener schönen Zeit lag, wandelt auch diese drollige Figur des alten Wiener Künstlerlebens. Sein Verdienst bleibt immer die Wahl des Stoffes, und daß er Mozart für dessen Composition zu gewinnen und an dieselbe zu fesseln wußte. Diese Thatsache ist auch die Anregung zu der heiteren, geselligen Gruppirung im Bilde geworden; ihr innerer Zusammenhalt aber ist eben jener Geist der freien schönen Menschlichkeit und idealen Begeisterung, der all diese großen Künstler damals so dauernd an Wien und Oesterreich fesselte.
L. Nohl.




„Sind wir ein Spiel von jedem Druck der Luft?“
Die Untersuchungen des Professors Paul Bert über den Einfluß des Luftdrucks auf das Leben.

Im Hochsommer 1879 ging es in der französischen Abgeordnetenkammer wieder einmal lebhaft her, als man die Vorlagen Ferry's behandelte, durch welche die Schule von dem Einflusse der Jesuiten befreit werden sollte. Unter den altbekannten schlagfertigen Politikern erschien damals auch ein auf der politischen Arena bisher noch wenig genannter Gelehrter, der durch seine zündenden Reden die Gefährlichkeit der jesuitischen Moral aufdeckte und für sein freimüthiges Auftreten den Beifallssturm der Republikaner und den glühendsten Haß der Schwarzen erntete. Es war der Professor der Medicin Paul Bert.

Unsere Aufgabe wird es nicht sein, das politische Wirken dieses Mannes näher zu prüfen. Wohl aber möchte es sich lohnen, dem plötzlich als Redner berühmt gewordenen Gelehrten auf das ruhige Gebiet ernster, wissenschaftlicher Forschung zu folgen und seine sehr werthvollen Studien über den Luftdruck und dessen Einfluß auf das thierische Leben einmal näher zu betrachten.

Der Luftdruck unterliegt bekanntlich fortwährenden Veränderungen, und der Volksverstand, der sich mit medicinischen Fragen stets eifrig beschäftigte, glaubte in diesen Schwankungen den Entstehungsgrund der verschiedensten nervösen und rheumatischen Leiden beim Witterungswechsel gefunden zu haben. Wenn aber diese Annahme Grund haben sollte, so müßten ja die Rheumatiker schon beim Besteigen einer kleinen Anhöhe, auf deren Spitze der Luftdruck um einige Millimeter geringer ist als unten – welcher Unterschied den täglichen Schwankungen in den Druckverhältnissen der Atmosphäre entsprechen würde – ähnliche Zufälle (Schmerzen in den Gliedern, den Narben etc.) empfinden. Davon ist aber nichts bekannt. Wahrscheinlich spielen hier andere Einflüsse mit, wie z. B. Veränderungen in der Feuchtigkeit und die Elektricitätsspannung der Atmosphäre. Ihre genauere Prüfung wird vielleicht einst in die dunkle Wissenschaft vom Rheumatismus Licht werfen; vorläufig ist es als Fortschritt zu bezeichnen, daß wir den Einfluß eines dieser Factoren, des Luftdrucks, auf das tierische Leben kennen gelernt haben.

Wer hohe Bergbesteigungen ausgeführt hat, der machte wohl gelegentlich die Bekanntschaft eines eigenthümlichen, den Gebirgsbewohnern wohlbekannten Uebels, der sogenannten Bergkrankheit. Sie besteht darin, daß in einer gewissen Höhe (und zwar gewöhnlich zwischen 3000 und 4000 Meter) unser Athem kürzer und unser Puls beschleunigt wird, und zwar so, daß diese Anfälle mit zunehmender physischer Anstrengung stärker werden und im Ruhestande des Körpers schnell verschwinden.

Steigt der Reisende noch höher, so nehmen diese Symptome bald einen drohenden Charakter an. Ohrensausen, Kopfschwindel, ein Gefühl von Schwere in den Knieen bilden die Vorboten gefährlicher Blutstürze aus den Lungen, der Mundhöhle oder den Ohren. In diesem Stadium kann selbst das Tragen einer geringfügigen Last oder das Erklimmen eines unbedeutenden Felsens den augenblicklichen Tod des Reisenden nach sich ziehen. Die körperliche Anstrengung beschleunigt den Eintritt dieser Zufälle, deshalb treten sie später, das heißt in größerer Höhe, auf, wenn wir auf einem Reittier die Berge erklimmen. Ihr starker Bundesgenosse ist auch die Kälte, und aus diesem Grunde können wir unter dem Aequator ohne Beschwerde höhere Berge besteigen, als in den Ländern, welche den Polen näher liegen. Im Allgemeinen beginnt die Region der Bergkrankheit mit der Linie des ewigen Schnees. Auch die Luftschiffer sind bei ihren Ausflügen ähnlichen Gefahren ausgesetzt.

Was ist nun der Grund dieser interessanten Erscheinungen?

Als in dem Kindesalter der Menschheit die Phantasie unbekannte Gebiete mit ihren poesievollen Gebilden erfüllte, da sollten lebende, geisterhafte Wesen dem Menschen den Zutritt zu jenen lichten Regionen verwehren. Die Völker Himalayas behaupteten, daß auf den nackten hohen Felsen Blumen wüchsen, die noch keine Menschenhand gepflückt habe und deren Blüthen einen betäubenden, tödtlichen Duft aushauchen sollten. Die Indianerstämme am Fuße der Anden in Südamerika glaubten, aus den Schlünden der Bergspitzen stiegen metallische Ausdünstungen in die Höhe, welche die dort Veta oder Puna genannte Bergkrankheit verursachen sollten.

Der berühmte schweizerische Naturforscher de Saussure war der Erste, welcher die wahre Ursache der Bergkrankheit erkannte. „Auf dem Gipfel des Montblanc,“ sagte er, „ist die Luft nur halb so dick als über dem Meeresspiegel; jeder Athemzug kann also auch nur halb so viel Sauerstoff enthalten, und wahrscheinlich ist es nicht ihre Dünnheit an sich, sondern der Mangel einer genügenden Sauerstoffzufuhr zum Blute, der unsern Puls auf hohen Bergen so beschleunigt und die gefährlichen Zufälle der Bergkrankheit erzeugt.“

Erst dem schon erwähnten Paul Bert, dem Nachfolger des unsterblichen Claude Bernard am College de France, gelang es, diese Frage auf experimentellem Wege zu entscheiden. Er bringt in seinen Vorlesungen einen kleinen Vogel unter die Glocke einer gewöhnlichen Luftpumpe, die durch ein Leitungsrohr mit einem Ballon verbunden ist, in welchem sich reines Sauerstoffgas befindet. Wenn der Luftdruck, dessen Höhe wir jeder Zeit an einem Manometer ablesen können, beim Auspumpen bis auf vierzig Centimeter gesunken ist, wird der Vogel unruhig, fällt auf die Seite

[291] und befindet sich bei weiterem Verdünnen der Luft in Lebensgefahr.

In diesem Augenblicke öffnen wir den Hahn und lassen reines Sauerstoffgas in die Glasglocke einströmen. Der Vogel erholt sich sofort und erhebt sich wieder ganz munter. Nach mehrmaliger Wiederholung dieser Manipulation haben wir unter der Glasglocke reinen Sauerstoff. Verdünnen wir jetzt das Gas in unserem Apparate nochmals, so können wir getrost die früher so gefährliche Grenze zwischen 30 bis 40 Centimeter überschreiten. Selbst bei 15 und 12 Centimeter Druck befindet sich unser Versuchsthier noch ganz wohl.

Damit war die Vermuthung de Saussure's als richtig erwiesen. Die atmosphärische Luft ist bekanntlich ein Gasgemenge, das nur zu seinem fünften Theile aus Sauerstoff besteht. Ein Cubikmeter Luft unter 760 Centimeter Druck wiegt rund 1250 Gramm und enthält etwa 250 Gramm Sauerstoff. Aber in einer Höhe von über einer halben Meile unter 40 Centimeter Druck wiegt ein Cubikmeter der bereits viel dünneren Luft nur die Hälfte, das heißt 625 Gramm, und enthält deshalb nur 125 Gramm Sauerstoff.

Zum Unterhalten des Lebensprocesses braucht jedes Thier in jedem Augenblicke eine bestimmte Menge Sauerstoff, z. B. in der Stunde 250 Gramm, wobei es einen Cubikmeter Luft verbraucht. Kommt es nun in eine Atmosphäre, in der unter geringerem Druck auf denselben Rauminhalt nur 150 oder 100 Gramm Sauerstoff vorhanden sind, so wird es in derselben, da es seinen Bedarf an Sauerstoff durch gewöhnliche Athmung nicht decken kann, anfangs Versuche machen, diesem Mangel durch beschleunigte Athmung abzuhelfen, schließlich aber absterben – ersticken müssen. Da aber der nöthige Bedarf an diesem Gase nicht nur bei jeder Art, sondern sogar bei jedem Individuum ein verschiedener ist und selbst bei diesem durch zahlreiche andere Einflüsse, wie Kälte, Hunger, Schlaf, Arbeit etc. verändert wird, so muß auch die Bergkrankheit bei dem einen Menschen früher, bei dem andern dagegen später auftreten, was auch von Bert in seinen später mit Menschen angestellten Versuchen nachgewiesen wurde.

Er ließ einen großen Luftverdünnungsapparat bauen in den er zuerst sich selbst eingeschlossen hatte. Bei 43 Centimeter Druck zeigten sich die ersten Symptome der Bergkrankheit zu ebener Erde. Sein Athem wurde beschleunigt; sein Puls stieg von 60 Schlägen in der Minute auf 82; Ohrensausen und eine merkliche Abschwächung der geistigen Functionen stellten sich ein. Der Professor konnte nicht mehr die Zahl seiner Pulsschläge mit Drei multipliciren und schrieb auf den Papierzettel nieder: „Zu schwierig!“ Er hatte aber in jenen Apparat einen mit Sauerstoff gefüllten Ballon mitgenommen, setzte ihn an seinen Mund, athmete das belebende Gas ein, und siehe da! alle jene Zufälle verschwanden wie mit einem Schlage.

Auf diese Weise verweilte er, ohne irgend welche Beschwerden zu fühlen, halbe Stunden und länger unter einem Drucke von zwanzig Centimeter, in einer Luft, die gleich jener war, welche die nackten Felsenspitzen des Everest, des höchsten Berges der Erde, umweht. Aehnliche Versuche wurden unter Bert's Aufsicht noch von den drei bekannten Luftschiffern Sivel, Crocé-Spinelli und Gaston Tissandier vorgenommen. Sivel zeigte sich selbst gegen bedeutende Luftverdünnung unempfindlich. Crocé-Spinelli dagegen befand sich bald in Erstickungsgefahr, aber auch bei ihm wurden alle Beschwerden, selbst das Schwarzwerden der Lippen und Ohren, durch die Sauerstoffeinathmung aufgehoben. Nachdem sie nun nach dieser Probe ein sicheres Mittel gegen die Beschwerden der Bergkrankheit gefunden zu haben glaubten, stiegen sie bald darauf mit einem Ballon in die Höhe und fanden in der That, daß bei „jedem Schlucke“ Sauerstoff die Schwäche von ihren Gliedern wich und alle anderen Zufälle verschwanden. Ermuthigt durch diesen Erfolg traten sie am 15. August 1875 ihre zweite verhängnißvolle Reise an. Bert war damals von Paris abwesend; er würde, wie er selbst in der „Gazette des Hôpitaux“ erklärte, ihnen entschieden gerathen haben, größere Mengen Sauerstoffs mitzunehmen. Da sie aber nur über geringe Quantitäten dieses Rettungsmittels verfügten, so mußten sie mit seinem Gebrauche sparsam umgehen, und als während der Reise der Ballon nach dem Wegwerfen des Ballastes plötzlich rasch in die Höhe stieg, wurden ihre Arme gelähmt, ehe sie die Schläuche mit Sauerstoff ergreifen konnten. Sivel hatte noch die Kraft, die Klappe zu öffnen. Aber diese Anstrengung brachte seiner starken Natur wahrscheinlich den Tod. In tiefern Regionen erwachte nur Gaston Tissandier, als kummervoller Zeuge des Todes seiner Gefährten, die im Kampfe für die Wissenschaft in der noch nie erreichten Höhe von über 8600 Meter ruhmvoll gefallen waren. Die französische Nation ehrte ihr Andenken durch eine reiche Geldsammlung für die Hinterbliebenen.

So hat die rauhe Wirklichkeit unserer Phantasie, die schon bis zur eigentlichen Region der Schnee- und Hagelbildung vorzudringen hoffte, wieder einmal die Flügel beschnitten. Nur an ein enges Gebiet des unermeßlichen Weltalls ist der menschliche Körper gebannt. Unüberwindbare Grenzen findet er sowohl in den feurigen Tiefen der Erde, wie auch in den stillen Regionen des Luftmeeres.

Das umgekehrte Verhältniß, eine merklich verdichtete Luft, tritt uns in der Natur kaum irgendwo entgegen, wohl aber hat man bei gewissen industriellen Unternehmungen ihre Anwendung vortheilhaft gefunden.

Experimente, welche Bert mit Ratten vorgenommen hat, belehren uns, daß Thiere selbst einen Druck von zehn Atmosphären ertragen können. Erst wenn der Hahn der Glasglocke geöffnet, und dadurch der hohe Luftdruck plötzlich in den normalen verwandelt wurde, starben sie sofort. Die Section dieser Thiere ergab, daß ihre Blutgefäße mit Luftbläschen angefüllt waren, die aus Kohlensäure und Sauerstoff bestanden. Daß aber der Eintritt freier Luft in das Blut den augenblicklichen Tod nach sich ziehen kann, ist den Aerzten schon lange bekannt.

Durch den Blutstrom werden nämlich die Luftbläschen in die Arterien getrieben, bis sie, in den feinsten Verzweigungen der Blutgefäße sich einkeilend, hier die Gerinnung der sie umgebenden Blutflüssigkeit und die Hemmung der Circulation hervorrufen. Tritt nun dieselbe im Gehirne ein, so ist im günstigsten Falle Lähmung, gewöhnlich aber der Tod ihre augenblickliche Folge.

Die Entstehungsursache der Gasbläschen im Blute unserer Versuchsthiere ist aber leicht zu erklären. Unter stärkerem Druck lösen sich die Gase in Flüssigkeiten in größeren Mengen auf, als unter dem normalen. Das Blut unserer Versuchsthiere wurde daher unter dem Druck von mehreren Atmosphären mit Kohlensäure und Sauerstoff übersättigt. Bei plötzlichem Verschwinden des starken Druckes wurden die Gase auf einmal frei und bildeten überall im Blute Luftbläschen, ähnlich der stürmischen Gasentwickelung in einer frisch geöffneten Mineralwasserflasche.

Wenn wir aber durch vorsichtiges Oeffnen den Druck allmählich verringern, dann können wir die Flasche ganz öffnen, ohne das Aufbrausen des Wassers hervorzurufen. Diese Erklärung paßt vortrefflich auf die inneren Vorgänge in unseren Versuchsthieren. Ihre Gesundheit bleibt unbeschädigt, wenn wir stufenweise den erhöhten Druck auf den normalen herabsetzen. Bei der Beobachtung dieser Maßregel wird der Ueberschuß an Gasen allmählich durch die Lungen ausgeschieden.

Diese Entdeckung, welche zum Aerger der Gegner der Vivisection mit dem Leben einiger Ratten bezahlt werden mußte, hat bereits segensreiche Früchte getragen.

Mit immer zunehmender Kühnheit drang der Mensch bis in den tiefsten Schooß des Oceans vor, um ihm Perlen und Korallen und die Schätze gesunkener Schiffe zu entreißen. Aber nach seiner Naturanlage kann er nur zwei bis höchstens drei Minuten unter dem Wasserspiegel bleiben. Heute setzt er sich einen mit gläsernen Augen versehenen Helm auf den Kopf, einen Helm, welcher durch eine lange Röhre mit einer auf dem Schiffsdeck aufgestellten Luftpumpe verbunden ist. Durch diese Röhre wird nun die Luft unter einem Drucke von vier bis fünf Atmosphären in den Helm hineingetrieben. Hier verdrängt sie durch kleine Oeffnungen das Wasser und, indem sie durch diese selbst entweicht, verhütet sie sein wiederholtes Eindringen. Mit solchem Helme ausgerüstet und comprimirte Luft einathmend, kann der Taucher eine halbe oder sogar eine ganze Stunde auf dem Meeresgrunde verweilen.

Dasselbe Princip wurde auch seit 1841 von dem Ingenieur Triger zum Bau der Brückenpfeiler benutzt. Der Grundgedanke des Apparates ist höchst einfach. In ein Gefäß mit Wasser tauchen wir eine Röhre ein, sodaß ihr unteres Ende auf dem Gefäßboden ruht, ihr oberes dagegen über der Wasseroberfläche [292] hervorragt. Die Röhre wird sich sofort mit Wasser füllen. Wenn wir alsdann aber ihr oberes Ende in den Mund nehmen und in das Röhrchen blasen, so wird die verdichtete Luft das Wasser austreiben und den von der Röhre begrenzten Theil des Gefäßbodens trocken legen. Im Triger'schen Apparate nun sehen wir an der Stelle des Röhrchens große, luftdicht anschließende metallische Cylinder, während unsere Lungen und unser Mund durch eine mit Dampfkraft bewegte Luftpumpe vertreten werden. Diese metallischen Cylinder versenkt man auf den Grund der Flüsse, läßt dann in dieselben gewöhnlich auf fünf Atmosphären comprimirte Luft einströmen, und stellt so einen wasserfreien Raum her, in dem die Arbeiter die nöthigen Bauten verrichten können.

Die Gefahr tritt für Taucher und solche Tubenarbeiter mit dem Augenblicke ein, wo sie aus der comprimirten Luft in die normale zurückkehren. Todesfälle und Lähmungen standen früher bei ähnlichen Unternehmungen auf der Tagesordnung. Bei 160 Arbeitern, die bei dem Fundamentbau der Brücke von Saint Louis (Missouri) beschäftigt waren, kamen 30 schwere Erkrankungen und 12 Todesfälle vor. Seitdem aber die von Bert empfohlenen Vorsichtsmaßregeln ausgeführt worden sind, haben diese beklagenswerten Unfälle fast gänzlich aufgehört.

Wir haben noch zum Schluß des Einflusses zu erwähnen, den der comprimirte Sauerstoff auf den thierischen Organismus ausübt. In diesem Zustande ist der belebende Bestandtheil unserer Atmosphäre ein intensives Gift. Er hemmt momentan alle thierischen Functionen. Selbst Pflanzenorganismen können ihm nicht widerstehen, und er tödtet ebenso rasch die mikroskopischen Hefepilze, wie die winzigen Bakterien und Vibrionen.

Ob Bert sich nach seinem ersten Versuch in das stille Laboratorium Magendi's und Claude Bernard's zurückziehen oder gleich Virchow in Deutschland und Rokitansky in Oesterreich auf dem politischen Schlachtfelde Frankreichs weiter kämpfen wird, kann erst die Zukunft entscheiden.

St. von Jezewski.




Das englische Clubwesen sonst und jetzt.
Von Leopold Katscher.
1. Sonst.

In England ist das Clubwesen mit der Freiheit aufgekommen; vor der Regierung Elisabeth's kannte man keine ähnliche Einrichtung. Dem poetischen Charakter der elisabethinischen Epoche entsprechend, trugen die ersten Londoner Clubs ein durchaus literarisches Gepräge. Der älteste, von dem man überhaupt weiß, versammelte sich in dem Wirthshaus „Zur Sirene“ und verdankte seine Entstehung der Initiative Raleigh's, der den Tabak und mit Francis Drake die Kartoffeln in Europa einführte. Eine Ueberlieferung besagt, daß in jener Schenke die allerersten Kartoffeln gegessen wurden. Die hervorragendsten Mitglieder des Sirenen-Clubs waren die vier größten Dramatiker jener Tage: Shakespeare, Ben Jonson, John Fletcher und Francis Beaumont. Ben Jonson begründete später im Apollosaale der Schenke „Zum Teufel“ einen andern Club, zu dessen Nutz und Frommen er unter dem Titel: „Leges conviviales! eine Art Codex in lateinischen Versen schrieb. Nach diesen Statuten wurden Damen zugelassen und mit ihnen „gebildete, höfliche, heitere, anständige Männer“; Plumpheit, Unmäßigkeit und Rohheit waren ausgeschlossen; während des Weintrinkens durfte nicht über geheiligte Dinge abgehandelt werden, und das Lesen geschmackloser Gedichte und das Improvisiren schlechter Verse waren verboten. Jonson's schriftstellerischer Ruf, seine Vorliebe für eine gute Tafel, sein Conversationstalent schaarten um ihn eine große Anzahl geistvoller und lebenslustiger Männer, aber trotz der begeisterten Verse, in denen er die Vorzüge des Weines zu preisen pflegte, sollen die im Club geführten Gespräche besser gewesen sein, als die daselbst getrunkenen Weine.

Die Clubs scheinen verschwunden zu sein, als Cromwell und die Puritaner das Staatsruder ergriffen. Dagegen war die Regierungszeit Karl's des Zweiten eine wahre Blütheperiode der Clubs wie des Theaters. Einige Jahre nach der Restauration bildete „Will's Kaffeehaus“ das vorzüglichste Stelldichein der Schriftsteller, der Schöngeister, der guten Redner und der Müßiggänger. Das Scepter führte dort Dryden. In diesem Club wurden die socialen Ranges- und Standesunterschiede abgestreift, und es heißt, daß sowohl die jungen Modehelden wie die Gelehrten viel darauf hielten, der Dose Dryden's von Zeit zu Zeit eine Prise zu entnehmen. Bis 1810 galt „Will's Kaffeehaus“ in London als beliebter Zusammenkunftsort vornehmer Leute, Neugieriger, Priester und Romanschreiber. Will's gegenüber erhob sich später „Button's Kaffeehaus“; sein Besitzer war früher bei Lady Warwick, der Addison damals den Hof machte, bedienstet gewesen, und der genannte Gelehrte und Dichter schlug in diesem Kaffeehause seinen Thron auf. Seine Anhänger waren Steele, Budgell, Tickel, Phillips und Carey, mit denen er eine literarische Brüderschaft einging, und die Stammgäste blieben nach der Gewohnheit der damaligen Schriftsteller stets sehr lange beisammen; Plaudern, Trinken und Rauchen waren ihre Beschäftigungen, bei denen Addison in jeder Hinsicht als Vorbild voranleuchtete. Button's Local war gleichzeitig das Redactionsbureau des „Guardian“, dessen Mitarbeiter sich in einem Hinterkämmerchen aufzuhalten pflegten. Als Addison sich in der Folge mit der Herzogin von Warwick entzweite, zog er sich auch von ihrem ehemaligen Diener zurück, sodaß der Club von selbst ein Ende erreichte.

Wie Dryden und Addison, liebte es auch Samuel Johnson, die Londoner Wirtshäuser zu besuchen. Im Jahre 1749 begründete er in Ivy Lane (Epheugäßchen) einen Club, dessen Mitglieder in dem Beefsteakhaus „Zum Königskopf“ jeden Dienstag Abend zusammenkamen; sie waren Kaufleute, Buchhändler, Aerzte und sectirende Geistliche. Während das Beefsteak auf dem Roste prasselte, warf sich Johnson mit Feuereifer auf die Discussion und Polemik.

Als diese Vereinigung sich auflöste, begründete Johnson im Jahre 1764 einen andern, berühmt gewordenen Club, der sich im „Türkenkopf“ niederließ; man kam wöchentlich einmal um sieben Uhr Abends zusammen und plauderte bis Mitternacht. Anfänglich namenlos, legte sich dieser Club nach Garrick's Tode den Titel „Literarischer Club“ bei. In diesen aufgenommen zu werden, galt als hohe Ehre, deren man nur durch die Stimmzettel der Majorität der jeweiliger Mitglieder theilhaftig werden konnte. Unter den fünfunddreißig Mitgliedern waren die bedeutendsten: der Maler Sir Joshua Reynolds, Oliver Goldsmith, der Redner Burke, der Historiker Gibbon, der Lustspieldichter Sheridan und vor Allen Johnson und Garrick. Neunzehn Jahre später rief Johnson einen dritten Club in's Leben und zwar in der Schenke „Zum Haupte des Essex“, wo die Mitglieder sich dreimal wöchentlich versammelten. Die Clubregeln waren milde und die Ausgaben geringfügig. Wer einer Sitzung fern blieb, wurde mit zwei Pence bestraft, und der Reihe nach kam jedes Mitglied auf den Präsidentenstuhl. Johnson's Eifer im Begründen von Clubs erklärt sich aus seinem Charakter und seiner Lebensweise: seine Frau war ihm frühzeitig gestorben, und seither bildeten die Clubabende die einzige ihm zusagende Zerstreuung nach des Tages Arbeit und Einsamkeit; ohnehin war er sehr gesellig und gesprächig.

Um dieselbe Zeit, das heißt in der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, gab es in London eine Reihe von Kaffeehäusern, die Mode waren und Leute von Geist in Clubs sammelten, darunter ein Club der Blaustrümpfe, der sich im Jahre 1781 im Hause der Madame Montague um Stillingfleet gruppirte und verschiede gleichfalls literarische Namensvettern erhielt. Der Name muß später von irgend einem literarisch-ästhetischen Damenclub her zum Spottnamen geworden sein – die ersten Blaustrümpfe waren Männer.

Neben den literarischen gab es auch zahlreiche politische Clubs, von denen wir nur zwei erwähnen wollen. „Die Conföderation der Könige“, welche kurz nach der Restauration entstand, nahm Staatsmänner und Bürger aus allen Gesellschaftsclassen unter der Bedingung auf, daß sie sich dazu verstanden, den Beinamen „König“ als Gewährleistung einer gut monarchischen Gesinnung zu wagen. König Karl der Zweite [293] selbst gehörte der Gesellschaft als Ehrenmitglied an. Den Gegensatz dazu bildeten der „Club des königlichen Hauptes“, der aus Whigs bestand und dessen Mitglieder am Hute grüne Bänder trugen, zum Unterschied von den Tories, deren Hutbänder scharlachroth waren. Der whiggistische Club correspondirte mit ganz England und kam einer Art Executivgewalt gleich. Die Conversation drehte sich größtentheils um den Schutz der Freiheit und des Eigenthums. Unter dem Vorwande, die Reformirten seien von einem bevorstehenden Blutbade bedroht, lud man die Clubmitglieder ein, seidene Panzer anzulegen, die damals für kugelfest gehalten wurden. Diese Lächerlichkeit zog die Auflösung des Clubs nach sich.

Vom Standpunkte der Sittengeschichte aus betrachtet, haben die zahlreichen Clubs, die damals in Großbritannien entstanden, glückliche Folgen gehabt, namentlich dadurch, daß sie zwischen den Bürgern die gesellschaftlichen Bande, die während der Bürgerkriege gelockert worden waren, fester knüpften und daß sie die Wiege der Redefreiheit waren, die heutzutage ein so hervorstechender Zug des englischen Lebens ist. Hinsichtlich des günstigen Einflusses der Clubs auf die Literatur sei nur der einen Thatsache gedacht, daß der „Kit-Cat-Club“ zur Ermunterung der dramatischen Production 4000 Guineen votirte.

Als im Laufe der Zeit die politischen Zwistigkeiten einer ruhigeren Stimmung wichen, ging man daran, die Basis des Clubwesens zu verbreitern, indem man sie namentlich den Anforderungen des Gaumens dienstbar machte. Es gab einen „Kalbskopf-Club“, einen „Gans-Club“, einen „Aalpasteten-Club“ etc. Der berühmteste unter diesen gastronomischen Vereinen war der im Jahre 1735 entstandene und erst vor etwa acht oder neun Jahren aufgelöste „Beefsteak-Club“.

Der Harlequin des Coventgarden-Theaters, Rich, arrangirte eines Tages die Generalprobe einer Pantomime und hatte dazu einige Edelleute geladen. Einer derselben, der Graf von Peterborough, verspätete sich, was den hungrig gewordenen Künstler jedoch nicht abhielt, sein Diner in Gestalt eines Beefsteaks zuzubereiten; Rich lud nun den Grafen ein, an seinem bescheidenen Mahl theilzunehmen, und der Graf fand an dem Beefsteak und an der Conversation des Komikers solchen Gefallen, daß er in der nächsten Woche in Begleitung einiger Freunde wiederkam und sich bei Rich zu einer ähnlichen Mahlzeit einlud. So entstand der „Beefsteak-Club“, welchem unter Anderem Hogarth, Brougham, Sheridan Thornhill und Fox angehörten. Die Mitglieder – deren Zahl auf vierundzwanzig beschränkt war, später aber, um den Prinzen von Wales zulassen zu können, auf fünfundzwanzig erhöht wurde – nahmen alljährlich von Ende November bis Ende Juni jeden Samstag ein vornehmlich aus Beefsteak bestehendes, echt englisches Fünf-Uhr-Diner ein, bei dem man die Feier der Freiheit mit der des Rindfleisches verband.

Der Banketsaal war mit Eichengetäfel ausgekleidet, auf dem das Wappen des Clubs, ein Bratrost, in Relief prangte. Sobald die Saaluhr fünf schlug, hob sich ein Vorhang und enthüllte die Küche, in welcher man die Köche in der Ausübung ihrer verschiedenen Obliegenheiten erblickte. Diese Küche trug eine Inschrift – zwei Verse aus „Macbeth“ – und von der Mitte des Plafonds hing der allererste Bratrost des Clubs in ureigenster Gestalt herab, eine ehrwürdige Reliquie, welche zwei Feuersbrünste überdauert hatte. Nach jedem Diner nahm der Präsident seinen Ehrenplatz auf einer erhöhten Plattform ein, die mit den Insignien des Clubs, sowie mit einem kleinen Dreimasterhut geschmückt war, den Garrick dereinst bei der Darstellung einer wichtigen Rolle zu tragen pflegte.

In seinem goldenen Zeitalter stand der „Beefsteak-Club“ zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, als er Kemble, Kobb, Ferguson, den Herzog von Clarence und den Herzog von Norfolk zu seinen Mitgliedern zählte. Selbstverständlich hatten in einer solchen Gesellschaft das gute Beefsteak und der feine Wein nur den Zweck, geistreichen Gesprächen als Würze zu dienen. Die Seele des Clubs war lange Zeit der 1836 im Alter von hundert Jahren verstorbene Capitain Morris, mit dem die Glanzzeit desselben überhaupt ein Ende nahm.

Es gab noch einen andern „Beefsteak-Club“, dessen Ursprung jedoch unbekannt ist; jedenfalls existirte er bereits unter Karl dem Zweiten. Die einzige Frau, die er ausnahmsweise unter seine Mitglieder zählte, die berühmte Schauspielerin Peg Woffington, war lange gleichzeitig seine Präsidentin. Das Abzeichen der Mitglieder bestand in einem goldenen, an einem grünen Bande um den Hals getragenen kleinen Bratrost.

Es war ein Hauptmerkmal des früheren englischen Clubwesens, daß es sich den verschiedenartigsten Geschmacksrichtungen anzupassen wußte. Jedermann konnte sich einem seinen eigenen Neigungen entsprechenden Club anschließen. Die Phlegmatischen gingen in den „Humdrum-Club“, wo sich ihnen beim Eintritt in den Saal ein feierlicher Anblick darbot: die Mitglieder beobachteten ein tiefes Stillschweigen und hatten Pfeifen im Munde und Biertöpfe vor sich; man hätte sich in einer Gesellschaft von Taubstummen wähnen können. Die Lärmsüchtigen traten dem „Club der Ausgelassenen“ bei. Die Starkgeistigen konnten sich in den „Club der Philosophen“ einschreiben lassen, in den Jedermann, der ein neues Argument gegen die Religion vorzubringen wußte, gegen Erlegung von vier Pence zugelassen wurde, die auf Punsch ausgegeben werden mußten. Waren die Eigenheiten eines Menschen noch so sonderbar, in London fand er sicherlich einen entsprechenden Club oder doch Leute, die bereit waren, sich behufs Gründung eines solchen ihm anzuschließen.

Es entstand ein Vogelzüchter-Club, ein Blumenliebhaber-Club (für die Tulpennarren) und ein Modegecken-Club, in welchem nur von Kleidern, Bändern und neuen Moden die Rede war. Eine Anzahl griesgrämiger und übelgelaunter Leute bildete einen „Club der Mürrischen“, in welchem gegen alles Mögliche losgezogen wurde und dessen Mitglieder einander nach Herzenslust beschimpften und „herunterrissen“. Die Wucherer suchten Ihresgleichen im „Split-Farthing-Club“ (etwa „Pfennigfuchser-Club“) auf, welcher, um Kerzen und Oel zu ersparen, in einer finstern Kammer tagte. Die Kaufleute, die in ihrem geschäftlichen Leben Unglück hatten, trösteten sich im „Club der Unglücklichen“; schon ein einfaches Fallissement berechtigte zur Aufnahme als Mitglied, ein betrügerischer Bankerott verlieh aber einen höheren Anspruch auf diese Ehre. Die Bettler schleppten sich zum „Bettler-Club“, einer Art Wundertempel, in dem die Blinden plötzlich sehend, die Stummen redselig wurden. Die Diebe besuchten den „Diebs-Club“, die Marktweiber den „Club der flachen Hauben“. Eine spaßige Erscheinung war der „Club der Lügner“, in den Leute mit einer Neigung zum Aufschneiden aufgenommen zu werden trachteten. Die wichtigste Bestimmung war, daß jedes Mitglied, das zwischen sechs und zehn Uhr Abends die geringste Wahrheit sprach, zur Bezahlung einer Gallone Wein verhalten war; dieselbe Strafe traf Jeden, der allzuplumpe und unwahrscheinlich klingende Lügen vorbrachte. Die sich zur Aufnahme Meldenden hatten eine Prüfung zu bestehen; es handelte sich nicht um's Lügen allein, sondern um künstlerisches Lügen. Ein blaues Fäßchen und eine rothe Feder bildeten die Insignien des Präsidenten. Sobald an einem Clubabend ein Mitglied eine kühnere und gelungenere Lüge zum Besten gab, als der Vorsitzende, mußte dieser den Präsidentensitz und die Insignien sofort dem glücklichen Lügner abtreten.

Einer der berühmtesten war der „Club der häßlichen Leute“, bei dessen Gründungsbanket ein überaus häßlicher Hörer des „King's College“ sich muthig zur Uebernahme der Functionen eines Caplans entschloß. Weniger glücklich war man, als es sich um die Wahl eines Präsidenten handelte; denn lange wollte Niemand diese Ehre annehmen. Die auf eine Tafel gravirten Regeln besagten, daß Niemand Mitglied werden könne, der nicht mit einer auffallenden Häßlichkeit behaftet war; meldeten sich bei einer Vacanz zwei gleich häßliche Aspiranten, so wurde derjenige gewählt, der eine dickere Haut besaß. Jedes neueintretende Mitglied mußte die Gesellschaft mit einem Gericht Kabeljau tractiren und eine Lobrede auf Aesop hatten, dessen Portrait im Clubsaale neben denen von Thersites, Duns Scotus, Scarron und Hudibras aufgehängt war. Der Club fand solchen Anklang, daß die Mitglieder Muth bekamen und den König (Karl den Zweiten) anforderten, beizutreten. Er antwortete lachend, er könne nicht selbst kommen, werde aber zwei Ziegenböcke senden. Anfänglich hatte der Club seinen Sitz in Cambridge, aber sein großer Erfolg veranlaßte ihn später zur Uebersiedelung nach der Hauptstadt.

Der „Club der Häßlichen“ besaß eine Concurrenz in dem „Ohnenasen-Club“. Einem Herrn mit wunderlichen Neigungen fiel bei einem Spaziergange durch die Straßen Londons eines Tages die große Anzahl der nasenlosen Leute auf, denen er [294] begegnete. Er kam auf den Gedanken, alle Nasenlosen Londons zu einem Banket einzuladen, welches die Begründung eines Clubs nach sich zog, der monatlich einmal zusammenkam. Als nach einem Jahre der Tod des Gründers eintrat, wollten die Mitglieder – die, wie sie sagten, „nicht Lust hatten, sich bei der Nase herumführen zu lassen“ – sich keinem neuen Vorsitzenden unterwerfen und trennten sich. In dieselbe Kategorie gehört der „Club der fetten Männer“. Der Sitzungssaal, dessen Größe dem Umfange der Mitglieder angemessen war, hatte zwei Thüren: eine schmale von gewöhnlichem Caliber und eine sehr breite mit zwei Flügeln; konnte ein Candidat durch die erstere gehen, so wurde er abgewiesen, andernfalls that sich die andere vor ihm auf und die corpulente Gesellschaft begrüßte ihn als Bruder.

Diesem Club zum Trotze bildete sich ein „Club der mageren Leute“. Zu bemerken ist, daß diese beiden Clubs nicht in London, sondern in einer Provinzstadt existirten; sie befehdeten einander jahrelang, und da die Mageren sich die öffentliche Gunst zu erobern verstanden hatten, drohten sie, die Fetten von den öffentlichen Aemtern auszuschließen. Schließlich einigte man sich dahin, daß die beiden obersten Beamten der Stadt aus je einem der beiden Clubs zu wählen seien.

Die Clubs der „Langen“, der „Kleinen“, der „befranzten Handschuhe“, der „Seufzenden“, den „Wittwen-Club“ und viele andere müssen wir übergehen. Die bizarren Clubs waren wenigstens harmlos, aber neben ihnen gab es auch Clubs düsterer und gefährlicher Natur; so z. B. den der Duellanten, dessen Präsident ein Dutzend Menschen im Zweikampf getödtet hatte; den der Menschentödter, in den man nur aufgenommen werden konnte, wenn man mindestens einen Mord begangen hatte; den der Schrecklichen, dessen Mitglieder ungemein lange Säbel trugen; den der Mohocks, der seinen Namen einem Menschenfresserstamm entlehnte und es als seine Aufgabe betrachtete, auf der Lauer zu liegen, Straßenpassanten anzuhalten und ihre Gefangenen auf’s Grausamste zu mißhandeln.

Anknüpfend an die Clubs, erzählt Alphonse Esquiros eine hübsche Anekdote. Der Lord-Oberrichter Holt hatte in seiner Jugend ein keineswegs musterhaftes Leben geführt und einem argen Club angehört. Als er eines Tages dem Central-Criminalgerichte von Old Bailey präsidirte, wurde ihm ein der Straßenräuberei überführter Mann vorgeführt, in welchem er einen seiner ehemaligen Clubgenossen erkannte. In der Meinung, dieser erkenne ihn nicht, fragte er ihn halb aus Neugierde, halb aus Theilnahme, was aus den übrigen Mitgliedern des gefährlichen Clubs geworden, dem der Gefangene angehört habe. Der arme Teufel salutirte und erwiderte seufzend: „Ach, Mylord, alle sind gehenkt worden, bis auf Euer Gnaden und mich.“

Ehe wir von den alten Clubs Abschied nehmen, sei eines höchst komischen Clubs Erwähnung gethan, der, wenn wir nicht irren, noch vor fünfundzwanzig Jahren bestand; wir meinen den Londoner „Unsuccessful-Club“ („Club der durchgefallenen Dramatiker“). Wer aufgenommen werden wollte, mußte der Ehre theilhaftig geworden sein, mit einem Theaterstück einen Mißerfolg erlebt zu haben. War ein Stück erst nach der zweiten Aufführung vom Repertoire verschwunden, so mußte über die Aufnahme oder Abweisung des Verfassers erst abgestimmt werden. War aber eines schon am ersten Abend ausgepfiffen worden, so wurde der Autor mit Acclamation aufgenommen und durfte auf Kosten des Clubs ein beliebiges Diner bestellen. Das Abzeichen des Clubs, das der Präsident im Knopfloch trug, war ein silbernes Pfeifchen.

Wie man sieht, entsprechen die englischen Clubs von früher mehr dem, was man heutzutage „Vereine“ oder dergleichen nennen würde. Wie anders sind in dieser, wie jeder andern Hinsicht die heutigen Clubs beschaffen! Doch davon in unserm Schluß-Artikel.




Eine spanische Verbrecher-Gesellschaft.

So allgemein bekannt es ist, daß in Spanien das Räuberwesen von jeher in Blüthe gestanden, so wenig verbreitet ist die Kunde von einer Jahrhunderte alten Organisation desselben im großen Stil, deren letzte Anhänger erst in unserm Jahrhundert, im dritten Jahrzehnt desselben, den Tod durch Henkershand starben. Wir meinen die Verbrechersecte, welche unter dem Namen Garduna-Brüderschaft beinahe vier Jahrhunderte lang in Spanien ihr Wesen getrieben hat und deren letzter Ordensmeister, mit zwanzig seiner Genossen in den Schluchten der Sierra Nevada verhaftet, am 25. November 1822 auf dem Marktplatze zu Sevilla gehängt wurde.

Nur in einem Lande wie Spanien konnte eine Gesellschaft bestehen, die ein so charakteristisches Gepräge, namentlich in der Vermischung von Religion und Verbrechen, trug. Vollkommen organisirt, mit Statuten versehen, deren strengste Befolgung verlangt und deren Verletzung schwer gerügt wurde, hatte sie den Zweck, zu einem festgesetzten Preise und unter tiefster Verschwiegenheit Verbrechen aller Art auszuführen. Der Mord stand am höchsten verzeichnet in diesem originellen Preiscourant, welcher unter anderm auch Entführungen von Männern und Frauen und Austheilung von Dolchstichen, je nach Erforderniß mit oder ohne tödtlichen Ausgang, umfaßte.

An der Spitze Aller stand ein Großmeister (hermano mayor, wörtlich: älterer Bruder), der zuweilen eine hervorragende Stellung im Staatsdienst einnahm; von ihm gingen die Befehle an das Personal des Bundes aus, das aus guapos, einer Art von ausgesuchten Banditen, bestand. Dieselben waren in zwei Unterclassen geschieden, guapos punteadores, das heißt Austheiler von Dolchstichen, und guapos floreadores, welch letztere zunächst sich mit der Anwartschaft auf jenen höheren Grad zu begnügen hatten, die aber dennoch schon geschickte Diebe waren und zuweilen einen Lehrcursus in den Gefängnissen von Sevilla oder Malaga durchgemacht hatten. Dann folgten die fuelles, wörtlich: Flüsterer oder Spürhunde, deren Name hinlänglich ihre Beschäftigung charakterisirt. Helfershelfer von weiblichem Geschlechte waren die coberteras (Hehlerinnen) und die serenas, junge schöne Frauenzimmer, welche die Opfer an Orte zu locken hatten, die der Durchführung des Verbrechens günstig waren.

Die Mitglieder der Garduna erhielten bei der Aufnahme einen besonderen Ordensnamen, und zwar bezeichnete derselbe in der Regel eine Eigenthümlichkeit oder hervorstechende Eigenschaft des Betreffenden, z. B. manofina (Feinhand) oder cuerpo de hierro (Eisenleib) etc. Ebenso hatte man den auszuführenden Verbrechen unverdächtig klingende Namen gegeben; so nannte man Dolchstiche: Taufen; Reise wurde der Raub auf der Heerstraße genannt, Ertränkungen hießen Bäder. War ein Verbrecher zum Bagno verurtheilt, so sagte man, er sei der königlichen Marine zugetheilt etc. Der Stützpunkt und Hauptversammlungsort dieser furchtbaren Gesellschaft war nicht die Hauptstadt Madrid, sondern Sevilla nebst Umgebung; ein daselbst gelegener alterthümlicher und halb verfallener Palast maurischen Stils wurde jahrelang zu ihren Zusammenkünften benutzt. Die Versammlungen begannen und schlossen mit Gebet, und ein Bildniß der heiligen Jungfrau, unter dem sich eine Opferbüchse befand, schmückte den Raum, wo man zusammenkam.

Als bei der oben erwähnten Gefangennahme der Letzten des Bundes auch dessen Papiere aufgefunden wurden, erhielt man Einsicht in die Statuten, aus denen hier nur noch folgende Punkte erwähnt sein mögen:

Die Novizen des Ordens, welche ein Jahr lang dienen mußten, bevor sie zu den eigentlich ausübenden oder thätigen Mitgliedern zählten, und die man chivatos (Ziegen) nannte, erhielten eine Geldentschädigung für Nahrung und Kleider; die Andern empfingen ein Drittel des Beutegeldes, während der Rest zur Hälfte in die allgemeine Casse floß, um Messen für die armen Seelen Verstorbener oder Gerichteter lesen zu lassen und um Gerichtsbeamte oder Gefangenwärter u. dergl. zu bestechen, die andere Hälfte aber dem Großmeister zufiel. Alle Brüder, hieß es in den Statuten, müssen lieber als Märtyrer sterben, als daß sie Verräther werden, und auch die weiblichen Theilnehmer des Bundes sind verpflichtet, diesem mit Leib und Seele zu dienen.

Eine besondere Sorgfalt verwandte man, um die Mitglieder zu ihren Ausführungen und Thaten gründlich geeignet zu machen und praktisch auszubilden. Sie erhielten Unterricht im Nachahmen der verschiedensten Thierstimmen; Nachts dienten besonders der [295] Ton der Grille, der Ruf des Uhus oder des Käuzchens, das Quaken der Frösche, oder das Miauen einer Katze, am Tage das Bellen eines Hundes oder andere Stimmen der das Leben und die Gewohnheiten der Menschen theilenden Thiere. Namentlich aber wurde den Novizen immer und immer wieder eingeschärft, daß das erste und Haupterforderniß bei allem Thun Schweigen sei, und der erste Artikel der Statuten lautete, daß Jeder mit gutem Auge, scharfem Ohre, flinken Füßen und „keiner Zunge“ Mitglied werden könne.

Eigenthümlich waren auch die Ceremonien, welche bei der Ausschließung eines Mitgliedes der Garduna beobachtet wurden. Dies geschah beispielsweise, wenn ein solches sich durch Mitleid oder einen andern Beweggrund veranlassen ließ, seinen Auftrag nicht oder nicht gehörig auszuführen. Eine solche Ausschließung wurde dadurch eingeleitet, daß bei einer der nächtlichen Versammlungen der Meister des Ordens oder dessen Stellvertreter, nachdem die Schuld des Betreffenden kund gethan war, das catalonische Messer, welches er gleich allen Anderen trug, oder seinen Dolch ergriff und, die Spitze auf den Boden drückend, sich kräftig auf die Klinge lehnte und sie so zerbrach. Die zerbrochenen Stücke händigte er dem Abtrünnigen ein, der ihm dagegen sein eigenes Messer zu übergeben hatte. Durch diesen Austausch war der Bravo degradirt und unwürdig geworden, ferner der Garduna-Brüderschaft anzugehören. Hierauf führte ihn der Meister vor das Madonnenbild, kniete dort mit ihm nieder und ließ ihn schwören, weder den Bund noch einen Theilnehmer desselben jemals zu verrathen – welcher Verrath übrigens mit dem Tode bestraft worden wäre. Nachdem der Ausgestoßene sich entfernt, begaben sich Alle nach der nächstgelegenen Kirche, um die heilige Jungfrau anzuflehen, daß sie ihnen bald ein neues Mitglied an Stelle des verstoßenen senden möge.

Auch ein Tagesbefehl fiel bei der im November 1822 erfolgten Auflösung der Garduna den Behörden in die Hände, aus dem wir folgende interessante Stelle hier wiedergeben:

„Ferner ist auszuführen eine Taufe (Dolchstich), mit sechs Dublonen bezahlt. Ein Canonicus bezahlt sie. Dieselbe soll morgen vor sechs Uhr Abends einem Confrater des Mandatars, der um diese Zeit die Brücke von Triana zu passiren pflegt, gegeben werden, damit der Getaufte nicht den Mitgliedern des Capitels die nothwendigen Besuche abstatten und um ihre Stimme bei der Wahl zum Dechanten werben kann. Sein Nebenbuhler hofft dadurch größere Aussicht zu erhalten. Wenn diese Taufe sich nach einigen Tagen in eine Beerdigung verwandeln könnte, so würde die Summe verdoppelt werden. Wohl verstanden, man muß mit Geschicklichkeit verfahren, damit die Wunde nicht augenblicklich tödtlich ist. Zu diesem Zwecke bedient man sich entweder eines feinen Dolches, oder einer spitzen Pfrieme, selbst eine dicke Sattlernadel genügt, um eine Wunde zu machen, die zehn bis zwölf Tage dauert und blutet. Uebrigens, wenn der Canonicus zum Dechanten gewählt wird, so kann unser Bund auf seinen Schutz rechnen, wie auch Seine Gnaden ausdrücklich versprochen.“

Es ist von Interesse, zu erfahren, daß unter diesen Bestellungen sich nahezu an 2000 befinden, welche seitens der Inquisition innerhalb eines Zeitraums von 147 Jahren bei dem Bunde gemacht wurden und ihm die Summe von 198,670 Pesetas eintrugen (ein Peseta ungefähr = 3/4 Mark). Dieselben bestanden zu ein Drittel aus Entführungen von Frauen; der Meuchelmord bildet ein zweites Drittel; Ertränkungen, Dolchstöße, falsche Zeugnisse etc. füllen den Rest. Seit dem Jahre 1667 wurden die Aufträge seltener; vom Jahre 1797 ab findet sich keine von einem Mitgliede der Inquisition gemachte Bestellung mehr vor in diesem Register.

Schließlich folge hier die Schilderung einer seitens der Garduna ausgeführten Entführung, wie sie zu Anfang dieses Jahrhunderts in einer großen Stadt Spaniens geschehen.

Die Glocke der Kathedrale hatte soeben die Mitternachtstunde verkündet, als ein kleiner Trupp der Garduna, der sich in dem Schatten der Pfeiler verborgen, sich geräuschlos von diesen loslöste, um an den verschiedenen Ecken des freien Platzes einzeln Posto zu fassen, während sich ein weibliches Mitglied der Bande in die Mitte des Platzes begab und sich bei den Orangenbäumen verbarg, welche den dort plätschernden Springbrunnen umgaben. In diesem Augenblicke hörte man leise Tritte, und eine weibliche Person näherte sich dem Springbrunnen und blieb dort stehen, indem sie wie suchend um sich blickte. Sofort trat die serena hinter dem Bosquet hervor und winkte ihr auf ihre hastigen Fragen Stillschweigen. Und plötzlich eilen, auf ein gegebenes Zeichen, von allen Seiten die Anhänger der Garduna geräuschlos herbei, fassen die zum Tode Erschrockene, der augenblicklich ein seidenes Tuch um den Mund gelegt wird, und tragen sie in einen am Eingange einer Seitenstraße haltenden Wagen, dessen Rollen Niemand vernehmen kann, da die Räder mit dickem Leder beschlagen sind und die Füße der vorgespannten Maulthiere Nachtsandalen aus Büffelleder und Werg tragen, die mit Riemen und Schnallen befestigt sind. Fort fährt der Wagen, dem die eine Hälfte der Entführer voran eilt, während die andere im stärksten Laufe folgt.

Ehe das Ende der Stadt erreicht ist, muß eine Brücke passirt werden, auf der eine Anzahl Sbirren sich postirt hat; dicht vor der Brücke gelingt es der Entführten, einen Schrei auszustoßen. Doch auch das rettet die Unglückliche nicht. Der Wagenlenker macht sofort Kehrt, um, so schnell die Maulthiere laufen können, davonzufahren, während die Begleiter sich den Sbirren entgegen werfen. Auf der nur von einigen Fackeln und Laternen erleuchteten Brücke entspinnt sich ein wüthender Kampf, und nach einigen Augenblicken sind die Sbirren bis an das Geländer zurückgedrängt. Da faßt auf einen von dem Führer der Verbrecher ausgestoßenen kurzen Ruf jeder derselben seinen Gegner mit unvorhergesehenem, raschem Untergriff um den Leib und stürzt ihn über das Brückengeländer hinab in den Guadalquivir. Eine Stunde später hält der Wagen vor den Thoren eines klosterähnlichen Gebäudes, und die Entführung ist geglückt.

Am andern Morgen meldet einer der Sbirren, der sich aus dem Flusse durch Schwimmen gerettet, das Geschehene. Aber alle Schritte, welche die Eltern zur Ermittelung des unglücklichen Kindes thun, sind vergebens. Lange Zeit danach erst wurde durch einen Zufall eine Spur entdeckt, die zur Lösung des Räthsels führte. Die Schönheit des jungen Mädchens hatte bei einem Kirchenbesuche die Blicke eines sehr wohlhabenden Wüstlings auf sie gezogen, und nachdem dieser vergebens versucht, auf anderem Wege sein Ziel zu erreichen, bediente er sich jener Verbrechersecte, und leider mit dem besten Erfolge. Eine gefälschte Einladung zu einem Rendezvous von bekannter Hand hatte das Opfer an den zur Ausführung ersehenen Platz gelockt.

Bei der Auflösung der Garduna im Jahre 1822 fiel durch Veröffentlichung ihrer Papiere und Schriften der Schleier so mancher Gewaltthat, so manchen Verbrechens; was lange Jahre hindurch unaufgeklärt und verborgen gewesen, wurde mit einem Male klar, und das Land athmete erleichtert auf, von einer so fürchterlichen Plage befreit zu sein.




Das neue Empfangsgebäude der Berlin-Anhaltischen Eisenbahn in Berlin.

Von dem rastlosen Streben und Wachsen der Industrie und dem hierdurch veranlaßten Aufschwunge der modernen Verkehrsmittel legt kaum etwas ein so glänzendes Zeugniß ab, wie die gewaltigen Bauwerke unserer Zeit. Ein solch mächtiges Monument der Betriebsamkeit wurde neuerdings in dem Empfangsgebäude der Berlin-Anhaltischen Eisenbahn in Berlin aufgerichtet, um demnächst seiner Bestimmung übergeben zu werden.

Die ursprünglich zum Betrieb einer Berlin-Sächsischen Eisenbahn von Potsdam über Riesa nach Leipzig im Jahre 1836 gegründete Privatgesellschaft verwandelte sich zwei Jahre später mangels Erlangung dieser Concession in die Berlin-Anhaltische Gesellschaft zum Bau einer Bahn von Berlin nach Cöthen. Bereits im Jahre 1841 wurde diese ganze Strecke eröffnet. Im Jahre 1848 wurde die Verbindung mit Dresden durch die Strecke Jüterbogk-Röderau hergestellt, und elf Jahre später wurden Bitterfeld, Halle und Leipzig in das Verkehrsnetz gezogen. Erst nach dem deutsch-französischen Kriege ließ sich die directe Verbindung zwischen Magdeburg und Leipzig durch Ausbau der [296] Strecke Zerbst-Leipzig bewirken, während durch die neue Route Wittenberg-Falkenberg ein Anschluß nach Kohlfurt ermöglicht wurde.

Die wirthschaftliche Bedeutung der Bahn wuchs stetig im Verhältniß zu dieser Ausdehnung: aus Oesterreich, Ungarn und Italien, aus Sachsen, Süddeutschland und Frankreich werden auf ihren Achsen Kohlen, Rohstoffe für die Industrie sowie Lebens- und Genußmittel verschiedener Art dem Consum der deutschen Reichshauptstadt zugeführt. Der Getreideverkehr wird durch mächtige Lieferungen aus Oesterreich und durch den Transport der ostpreußischen und russischen Waare nach Sachsen, Baiern und Thüringen repräsentirt. Eine nicht geringere Bedeutung hat die Anhaltische Bahn für den Personenverkehr. Und dieser glücklichen Conjunctur entsprechend, wuchs die Dividende der Actionäre zwischen 1842 und 1871 von viereinhalb auf achtzehneinhalb Procent, wogegen sie für das Jahr 1878 wieder nur fünf Procent ergab.


Der neue Anhalter Bahnhof in Berlin: Außenansicht.
Originalzeichnung von Neubauer.[WS 1]


Wie die Verwaltung der Anhaltischen Bahn seit über fünfundzwanzig Jahren mit der Geschäftsführung des großen, alle deutschen, österreichischen, ungarischen und holländischen, sowie viele belgische und russische Bahnen umfassenden „Vereins deutscher Eisenbahnverwaltungen“ betraut ist, so führt der an ihrer Spitze stehende Geheime Regierungsrath Fournier in dessen Generalversammlungen seit der gleichen Zeit in allgemein anerkannter Weise den Vorsitz. Da eine Verstaatlichung der Anhaltischen Bahn gegen eine vierprocentige Rente Ende 1879 abgelehnt und der Bahnerwerb seitens des Reiches überhaupt inzwischen vorläufig sistirt worden ist, so wird die bisherige Leitung noch auf längere Zeit in Thätigkeit verbleiben.

Nach dem Jahre 1870 waren die Einrichtungen der Anhaltischen Bahn dem ungeheuren Verkehrsaufschwung nicht gewachsen. Der Berliner Spott fiel mit seiner ganzen ätzenden Schärfe über die Betriebsstockungen, vor Allem aber über die klägliche Räumlichkeit des Empfangsgebäudes her. Die Praxis des Dividendensparens mußte endlich für eine Weile aufgegeben werden, und die Bahn hat ihren Ruf in glänzender Weise wiederhergestellt. Nachdem die Betriebs-Einrichtungen den Anforderungen entsprechend hergestellt waren, sollte die Vortrefflichkeit der inneren Ausstattung sich in der äußeren Pracht der Verkehrsräume spiegeln. Am Askanischen Platz, im südwestlichen Theile Berlins, nahe dem Hafen des Schifffahrtscanals, wo das verhöhnte arme und winklige Bahnhofsgebäude sich verschämt in der Ecke barg, steigt nunmehr in monumentalen Linien der mächtige Ziegelbau empor, erhebt sich stolz das neue Empfangsgebäude in seiner warmen tiefgelben Tönung.

Es war ein seltenes Glück, daß die Verwaltung einen hochbegabten Architekten, der seine junge, volle Kraft mit dem edelsten Eifer an die große Aufgabe setzte, in der Person des Baumeisters Franz Schwechten für ihre Zwecke zu gewinnen vermochte. Unter seiner künstlerischen Oberleitung, unter der Mitarbeiterschaft der Baumeister Sillich und Lantzendorf, sowie des Ingenieurs Seidel wurde ein Werk vollendet, das, trotz strenger baulicher Kennzeichnung des Zweckes, allen Anforderungen der Schönheit in bewundernswürdiger Weise gerecht geworden ist.

Die gegen Norden gewendete und dem Askanischen Platze zugekehrte Hauptfront des Bauwerkes ist, wie die übrigen Façaden, aus den gelben Verblendsteinen und Terracotten der Greppiner Werke hergestellt, welche nur an den Theilen, die dem Schlagregen ausgesetzt sind, durch Sandsteine, meist aus den Velpker Brüchen, ersetzt werden. Die Façade des mit einem flachbogigen Dach geschlossenen Hallenbaues, gekrönt von einer Statuengruppe „Der Weltverkehr“ des Bildhauers Hundtriefer, überragt die übrigen Baumassen dieser Front, und zwar gliedern diese Hallenfaçade neun schmale, nach den Seiten zu in ihrer Höhe regelmäßig abnehmende Rundbogenfenster, von zwei niedrigen Eckthürmen eingeschlossen, an denen je ein kreisrundes Relief des Bildhauers Litke, eines den Mercur, das andere die Ceres darstellend, die Façade ziert. Unter ihr aber lagert, vor der riesigen Halle, der eigentliche Frontbau des Bahnhofes mit einer Höhe von sechszehn Meter bei hundert Meter Breite. Auf granitenem Sockel lastet das Erdgeschoß in 4,6 Meter Höhe, über welchem sich das Hauptgeschoß, von vierzehn Rundbogenfenstern durchbrochen, erhebt. Die

[297] Mitte nimmt der bis zu einer Höhe von zwanzig Meter aufsteigende Vestibülbau ein, welcher durch beide Geschosse hindurchgeht; ihn krönt die mächtige Uhr, deren Seiten die vom Bildhauer Brunow modellirten Figuren des Tags und der Nacht, in Kupferniederschlag von Riedinger in Augsburg ausgeführt, einnehmen; drei kreisrunde Fensteröffnungen und die beiden Sandsteinreliefs des Bildhauers Geier „Ingenieurwissenschaft“ und „Architektur“ beleben ihn. Am Vestibül tritt wiederum die niedrigere Unterfahrt in einer Höhe von 11 Meter vor, welche sich gegen den Askanischen Platz mit drei Rundbogen öffnet. Von hier aus findet der Zutritt zu dem Bahnhofe statt, und zwar ist Raum für die gleichzeitige Vorfahrt von drei Droschken genommen.

Die Langseiten des Bahnhofes sind, wenn auch natürlich nicht mit so prächtiger Façade, wie die der Hauptfront, geschmückt, dennoch durch die mächtigen Bogenfenster der Halle, sowie durch die gemusterten Füllungen der breiten Pfeiler in anziehender Weise belebt.


Der neue Anhalter Bahnhof in Berlin: Die Verkehrshalle.
Originalzeichnung von Neubauer.[WS 2]


Nachdem wir die äußere Schönheit des Werkes in Augenschein genommen, betreten wir vom Askanischen Platze aus durch die Unterfahrt das Innere des Bahnhofs. Drei Thüren vermitteln den Eingang in das mächtige Empfangsvestibül, dessen Umfang 390 Quadratmeter beträgt. Die Großartigkeit in der Anordnung des ganzen Gebäudes offenbart sich hier sofort dem Beschauer, indem unmittelbar ein freier Einblick bis weit in die große Bahnhofshalle beziehentlich das Dachwerk derselben gewährt wird. Im Vestibül befinden sich links die sechs Billetschalter, während sich rechts der Raum für die Gepäckannahme anschließt. Das hier abgegebene Gepäck gelangt durch die überwölbten Schachte des Erdgeschosses auf Karren bis zu hydraulischen Aufzügen. Mittelst derselben werden die Güter zur Perronhöhe emporgehoben und sodann auf besonderen, zwischen den Abfahrtsgeleisen liegenden Gepäckperrons bis zu den für ihre Verladung bestimmten Wagen gekarrt. Durch zwei entsprechende Versenkungen an der linken Seite des Bahnhofs gelangt das von den Gepäckperrons der Ankunftsgeleise gekarrte Personengut der ankommenden Reisenden nach dem Tunnel und von dort zur Gepäckausgabe. Dieser sinnreichen Einrichtung zufolge wird die Belästigung der Reisenden durch das sonst übliche Hin- und Herstoßen der Gepäckkarren auf die glücklichste Weise vermieden.

Wir verlassen das Vestibül und dringen auf einem breiten, oben in zwei Arme sich spaltenden Treppenaufstieg zu der großen Corridorhalle, dem Vorraum zur eigentlichen Bahnhofshalle, empor. Dieses Foyer, welches eine Länge von 87 Meter erhielt, entfaltet, im Osten und Westen durch Kuppelräume mit Oberlicht abgeschlossen, eine ungemein imposante architektonische Wirkung. Es übertrifft die berühmte Vorhalle der Peterskirche zu Rom in der Länge um 15 Meter.

Von der Corridorhalle führen rechts wie links vier Thüren in den eigentlichen Kopfperron der Bahnhofshalle. Der ungeheure Raum, dessen Grundfläche fast derjenigen des Marcus-Platzes von Venedig gleich ist, liegt voll vor unseren erstaunten Blicken. Ueber uns wölbt sich die mächtige Rundung der Halle in ihrer bisher von keinem ähnlichen Baue erreichte Höhe von 34,25 Meter. Die 60,72 Meter betragende Breite des Raumes wird nur von der Sanct-Pancrasstation zu London und der Centralstation zu Birmingham übertroffen. Vor uns liegen in gerader Richtung die Schienenstränge für die einlaufenden und abgehenden Züge und an denselben die zwei Seiten- und zwei Mittelperrons für die ein- und aussteigenden Reisenden. Es ist ermöglicht, daß hier zu gleicher Zeit sechs verschiedene Personenzüge, und zwar vier abgehende und zwei einlaufende, Aufstellung finden können.

Auf der rechten Seite des Kopfbaues befinden sich für das abreisende Publicum Wartesäle von mächtiger Ausdehnung, an welche sich die Räume für die Telegraphie, für die Stationsbeamten, sowie die Empfangssäle für den kaiserlichen Hof anschließen. Auf der linken Seite öffnet sich mit drei Thüren das 300 Quadratmeter große Ausgangsvestibül für die angekommenen Reisenden. Neben demselben ist durch Einrichtung eines Wartesaals für das auf die Ankommenden wartende Publicum einer sonst selten berücksichtigten Forderung Rechnung getragen. Hier [298] schließen sich, außer kleineren Räumlichkeiten für die Benutzung des kaiserlichen Hofes bei seiner Ankunft, noch Säle, welche vorläufig für Verwaltungszwecke bestimmt sind, an. Der Kopfperron quer vor den Schienen selbst, welcher uns zuerst aufnahm, soll für den Sommerverkehr als Aufenthaltsraum für das abreisende Publicum benutzt und dementsprechend mit Sitzplätzen und Tischen ausgestattet werden. Sogar einen in unglaublicher Weise gesteigerten Verkehr würde dieser riesige Raum mit seinem Umfange von 900 Quadratmeter – nur 270 Meter weniger, als der weltberühmte große Gürzenichsaal in Köln – bewältigen können.

Auch die Längswände der inneren Bahnhofshalle bieten, vom Kopfperron aus betrachtet, ein ebenso eigenartiges wie eindrucksvolles Bild. Dieselben werden in Zwischenräumen von je 14 Meter (Achsweite) – statt der meist üblichen einzelnen Wandpfeiler – durch eine Anzahl von Doppelpfeilern unterbrochen, auf welchen die eisernen Gewölbeträger, zu zweien gekuppelt, aufsetzen; inmitten je zweier Doppelpfeiler, deren Lücke durch Terracottaplatten verkleidet ist, erheben sich die hohen, sieben Meter breiten Hallenfenster. Diese Anordnung giebt ein unterscheidendes Merkmal von derjenigen der übrigen Berliner Hallen ab, bei welchen die Entfernung der einzelnen Bänder höchstens 7,5 Meter beträgt, und steigert durch ihren mächtigen Maßstab den großartigen und edlen Eindruck der Halle. Ebenso erhöht ein sehr eigenartiger Raum über der großen Corridorhalle den monumentalen Charakter des Bahnhofes: eine Loggia von riesigen Dimensionen, welche, nach innen geöffnet, auf den Kopfperron herabblickt.

Ueber die innere Einrichtung der Räumlichkeiten zu berichten, ist vor deren Fertigstellung unmöglich: daß dieselbe der großartigen Anlage des Werkes entsprechen wird, verbürgt unzweifelhaft der vornehme Sinn und vollendete Kunstgeschmack des Baumeisters.

Es erübrigt noch, einige Daten über die Kosten des Baues anzugeben: für den Innenbahnhof ist ein Aufwand von 6,300,000 Mark erforderlich gewesen. Hierzu treten weitere 7,200,000 Mark für den Güterbahnhof, während die Kosten des Rangirbahnhofes und der Werkstatt 1,500,000 beziehungsweise 3,000,000 Mark betrugen. Die letzteren beiden Anlagen befinden sich auf der Tempelhofer Feldmark, im Süden der Stadt. Sobald der Personenbahnhof zur Benutzung gelangt, werden auch die bisher gesperrten Strecken der großen äußeren Ringstraße von Berlin – der Bülow- und York-Straße, dem Verkehr übergeben werden. Dieselben sind unter der Anhaltischen, Potsdamer und Dresdener Bahn hindurchgeführt. Zwei andere Straßen, Monumenten- und Colonnen-Straße, sind auf mächtigen Brücken über die Anhaltische Bahn herübergeleitet.

So ist mit einem allerdings ansehnlichen Kostenaufwand ein Werk geschaffen worden, welches in gleicher Weise den Meister, der es vollendet, wie die Männer, die ihn erwählten, ehrt.




Erinnerungen an Ludmilla Assing.
Von Rudolf von Gottschall.

Die Kunde der plötzlichen Erkrankung und des Hinscheidens von Ludmilla Assing hat nicht blos deren Freunde in Deutschland schmerzlich überrascht, auch in Italien hat sie in weitesten Kreisen jene Sympathien zum Ausdruck gebracht, welche sich die Schriftstellerin in ihrem Adoptivvaterlande erworben hat.

Noch im Herbst 1878 hatte ich Ludmilla Assing auf ihrer Villa in Florenz besucht. Diese Villa, die nicht blos auf eine freundliche Villeggiatur eingerichtet, sondern ein stattliches Gebäude ist, liegt an der Via Luigi Alamanni, hinter der alten Dominikanerkirche Santa Maria Novella in der Nähe des nördlichen Bahnhofs.

Sie ist von allen Seiten von einem Garten umgeben, welcher die Flora des Südens in üppiger Fülle und Mannigfaltigkeit zeigt; die Besitzerin hat diese Bäume alle selbst gepflanzt, die, mit südlicher Trieb- und Lebenskraft emporgewachsen, ihr jetzt den willkommenen Schatten gaben. Aus ihrer Studirstube führte eine Treppe hinunter in den Garten, zu ihren schattigen Lieblingsplätzchen. Schwere Vorhänge und Jalousieen wehrten nach italienischer Sitte die Sonnenhitze ab, wenn sie oben sich ihren Studien hingab. Repositorien mit den ausgewählten Werken deutscher Schriftsteller, meistens Erbstücke aus der Bibliothek Varnhagen’s, reichten überall bis hoch an die Decke hinan; ein Bücherschrank aber war das Allerheiligste in diesem Gemach; er enthielt den noch unveröffentlichten manuscriptlichen Nachlaß Varnhagen’s – eine Mappe neben der andern, und in jeder Blatt an Blatt gereiht in der saubersten Ordnung, wie sie Varnhagen liebte, alle Notizen mit jener Perlschrift abgefaßt, welche zu den Vorzügen des geistreichen Diplomaten gehörte.

Einige dieser Mappen waren eine biographische Encyklopädie der Zeitgenossen; alphabetisch geordnet lagen die Fascikel übereinander, und in jedem zunächst von Varnhagen’s Hand biographische Notizen und kurze, oft scharfe Kritik, dann allerlei handschriftliche Reliquien, Briefe, Gedichte, Aufsätze. Ich selbst fand in diesem Register der Santa Casa Gedichte von mir, die für mich längst verschollen waren und von deren Existenz ich nichts mehr wußte.

In der That, was ist das biblische Oelkrüglein der Wittwe gegen den unerschöpflichen Varnhagen’schen Nachlaß? Varnhagen war ein Sammler, wie es keinen zweiten giebt. Dazu gehörte nicht blos Fleiß und Ordnung, dazu gehörte ein in der Gegenwart fast ausgestorbener Sinn, das Interesse für die einzelne Persönlichkeit, ihre eigenartige Bedeutung, ihr ganzes Sein und Werden, Wer giebt sich heutigen Tags noch Mühe mit solchen Charakterstudien? Man mißt und schätzt die Menschen in Bausch und Bogen: fast scheint es, daß sie auch uninteressanter geworden sind. Ein paar Heroen in plastischer Größe; alles andere nur Reliefbilder an ihren Piedestalen! Damals machten die Einzelnen, auch wenn sie nicht ihre Namen auf den prunkenden Aushängebogen der Fama lasen, Anspruch auf geistige Bedeutung. Wie viele Werke sind aus Varnhagen’s Zauberschranke bereits durch die fleißige und pietätvolle Vermittelung der Besitzerin an’s Licht hervorgetreten! Mir war’s, als hörte ich darin ein Rumoren wie in dem Davenport’schen Schrank; denn wie viele Lärmgeister der Chronik sind dort noch gebunden!

Ich ließ sie an mir vorüberziehen, die Schriften aus Varnhagen’s Nachlaß, die bereits der Oeffentlichkeit übergeben. Humboldt’s Briefe an Varnhagen, sowie die Gespräche des Gelehrten und Diplomaten, ein Werk, das so großes Aufsehen erregt hatte; denn sie hatten alles ausgeplaudert, was sie auf dem Herzen hatten, und beide waren sonst so discret und zugeknöpft. Varnhagen’s Tagebücher, die Chronik des Berliner oeil de boeuf, dreizehn Bände, bald vornehm und geistig bedeutend, bald heinisirend plauderhaft und spöttisch, überreich an Mittheilungen, die zum Theil dem revisionsbedürftigen Tagesklatsch, zum Theil der unparteiischen Weltgeschichte angehörten; alle die Briefe von Chamisso, Stein, Bettina, Staegemann und Anderen, die in verschiedenen Sammlungen erschienen, meistens mit scharfen Portraitvignetten von der Feder Varnhagen's oder der Herausgeberin, zuletzt alle die Briefsammlungen, die dem Cultus der Rahel gewidmet waren, oder vielmehr, welche uns die Rahel selbst geben; denn sie war ja nie eine Schriftstellerin von Fach; sie lebt ja nur in ihren Briefen.

Und trotz aller dieser Veröffentlichungen ein immer noch gefüllter Schrank, ein unverzehrbarer Vorrath aufgespeicherter Memoiren! Der Eifer der Verleger, die Theilnahme des Publicums mußten allmählich ermüden, solchem Reichthum gegenüber, der für die Geschichte und Culturgeschichte von unschätzbarem Werthe ist. Auch Ludmilla Assing schien die Geister nicht mehr bannen zu können, die ihr Onkel heraufbeschworen und ihrer Obhut anempfohlen hatte. Wir sprachen davon, daß sie diese Schätze einer Bibliothek einverleiben möchte, und in der That erfahre ich, daß sie dieselben jetzt testamentarisch der königlichen Berliner Bibliothek überlassen hat, unter der Bedingung, daß dieselbe als Varnhagen-Sammlung aufgestellt und für den öffentlichen Gebrauch bestimmt bleibe. Würde aber die Berliner Bibliothek das testamentarische Geschenk nicht annehmen, so sollte es der Züricher Bibliothek zufallen.

Zu diesen Manuscripten gehört auch der noch nicht veröffentliche Nachlaß des Fürsten Pückler-Muskau. Der Fürst war ein Freund Varnhagen’s, ihm verwandt in geistiger Regsamkeit, [299] in unbeschränkter Aneignungsfähigkeit, obschon mehr geneigt, sich selbst als Hauptperson zu betrachten und seine geistreiche Persönlichkeit in den Vordergrund zu stellen. Er war ein alter Bekannter Ludmilla’s, und als er die Gewissenhaftigkeit sah, mit welcher diese Schriftstellerin für den Varnhagen’schen Nachlaß Verleger suchte, gewann und festhielt, und die verständnißvolle Art, mit welcher sie denselben herausgab und mit geistvollen Einleitungen und Bemerkungen versah, hielt er es für das Beste, ihr auch seinen Nachlaß zum Zweck der Herausgabe zu vermachen. Doch für Semilasso, einen gefeierten Helden der jungdeutschen Epoche, herrschte nicht mehr ein so ausgiebiges Interesse, daß für einige zwanzig Bände seines Nachlasses sich ein Verleger gefunden hätte. Gleichwohl vermochte die Herausgeberin noch neun Bände buchhändlerisch unter Dach und Fach zu bringen. Dem Fürsten selbst widmete sie eine geistreich geschriebene Biographie, welche das Lebensbild desselben ohne Verschleierung für die Zeitgenossen und die Nachwelt fixirte. In vieler Hinsicht war der Fürst eine problematische Existenz und huldigte besonders der Freigeisterei der Leidenschaft in rücksichtsloser Weise. Die Auflösung seiner Ehe mit der Gräfin Hardenberg, mit gegenseitiger Zustimmung, nur um ihm die Möglichkeit einer Geldheirath zu sichern, sowie der afrikanische Liebesroman, dessen Heldin die Abessinierin Mechbuba ist, sind die auffallendsten Episoden seines Lebens nach dieser Seite hin. Lord Byron war ihm leuchtendes Vorbild, doch diese Epoche, in welcher geniale Ausnahmenaturen, wie Fürst Pückler, eine Rolle spielen konnten, ist vorübergegangen.

Ludmilla Assing war ein Hamburger Kind; ihre Mutter war Rosa Maria, Varnhagen’s Schwester, eine begabte Dichterin, die mit Chamisso und anderen Poeten in regem Verkehr stand, ihr Vater ein tüchtiger Arzt. Auch über diese von geistigen Interessen beseelte Häuslichkeit hat sie Actenstücke gesammelt, die sie in letzter Zeit zu veröffentlichen wünschte. In Elmsbüttel bei Hamburg, bei Verwandten, brachte sie oft den Sommer zu, auch zur Zeit, da Varnhagen sie schon nach Berlin zu sich genommen hatte. Wie oft bin ich damals mit Feodor Wehl, dem jetzigen Intendanten des Stuttgarter Hoftheaters, hinausgewandert in die Elmsbütteler Idylle, wo wir in dem großen schönen Garten der Wolff’schen Villa über Literatur und Politik plauderten oder auch der Nichte Varnhagen’s für ihr Album saßen, in welches sie unsere Köpfe mit kunstverständiger Hand einzuzeichnen suchte.

Eine andere Etappe unseres Verkehrs bildete der Varnhagen’sche Salon in der Mauerstraße in Berlin; es war ein Salon der guten alten Zeit, der in der Epoche der lärmenden Gastereien längst auf den Aussterbe-Etat gesetzt ist. Gleichwohl fanden sich dort nicht ästhetische Theekränzchen zusammen, sondern er war mehr ein bureau d’esprit, in welchem über alle Tagesfragen in lebendigen Gesprächen verhandelt wurde; Politik und Literatur nahmen das gleiche Interesse in Anspruch.

Ludmilla war hier die Aufgabe zugefallen, als die präsidirende Dame des Hauses die Traditionen der Rahel fortzupflanzen, und wenn sie sich auch in Bezug auf die Tiefe sibyllinischer Offenbarungen nicht mit Rahel messen konnte, so kam sie ihr doch gleich an aufgeschlossenem Sinn für Alles, was der Tag brachte, an geistvoller Lebendigkeit der Unterhaltung. Sterne erster Größe, wie Alexander von Humboldt, waren bei Varnhagen oft zu finden, ebenso Fürst Pückler, auch die Autoren des jungen Deutschlands, Theodor Mundt, Karl Gutzkow, Heinrich Laube, wenn die beiden Letzteren in Berlin sich aufhielten, ferner jüngere Schriftsteller, wie Max Ring und Andere. Ein Stammgast des Salons war Freiherr Sternberg: mit seiner schlanken Gestalt, seinen edelgeschnittenen Zügen war der kurländische Baron eine Erscheinung, die bei dem ersten Anblick schon die Theilnahme erregte. In der Regel war er während des Gesprächs damit beschäftigt, diesen oder jenen Charakterkopf aus der Zahl der Anwesenden auf ein Blatt Papier hinzuwerfen. Varnhagen selbst handhabte mit Meisterschaft die Silhouettenscheere, welche mit derselben Gewandtheit wie die Feder des Biographen die Profile hervorragender Persönlichkeiten in scharfgeschnittenen Umrissen festzuhalten verstand.

Ein andrer Berliner Salon, in welchem ich oft mit Ludmilla Assing zusammentraf, war derjenige der Gräfin Ahlefeld. Die Freundin Immermann’s, die Wittwe des Führers der Lützow’schen Freischaaren, war in jeder Hinsicht eine distinguirte Persönlichkeit von geistig vornehmem Wesen: sie hatte einen Zug von ästhetischem Hohenpriesterthum. Wenn auch bei ihr vorzugsweise die Dichtung ein Asyl fand, so durfte man auch hier nicht an die flachen schöngeistigen Cirkel Berlins denken. Palleske las hier Shakespeare’sche Dichtungen, wir jüngeren Autoren trugen unsere eigenen Dramen vor; wir durften auf das feinste Verständniß rechnen und waren bei allen Stellen, die wir nach unserem Gefühl für gelungen hielten, der lauten Zustimmung der Gräfin und ihrer Freundin gewiß. Ein Denkmal dieser Freundschaft ist die Biographie der Gräfin Ahlefeld, welche Ludmilla im Jahre 1853 herausgab und welche uns das Bild eines interessanten und vielbewegten Lebens entrollt. Einzelne Episode desselben, wie die Freundschaft mit Immermann, gaben ihr Anlaß zu psychologisch feiner Darstellung. Auch das Werk der Ludmilla Assing über „Sophie von La Roche, die Freundin Wieland’s (1859) trägt das Gepräge einer Darstellungsgabe, welche ein fein retouchirtes Gesammtbild eines Charakters ausführt.

Im Herbste des Jahres 1878 besuchte ich Ludmilla Assing zum letzten Male in Florenz, wo ich sie schon im Jahre 1863 bei meiner ersten italienischen Reise aufgesucht hatte. Die dauernde Ansiedelung Ludmilla Assing’s im Auslande war die Folge der Verurtheilungen, die sie sich durch die Herausgabe der Varnhagen’schen Tagebücher in den Berliner Preßprocessen zugezogen. Seitdem hatte sie sich ganz in Italien eingelebt, im Einklang mit den strebenden Geistern der Nation, eine italienische Patriotin, welche der Einheitsbewegung mit Begeisterung folgte und besonders für Mazzini große Bewunderung hegte. Zu ihren nächsten Freunden gehörte der früh verstorbene Pietro Cironi, einer der feurigen Patrioten, dem sie auch einen literarischen Denkstein in einer Biographie gesetzt hat. Seitdem sie die Villa gekauft, die sie jetzt ihren mazzinistischen Freunden im Testament vermacht hat, konnte sie eine geistreiche Geselligkeit nach dem Berliner Vorbild pflegen. Ich fand in ihren Salons, außer dem deutschen Consul, eine große Zahl italienischer Journalisten, Publicisten, Künstler, auch Vertreter vornehmer Gesellschaftskreise; sie bildeten eine Art von internationalem Mittelpunkt, und wie tief gerade in Florenz diese Interessen wurzeln, beweisen wohl die beiden hier erscheinenden italienischen Revuen: „Rivista internazionale“ und „Rivista Europea“, welche beide der deutschen Literatur eingehende Beachtung schenken, häufig Artikel aus deutschen Zeitschriften, besonders „Unsere Zeit“, übersetzen und jedes Heft derselben auf das Genaueste analysiren.

In dieser Villa spielt auch der kurze Liebes- und Ehe-Roman, welcher in deutschen Blätten so viel Staub aufgewirbelt hat. Ludmilla vermählte sich mit dem jungen Bersagliere-Officier Grimelli in der Ueberzeugung, daß die Bewunderung, die er für ihre geistige Begabung und ihre Leistungen hegte, für den großen Unterschied des Lebensalters einen ausgleichenden Ersatz bieten werde. Diese Ueberzeugung erwies sich als trüglich.

Die Kluft war nicht auszufüllen; Grimelli begann allmählich, sich seiner älteren Lebensgefährtin vor seinen Cameraden zu schämen. So mußte die Ehe wieder getrennt werden; das Gerücht schmückte diese Scheidungsgeschichte in abenteuerlicher Weise aus. Ludmilla Assing hat mir alle Briefe Grimelli’s vorgelegt: es war zur Zeit, als in Deutschland jene falschen Gerüchte verbreitet wurden. Der Bersagliere-Officier bewahrte zu jeder Zeit seinen Respect vor den hohen Geistesgaben seiner Gattin, ja er gab demselben oft einen überschwänglichen Ausdruck. In finanzieller Hinsicht hatte sich Frau Assing-Grimelli ihr gutes Recht gewahrt und blieb hierin auch allen Vermittelungsversuchen unzugänglich.

Grimelli wurde Publicist in Piacenza und später in Livorno. Meinungsverschiedenheiten führten zu Mißhelligkeiten und zu Duellen mit anderen Redacteuren, und Grimelli endete durch Selbstmord, wie es scheint, weil sein Benehmen in einem Ehrenhandel den Conflict mit den anderen Publicisten noch schärfer auf die Spitze getrieben hatte.

So hatte die Villa der Via Luigi Alamanni ihre Tragödie, und eine zweite sollte ihr auf dem Fuße folgen. Ludmilla Assing verfiel in Folge einer Entzündung der Hirnhäute dem Irrsinn und mußte in die Irrenanstalt von San Bonifazio gebracht werden, wo sie in bewußtlosem Zustande ihre letzten Lebenstage verbrachte. War ihre Krankheit die Folge angestrengter Geistesarbeit? Sie war voll unermüdlicher Thätigkeit, und wenn sie ordnend, sammelnd, durch Abfassung von Einleitungen, durch [300] Hinzufügen von Bemerkungen sich ermüdet hatte, so las sie in der Laube ihres Gartens mit dem greisen Advocaten Campanella, einem Freund Mazzini’s, die italienischen Classiker. Ich hielt sie stets für gesund und zu einem hohen Alter berufen; nur einmal wurden mir hierüber Bedenken wach. Es war im Campo Santo von Pisa; wir bewunderten die Freskenbilder von Andrea Orgagna und die Tempera-Wandbilder von Benozzo Gozzoli, welche diesen Corridorumgang schmücken: da glitt meine Begleiterin auf einer der Stufen aus, welche plötzlich und unmerklich in diesen Corridoren auf- und niederführen. Diesem Ausgleiten folgte alsbald eine Ohnmacht. War dies ein böses Vorzeichen, die Ohnmacht in dem Campo Santo, wo sich 600 Gräber unter dem Marmor des Fußbodens befinden? War es eine Mahnung aus der Tiefe, welche das herandrohende Loos des Todes voraus verkündete?

Das traurige Schicksal von Ludmilla Assing erinnerte mich an eine andere deutsche Schriftstellerin, die auch in Italien lebte und auch, nachdem sie einen italienischen Officier geheirathet hatte, im Irrenhause gestorben ist. Auch sie besaß eine Villa, und zwar dicht bei Stresa, unmittelbar an den reizenden Ufern des Lago Maggiore. Vom Altan derselben sah man auf die gegenüberliegenden – Borromeischen Inseln und tief hinein in die Geheimnisse der Alpenwelt, auf die Gipfel, welche die Pässe des Simplon und Sanct Gotthard bilden. Auch sie war lebensfrisch, als ich sie besuchte; noch sehe ich ihre schlanke, hohe Gestalt unter den immergrünen Cypressen und Magnolien auf den Terrassen der Isola bella – und nicht allzu lange darauf kam die Kunde ihres Todes. Es war die Wittwe des preußischen Gerichtsrathes Boigtel, die unter dem Namen Arthur Stahl geistvolle spanische und ägyptische Reisebilder verfaßt hat und als Verfasserin eines viel zu wenig gekannten Romans. „Die Tochter der Alhambra“, auch in unserer Literatur Anspruch auf gerechte Beachtung sich erworben hat.

Als ich mit Ludmilla Assing über das Schicksal der schriftstellerischen Collegin sprach, als wir beide dasselbe tief beklagten, da ahnten wir nicht, daß schon, ehe zwei Jahre vergangen, die Chronik der Zeitungen von ihr selbst ganz das gleiche Trauerloos berichten würde. Sic eunt fata hominum.




Blätter und Blüthen.





Die ersten Pioniere der Weltstraßen. Beinahe zu gleicher Zeit, als die Kunde von der erfolgten Durchschlagung des St. Gotthard-Tunnels in alle Welt ging, sanctionirte Oesterreichs Parlament den Bau der Arlbergbahn und damit die Herstellung eines Tunnels, der, was Großartigkeit der Anlage betrifft, ein würdiger Rivale zu dem jetzt der Vollendung nahenden St. Gotthard-Tunnel zu werden verspricht. Weltstraße auf Weltstraße!

Das läßt mich an einen herrlichen Morgen des letzten Spätsommers lebhaft zurückdenken, an welchem ich, vom Rigi kommend, die unvergleichliche Axenstraße am Urnersee entlang nach Altdorf fuhr. Ueberall regte es sich ameisenhaft, endlose Züge jener piemontesischen Steinarbeiter, deren Ruf als Felsenbezwinger unseren Erdtheil seit Jahrzehnten erfüllt, zogen vorüber. Dampfboote, vor Schleppkähne gespannt, und urstämmige Frachtwagen schafften den Proviant für die Minen, den unvermeidlichen Dynamit, herbei, durch schwarze Fahnen die Gefahr, welche sie in sich bargen, kennzeichnend – ein Bild des Todes, im Gegensatz zu dem lebensvollen fröhlichen Arbeitergetümmel. Auf dieser Vortrace zum St. Gotthard-Tunnel gab es hauptsächlich Tagessprengungen; bald sah ich im Verlaufe der Fahrt überall an der linksseitigen Berglehne entlang Minen aufblitzen, und der lang anhaltende grollende Donner rief in den Bergschluchten unzählige Echos wach. Die Zahl der am Wege gelegenen Wirthshäuser, Ambulancen, Cantinen und Osterien hatte sich, dem gesteigerten Bedürfniß entsprechend, unglaublich vermehrt; denn in den Mußestunden, da die Sprengungen stattfinden, suchen sich die Italiener gern die zur Ausübung ihres anstrengenden Berufs nöthige Stärkung in einem Fläschchen vino d’ Asti. Leicht fand sich Gelegenheit, mit einigen Partienführern der Steinvernichter ein Gespräch anzuknüpfen. Es waren ergraute Piemontesen, sehnige, wetterfeste Figuren, aber die Augen noch des italienischen Jugendfeuers voll.

„Sehen Sie,“ erklärte mir der Eine, übereinstimmend mit seinem Gefährten und wahrscheinlichen Geschäftstheilhaber „wir sind alt geworden in unserem wahrlich beschwerlichen Berufe, aber wir denken trotz alledem nicht an Ruhe und Genießen, obschon wir Jeder ein kleines Capital uns erspart haben. Wir fingen beim Bau des Semmering an und vollendeten dann die Karststrecke vor Triest. Den Brenner zu bewältigen, wurde unsere nächste Aufgabe, und kaum war dieser fertig, als wir die Arbeiten am Mont Cenis-Tunnel begannen. Diese Aufgabe bleibt uns als die liebste in der Erinnerung; denn sie galt der theuren Heimath. Hierauf folgten wir dem Rufe der Suez-Canal-Unternehmung – wohl nicht so schwierig, wie die europäische Felsekämpfe – aber es war wirklich keine Kleinigkeit für uns, unter Afrikas Sonne zu arbeiten. Erlagen doch bisweilen die Eingeborenen dem mörderischen Klima und der Arbeit früher, als unsere eigenen Landsleute. Dann nahmen wir Spaten und Hacke, sagten den Ufern des Nils Ade und zogen zur Donau-Regulirung nach Wien, und jetzt sehen Sie uns hier am Gotthard. Zum nächsten Frühjahr müssen wir fertig werden. Und wir tummeln uns jetzt bei der Arbeit doppelt; denn sonst könnten wir den Panama-Canal oder drüben im Vorarlberg den Arlberg-Tunnel versäumen, von denen mit Bestimmtheit verlautet, daß sie nächstes begonnen werden. Insbesondere reflectiren wir auf den Gebirgsdurchschnitt zwischen den beiden großen Weltmeeren. Herr Lesseps braucht für sein Unternehmen geschulte Arbeiter, und wir haben Vertrauen zu ihm, wie wir auch wissen, daß er seit der Probe in Aegypten solches zu uns hat. Ohne uns,“ fuhr der graubärtige Mann fort, „darf der Panama-Canal nicht fertig werden, und wir setzen unsere Ehre darein, nicht zu ruhen und zu rasten, so lange es solche Aufgaben zu bewältigen giebt.“

Ich drückte mein Erstaunen und meine Theilnahme aus, daß sich die Leute ein so fernes Arbeitsziel wie den Durchstich Centralamerikas als nächstes Object ihrer Thatkraft ausersehen hatten. „Unser Beruf ist kein gewöhnlicher,“ erhielt ich zur Antwort, „täglich, ja stündlich schauen wir dem Tod in das Angesicht; Orden und Ehrenzeichen giebt es für uns nicht; deshalb folgen wir dem Rufe, der uns in unserem bescheidenen Leben den größten Nutzen in Aussicht stellt.“

Und in der That leben diese Leute ihrer Leistung gegenüber kärglich, wie nicht leicht der Arbeiter einer anderen Nationalität, dafür danken sie ihrer Genügsamkeit Ersparnisse, wie wir sie bei unsern Arbeitern beispielsweise vergeblich suchen würden.

Die Zeit zur Wiederaufnahme der Arbeit war gekommen; die Mineurs hatten ihre Schuldigkeit gethan, und auch ich mußte an den Aufbruch denken. Ich drückte den wackeren Männern die rauhe Hand und wünschte ihnen Glück bis zum Ende ihrer dornenvollen, wohl nur von wenigen ihrer Mitmenschen nach Verdienst gewürdigten Laufbahn.

Z-r






Als Nachtrag zu „Die Sparteriewaaren-Erzeugung“ geht uns folgende Mitteilung zu. „Ihre Zeitschrift enthält in Nr. 9 eine Beschreibung der Sparteriewaaren-Erzeugung, an welche anschließend noch zu erwähnen ist, daß auch in dem Orte Zeidler in Böhmen die Sparteriewaaren-Erzeugung einer großen Anzahl Familien das tägliche Brod bietet; es ist besonders die Firma Joseph Lindner in Zeidler, die hierin Hervorragendes leistet, sodaß deren Erzeugnisse bei der Weltausstellung 1878 zu Paris von der internationalen Jury diplomirt, mit der großen silbernen Medaille prämiirt und von Fachblättern lobend hervorgehoben wurden. Joseph Lindner, dessen Firma auch in Ebersbach in Sachsen ein Zweigetablissement aufzuweisen hat, besitzt ein Patent zur Erzeugung von Sparteriegeweben mit imitirten und echten Gold-, Silber- und Wollfäden, aus denen verschiedenartige Luxus-Cartonnagen, sowie moderne Hüte für Kinder, Damen und Herren etc. sowohl von genannter Firma, wie von auswärtigen Geschäftshäusern gefertigt werden.“

Diesem Nachtrage fügen wir noch die Notiz bei, daß auch das Gemeindeamt von Alt-Ehrenberg officiell erklärt, „die Erzeugung der Sparteriewaaren sowohl in Platten, wie in daraus verfertigten Herren- und Damenhüten in jeder gewünschten Form habe schon vor der Niederlassung der Firma A. Rueff u. Comp. dortselbst auf der jetzigen Höhe gestanden, und sei der Vertrieb durch die Kaufleute Endler und Liebisch in Nixdorf und J. Hoßner in Schluckenau vermittelt worden.“ Daß die drei Letztgenannten in einer besonderen Zuschrift gegen die wider sie erhobenen Beschuldigungen sich verwahren, sei hier ausdrücklich constatirt.

D. Red.






Berichtigung. In unseren kleinen Artikel. Die telegraphische Verbindung mit in Bewegung befindlichen Eisenbahnzügen (Blätter und Blüthen von Nr. 16) hat sich ein sinnentstellender Druckfehler eingeschlichen, den wir hiermit berichtigen. Man lese dort in der sechsten Zeile vor Schluß des Artikels nicht. „in gleicher, aber entgegengesetzter“ sondern: „in gleicher oder entgegengesetzter Richtung“!




Kleiner Briefkasten.


Ch. J. Th. in München. Sie wünschen in der „Gartenlaube“ „Anleitungen für Anfertigung mikroskopischer Präparate“ zu finden. Wir fürchten aber, daß solche Mittheilungen für die große Mehrzahl unserer Leser nicht erwünscht sein würden, und möchten Sie daran erinnern, daß in den zahlreichen Specialwerken über das Mikroskop von Willkomm, Frey, Harting, Schacht, Dippel, Hager etc. vielfach Winke dieser Art enthalten sind.

Herrn Justus Ebhardt in Rom. Ihre Beschwerde darüber, daß der Stahly’sche Artikel „Ostern in Rom“ (Nr. 13 unseres Blattes) nur ein Capitel Ihres uns damals noch unbekannten vortrefflichen Buches „Menschen und Dinge im heutigen Italien“ (Leipzig, Reißner und Ganz) umschreibe, ohne diese Quelle anzugeben, ist leider nur allzu berechtigt; wir sprechen Ihnen an dieser Stelle unser aufrichtiges Bedauern über die von Herrn Stahly begangene literarische Freibeuterei aus, an welcher wir selbst natürlich völlig unschuldig sind.

G. A. - G. Clausius in Berlin. Ungeeignet! Verfügen Sie über das Manuscript!

Wilhelm F-st in Wien. Geben Sie Ihre volle Adresse an!

E. K. in W. Nicht geeignet und deshalb vernichtet.

Anmerkungen (Wikisource)