Die Gartenlaube (1887)/Heft 10
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No. 10. | 1887. | |
Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. — In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. — In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 25 Pfennig.
Am andern Morgen saß Hortense dem Mädchen gegenüber
in ihrem kleinen Stübchen. Lucie hatte Kaffee und Buttersemmel
herzugebracht, aber die junge Frau genoß nur wenig;
sie zog fröstelnd das Tuch um ihre Schultern und sagte. „Wie
hältst Du es aus hier, Lucie?“
Das Mädchen sah sie still an.
„Und – wirklich, Du willst hier bleiben?“
Noch war kein Wort über das jüngst Geschehene zwischen ihnen gefallen. Als Hortense aus dem Koupé stieg, hatte sie gleich gesagt. „Fang’ jetzt nicht davon an; in Deinem Zimmer werde ich Dir Alles erzählen.“ Und Lucie schwieg demgemäß völlig. Jetzt antwortete sie nur:
„Nein, ich bleibe nicht hier!“
„Nicht hier?“ fragte Hortense. „Ja, wie soll ich das verstehen? Was willst Du thun?“
„Das weiß ich noch nicht, aber hier bleibe ich nicht.“
„Dann bleibst Du bei mir. Entweder – oder! Etwas Anderes als dieses Beides giebt es doch nicht?“
„Bei Dir – –?“
„Ja, Lucie!“ Hortense war aufgestanden und umarmte sie. „Ich glaubte es nicht, daß Du wieder zu mir kommen würdest, ich dachte, Du würdest Dich jetzt fanatisch auf den Haushalt und die Kinder stürzen – um Dein Gewissen zu beruhigen. Desto besser! Ich kann Dich weniger als je entbehren.“
„Du? Ich meine, Du wirst bald heirathen?“
„Eines schönen Tages einmal, ja!“
„Nun also!“
„Also? – Was geht das Dich an, uns an?“ Herr Weber wird den ganzen Tag auf dem Felde sein, oder im ‚Deutschen Hause‘ in A. oder auf der Jagd oder sonst irgendwo; Du siehst, ich habe mich genau orientirt. Es ist auch gut so, und Du ziehst mit in das Rokokoschloß, Lucie.“ Es klang sehr leichthin, und die junge Frau betrachtete dabei angelegentlich die kleine Silhouette von Luciens verstorbener Mutter, die sie von der Wand genommen.
„Mein Gott, Hortense,“ kam es leise über des Mädchens Lippen, „wie bist Du nur darauf gekommen, Dich mit ihm zu verloben?“
„Du fragst mich zuviel, Kind, ich weiß es nicht; den Hergang kann ich Dir ja erzählen, nur nicht, was ich dabei dachte.“ Sie hing das Bildchen wieder an den Nagel, lehnte sich gegen die Kommode und schlug die Arme über einander. „Als Du mich allein gelassen hattest,“ begann sie, „verlor ich den Kopf, das heißt – ich gerieth in einen unsagbaren Zustand von Angst und Aufregung; es war beinahe so wie vor einem Jahre. Ich hatte die größte Lust, hinüber zu laufen an die Elbe und hinein
[150] zu springen; Dich betrachtete ich als verloren. – Unten feierte man ein Hochzeitsfest. Du weißt ja. Das Stubenmädchen mag mich in dieser Aufregung erblickt haben – ich lag auf dem Teppich und hatte mir ein wenig die Haare zerrauft. Plötzlich klopfte es und Herr Weber kam herein. Er richtete mich auf und brachte mich dazu, Platz zu nehmen nach vernünftiger Menschen Weise. Und dann saßen wir uns stumm gegenüber. Ich hatte ihn verschiedentlich aufgefordert, sich zu entfernen, aber er ging nicht, es sei nicht möglich, mich allein zu lassen! Um mich nicht allzu lächerlich zu machen, nahm ich mich zusammen; da erklärte er gradezu, daß er mich liebe, und bat um meine Hand.
Ich glaube, ich habe hell aufgelacht. „Kennen Sie mich denn, und kennen Sie meine Familie?“ – Er blieb ernst und sagte noch einmal: „Ich liebe Sie, Hortense, und nichts in der Welt wird mich von meinem Vorhaben abbringen.“ Wie er da so ruhig vor mir stand und mich so fest ansah mit seinen blauen Augen, da war es mir, als ob Jemand flüsterte: ‚bei ihm bist Du geborgen, Hortense!‘ – Ich kannte ihn nicht, ich wußte nichts von seiner Familie, und dennoch schien es, als zwinge mich eine übermächtige Gewalt zu ihm. Noch einmal wiederholte er seine Frage – – von unten schallte gerade ein brausendes Hoch! herauf und plötzlich lag meine Hand in der seinen. Dann wollte ich mich losreißen ‚ich liebe Sie nicht!‘ rief ich, ‚ich habe mich übereilt!‘ Er hielt mich nur fester. ‚Aber ich Sie, Hortense, ich kann warten.‘ – Ich wollte ihm von Papa sprechen – es war, als sei meine Zunge gelähmt. Feige wandte ich mich ab.
Er saß dann mir gegenüber, stundenlang, und sprach von seinen Brüdern, seiner Mutter, ich habe es nicht behalten was? Er hatte die Thür nach dem kleinen Vorzimmer geöffnet, wo das Stubenmädchen wie gewöhnlich saß und strickte; es sei sehr heiß hier, meinte er. Als der letzte Ton des Festes verklungen war, empfahl er sich und schickte das Mädchen herein. Wie betäubt sank ich auf mein Bette und schlief. Ich wachte erst am andern Mittag auf, als drunten der Wagen rasselte, der Wilken als Ehemann neben seiner jungen Frau aus der Kirche brachte.
Auf meinen Bräutigam besann ich mich mit Mühe, als mir das Stubenmädchen ein Billett und ein Bouquett von ihm überreichte. Ich ließ mich entschuldigen und blieb den ganzen Tag im Bette, ich war zum Sterben unglücklich. Am Abend wollte ich ihn mit der Erklärung empfangen, ich hätte mich einer Uebereilung schuldig gemacht, um nachher mit dem Nachtzuge abzureisen. Aber siehe da! Er kam nicht, er war bereits seit Mittag unterwegs nach Hohenberg zu Großpapa. Gestern früh empfing ich ein Telegramm des alten Herrn, das seine Einwilligung brachte. Er erwartet mich heute.“
Sie hatte mit zuckender Lippe gesprochen; nun schwieg sie und preßte die Hände an die Schläfen. „Voilà tout!“ sagte sie nach einer Pause mit völlig verändertem Tone; „nun packe Deine Sachen und komm!“
„Aber wie willst Du das Verhältniß ertragen? Mich hast Du gewarnt, Hortense, gewarnt vor einer Ehe ohne Liebe, und Du stürzest Dich kopfüber hinein?“
„Ich bin auch nicht eine so sentimentale Natur wie Du.“
Lucie ergriff den Arm der jungen Frau. „Erst recht bist Du es!“
„Und dann, weißt Du, er ist sehr reich,“ fuhr Hortense unbeirrt fort, „die kleinen Sorgen des Lebens werden uns nicht zusammenführen, sein Haus ist so groß; wir können uns aus dem Wege gehen. Mit Dir war das etwas Anderes.“
„Aber man heirathet doch nicht, um sich aus dem Wege zu gehen? Du mußt ihm schreiben, Du mußt ihm sein Wort zurückgeben!“ rief das Mädchen außer sich.
„Ich denke nicht daran!“ sagte Hortense ruhig.
„Und mir willst Du die Schuld beimessen? Das ist unbarmherzig, das ertrage ich nicht!“
„Wenn Du bei mir geblieben, wäre es sicher nicht passirt, mein Kind, daran kann ich nichts ändern – Wann geht denn der nächste Zug aus diesen Wäldern? Ich meine, um zwölf Uhr – nicht? Mache Dich bereit und nimm Abschied; mit mußt Du, das bist Du mir schuldig!“
„Nach Hohenberg?“
„Bis zur Hochzeit nur, dann gehst Du mit nach Woltersdorf.“
„Er wird sich bedanken!“
„Das dürfte sich finden, Lucie. Nun bitte, mache endlich Anstalt zur Reise.“
Das Mädchen rührte sich nicht; ihre Gedanken drehten sich wie im Wirbel. Sie konnte nicht hier bleiben, und die Idee, nach Hohenberg zu gehen, war ihr peinvoll. Aber Hortense sprach die Wahrheit; sie hatte den tollen Streich gemacht, weil die Verzweifelnde allein gelassen worden war – am schwersten Tage ihres Lebens.
„Ich will ehrlich sein,“ sagte sie endlich, „mein Wille war es, hier zu bleiben aber –.“
„Dein Wunsch auch?“ unterbrach sie Hortense.
„Auch mein Wunsch, aber – ich habe mir bei Georg einen Korb geholt. Er will mich nicht.“
„Sehr angenehm für mich! Aber warum?“ „Weil ich nicht kam, als Mathilde mir schrieb, sie sei krank, weil ich sie vergaß um Deinetwegen!“
Sie hatte Thränen in den Augen, als sie sich still nach ihrer Reisetasche bückte, die in einem Winkel des Stübchens lag. Hortense antwortete nicht, sie ging indessen im Zimmer umher und betrachtete mit Interesse jedes Stück des einfachen Hausraths. Sie sah bleich aus, das dunkelblaue Reisekleid ließ ihren Teint fast gelblich erscheinen und unter den großen Augen lagen dunkle Ringe. Lucie wußte so genau, was sie gelitten hatte.
Vor der Thür erhob sich eine schreiende Kinderstimme. Lucie sprang hinaus, das jüngste Mädelchen war hingefallen und weinte. Sie hob es auf und kam in die Stube zurück, setzte sich, und, das Kind auf dem Schoße haltend, versuchte sie, es zu beruhigen.
Hortense hatte sich umgewandt und sah starr zu ihr hinunter. Irgend etwas ging in ihr vor.
Die Kleine hörte endlich auf zu schreien. Lucie ließ sie zur Erde und gab ihr ein Wollenknäuel in die Hand.
„Bleibt sie hier?“ fragte Hortense.
„Laß sie doch, bitte! Sie wissen ja garnicht, wohin sie gehören, die armen kleinen Würmer!“
„Lucie,“ stieß die junge Frau hervor, „bringe das Kind hinaus, es beängstigt mich! Ich kann ein Kind nicht ansehen, ohne zu denken welche Schicksale ihm bevorstehen! Was wird es zu tragen haben, was werden die Menschen an ihm sündigen!“
„Aber ich bitte Dich, Hortense,“ sagte das Mädchen erschüttert, „nicht jedes hat’s so schwer wie Du!“ Sie führte die Kleine hinaus und brachte sie zu Rike in die Küche. Als sie wieder kam, fand sie die junge Frau auf dem Stuhle sitzend, die Hände vor das Gesicht geschlagen.
„Das wird Gott doch nicht wollen,“ sprach sie tonlos. „Es macht mich so elend zu denken, ich könnte einst solch ein Kind auf den Armen halten, und das würde so herumgestoßen im Leben wie ich, würde so schlecht wie ich!“
Das Mädchen stand hoch aufgerichtet vor ihr. „Hortense,“ sagte sie streng, „schreibe ihm, daß Du ihn nicht liebst, daß Du auf keinen Fall ihn unglücklich machen willst –.“
„Er will es ja nicht anders!“ murmelte die junge Frau.
„Aber auch Du wirst unglücklich. Wie kann man mit so schrecklichen Ansichten heirathen wollen! Noch einmal, schreib’ ihm ab!“
Sie schüttelte den Kopf: „Nein! Ich will mein Wort halten, und überdies – heute früh wird Wilken meine Verlobungsanzeige gelesen haben.“
Lucie sagte nichts weiter. Mit dem Mittagszuge reisten sie ab. In dem Augenblick, als er in Hohenberg einfuhr, fragte Hortense: „Es wird Dich doch nicht alteriren, daß Dein ci-devant Bräutigam hier haust?“ Und ohne eine Antwort abzuwarten, setzte sie hinzu: „Doch wohl nicht? Du liebtest ihn ja nicht.“
Lucie sah an ihr vorüber. „Ich wäre nicht hergekommen,“ sagte sie mit bebender Stimme, „wenn ich nicht wüßte, daß Du mich wirklich nöthig hast.“
„Sehr nöthig sogar!“ Und Hortense winkte lächelnd und herablassend mit der Hand dem großen Manne zu, der, den Hut über dem blonden Scheitel haltend, vor dem Koupé stand, das man eben öffnete. „Mein Bräutigam erwartet mich,“ bemerkte sie sich zurückwendend, im Begriff auszusteigen. Sie betonte jede Silbe des „Bräutigam“.
[151] Lucie erhielt einen verwunderten Blick von ihm, Hortense aber sagte, indem sie seinen Arm verschmähte und Luciens Hand ergriff: „Ich habe mir den Flüchtling wieder eingefangen. Wie geht es Großpapa?“
Am Fenster ihrer Wohnstube saß Frau Steuerräthin Adler und strickte. Es hatte sich nichts verändert in ihrer Umgebung, und sie selbst auch nicht; nur zufriedener sah sie aus, besonders wenn ihr Blick von einem jungen Mädchen zurückkehrte, das neben ihr emsig häkelnd Platz genommen. Es war eine volle robuste Gestalt, hatte flachsblonde schwere Zöpfe und einen Teint wie Centifolien, welche Farbe sich auch auf die großen runden Hände erstreckte, die verschiedene Ringe schmückten, breite silberne Reifen umspannten die keinesweges zarten Handgelenke, dazu trug das Mädchen eine Korallenbrosche und an ihr befestigt eine Uhrkette, annähernd so stark wie die Wagenketten ihres Vaters, des Herrn Gutsbesitzers Mähnert. Diese junge Dame, die übrigens ein paar blaue unendlich gute Augen besaß, weilte seit längerer Zeit zum Besuch bei der Frau Steuerräthin, „damit sie nicht so gar allein sei,“ denn Tante Dettchen war mit ihrem Neffen in sein Häuschen gezogen und führte ihm dort die Wirthschaft, so behaglich und bequem, wie nur sie es verstand.
Fräulein Selma Mähnert aber war schon lange von der Frau Steuerräthin geliebt worden, Frau Adler hatte schon, als der stattliche Backfisch eben aus der Pension zurückgekehrt war, zu der Mutter bei Gelegenheit eines Besuches auf dem eine Stunde von Hohenberg entfernten Gute mit der ihr eigenen Unverfrorenheit geäußert: „Das wäre eine Frau für Alfred!“ Und in Folge dieser Ansicht hatte sie Alles gethan, um sehr zart – denn zart muß man so etwas anfassen, war ihre Meinung – das Kind für Alfred und Alfred für das Kind zu interessiren, und hatte bei Letzterem auch die rührendste Bereitwilligkeit gefunden, während der Sohn ihr den „Affront“ anthat, nicht nur diese zarte Andeutung nicht zu verstehen, sondern sogar sich mit dieser Lucie Walter zu verloben, ohne daß die Mutter vorher im Stande gewesen war, ein Urtheil über die Wahl abzugeben oder eine Warnung zu erlassen.
Ja so etwas rächt sich immer!
Fräulein Selma, die übrigens bei der Verlobungsnachricht nicht in Ohnmacht gefallen war, aber sich doch etwas fern von der Tante Adler gehalten und verschiedentlich bei ihren Besorgungen in der Stadt das Haus der Frau Steuerräthin gemieden hatte, was gleichbedeutend war mit dem Verluste von einigen fetten Gänsen oder Puten, kehrte auf die Alarmnachricht wieder zurück in die mütterlich geöffneten Arme und hörte die Beschreibung dieser ganz pflichtvergessenen schrecklichen Person, die Lucie Walter hieß, mit Kopfschütteln und vielen: „Nein aber!“ und „Wie ist es möglich!“ an. Es war noch heute das Thema, welches mit immer gleichem Interesse behandelt wurde.
Wenn nur Alfred endlich einmal begreifen wollte, welch ein Kleinod ihm für dieses davongelaufene Hochmuthsnärrchen geboten wurde! Aber es war, als sei das große rosige Mädchen Luft für ihn – nicht gerade Luft, aber er hatte doch kaum einen Blick für sie und glaubte Alles gethan zu haben, wenn er höflich „Guten Tag!“ sagte. Er bemerkte absolut nicht, oder wollte nicht bemerken, daß ihre Hände ihm allerlei Lieblingsgerichte zubereiteten, die nach Aussage der Mutter tausendmal wohlschmeckender ausfielen, als sie selbst es verstand; daß sie ihm Morgenschuhe stickte und Strümpfe mit doppelten Hacken strickte.
„Er ist wie ein Blödsinniger in dieser Hinsicht,“ sagte ärgerlich die Mutter zu sich selbst. Auch das half nicht, daß sie, wenn er wirklich einmal Hut und Stock ablegte, um Kaffee mit ihnen zu trinken, sich von dem kleinen Dienstmädchen unter irgend einem Vorwande abrufen ließ, das dumme Geschöpf konnte dabei immer das alberne Lachen nicht lassen, während sie würdevoll fragte:
„Na, was giebt’s denn?“
Kam die Mutter nach einer halben Stunde wieder herein, so erblickten ihre Augen das Mädchen über der Häkelarbeit und ihn über einem Buche, oder gar einmal, wie er mit unbegreiflicher Beharrlichkeit aus dem Fenster sah, obgleich da wirklich nichts auf der Straße umherlief, was mit Selma hätte einen Vergleich aushalten können, besonders wenn man die fünfzigtausend Thaler in Betracht zog, die sie einstens erben würde.
Er mußte wirklich endlich einmal einen energischen Rippenpuff bekommen, das war beschlossene Sache, denn abgesehen von allem Anderen, ein Arzt ohne Frau – es ging ja gar nicht länger!
So saßen sie auch heute, tranken ihren Kaffee und erwogen die Frage, ob der Herr Doktor nicht kommen würde? Seit mehreren Tagen hatte er sich gar nicht sehen lassen; das kleine Dienstmädchen war schon in aller Morgenfrühe nach der Wasserstraße geschickt worden, um den Sohn zu bitten, heute mit vorzukommen, da die Frau Mutter „es im Halse habe“. Diese Kriegslist wurde öfter gebraucht und von seiner Seite mit unerschütterlichem Ernst aufgenommen. Er verschrieb jedesmal eine neue Auflösung zum Einpinseln oder ein flüchtiges Liniment für das Reißen, und wenn das Recept fertig dalag, hatte er selten noch Zeit länger zu bleiben.
Die Damen sprachen wieder über Lucie, und Fräulein Selma meinte eben: „Ja, sie muß schrecklich verzogen sein!“ Da kamen Schritte die Treppe hinauf und der peinlich Erwartete trat ein.
„Nun, mal wieder im Halse?“ sagte er freundlich, „Du mußt Dich mehr in Acht nehmen, Mutter, die Spaziergänge Abends solltest Du unterlassen, es ist hier zu feucht in unserer Gegend.“
„Ach, das ist’s wohl nicht, Alfred, Selma klagt auch. Selma, hole einen silbernen Löffel und laß Dir in den Hals sehen, mir kommt’s vor, als wäre dort ein wenig Belag.“
Das Mädchen ward noch rosiger, als sie für gewöhnlich schon aussah, brachte das Gewünschte und öffnete auf sein Verlangen den nicht gerade kleinen, aber mit einer prachtvollen Garnitur Zähne versehenen Mund.
„Alles in Ordnung!“ sagte er und legte den Löffel weg. „Gurgeln Sie ein wenig, weiter ist nichts nöthig.“
„Hast Du viel Kranke, Alfred?“ fragte die Mutter.
„Wenig.“
„Warum kommst Du denn so selten?“
„Ich bin seit ein paar Tagen nicht bei Dir gewesen? Richtig! Ich war verreist, zum Begräbniß der Frau Oberförster Remmert.“
„Na, das muß ich sagen!“ Die Mutter blickte erstaunt ihren Sohn an. „Es waren wohl viel Leute da?“
„Ich kam zu spät,“ erwiederte er, „außer dem Oberförster und seiner Kousine habe ich Niemand gesehen.“
„Was? Die Schwester von ihr war nicht einmal da?“ rief die Mutter. „Na, da siehst Du’s, Selma, so ist sie!“
„Wenn Du Fräulein Walter meinst, so war sie allerdings da, aber ich sah sie nicht, sie mochte wohl in der Kinderstube sein.“
„Alles Mögliche! Nun bleibt sie wohl und erzieht die Gören? Es ist wenigstens etwas Nützliches.“
Er stand lange am Fenster, das Gespräch war ihm peinlich. „Vermuthlich wohl, ich weiß es nicht,“ erwiederte er. Dann blieb er stumm; die Straße herunter rasselte ein Wagen, es war der Landauer des alten Herrn von Meerfeldt.
Er stützte sich plötzlich schwer auf das Fensterbrett. Dort im Fond, neben Frau von Löwen saß, ängstlich in die Ecke gepreßt, in tiefer Trauer – Lucie Walter; ihr Kreppschleier flog im Winde wie ein schwarzer Schatten über dem blassen Gesicht. Es war, als wollte sie ihre Augen zu den wohlbekannten Fenstern erheben, aber sie blieben gesenkt. Im nächsten Augenblick war das Gefährt vorüber gerollt.
„Nein, das ist ja schamlos!“ rief die Frau Steuerräthin empört. „Die Schwarze – Selma! Hast Du sie gesehen? Das war sie! Hierher zu kommen – nein, das ist mehr als erlaubt, das ist zu arg!“
„O Gott!“ flüsterte das Mädchen beistimmend.
In diesem Augenblick wandte sich ihnen ein tief erblaßtes Männergesicht zu.
„Ich muß Dich dringend bitten, Mutter,“ sagte er, „in meiner Gegenwart diese Kritiken zu unterlassen. Dir so wenig wie mir sind die Gründe bekannt, welche Fräulein Walter hierher führen.“
„Die Gründe? Na, ich will sie Dir aufzählen, wenn Du es wünschest. Nein, so gleich kann ich mich nicht fassen, nicht so stillschweigend das – das –“
„Ich bitte Dich, fasse Dich in meiner Abwesenheit, Mutter,“ unterbrach er sie und nahm seinen Hut. „Wenn ich wiederkomme, hat sich dieser Sturm hoffentlich gelegt.“
Er grüßte leicht und verließ das Zimmer.
[152] „O Du lieber Gott!“ sprach die von dem raschen Abgange sichtlich betroffene Frau vor sich hin und nahm ihr Strickzeug wieder auf. Sie war freilich eben sehr unvorsichtig gewesen; das sah sie ein, denn er hatte nie geduldet, daß in seiner Gegenwart von der ehemaligen Braut gesprochen wurde. Aber sie hatte zugleich eingesehen, daß er noch immer nicht gleichgültig über sie dachte, und darum seine abweisende Art gegen die Wünsche, die sie in aller mütterlichen Liebe und Güte für ihn hegte, darum! Sie bebte innerlich vor Zorn.
„Hole den Kaffee, Kind,“ sagte sie, sich mühsam zur Ruhe zwingend. „Nein, diese Männer!“ murmelte sie vor sich hin, „Dickköpfe! Stierköpfe! Durch die Wände wollen sie, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt haben! Nein verrückt – und so war sein Vater auch! Was habe ich mit dem Seligen für Tänze gehabt, ehe ich meinen Willen kriegte! Aber sie haben eben alle einen Brand im Kopf, und wenn’s nicht brennt, so glimmt es.“
Mit sauersüßer Miene trank sie Kaffee mit ihrem Schützling und sprach dabei von einem Häkelmuster, das sie verloren und das nirgend wieder aufzufinden sei, und zum Schluß sagte sie mit einer kühnen Wendung:
„Heute wird Dettchen einen schlimmen Tag haben, mein Kind. Nichts verbittert die Männer mehr, als wenn sie unversehens an eine Dummheit erinnert werden. Wir wollen nie wieder von ‚ihr‘ – sie machte eine Bewegung nach dem Meerfeldt’schen Grundstück hinüber – „in seiner Gegenwart reden, und wenn sie meinetwegen vor unseren Fenstern auf dem Seile tanzt.“
Dettchen hatte keinen schlimmen Tag, aber einen traurigen. Der Herr Doktor kam eilig nach Hause und ging sofort in seine Stube, ohne erst Kaffee bei ihr zu trinken; und der duftende Trank stand doch so sorglich warm auf dem blankgeputzten kupfernen Kohlenbecken, zum Ueberfluß noch mit einer pompösen gestickten Kaffeemütze bedeckt. Sie goß seine Tasse voll, kam damit die Treppe hinunter und klopfte schüchtern an die Thür. Auf seine Antwort trat sie ein und fand ihn mit finsterer Miene vor dem Schreibtisch.
„Es sind Bestellungen für Dich da,“ sprach sie freundlich, „Du sollst zu Brauer Günther’s kommen und zu Banquier Josephsohn’s. Und dann läßt Dir Mademoiselle Bertin sagen, Du möchtest im Laufe des morgenden Vormittags doch einmal wieder nach dem alten Baron sehen, er hat sich über irgend etwas heftig alterirt. Sie war selbst hier und furchtbar erregt. Denke Dir, die Hortense von Löwen hat sich verlobt.“
„So?“ sprach er gleichgültig.
„Und mit einem Herrn Weber. Die Bertin sagte: „wenn er wenigstens von Weber hieße!“
Er mußte lächeln über die letzte Bemerkung.
„Sie kommt heute, Alfred.“
„Das Brautpaar ist schon hier,“ sagte er, „und Lucie mit ihnen.“
„Lucie?“ Tante Dettchen erblaßte und sah ihren Neffen an. „Ich glaubte, sie würde bei ihrem Schwager bleiben, Alfred?“
„Ja, wahrhaftig!“ stieß er bitter hervor, „ich glaubte es auch!“
„Rege Dich nicht auf, mein alter Junge,“ bat die kleine Dame und trippelte zu ihm heran mit bekümmerter Miene. Und sein dichtes Haar streichelnd sagte sie: „Kannst Du es immer noch nicht überwinden?“
Er wehrte ihr hastig. „Laß nur, laß! Es war nur ein Moment, und – es ist schwer zu begreifen, daß so viel Herzlosigkeit, so viel –“ Er brach ab und sprang empor. „Zu Günther’s soll ich kommen und zu Josephsohn? Danke! Ich werde gleich gehen.“
Im nächsten Augenblick schon trat er aus der Gitterpforte und schritt rasch durch die Straßen.
Auch in Frankreich stieß die von Debry verkündete und von den Direktoren eifrig verbreitete Erklärung der Katastrophe auf Ungläubige. Die theatralischen Trauer- und Rachefeierlichkeiten, welche von der Regierung in Scene gesetzt wurden, riefen in manchen Kreisen Spott und Hohn hervor. Ja, ein junger Deutscher, kein Geringerer als Ernst Moritz Arndt, der den Sommer vor Napoleon’s Rückkehr aus Aegypten in Paris zubrachte, empfing von dem Auftreten Debry’s in der Nationalversammlung nur den Eindruck eines „belustigenden Possenspiels“ und wurde durch die romantische Erzählung von den Rastatter Vorfällen an „Falstaff’s nächtliche Heldenthaten“ erinnert. Auch Pariser glossirten, wie der preußische Diplomat Baron Sandry nach Berlin berichtete, die oratorischen Leistungen Debry’s und seiner Gesinnungsgenossen wenig respektirlich und erzählten sich auf offener Straße ärgerliche Anekdoten aus dem Leben der ermordeten Gesandten. Es ging sogar das Gerücht, die Wittwe des ermordeten Roberjot habe sich geweigert, an dem Theatercoup der Trauerfeier Theil zu nehmen, und zwar aus keinem anderen Grunde, als weil sie in den Direktoren die Urheber des Mordes, der ihren politischen Zwecken dienen sollte, und in Jean Debry das Werkzeug der ruchlosen Intrigue erblickte.
Die gleiche Ansicht suchte bald nach der Katastrophe der bekannte Gentz, die politische Wetterfahne der Revolutions- und Restaurationsepoche, in dem von ihm redigirten historischen Journal zu begründen, indem er den Satz aufstellte: Is fecit, cui prodest. (Derjenige ist der Thäter, dem die That zum Vortheil gereicht.)
Noch andere Beschuldigungen tauchten schon damals auf. Lafayette verwies auf die Königin Karoline von Sicilien, die so bei allen Intriguen und Schandthaten die Hand im Spiel habe. Den englischen Minister Pitt zieh Quinette, der französische Minister des Innern, öffentlich des Mordes, und dem britischen König rief er zu: „Empfange den Titel eines Mörderfürsten!“ Der in österreichischen Kreisen lautgewordene Verdacht, es hätten Emigranten an den „Königsmördern“ Debry, Bonnier und Roberjot Rache nehmen wollen und sich zu diesem Behuf in Husarenuniformen gesteckt, wurde schon erwähnt, auch ein Gutachten, das der Reichsvicekanzler Fürst Colloredo dem Kaiser erstattete, sprach sich in diesem Sinne aus.
Für alle diese Hypothesen fanden sich nun auch in der Folgezeit Anwälte. Vorwiegend wurde jedoch immer Lehrbach als der eigentliche Anstifter angesehen, die meisten Historiker, auch noch Schlosser und Häusser, hielten an dem Argwohn gegen den „Mephisto des Wiener Kabinetts“ fest. Es entstanden aber auch neue Hypothesen, wie z. B. diejenige von Böthlink, dem Biographen des jungen Napoleon. Böthlink schiebt die Schuld auf die französische Kriegspartei und ihr moralisches Oberhaupt Bonaparte. Während der General am Nil siegte, sollte das Direktorium in Italien und am Rhein Niederlagen erleiden; deßhalb sollte um jeden Preis der Friede verhindert und die Verbindung zwischen Frankreich und Oesterreich gesprengt werden, und wie hätte dies wirksamer erreicht werden können, als durch eine so furchtbare Anklage gegen die nämlichen Männer, die bisher immer für die Gemeinsamkeit der französischen und österreichischen Interessen eingetreten waren. Und das Werkzeug des Dämons Bonaparte, plaidirte Böthlink weiter, war kein Anderer als Debry, der angeblich mit Noth der Mörderhand entronnene Kollege der Ermordeten, der nur, um seine Aussage glaubhafter zu machen, gleich Kaspar Hauser sich selbst ein paar Wunden beibrachte. „Debry’s Haltung in der fraglichen Nacht erinnert nicht nur an Falstaff, sondern auch an Macbeth, der wahnwitzige Prahler scheint einen zitternden Mörder zu bergen.“ Der Führer der Friedenspartei, Roberjot, wurde durch verkleidete Meuchelmörder erschlagen und dadurch die französische Nation zu Rache an den vermeintlichen Urhebern aufgestachelt. So war die ganze Katastrophe nur ein Schachzug Napoleon’s, um sich während des
[153][154] unvermeidlich gewordenen neuen Krieges der diktatorischen Gewalt und mittels dieser des Scepters zu bemächtigen.
Es würde zu weit führen, wollten wir näher erörtern, in welchen Einzelheiten des Quellenmaterials Böthlink Beweise für seine überraschende Annahme zu finden glaubte. Diese Erörterung ist um so überflüssiger, da die Marotte durch Schirren und Wegele gründlich widerlegt ist.
So wäre denn die sensationelle Streitfrage noch heute fast im nämlichen Stadium wie vor nahezu neun Jahrzehnten, da sie zum ersten Male die Gemüther bewegte, wenn nicht durch Sybel einige Schriftstücke theils neu aufgefunden, theils durch scharfe und besonnene Kritik ins rechte Licht gesetzt worden wären, wodurch wenigstens die Hauptsache als aufgeklärt gelten kann.
Früher erblickte auch Sybel im Rastatter Ereigniß einen politischen Mord und in den österreichischen Staatsmännern, namentlich in Lehrbach, die Urheber. Freilich nur mittelbar die Urheber des Mordes, denn die Husaren seien einfach angewiesen worden, die Papiere der Gesandtschaft aufzuheben und etwa den frechen Jakobiner Bonnier ein Bischen zu „zaufen“, dieser Befehl sei von den Soldaten allzu gröblich vollzogen worden. Sybel berief sich schon für diese Auffassung auf ein mysteriöses Aktenstück, auf welches zuerst der Franzose Arnault in seinen „Souvenirs d’un sexagénaire“ („Erinnerungen eines Sechszigjährigen“) aufmerksam gemacht hatte. Arnault erzählte nämlich, er habe durch einen hohen Beamten in München vom Inhalte eines Protokolls eines pfalz-zweibrückenschen Gesandtschaftsattachés Grafen A… Kenntniß erhalten. Dieser habe in den kritischen Tagen nach dem Rastatter Attentat im Gasthof „Zum goldenen Hirschen“ zu München gewohnt und zwar zufällig in einem Zimmer neben demjenigen das Graf Lehrbach innehatte. Nächtlicher Weile habe er nun ein Gespräch des Grafen mit seinem Sekretär belauscht und, da er vernahm, daß es sich um das vielbesprochen Tagesereigniß handle, die Aeußerungen aufgeschrieben. Da habe er unter Anderem deutlich vernommen, daß die Husaren das Gesandtschaftsarchiv hatten erbeuten und Bonnier durchprügeln (houspiller) sollen, zum Verdrusse Lehrbach’s habe aber das Geraufe den bekannten blutigen Ausgang genommen.
Man kann Helfert, der gleichfalls die Frage erörterte, nicht ganz Unrecht geben, wenn er sagt, die ganze Behorchungsgeschichte leide an Unwahrscheinlichkeiten, wie man sie komischer kaum ersinnen könne. Obwohl er sich deßhalb geneigt fühlte, das lächerliche Zeugniß gänzlich von der Hand zu weisen, hielt er sich doch für verpflichtet, in München nachzufragen, ob man von einem solchen Dokumente etwas wisse. Wie überrascht war er, als das Vorhandensein bestätigt, zugleich jedoch die Herausgabe verweigert wurde! Helfert mußte sich also darauf beschränken, durch Aufdeckung von Widersprüchen in den Arnault’schen Mittheilungen unter einander und mit anderen beglaubigten Thatsachen „das Märchen vom Gasthofe ,Zum goldenen Hirschen‘ in seiner ganzen widersinnigen Richtigkeit darzustellen“.
Ehe noch dieses Räthsel seine Lösung fand, gelang es Sybel, ein paar Notizen im Wiener Kriegsarchiv aufzuspüren, welche an sich ziemlich dürftigen Eindruck machten, aber als werthvolle Glieder in die Kette der Untersuchungen über das Rastatter Trauerspiel sich einfügen ließen.
In den sogenannten Protokollbüchern, welche kurze Inhaltsverzeichnisse aller officiellen militärischen Schriftstücke enthalten, fanden sich allerlei Meldungen von Generalen und Officieren aus den letzten Tagen des April 1799, welche sich offenbar nur auf den Rastatter Ueberfall beziehen können. Unter Anderem wird rapportirt, die Anstalten seien jetzt so getroffen, „daß, wenn die Szeckler Husaren das Nest nicht leer finden, die Sache wohl nicht fehlen wird; hätte man nur ein paar Tage früher diesen Wunsch geäußert.“ Oberst Barbaczy berichtet, „was er in Folge eines geheimen Auftrags hinsichtlich der zur Abreise sich anschickenden französischen Gesandten bereits eingeleitet hat und noch ferner veranlassen wird“, zugleich fragt er an, „ob die aus badischen Truppen bestehende Eskorte dieser Gesandten feindlich zu behandeln sei.“ General Merveldt meldet, „daß dem Obersten Barbaczy die Beobachtung aller Vorsicht aufgetragen worden.“ Barbaczy „meldet die nahe Abreise der Franzosen“; er berichtet über eine unglückliche Begebenheit, die sich mit den französischen Gesandten zugetragen.“ „Befehl des Erzherzogs auf strengste Untersuchung.“
Aus diesen Briefauszügen ist im Zusammenhalt mit den übrigen bekannten Daten wenigstens die Thatsache mit absoluter Bestimmtheit abzuleiten: das österreichische Kommando hat ein Attentat auf die französischen Gesandten mehrere Tage vorher planmäßig vorbereitet, und österreichische Soldaten haben das Attentat in Scene gesetzt.
Daß nicht die Ermordung der Franzosen geplant war, scheint – abgesehen davon, daß so grobe Verletzung des Völkerrechts überhaupt kaum beabsichtigt sein konnte, – der Ausdruck Barbaczy’s „unglückliche Begebenheit, die sich mit den französischen Gesandten zugetragen,“ zu beweisen.
Glücklicherweise wurde in München an der Geheimhaltung jenes in der älteren Registratur des Ministeriums des Aeußeren verwahrten Schriftstücks nicht festgehalten. Von dem richtigen Grundsatz ausgehend, daß solche Geheimnißkrämerei unter allen Umständen dem Interesse eines Staates schaden müsse, überließ das Ministerium Herrn von Sybel eine Abschrift des Protokolls und Sybel veröffentlichte dieselbe in seiner „Historischen Zeitschrift“. Damit ist der Beweis geliefert, daß man es nicht mit einem „dummen Märchen“, wie Helfert die Münchener Protokollgeschichte nannte, zu thun habe, sondern mit einer zwar wunderlichen, immerhin aber beglaubigten Thatsache.
An der Echtheit und Authenticität des Schriftstückes, das heute einem Miscellaneenband des geheimen Staatsarchivs angehört, ist nicht zu zweifeln; auch der Inhalt bietet Details, die damals nur dem in alle diplomatischen Händel und Kriegspläne eingeweihten Lehrbach bekannt sein konnten. Helfert glaubte sich zu seinem abfälligen Urtheil über das „Fraubasengeschwätz“ hauptsächlich dadurch berechtigt, daß in einem der Protokolle Erwähnung geschehe einer von den Horchern angewandten Vorsicht, das Licht in ein Nebenzimmer bringen zu lassen, damit das ihre als ein dunkles und unbesetztes erscheine. „Dabei,“ spottete Helfert, „wurde nur vergessen, zu erklären, wie die Spione, jeder für sich, im Finstern ihre Aufzeichnungen machen konnten, die sie danach gegen einander verglichen und vervollständigten.“ Nun findet sich aber diese Bemerkung in den Originalprotokollen nicht, sie wurde vom Gewährsmann Arnault’s vielleicht nur eingefügt, um die Sache noch pikanter, den Vorgang nach seiner Ansicht noch glaubwürdiger zu machen. Der von Helfert gegen die „Behorchungsgeschichte“ erhobene Haupteinwand fällt also weg. Auch über die Ursache, welche die Nachbarn Lehrbach’s zum Horchen bewogen, war Arnault falsch berichtet. Aus den Protokollen erhellt, daß es sich so zu sagen um officielle Spionage handelte, es sollte ermittelt werden, ob Lehrbach in Wien zu Zeit so großen Einfluß genieße, daß es sich verlohne, ihn ins bayerische Interesse zu ziehen. „Es ist also keine bloß skandalsüchtige Neugier, um die es sich handelt, sondern eine politische Aktion, allerdings, wie etwa ein Maler sagen würde, mehr Genre als große Historie, immer aber scheint die Zuverlässigkeit der Aufzeichnung in diesem Zusammenhange nur zu gewinnen.“
In günstigem Licht erscheint nun freilich in dem „Wortgetreuen Bericht einer Unterredung, welche Graf Lehrbach und Herr R. R. in dem Hause Stürzer am 29. April 1799 zwischen 10 und 11 Uhr abhielten“, der Belauschte nicht. Da er nur den vertrauten Sekretär vor sich hat, giebt er sich, wie er ist, und er ist „scherzhaft, roh und konfus“, seine Ausdrucksweise erinnert stark an die Damen der Halle. Sehr wenig staatsmännisch muthet es an, daß er über ein paar Schriftstücke, sobald er nur die ersten Zeilen gelesen hat, sofort urtheilt und vor Freude oder Aerger schon außer sich geräth, ehe er noch weiß, ob auch der übrige Inhalt der Depesche mit dem Anfang übereinstimmt. Andererseits muß auf das Entschiedenste betont werden, daß gerade in diesen intimen Herzensergüssen kein Wort enthalten ist, aus welchem auf eine Anstiftung oder Mitwissenschaft geschlossen werden könnte, daß damit die Thatsache erwiesen ist: Lehrbach trägt keine Schuld an der Rastatter Mordthat.
Sechs Nächte lang belauscht ein Ungenannter das Zwiegespräch des Diplomaten mit seinem Sekretär, das sich vorzugsweise um das Vorgehen gegen die noch in Rastatt verweilenden Gesandten der deutschen Reichsstände und fremder Mächte dreht. In der ersten Nacht vom 29. April hat Lehrbach eine Nachricht erhalten, die ihm sofort einen Freudenschrei entlockt: der Erzherzog wird durch Barbaczy alle Minister aus einander jagen lassen! Diese Blamage gönnt Lehrbach seinen Kollegen von Herzen, insbesondere [155] den französischen „Schuften“ und „Spitzbuben“. „Recht gern,“ ruft er aus, „würde ich einem Husarenkorporal ein Trinkgeld geben, wenn dem Mainzischen Gesandten Albini, dem Hausnarren, fünfzig Stockprügel aufgemessen würden, und das Gleiche wollte ich geben, wenn auch die französischen Minister ihr Theil bekämen.“ Im Uebrigen handelt die Konversation vom Frieden von Campo Formio, daß Thugut immer von Affenstreichen Bonaparte’s gesprochen und „der Esel Metternich“ ins nämliche Horn geblasen habe etc.
In der zweiten Unterredung unterhält sich Lehrbach in eben so ungezwungener Weise über den Kaiser von Rußland, über Albini, der es immer mit den Franzosen halte, über Barbaczy, der noch einen Brief nach Rastatt schickte, statt die Gesandten sofort herausjagen zu lassen, und schließlich wird der Hoffnung Raum gegeben, daß trotzdem die Husaren noch ankommen würden, ehe Herr Bonnier und Genossen abgefahren wären. „Der Kongreß,“ spottet der Sekretär, „hat angefangen mit Bonaparte und hört auf mit Barbaczy! Hi, hi, hi!“
Auch in der dritten Nacht giebt es nur nichtssagende Schimpfereien über den und jenen General und Beamten zu hören.
Am 3. Mai aber ist die Situation ganz verändert. Lehrbach hat inzwischen die verhängnisvolle Nachricht erhalten. Er ist außer sich darüber. Leider spricht er in seinem Ingrimm so unverständlich, daß der Horcher an der Wand nicht genau nachschreiben kann, deßhalb erhalten wir nur verworrene Kunde von einem Briefe des Erzherzogs, der, wie es scheint, mißverstanden wurde und vielleicht den Anlaß zur blutigen Ermordung gab. Nur eine kurze Probe von dem Kauderwälsch!
Hoppe. „Warum sind die Franzosen, die Hasen, auch bei Nacht abgereist!“
Lehrbach. „Vielleicht waren die 24 Stunden bei der Nacht aus; ich wäre durchaus nicht ohne Eskorte gereist, und wenn die Zeit bei der Nacht aus war, so ist es vom Officier gefehlt. Der Barbabzy ist ein Esel. Ich habe heut’ einen Durst, den ich nicht löschen kann (trinkt ein Glas Wein nach dem andern), so hat mich das Ding angegriffen; wenn man einmal einen fröhlichen Tag hat, so wird er einem sogleich wieder verbittert.“
Hoppe. „C’est une mauvaise affaire, sie bringt unserer Nation Schande.“
(Sie suchten Alles hervor, um sie zu beschönigen.)
Hoppe. „Sie haben vielleicht Pistolen gezeigt, und dann haben die Husaren Recht gehabt – allein sie konnten nichts finden.“
Lehrbach. „Daran ist der Albini, der verfluchte Kerl, schuld. Hätte der Spitzbube seine Schuldigkeit gethan, und wäre er fortgegangen, wie man es ihm geheißen hat, so wäre der Kongreß weggewesen.“
Lehrbach fährt fort. „Sie waren alle Drei Bösewichte, Königsmörder! Die Vorsehung, hol’ mich der Teufel! straft alle die Kerle. Daß die preußischen Gesandten noch da waren! Jakobi wollte fortgehen, mais Goertz s’est conduit comme une vieille femme (aber Görtz hat sich wie ein altes Weib benommen), Haugwitz ist ein Spitzbube! Wie der Officier mir das dicke Packet brachte und ich den Brief las, so hat er mich angestarret, denn ich war comme stupéfait, ich habe nur gelesen, daß die französischen Minister todtgestochen wären, es wieder zugemacht und dem dummen Seilern zugeschickt.“
In solchem Tone geht es fort. Der Mund des Zornigen strömt über von Vorwürfen und Klagen über alle Betheiligten, über die „verfluchten Szekler“ – „es bleibt nichts Anderes übrig, als sie todtschießen zu lassen!“ – wie über den „dummen Kerl“ Barbaczy, der seinen Bericht mit den tollen Worten anfängt: „Nun ist Alles vollendet!“ Das Ergebniß der Unterredung faßt der Spion folgendermaßen zusammen: „Aus dieser Geschichte geht hervor, daß man den französischen Ministern eine Tracht Prügel zugedacht hatte und die damit betrauten Husaren ihre Weisung überschritten haben. Es ist nicht zu beschreiben, welche Unruhe die zwei Herren quälte, mehr als eine Viertelstunde haben sie nach Gründen, welche den Mord entschuldigen könnten umhergesucht, aber nichts gefunden, man kann nicht alle Dummheiten anführen die sie zu diesem Behuf aufs Tapet brachten.“
Im fünften Protokoll ist hauptsächlich von der Aufnahme der Rastatter Nachricht am Münchener Hofe die Rede, im sechsten das nochmals von den Rastatter Vorgängen selbst handelt, findet sich ein bedeutsames Wort, das wieder auf jenes Mißverständniß anzuspielen scheint. Lehrbach sagt: „Es ist erstaunlich, daß der Herzog (Erzherzog) nicht mehr Vorsicht gebraucht hat; so geht’s, wenn die großen Herren Befehle unterschreiben ohne sie zu lesen; die Sache war doch wichtig genug.“
Was soll damit gesagt sein?
Wir kennen den Entwurf einer Antwort, welche Erzherzog Karl auf Vorstellungen und Beschwerden des Mainzischen Ministers Albini gab und am 25. April dem Obersten Barbaczy überschickte: darin heißt es, er könne auf solche Vorstellungen nicht mehr Rücksicht nehmen, „da die von französischer Seite eröffneten Feindseligkeiten in vollem Gange sind und hierdurch der Zustand der Dinge zwischen Frankreich und Deutschland wieder auf dem Fuße hergestellt ist, wie er vor den Friedensunterhandlungen war.“
Daß eine solche Erklärung, wie Sybel annimmt, durch einen übereifrigen Officier irrthümlich als eine Weisung, gegen Alles, was französischen Namen trug, nach Kriegsbrauch einzuschreiten gedeutet wurde, daß also in diesem Mißverständniß der Ursprung des Ereignisses zu suchen wäre, ist nicht unwahrscheinlich. Auf eine andere Fährte könnte eine ebenfalls von Lehrbach gemachte Aeußerung leiten: „Jesus, Jesus, keine Eskorte zu geben, das ist ein angelegter Spitzbubenstreich, die Leute haben Geld bekommen!“ Darauf bemerkt der Sekretär: „Der Burkard war gewiß auch dabei, sie werden ihm einige tausend Louisd’or gegeben haben!“
Von wem sollte aber solche Bestechung ausgehen? Mit dieser Frage sind wir wieder im Bereich der Muthmaßungen angelangt, womit gerade bei Erklärung der Rastatter Episode zum Ueberdruß operirt wurde.
Begnügen wir uns also, bis vielleicht doch eine glückliche Hand die verschollenen Untersuchungsakten aus einem österreichischen Archiv zu Tage fördert, mit dem, was heute als sicheres Ergebniß der Forschung bezeichnet werden kann.
Das Ereigniß ist als eine militärische Angelegenheit aufzufassen. Das österreichische Kommando erließ Befehl, die Gesandten anzuhalten und ihre Papiere wegzunehmen. Dabei wurde für die Sicherung der Gesandten nicht genugsam Sorge getragen, und so konnte – vermuthlich in Folge eines mißverstandenen Befehls – die blutige Katastrophe erfolgen.
Daß noch geheime Triebfedern wirksam waren, unterliegt keinem Zweifel; sonst wäre nicht zu erklären, wie ein Mann, der am besten in das Ergebniß der Untersuchung eingeweiht war, ein Mann, der keiner Lüge fähig, Erzherzog Karl, noch zwanzig Jahre später, da er die Geschichte des Feldzugs von 1799 schrieb, vom Rastatter Gesandtenmord hätte sagen können: „Mir ist die Sache ein Räthsel! Vielleicht ist späteren Geschlechtern die Lösung vorbehalten!“
Du Frühlingsmorgen, du Sternenpracht,
Du Rosenknospe, du Maiennacht,
Meine süße, köstliche Liebe!
Du Mondesglanz und du Sonnenstrahl,
Dein denk’ ich des Tages wohl tausendmal,
Meine süße, köstliche Liebe!
Mein Morgengebet und mein Abendgesang,
Mein Waldesrausches, mein Kirchengang,
Meine süße, köstliche Liebe!
Wärst Du mir genommen, wär’ Nacht um mich;
Du bist mein Leben, drum lieb’ ich dich,
Meine süße, köstliche Liebe!
Du wirst mein letzter Gedanke sein,
Und steht auf dem Grab einst mein Leichenstein,
So wünscht’ ich, daß man drauf schriebe:
Sie war sein Lenz, seine Sternennacht,
Seine Rosenknospe und Maienpracht,
Seine einzige, köstliche Liebe!
[156]
Der erste Schnee, liebste Marie! Draußen stöbert er in dichten Flocken vor dem Fenster nieder, legt weiße Kissen auf die Bäume und Kohlstrünke in dem Gärtchen mir gegenüber und deckt auch mitleidig den fürchterlichen Straßenschmutz, in dem wir bisher waten mußten. Von der hochgelegenen Kirche ziehen sich vier große Schlammströme nach den verschiedenen Seiten nieder, und als ich mich neulich mit Rike durch einen davon mühselig herauf gearbeitet hatte und im Kaufladen am Markt meine Entrüstung aussprach, meinte die Frau freundlich lächelnd: „Ja, das wird jetzt nimmer anders bis zum Frühjahr!“
Eine nette Aussicht! Hier sollte Papa leben; dann könnte er sich seinen steten Jammer über die hohen Gemeindeanlagen für Straßenreinigung ersparen!
Aber was liegt an dem Schmutz draußen, wenn es innen so hell und behaglich ist, wie hier in unsern lieben vier Wänden! Wir sind so glücklich, liebstes Herz, daß mir manchmal eine plötzliche Angst aufsteigt, so könne es nicht fortgehen, weil das zu gut für sterbliche Menschen ist. Wir freuen uns Beide auf jede Stunde des Beisammenseins; Hugo sieht auf sein Junggesellenleben als auf einen erbärmlichen Zustand zurück, und mir kommen meine schönen Mädchentage jetzt wie ein leeres Treiben vor im Vergleich zu der Wärme, die nun mein Herz ausfüllt. Lieb hatten sie mich zu Hause ja Alle auch; aber auszusetzen fanden sie doch den ganzen Tag alles Mögliche an mir, während jetzt Alles recht und gut ist, was ich thue, und Hugo mir alle ganz natürlichen Eigenschaften zum Verdienst anrechnet. Er ist selbst ernsthaft, wie Du weißt; deßhalb entzückt es ihn, mich lachen zu hören, und ich glaube, er wird mir manche Dummheit nachsehen, weil sie mit gutem Humor begangen wird.
Indessen seit jenen schrecklichen Wäschetagen neulich, wo ich Abends, als Hugo im Museum und Rike im Bett war, Scherben mit verbrannten Ueberresten bei Nacht und Nebel hinunter trug und schnell in die große Hofgrube warf; seitdem habe ich mich gewaltig zusammengenommen und suche unbemerkt von Rike zu lernen. Es ist auch nur die Küche für mich das gefährliche Terrain – die Zimmer sind jetzt reizend; ich habe alle möglichen Verschönerungen ersonnen und heute eine glänzende Erfindung gemacht, auf die ich mir nicht wenig einbilde!
Ein Uebelstand war bisher fühlbar – wir hatten so wenig Bilder! Die Möbel und Teppiche waren so theuer, daß Mama vom Bilderkaufen absolut nichts hören wollte, und ich bekam zu Aussteuergeschenken wohl verschiedene Handtuchgestelle, drei Fischbestecke und zwei Eisservice, aber nicht ein Bild. Daß die Menschen daran nicht denken, wenn sie sich über ein Hochzeitsgeschenk den Kopf zerbrechen! Hugo, als ich ihm dies klagte, kaufte noch vor der Hochzeit ein paar große Photographien nach Defregger und ließ sie einrahmen; seine Mama steuerte hier einige von ihren alten Kupferstichen bei: „Les Délices“, „Amour maternel“ und ähnliche Dinge, die man gern ein Bischen hoch hängt. Nun, für den Salon, mein kleines Zimmer und das Eßzimmer reicht es eben; im Schlafzimmer aber war es mit der Kunst völlig zu Ende.
Das ärgerte mich seither, bis mir heute eine plötzliche Erleuchtung aufging! Ich lief und holte die große Mappe mit meinen sämmtlichen Aquarellstudien, Kopien und Bildern, die ja gewiß schlecht genug sind, aber immer noch besser als die gräßlichen Chinesenhäuschen der Schlafzimmertapete, suchte das beste Dutzend aus, nahm Reißnägel, klopfte und hämmerte, und jetzt solltest Du einmal sehen, wie nett es drüben geworden ist. Ueber meinem Bette hängt die berühmte Waldlandschaft, wegen ihrer dunklen Schatten von Bruder Adolf „das schwarze Kanapee“ genannt, geradeaus hübsche kleine Schweizeransichten, und Hugo wird künftig unter dem in Abendgluth erstrahlenden antiken Theater von Messina schnarchen. Ich kann es kaum erwarten, bis er heimkommt und die Ueberraschung sieht.
Du fragst in Deinem lieben, herzigen Briefe nach meinen neuen Bekanntschaften hier. Nun, unsere Besuche haben wir gemacht und dabei in die verschiedensten Häuslichkeiten gesehen, von dem reichen Lederfabrikanten an, dessen knallblauer Salon mit den goldenen Sesselrücken mir in den Augen wehethat, bis zu den verschiedenen Vorgesetzten und Kollegen Hugo’s herum; in einem Hause saßen Mutter und Töchter ehrbarlich, aber gar zu wenig lieblich um den Nähtisch; in dem andern sperrte nach längerem, leisem Parlamentiren aus der Küche hervor, während wir im dunkeln Hausgang standen, eine rußige Magd die „gute Stube“ auf, und wir mußten dort in der Kälte lange warten, bis endlich die verlegene Hausfrau erschien, und nach ihr der Gemahl in einem nichts weniger als sauberen Schlafrock.
Nur in drei oder vier Familien hatte ich einen angenehmen Eindruck, den behaglichsten und reizendsten von allen aber merkwürdiger Weise in dem wenigst eleganten Zimmer, bei einer alten Freundin Hugo’s und seiner Mutter, der verwittweten Oberstin von Baer, deren Söhne seine liebsten Jugendgenossen waren. Das alte Frauchen saß nett angezogen an ihrem sonnigen Fenster gegenüber dem Vogelbauer, unter einer Menge von Grün, das sich aus dem Blumentisch emporrankte. Sie begrüßte mich so herzlich, gab mir einen mütterlichen Kuß auf die Stirn und nannte mich „liebes Kind“: das that mir gar zu wohl. Und als wir nun bei ihr saßen, da sah ich mich im Zimmer um, woher doch der angenehme, wohnliche Eindruck komme. Aber ich wurde nicht klug daraus: die Möbel waren uralt, gar nicht hübsch, das Holz hellgelb geworden, die Ueberzüge verschossen, und trotzdem alles Einzelne unschön aussah, war es entschieden eine reizend gemüthliche Stube, und ich sprach das der alten Dame auch gleich aus.
„Was?“ erwiederte sie mir lachend, „die Besitzerin solcher Renaissanceherrlichkeiten findet meinen altmodischen Kram erträglich?“
Ich lachte auch; wir sprachen weiter, und sie sagte dann, ernsthaft werdend: „Sehen Sie, erstens hängen für mich Erinnerungen, liebe und schwere, an den alten Möbeln; man giebt immer ein Stück von sich auf, wenn man sie wegschaffen läßt; zweitens aber, meine ich, hat man gerade heut zu Tage die Pflicht, durch sein Beispiel der allgemeinen Sucht entgegen zu treten, mehr vorstellen zu wollen, als man ist. Es hat immer zweierlei Menschen gegeben: erinnern Sie sich in den ‚Lehrjahren‘ der hübschen Stelle vom alten Meister und seinem Freunde (ich erinnerte mich nicht, die ‚Lehrjahre‘ waren mir zu langweilig!), wo der Erste soviel auf exquisite Einrichtung, Bewirthung und Bedienung hält, daß er sich nur selten den Luxus einer Gesellschaft gestatten kann, während der Andere oft und gern Freunde einlädt, sich auf seine uralten Stühle niederzusetzen und von gemeinem Geschirr vergnügt zu speisen? Die erstere Sorte von Menschen nimmt jetzt überhand und ihr muß man entgegen arbeiten. Glauben Sie nicht, daß es wie eine Predigt wirkt, wenn eine unzufriedene Frau, die ihren Mann um neue Möbel quält, hier mein altes Kanapeechen sieht, auf dem ich nun schon seit fünfzig Jahren in aller Fröhlichkeit unbequem sitze? Warum ich mir nicht schon lange ein neues kaufte? Ja, sehen Sie, obwohl mir mein guter Alter jederzeit das Geld dazu gegeben hätte – früher achtete man nicht auf so etwas, und später, da war immer etwas Nöthigeres, für die Kinder, fürs Haus oder auch für eine arme Mutter, die mit ihren Fünfen in der kalten Stube saß. So blieb das Kanapeechen stehen, und jetzt ist es mir um den schönsten Sammetdivan nicht mehr feil!“
Das machte mir einen ganz merkwürdigen Eindruck; ich hätte nie geglaubt, daß man sich über alte, häßliche Möbel solche Gedanken machen könnte. Ich nahm mir im Stillen vor, diese Frau oft zu besuchen und auch gelegentlich um Rath zu fragen; denn ich bin gewiß, sie wird sich nicht über meine Unerfahrenheit lustig machen.
Es ist schrecklich, wie man bei den unschuldigsten Gelegenheiten immer wieder anrennen kann. So kam neulich Hugo, mich zu fragen, ob er wohl einige Herren, die früher seine Mutter manchmal für ihn bewirthete, einen Abend in seinem Zimmer haben könne. Natürlich sagte ich Ja; es würde ja sonst so ausgesehen haben, als ob ich ihn von Männergesellschaft zurückhielte. Ich ließ mir Alles von ihm angeben, was sie früher immer hatten: kaltes Fleisch, Salat etc., zum Schluß etwas Glühwein. Glühwein! Davon habe ich noch nie etwas gehört; er meinte, ich könne mir ja bei seiner Mama das Recept holen; das aber wollte ich nicht; ich sah rasch in meinem Kochbuch nach und fand es richtig: „Nimm drei Flaschen guten Rothwein etc. etc.“, stellte mich Nachmittags in die Küche, bereitete eine Probe des geheimnißvollen Trankes mit aller Sorgfalt, gab ihn Hugo zu kosten, der sehr entzückt davon war, und richtete dann Abends, ehe er heimkam, seine Stube wunderhübsch her. Du weißt, das Dekorative ist meine Stärke; ich deckte also auch die spitzenbesetzten Decken so zierlich auf als möglich; ich wollte mein reizendes Glasgeschirr, die hübschen Majolikateller und Bestecke zeigen. Freilich verstehen die Herren nichts davon; das ist immer ein schmerzlicher Gedanke; aber der Herr Oberamtmann konnte doch bei aller Begriffslosigkeit ein dunkles Gefühl bekommen von dem Unterschied dieses Tisches und dessen, welchen neulich Fräulein Frieda für uns gedeckt hatte. Er bog sich, sage ich Dir, unter einer Last von Essen, die für ein halbes Regiment genügt hätte; aber für’s Auge war nichts darauf, nur Teller, Bestecke und Gläser! Nun, also um sechs Uhr kamen die Herren; ich begrüßte sie, entfernte mich dann und schickte ihnen Eins ums Andere hinein; es wurde sehr lebhaft im Zimmer; ich hörte viel lachen; endlich gab ich Rike den Glühwein, in Bowlengläser eingeschenkt, mit dem Kuchenteller auf ein großes Servirbrett und freute mich, als sie mir, herauskommend, erzählte, er schmecke drinnen vortrefflich. Fünf Minuten darauf mußte nachgefüllt werden – die zweite Flasche leerte sich unheimlich schnell, die dritte zerstiebte nur so; auf einmal öffnet Hugo die Thür und ruft sehr heiter heraus: „Emma, noch mehr Glühwein, bitte!“
Rike und ich sahen uns sprachlos an. Wer konnte denn solch eine Völlerei für möglich halten! Und nun nicht einen Tropfen mehr zu haben!
Indem kam Hugo selbst heraus: „Nun?“
„Ach, liebster Mann,“ rief ich voll Verzweiflung, „wir haben ja gar nichts mehr!“
„Wie viel hattet Ihr denn?“
„Drei Flaschen!“
„Für acht Herren!“ lachte er. Mir waren die Thränen nahe. „Na laß nur gut sein,“ tröstete er, „Rike soll rasch einige Flaschen Weißen aus dem Keller holen, der thut es auch!“
Meine Empfindungen dabei wirst Du Dir vorstellen können. Hier war ich doch ganz unschuldig. Warum schreibt solch ein Kochbuch nur nicht: Männer trinken den Glühwein literweise! Da wüßte man doch, woran man ist, und brauchte –
Nein, dieser Hugo! Vorhin werde ich abgerufen; er kommt herein,
liest Alles, auch die Wäschegeschichte, die ich ihm so schön verschwiegen
hatte, und quält mich jetzt um Mehr davon. Aber nein! Nicht ums
Leben erfährt er das. Ich soll Dir übrigens bestellen, das obengenannte
Theater von Messina stehe in Taormina, und schnarchen thue er überhaupt
nicht. Das ist auch richtig, es war nur eine poetische Wendung von mir!
Und hiermit, liebstes Herz, sagt Dir heute Lebewohl Deine Emmy.
Kleine Bilder aus der Gegenwart.
Ein sonderbarer Zug bewegte sich am 1. December verflossenen Jahres durch die Straßen Breslaus. Ein Fest- und ein Trauerzug war es zugleich; denn wohl schmetterten die Postillone zu Pferde, welche ihn eröffneten, frische Fanfaren: aber der „Schwager“, welcher in Gala-Uniform auf dem Bocke des dicht dahinterfolgenden Personen-Post-Wagens saß, hatte Hut und Peitsche mit Trauerflor versehen. Diesem Wagen, welcher mit Blumengewinden geschmückt war, galt die Feier; es war die letzte Breslauer Personenpost mit den letzten Passagieren, die man feierlichst eingeholt hatte. In offenen, gleichfalls mit Blumen geschmückten Wagen folgten die Chefs und Beamten der Postbehörden, den Schluß des Zuges bildend.
Das 19. Jahrhundert, welches so viel Neues schafft, läßt auch Vieles zu Grunde gehen. Die Eisenbahn verdrängt die Postkutsche, und wie in vielen anderen Städten Deutschlands, so hat auch endlich in Breslau der Personenpost die letzte Stunde geschlagen. Aus Anlaß der Eröffnung der Eisenbahn Breslau-Trebnitz ist die zwischen Breslau und Trebnitz verkehrende Personenpost mit dem 1. December 1886 aufgehoben worden. Da der Post-Reiseverkehr in Breslau mit dieser Personenpost überhaupt aufgehört hat, so ist das für die dortige Postbehörde Veranlassung gewesen, die Einfahrt der letzten Trebnitzer Personenpost, dem kulturhistorisch denkwürdigen Momente entsprechend, feierlich zu gestalten. An diesem Zwecke hatten sich die Chefs der kaiserlichen Ober-Postdirektion und der Hauptpostämter mit anderen ihrer Beamten nach der letzten vor Breslau belegenen Posthaltestelle begeben, um die von Trebnitz einfahrende Personenpost in festlichem Zuge in die Stadt zu geleiten.
In dem geräumigen Posthofe des neuen Postgebäudes hatte sich inzwischen eine größere Zahl von Beamten der Post versammelt, und hier machte auch der Festzug Halt. Die Festtheilnehmer verließen die Wagen, und nun ergriff der Ober-Postdirektor von Breslau das Wort, um ein Hoch auf den Kaiser auszubringen. Der festliche Moment wurde noch erhöht, als nach verklungenem Hurrahruf aus sämmtlichen Posttrompeten das Lied „Heil Dir im Siegerkranz“ ertönte. Der Zug setzte sich hierauf wieder in Bewegung und nahm seinen Weg durch die Schweidnitzer Vorstadt nach der Posthalterei, um hier der nunmehr durch das Dampfroß verdrängten letzten Breslauer Personenpost ihr Lebewohl zu sagen. Ihren Abschluß fand diese postalische Feier in einem solennen Frühschoppen, der die Theilnehmer des Festzuges mit einer größeren Zahl von Berufsgenossen in den geschmückten Räumen des „Tauenzien“ vereinigte.
Ein verhängnißvolles Blatt.
(Fortsetzung.)
Als der Zug mit Rupert’s Leiche ins Dorf kam, dunkelte es bereits. Das Gerücht der That hatte sich rasch verbreitet, als die Gerichtskommission von Mathias geholt worden war; das Fehlende errieth man leicht, es waren schon zu Viele auf diese Weise heruntergebracht worden. Mehr neugierig als bewegt
drängten sich die Dorfleute um den Zug, dem sie, Gebete murmelnd, folgten. Ja, wäre einer der Ihrigen im Kampf mit einem Jäger gefallen, dann wär’ es etwas Anderes gewesen; aber so herrschte zum Mindesten keine Erbitterung. Rupert wurde in das Leichenhaus gebracht, von Alt und Jung mit
[158] dem bekannten wollüstigen Grauen angeschaut; dann zerstreute sich Alles wieder, ohne einen tiefen Eindruck, ohne eine Lehre für die Zukunft mitzunehmen.
Den schwersten Gang hatte jetzt Anna zu thun – zur Mutter! Sie nahm ihre ganze Fassung zusammen. Die alte Frau stand unter der Hausthür; sie erschrak sichtlich, als sie ihre Tochter erkannte.
„Du hier, Anna? und der Zug, der da unt’n vorbeiganga is? Wen hab’n’s denn bracht, is an Unglück g’scheh’n?“
Jetzt sank Anna an ihre Brust und erhob ihr bleiches, kummervolles Antlitz – wie ein Blitz zuckte es in der Alten auf.
„Den Rupert hab’n s’ bracht, Anna!“ schrie sie, „sag’s nur ’raus, i seh Dir’s ja am G’sicht an!“ Sie wartete ängstlich auf Antwort.
Anna brach wieder in Thränen aus – jetzt wußte sie es ja!
„Das war der Mathias!“ sagte die Mutter.
Bei dieser unverhofften fürchterlichen Anklage fuhr Anna erschrocken auf.
„Der Mathias? Ja wie kommst Du denn auf’n Mathias? Koan Mensch hat no auf den ’dacht!“
Die Alte erschrak jetzt selber über den Verdacht.
„Es hat mir den Namen heraus ’druckt, i woaß net wia,“ sagte sie, „als wenn an Andrer da ’raus g’ruafen hätt’ aus der Brust. Um Gott’swill’n! i will eam ja net Unrecht thuan; er hat halt den Rupert net aussteh’n könna, und eifersüchti war er a! Du woaßt ja, daß er si selb’n Hoffnung g’macht hat auf Di! Deßweg’n – bin i auf sein Nama komma. – Arme Anna! Hab’ die ganze Zeit böse Ahnunga g’habt, scho wia der Rupert um Di ang’halten hat; aber daß’s so schnell über Di ’reibricht, das hab’ i net erwart’, komm!“ sie zog sie zärtlich in die Stube. „Komm! I woaß, wia dös thuat, wia dös frißt am Herz’n, Du arm’s Kind!“
Anna folgte willenlos; sie sank in den nächsten Stuhl und starrte vor sich hin, während die Mutter Trostworte redete und ihr mit der arbeitsharten Hand dann und wann liebkosend über den Scheitel strich. Endlich schwiegen sie Beide und sahen in den Mondschein, der jetzt die kleine Stube erhellte; er glänzte auf der weißgetünchten Wand; er spielte um das bleiche, kummervolle Gesicht Anna’s, um den silbernen Scheitel der Alten; er ließ die rinnenden Thränen der Beiden wie Diamanten blitzen. Der kalte, vielbesungene Mondschein, was kümmert er sich darum! Was weiß er von Freud’ und Leid! Da oben, wo er herkommt, giebt es Beides nicht – dort ist Alles kalt, todt und still. –
Der Untersuchungsrichter, der einige Tage darauf nach S. kam, hatte wenig Glück bei seiner schweren Aufgabe. Wie üblich, stand die ganze Bevölkerung ihm feindlich gegenüber. Die Aussagen gipfelten alle in dem Einen: „I woaß nix!“ und daran scheiterte alle Findigkeit und Schlauheit des Beamten. „I woaß gar nix!“ Dabei wurde der Hut in der Hand gedreht, ein möglichst einfältiges Gesicht gemacht, und wenn der Richter einen Andern vortreten ließ, ging es genau eben so. Solche Untersuchungen sind die Pein der Beamten, welche ohne Kenntniß der Personen und Verhältnisse so zu sagen im Dunkeln tappen. Dieselben müßten der That auf dem Fuße folgen, um einen Erfolg zu haben; eine Pause von drei bis vier Tagen genügt allen Betheiligten und Mitwissenden, sich zu verständigen, ein Gewebe von Lügen und falschen Angaben zu spinnen, in dem auch der Meineid zuweilen nicht fehlt.
Genau so verhielt es sich in diesem Fall. Die meisten Einwohner der Gegend, darunter Leute, welche unmöglich eine Beziehung zur That haben konnten, wurden verhört. Dadurch wurde nicht allein viel Zeit verloren, sondern man gerieth noch auf viele gänzlich falsche Fährten.
Auch Mathias war unter den Vorgeladenen. Er war einmal des Wildfrevels verdächtig und dann an dem verhängnißvollen Abend nicht zu Hause gewesen. Wäre er sofort vernommen worden, so hätte er wohl kaum vermocht, so sicher und ruhig zu sprechen wie jetzt, und ein Alibi nachzuweisen, das ihn sofort von jedem Verdacht befreite.
Der unbekannte Tiroler, von dem Rupert gesprochen, war auch bei dem Untersuchungsrichter zur fixen Idee geworden; der mußte der Thäter sein, und wenn einmal eine vorgefaßte Meinung besteht, ist es schwer, noch auf die Wahrheit zu kommen.
Mathias ging erleichtert von der Untersuchung wieder auf den Arbeitsplatz. Nur das eigenthümliche Wesen David’s quälte ihn; der allein schien einen unbestimmten Verdacht zu haben.
Am Abend nahm ihn David auf die Seite:
„Das hast guat g’macht beim Landgericht,“ sagte er, „hätt’ Dir net so viel Standhaftigkeit zuatraut Deim Benehma nach vor’m todt’n Rupert!“
Mathias war erstarrt über diese offene Rede, die auf mehr als einen bloßen Verdacht hinwies. Er mußte die äußerste Gewalt anwenden, um sich zu beherrschen und bloß erstaunt zu scheinen.
„Du führst ja Red’n, als ob i der Mörder wär’!“ erwiederte er; „i müaßt mir das scho ernstli verbitt’n, David, wenn’s a nur Spaß sei soll!“
„Und es soll koa Spaß sei,“ entgegnete jetzt wild auffahrend David, „es is mir ernst! Du hast’n a umbracht, koan Andrer! und i hab’ was – geg’n das giebt’s koa Läugna!“
Mathias war bei dieser furchtbaren Anklage todtenblaß geworden; dann erfaßte ihn auf einmal unbändige Wuth; wie ein wildes Thier sprang er auf den Kleinen.
„Und was hast denn nacher, heimtückischa Lump? Gieb’s ’raus, wenn’s wahr is! A Lüagna bist, a niederträchtiga! Und Angst willst ma mach’n, das is All’s! sag Dir aber, daß i zum G’richt geh’ und Di anzeig’; nacher zeig’ das her, was D’ haben willst!“
Der Kleine entwand sich dem eisernen Griffe des Mannes und sprang schleunigst weg.
„Geh nur zum G’richt, wenn’st d’ Schneid hast! Bin dann scho da! Mit G’walt richt’st nix aus bei mir! D’ muaßt’s scho anders versuach’n. Denn jetzt g’hörst mei mit Leib und Seel; es nutzt Dir kei Wehren nix!“
Wissen mußte er davon; das war Mathias klar, aber woher? Was sollte das Etwas sein in seiner Hand, das ihn rettungslos überführte? Diese quälende Angst höhlte seine frischen Wangen, unterwühlte seine kräftige Natur. David ließ es auch fernerhin nicht an Stichelreden und versteckten Drohungen fehlen, die Mathias jedesmal wie Dolchstiche trafen.
Die Vergeltung begann schon für die Frevelthat!
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Anna war acht Tage zu Hause geblieben bei der Mutter; sie sah aus, als hätte sie eine schwere Krankheit überstanden; dann aber ging sie wieder auf die Alm.
Sie hatte sich ihrem ersten heftigen Schmerz rücksichtslos überlassen, er hatte ihr Innerstes aufgewühlt, wie eine schwere Krankheit; jetzt hatte sie dieselbe überstanden. Die Krisis zum Bessern war eingetreten, die Gesundheit und Frische ihrer Natur gewann wieder die Oberhand; nur ernster war sie geworden, die Freudigkeit der ersten Jugend war hinweggewischt. Sie ging der gewohnten Arbeit auf der Alm ruhig nach wie früher, aber ihr übermüthiges Jauchzen und Jodeln erklang nicht mehr dabei.
Unten im Dorfe hielt man die ganze Sache überhaupt für kein großes Unglück und war schon gespannt, wer jetzt wohl Langbauer werden würde. Es gab ja Viele, die jetzt neue Hoffnung schöpften.
Mathias kam wieder öfters auf die Alm, um irgend einen Mundvorrath zu holen; auch Anna fielen sein verändertes Wesen, seine gebrochene Gestalt auf. An den Verdacht, den die Mutter damals ausgesprochen, dachte sie nicht mehr. Mathias hatte ja bewiesen, daß er zu der fraglichen Zeit anderswo war, und sie mochte überhaupt nicht daran glauben. Sie hatte ja früher, bevor sie Rupert kennen lernte, schon Mathias allen anderen Burschen vorgezogen, und die Erschütterung, die sie bei der Auffindung Rupert’s an ihm bemerkte, mehrte ihre Sympathie für ihn. Die Paar Augenblicke, die er täglich bei Anna zubrachte, waren sein einziges Labsal in den Qualen, die er litt; ihr Anblick hätte ihm ein stummer Vorwurf sein sollen, aber die unbezwingliche Neigung, die er zu dem Mädchen seit lange hegte, die Hauptursache seines Hasses gegen Rupert, loderte nun, da das Hinderniß gefallen, von Neuem gewaltig empor!
[159] Anna merkte es, und es that ihr wohl in ihrer Verlassenheit, da oben eine menschliche Seele zu haben, die treu an ihr hing; sie wollte sich nur etwas erwärmen an seiner Zuneigung, bei Leibe nicht selbst Feuer fangen; das wäre ihr jetzt unmöglich erschienen.
Inzwischen blieben alle Versuche des Mathias, David zu einer näheren Erklärung zu bringen, fruchtlos, und so war er wirklich sein Leibeigener geworden, der ihm unbedingt gehorchen mußte. Diese ewige Angst, diese Knechtschaft drückte ihn fast schlimmer als ein offenes Bekenntniß, und oft war er nahe daran, sich zu einem solchen zu entschließen. Nur seine Liebe zu Anna hielt ihn davon ab, wenn sie ihm auch hoffnungslos dünkte: er konnte doch nicht die Braut seines Opfers ehelichen! – Aber wenn er gestand, dann mußte sie ihn ja hassen, und den Gedanken ertrug er nicht.
So verging der Spätsommer. Mit den herbstlichen Blättern, die der Wind über das Grab Rupert’s wehte, war auch die ganze Unglücksgeschichte verweht. Ein neuer Jäger war gekommen und hier und da fiel, wie vorher, ein Schuß aus unbekannter Hand im Revier.
Die Arbeit im Buchenschlag war beendet. Unten am Abhange standen jetzt in langen Reihen die regelrecht geschichteten Klafter, die glänzenden Sägbäume! Wo noch vor Kurzem das grüne Laubdach sich ausbreitete im Sonnenschein, war jetzt Alles öd’ und kahl; krause Wurzeln ragten aus dem zerrissenen Erdreich, und die Stümpfe der abgesägten Bäume standen überall wie verstümmelte Glieder umher. Der Kobel wurde verlassen, den Herbststürmen und dem Winter preisgegeben.
Auch auf der Alm rüstete sich Anna zum Abzuge. Schon glänzte es von oben weiß herab und leicht konnte man vom Schnee überrascht werden.
Wie ging es sonst fröhlich her! Kränze wurden gewunden, Tannenzweige, mit bunten Bändern verziert, der schönsten Kuh im Nacken aufgebunden, die dann, wie stolz auf den Schmuck, der Herde mit ruhiger Würde voranging. Und im Thale unten liefen die Kinder dem Glockengeläute entgegen und führten jubelnd die geschmückten Rinder, den Stolz der hinterher schreitenden Almerin, ins Dorf hinein.
Davon war heuer nichts zu sehen. Anna war froh, von der Alm wegzukommen, wo sie Alles an das kurze Glück mit Rupert erinnerte. Wie freudig hatte sie sich diese Tage gedacht, wie hätte sie gerade heuer Alles aufgeputzt, wenn der Rupert an ihrer Seite mit hinuntergezogen wäre; es wäre ja ihr letzter Abzug gewesen und von der Alm sollte es in die Brautkammer gehen! – Ja, das war ein recht trauriger, schwerer Tag, und wer den Zug vorüberziehen sah, die herrliche Rinderschar, Alles strotzend von Gesundheit, von der ernsten Sennerin getrieben, die sich weder nach rechts noch nach links umsah, der mußte wohl merken, daß dem hübschen Mädchen Etwas schwer auf dem Herzen lag.
Auch Mathias war froh, als die Arbeit zu Ende ging; nun hoffte er doch endlich von David, der sich wie sein böser Geist an seine Fersen heftete, erlöst zu werden. Andrerseits war ihm aber auch sein einziger Trost genommen, der Verkehr mit Anna, der jetzt bei seinen inneren Gewissensfoltern, bei seiner Flucht vor der ganzen Welt der einzige Sonnenstrahl seines elenden Daseins war.
In Bezug auf David irrte er sich: er wich auch jetzt nicht von ihm. Ging ihm das Geld aus, so mußte Mathias welches schaffen, und bei der geringsten Weigerung nahm er eine drohende Miene an. Auch für die Winterarbeit, wo das Holz mit den Schlitten zu Thal gebracht werden sollte, wußte es David so einzurichten, daß er mit Mathias zusammenkam.
Dieser wehrte sich anfangs mit aller Kraft gegen solchen Frohndienst und leugnete immer wieder die That, aber David lachte nur zu seinen Versicherungen.
„Gieb Dir koa Müh’,“ sagte er dann, „i hab’s ja schwarz auf weiß, da nutzt koa Läugna!“
So unglaublich und räthselhaft das Mathias auch erschien: sein Gewissen flüsterte ihm zu, daß eben doch David sichere Anhaltspunkte haben müsse, und dann ergab er sich wieder und war froh, wenn nur der Andere reinen Mund hielt.
Auch die von Neuem in Mathias emporflammende Neigung zu Anna entging David nicht, und er machte diesem sogar Hoffnungen.
„Was war denn der Rupert? A Jaga! Du bist a Holzknecht! Krieagst no a Bisl was von dahoam. Das is a net schlecht’r und“ – fugte er hinzu, „wenn’st d’r Anna an Bräutigam g’nomma hast, muaßt ihr do wieder an andern verschaff’n!“
Mathias schauderte zwar bei dem Gedanken an diesen neuen Frevel. Deßwegen hatte er den Mord nicht begangen, so schlecht er auch war; der Haß, die falsche Scham, von dem Nebenbuhler gefangen und vor Anna’s Augen dem Gericht ausgeliefert zu werden, das hätte ihn zur That getrieben, die er schon tausendmal bereute. Aber David’s Worte klangen trotzdem in seinen Ohren nach; er fing an, sich mit dem Gedanken zu beschäftigen, und war bald so weit, nichts Schlimmes mehr darin zu sehen. Der Kleine hatte gar nicht so Unrecht mit seiner Schlußfolgerung.
Vor der Hand aber stand das Alles im weiten Feld. Anna dachte wohl nicht an eine Heirath und als einfacher Holzknecht konnte er doch nicht um die Langhofbauerntochter anhalten.
Das Wildern schlug er sich jetzt ganz und gar aus den Gedanken; es hatte ihn ja zum Verbrecher gemacht, und so wollte er nichts mehr davon wissen. Dagegen beobachtete er seinerseits David um so genauer, von dem er ja wußte, daß auch er sich damit abgab. Nicht mit der Büchse, dazu war er zu feig, nein, nur mit der Drahtschlinge arbeitete er in stockfinsterer Nacht, gefahrlos. Aber er war zu schlau, Mathias erwischte ihn nie auf der That.
Der Winter war plötzlich mit aller Macht hereingebrochen. Das kleine Dörfchen sah mit seinen schwarzen Giebeln kaum mehr aus dem Schnee heraus. Drinnen in den Häusern saßen die Weiber und Mädchen beim Spinnen und Nähen, während das männliche Geschlecht die gute Schlittenbahn benutzte, um das Holz von den Bergen zu bringen.
Auch Anna saß mit der Mutter den ganzen Tag im warmen Stübchen beim Spinnen oder Wäscheausbessern. Da gab es wenig Abwechslung, ein Tag verging wie der andere.
Mathias mit dem von ihm unzertrennlichen David war beim Holzziehen. Der kühnste Fahrer weit und breit war er. Er hatte immer mindestens eine Ster Holz mehr auf dem Schlitten als alle Anderen und wenn er so, mit der schweren Last hinter sich, den Ziehweg herabsauste, daß der aufwirbelnde Schnee ihn ganz einhüllte, dann war ihm wohl, dann flohen die schwarzen Gedanken, die stummen nagenden Vorwürfe. Er achtete die Gefahr nicht, die damit verbunden war – ein Fehlgreifen mit den schweren eisernen Tatzen (Bremsen), mit denen der Schlitten gelenkt und zur rechten Zeit angehalten werden muß, und er lag mitsammt der Last zerschmettert im Abgrunde oder wurde zu Tode geschleift. Es war ein Vergnügen, ihn anzusehen, wie er, die muskulösen Beine weit vorgestreckt, mit nerviger Faust, mit sicherem Auge den Schlitten lenkend, in einer Wolke von Schnee herabgefahren kam – hinter ihm David, der nicht die Hälfte aufgeladen hatte, dafür aber Abends in der Waldkneipe, die für die Holzknechte eingerichtet war, doppelt so viel trank als Mathias, natürlich auf Kosten des Letzteren. Das war ein stilles Uebereinkommen zwischen Beiden, an dem Mathias schon lange nicht mehr zu rütteln wagte. Sein einziges Sinnen und Trachten ging jetzt dahin, auch im Winter einen Anknüpfungspunkt mit Anna zu finden. Die vollständige Geschiedenheit von ihr fiel ihm am allerschwersten. Ein glücklicher Zufall kam ihm dabei zu Hilfe.
Ein Holzknecht, der für die Langbäuerin arbeitete, verunglückte, indem er mit dem einen Fuß unter den Schlitten kam; sie brauchte Ersatz, und Mathias bot sich an; da er als tüchtiger Arbeiter bekannt war, hatte die Langbäuerin nichts dagegen einzuwenden. Das einzig mögliche Hinderniß war David; ohne dessen Einwilligung getraute er sich nicht, den Dienst zu wechseln.
Zu seinem Erstaunen hatte der nichts dagegen, rieth ihm sogar dazu: das sei für ihn die beste Gelegenheit, wieder an die Anna zu kommen. Mathias merkte wohl, was seine Absicht dabei war; aber für jetzt stellte er sich, als glaube er an David’s Uneigennützigkeit.
So kam Mathias in den Langbauernhof.
Anna empfing ihn freundlich wie immer; sie schien selbst froh zu sein über den neuen Hausgenossen.
Die langen Winterabende konnte er jetzt in der Stube bei ihr zubringen. Die Alte ließ sie nie allein; sie schien eine heimliche Abneigung gegen Mathias zu haben, der hier, von David, seinem bösen Dämon, erlöst, an der Seite Anna’s sein früheres heiteres Wesen wieder annahm.
Hier und da brachte die Mutter scheinbar absichtlich das Gespräch auf Rupert, als wolle sie sein Gedächtniß bei Anna [160] wieder auffrischen. Sie drückte ihre Entrüstung aus über die That, sprach die Hoffnung aus, daß der ruchlose Mörder doch noch entdeckt und den verdienten Lohn empfangen werde. Das waren böse Stunden für Mathias.
Anna war viel versöhnlicher gestimmt: „Das sei eb’n die Folg’ von dieser erbärmlichen Jägerei, die man schon längst hätt’ freigeb’n soll’n, alles Wild mit anand wiege ja doch kei Menschenleb’n auf –“ Sie betrachtete Rupert als auf dem Feld der Ehre gefallen wie einen Soldaten vor dem Feinde; zu einem Hasse gegen den Mörder konnte sie sich nicht aufschwingen. Das war wieder Balsam für Mathias, der so in Anna noch eine unverhoffte Vertheidigerin fand.
Die jungen Leute gewöhnten sich an einander. Wenn Mathias später als gewöhnlich von der Arbeit kam, war Anna unruhig; bei Tische überraschten sie sich gegenseitig oft über Blicken, in welchen Frage und Antwort lag.
Die Mutter erkannte die Gefahr, als es schon zu spät war. Sie empörte sich innerlich: sollte jetzt am Ende ein Holzknecht einziehen auf den Hof? Das wäre ja fast noch schlimmer als es mit dem Jäger gewesen war. Dazu kam eine instinktive Abneigung gegen Mathias, die sie selbst nicht recht begreifen konnte. Aber zu machen war vor der Hand nichts; den Mathias davonjagen, ging auch nicht ohne besonderen Grund; das hätte vielleicht die Sache bei dem Charakter Anna’s nur beschleunigt.
Bis Weihnacht hatte sie die jungen Leute ständig unter den Augen. Sie ging als die Letzte zu Bett, und in der Nacht oft schlich sie mit dem Licht umher, ob auch Alles in Ordnung. Da erkrankte sie plötzlich; ihr böser Fuß machte ihr wieder zu schaffen, wie fast alle Winter; sie mußte das Bett hüten, voraussichtlich auf Wochen. – Das war ein Schlag für die alte Frau! Jetzt waren die Beiden sich selbst überlassen; sie kannte das Temperament Anna’s zu gut, um nicht eine Annäherung der jungen Leute zu fürchten. Sie lag zwar neben der großen Stube und fesselte Anna den ganzen Tag an ihr Bett, die ja ohnehin eine sorgsame Pflegerin für sie war; aber es gab doch Gelegenheit genug, das wußte sie, wo Anna mit Mathias zusammen sein konnte.
Der Stall mußte besorgt, das Haus in Ordnung gehalten werden, und an den Sonntagen war der Weg in die Kirche die beste Gelegenheit! Dann lag sie machtlos in ihrem Bette und konnte nur zu Gott beten, er möge doch ihre Anna nicht ganz verlassen und nicht zum zweiten Male ins Unglück führen. Kam Anna zurück, so fragte sie um Alles: wo sie sich aufgehalten, ob sie mit Mathias beisammen gewesen sei. Das peinliche Verhör diente nur dazu, diese in der wachsenden Neigung zu Mathias zu bestärken: die Mutter selbst redete sie förmlich in ein Verhältniß mit ihm hinein.
Eines Abends saßen sie wieder beisammen in der Stube; die Thür zum Zimmer der Alten stand offen, und Beide fühlten, daß jeder Blick, jedes Wort von drinnen genau beobachtet wurde. Sie sprachen daher nur von gleichgültigen Dingen, von der Tagesarbeit, von häuslichen Verhältnissen. Mathias erzählte, daß sein älterer Bruder schwer erkrankt sei. Von ihm, der kinderlos war, sollte er das kleine Anwesen erben; dann wollte er auch einen Bauer machen! Er redete das der alten Frau zu Gehör. – Plötzlich drangen die schweren Athemzüge einer Schlafenden aus der Kammer, Anna schlich leise hin und sah nach – es war so: die Mutter war eingeschlafen! Vorsichtig schloß sie die Thür, damit das Licht sie nicht blende.
Nun saßen sie allein, Seite an Seite, zum ersten Male, seitdem der Mathias im Hause war.
Anna sah verlegen auf ihre Arbeit nieder; Mathias, der den Moment schon lange herbeigesehnt, wagte es jetzt nicht, mit der Sprache herauszugehen. Rupert’s blutige Gestalt drängte sich wieder zwischen ihn und sie – wie konnte er, der Mörder, um die Geliebte seines Opfers freien? Das wäre ja ein noch schlimmeres Verbrechen als der Mord selbst! Dann sah er wieder Anna an, mit all den bestrickenden Reizen, die sie für ihn hatte. Seine Sinnlichkeit stritt mit der guten Regung, die er eben gehabt, und sie gewann die Oberhand. Er hatte ja nur aus Nothwehr gehandelt; er oder Rupert hieß es damals. Hätte Rupert’s Kugel nicht gefehlt, so säße dieser jetzt an seiner Stelle und er läge dort im Kirchhof.
„Anna!“ fing er an.
Diese erhob ihr Antlitz und sah ihm in die Augen.
„Anna, Du hast mi früher, eh’ der Jaga komma is, gern g’habt – i woaß’s, wannst mir’s a net g’sagt hast. Kunnt’s net wieda so werd’n? So viel wia der bin i a, und wenn mei Bruader a mal das Zeitliche segn’t, hab’ i a Bisl was! Was hast mir d’rauf d’sag’n? Red’ off’n!“
„Es is eigentli a Schand’,“ erwiederte sie, „daß Du’s jetzt scho wag’n kannst, von so was mit mir z’ reden, Mathias, wo erst a halb’s Jahr über d’n schrecklich’n Tag um is; aber i muaß Dir wohl a Veranlassung geb’n hab’n dazu! I bin eb’n a recht’a schlecht’s Madel, die si gar net z’ruckhalt’n kann, wia And’re. I hab’ Di net ungern und i kunnt mir Di grad scho als mei Mann vorstell’n! Aber wennst mi liab hast, so red’ jetz nix mehr davo! Wart’ wenigst’ns no a Zeit lang, westigst’ns bis ’s Jahr un is und Gras g’wachs’n is über’m Rupert sein Grab.“
Mathias sah sie mit glänzenden Augen an. Alle Vorwürfe seines Innern verstummten plötzlich; die erhaltene Antwort machte ihn ganz glücklich.
„Wart’n will i ja gern, so langst D’ willst, wennst mir a Hoffnung laßt; aber nur die nimm ma net; es is das Oanzige, was i no hab’!“
Er umfaßte sie stürmisch und drückte den ersten Kuß auf ihre Lippen; sie ließ es ruhig geschehen, aber entwand sich rasch seinen Armen, als von drinnen die Mutter nach ihr rief. Anna eilte hin und öffnete die Thür. Das Licht beleuchtete gerade ihr erregtes, tiefgeröthetes Gesicht; ein Zopf war ihr aufgegangen bei der Umarmung. Die Mutter sah sie forschend an.
„Warum bist D’ auf eimal so roth und so unordentli’ beisamm?“ sie beugte sich auf die Seite und sah Mathias. Da erhob sie warnend den Finger, und Thränen standen in ihren Augen.
„Anna,“ sagte sie, „i warn Di! Du hast an unglückselig hitzig’s Bluat! Gieb Obacht auf Di! Wirf Di net weg! Denk’ an den armen Rupert! Denk’ an mei böse Ahnung von damals! I hab ’s jetz wieda! Du hast koan Glück in Deiner Liab’ und ’s zweite Mal ertrag’s i net und Du net, wenn’s schief geht!“
Anna konnte nichts erwiedern, unendliche Scham überkam sie vor ihrer Mutter, in ihrem Wankelmuth so bloß gestellt zu sein. Sie knieete am Bett nieder und verbarg schluchzend ihr Antlitz an der Brust der Greisin, welche die Hände faltete zum Gebet für ihr schwaches Kind!
Mathias schlich aus der Stube wie ein Dieb. Zu Hause hielt es ihn nicht. Frohe Hoffnung, Stolz, das Mädchen gewonnen zu haben – dann wieder ein Grauen vor sich selbst, vor dem Betrug, den er zu spielen im Begriffe war, kämpften in ihm, und so rannte er brennenden Kopfes in die Nacht hinaus; die eisige Kälte that ihm wohl. Er eilte durchs Dorf aufs Gerathewohl und kam an dem Wirthshaus vorbei; der Klang einer Cither, Gejod’l drang heraus. Er trat ein – da gab’s Zerstreuung!
Approximavit sidera.
„Er hat uns die Sterne näher gebracht.“
Am 6. März dieses Jahres ist ein Jahrhundert verflossen, seit in der Hütte eines armen Glasers zu Straubing ein Kind das Licht der Welt erblickte, dessen Schwächlichkeit kein langes Leben verhieß, das aber vom Schicksal bestimmt war, seinen Namen mit unverlöschbaren Zügen in das ruhmvolle Verzeichniß der hervorragendsten Forscher aller Zeiten einzutragen. Der Knabe hieß Josef Fraunhofer, und unter Entbehrung und Elend wuchs er heran, ohne Leitung, ohne Schulbildung, nur geheißen, die Gänse eines Bauers täglich auf die Weide und wieder heim zu führen. Aber dieser arme Bauernknabe, mit dem Keime zu frühem Tode in der Brust, war geboren, nicht als Viehhirt zu verderben, sondern der Wissenschaft neue Wege zu bahnen und ruhmvoll, von der ganzen gebildeten Welt betrauert, seinen Lebenslauf zu beschließen.
Nach dem frühen Tode seiner Eltern kam der Knabe, kaum 12 Jahre alt, 1799 nach München, um beim Glasschleifer Weichselberger das Handwerk
[161][162] zu erlernen. Auch hier fand er nur Armuth und wurde verpflichtet, sechs Jahre lang hauptsächlich als Ausläufer zu dienen; nur in kurzen Zwischenzeiten konnte er in seinem Handwerk thätig sein und Brillengläser schleifen. Der Meister war ein harter Mann, ohne Kenntniß, ohne Bildung, dabei selbst blutarm und verbissen; er erlaubte dem Knaben nicht einmal, die Sonntagsschule zu besuchen, um ordentlich lesen und schreiben zu lernen. Zwei Jahre war Fraunhofer bei ihm, als die armselige Hütte des Meisters plötzlich zusammenstürzte und die Bewohner unter ihren Trümmern begrub. Viele Anstrengung kostete es, den Schutt wegzuräumen und zu den Unglücklichen zu gelangen. Man fand die Frau des Meisters todt, den armen Lehrburschen aber wunderbarerweise ganz unverletzt, obgleich halb todt vor Angst. Diese Errettung schien fast wie ein Wunder und ganz München sprach davon. So gelangte die Nachricht auch zum Kurfürsten Max Josef, der den Knaben zu sich kommen und sich von ihm den Vorfall erzählen ließ. Der Junge machte auf seinen Landesherrn einen sehr guten Eindruck und erhielt ein Geschenk von 18 Dukaten; zugleich trug der Kurfürst dem damaligen Hofkammerrath Utzschneider auf, den Knaben nicht aus den Augen zu lassen und sein Fortkommen zu überwachen. Wie wunderbar sind nicht bisweilen des Schicksals Wege! Die augenblickliche Laune des Kurfürsten Max Josef hat die erste Veranlassung gegeben, das heute mit Riesenferngläsern die tiefsten Tiefen des Himmels ergründet werden, daß die photographische Linse ihre gegenwärtige Vollkommenheit besitzt und daß viele wichtige wissenschaftliche Forschungen bereits heute Eigenthum der Menschheit geworden sind.
Utzschneider, selbst einer der genialsten Männer, die Bayern jemals hervorgebracht hat, nahm den Auftrag seines Landesherrn sehr ernst und besuchte persönlich zu wiederholten Malen den jungen Fraunhofer. Mit Erstaunen sah der erfahrene Mann, was in dem Knaben steckte. Der Letztere setzte ihm auf Befragen aus einander, wie er das ihm gewordene Geschenk von 18 Dukaten zu verwenden gedenke. Zunächst wolle er sich davon eine Glasschneidemaschine kaufen, um optische Gläser zu schneiden; Utzschneider belehrte den Knaben, daß er, um Tüchtiges auf diesem Gebiete zu leisten, vor Allem mathematische Kenntnisse sich aneignen müsse, dazu auch die Lehren der theoretischen Optik über den Weg der Lichtstrahlen durch Prismen und Linsengläser. Das waren völlig neue und unbekannte Dinge für den jungen Fraunhofer; allein mit Begierde begann er, sich dieselben zu eigen zu machen.
Zunächst mußte er seine überaus dürftige Elementarbildung verbessern, und für einen Theil des Geldes gelang es ihm, den Besuch der Sonntagsschule zu ermöglichen. Dann ging er an die schwierigen Studien auf dem Gebiete der Mathematik, wozu Utzschneider einige Bücher lieh. Dieses Studium mußte jedoch verstohlen und im Freien, auf dem Felde, geschehen; denn der Meister hatte seinem Lehrling aufs Strengste verboten, „aus Büchern zu lernen“!
Endlich waren die sauern Lehrjahre überwunden, aber freilich das Ende der Noth für den armen Fraunhofer damit noch nicht gekommen; denn Niemand bedurfte seiner Fertigkeit. Unter solchen Umständen griff er, um sein Leben zu fristen, zum Grabstichel und verfertigte – Visitenkarten, Rechnungsformulare u. dergl. Auch dieser Ausweg half nicht viel; doch fand er endlich wieder Arbeit bei einem Glasschleifer, freilich Taglöhnerarbeit ohne höheren Zweck, ohne Aussicht, aus der elenden Lage sich je erheben zu können.
Aber zum zweiten Male lächelte dem talentvollen jungen Manne das Geschick, und wenngleich ihm noch unbewußt, war bereits der Weg eröffnet, der ihn mit Riesenschritten zu einem glorreichen Ziele führen sollte. Utzschneider hatte nämlich mit Reichenbach und Liebherr eine mechanische Anstalt gegründet, aus welcher astronomische und geodätische Meßinstrumente von solcher Genauigkeit hervorgingen, wie sie die Welt bis dahin nicht gesehen. Zu solchen Instrumenten waren aber auch Fernrohre erforderlich, und deren Gläser lieferten bis dahin die Engländer. Napoleon hatte nun England in Blokadezustand erklärt, und in Folge dessen war es nicht mehr möglich, die englischen Gläser zu erhalten. Auf dem Kontinent war aber Niemand im Stande, auch nur das Rohglas herzustellen, dessen Utzschneider und Reichenbach bedurften. Die Verlegenheit für die Künstler und Gelehrten war nicht gering, und Utzschneider bot Alles auf, um einen Ersatz zu schaffen. Lange blieben seine Bemühungen fruchtlos. Endlich hörte er durch den Oberberghauptmann Gruner, daß zu Brenets im Kanton Neuchatel ein Bauer mit Namen Guinant wohne, der sich mit Herstellung von sogenanntem Flintglase (dessen man bedurfte) beschäftige und dem es gelungen sei, bedeutende Fortschritte auf diesem Gebiete zu machen.
Sofort eilte Utzschneider nach der Schweiz, und es gelang ihm nicht ohne Schwierigkeit und mit großen pekuniären Opfern, Guinant für seine Anstalt zu engagiren und mit nach München zu bringen.
Im ehemaligen Kloster zu Benediktbeuren wurde nun eine Glashütte für optisches Kunstglas errichtet. Guinant erhielt die Leitung des Schmelzens; dabei war er die Verpflichtung eingegangen, seine Methode einer ihm noch näher zu bezeichnenden Persönlichkeit mitzutheilen. Es war aber für Utzschneider schwer, eine solche durchaus geeignete Persönlichkeit zu finden. Da erinnerte er sich zur guten Stunde des jungen Fraunhofer, hieß ihn kommen und stellte ihn Reichenbach vor. Nach kurzer Unterhaltung rief dieser voller Freude aus: „Da haben wir den Mann, den wir suchen!“
Fraunhofer wurde augenblicklich angeworben, um zunächst mit Guinant die Glasschmelzen zu leiten. Bald stellte sich indessen heraus, daß Letzterer mehr versprochen hatte, als er wirklich leisten konnte; das von ihm erzeugte Glas war nicht sehr gut, weil in den einzelnen Schichten die Blöcke ungleich dicht und deßhalb unbrauchbar waren. Der Optiker bedarf nämlich für Herstellung der astronomischen Fernrohre eines Rohglases, welches homogen, d. h. in allen Schichten gleich dicht ist, und dies ist besonders bei dem schweren, bleihaltigen sogenannten Flintglase nicht leicht zu erzielen. Die Resultate, welche Guinant in Benediktbeuren zu Stande brachte, genügten diesen Anforderungen bei Weitem nicht, so daß es unmöglich war, ein Fernrohr auch nur von fünf Zoll Durchmesser des Objektivglases[1] herzustellen. Nur ein geringer Trost blieb es, daß auch die Engländer damals nicht besser dran waren. Das vorzügliche Flintglas, welches dort ehedem zu Fernrohrlinsen verarbeitet worden war, hatte man nämlich ganz zufällig in einem alten Glasofen gefunden und als es aufgebraucht war, gelang es auch dort nicht mehr, Glasflüsse in gleicher Güte herzustellen. Das war der Stand der Sache, als Fraunhofer sich energisch der Glasbereitung widmete und an Guinant’s Stelle, der nach der Schweiz zurückkehrte, die Herstellung von Glasblöcken selbst studirte. Seinem Talente und, so darf man wohl sagen, auch seinem Glücke gelang es, bald eine Methode zur Erzeugung optischen Glases zu entdecken, die alles bis dahin Geleistete in den Schatten stellte. Dem Laien mag das Problem nicht gar schwierig erscheinen; er wird aber eine richtige Vorstellung der Aufgabe erhalten, wenn er erfährt, daß noch 20 Jahre nach Fraunhofer’s Tode die französische Regierung einen Preis von 100 000 Franken aussetzte für den Erfinder einer zuverlässigen Methode, optisch fehlerfreies Glas zu erzeugen. Von verschiedenen Seiten wurden Versuche angestellt, den Preis zu erringen, allein vergeblich.
Die Art und Weise der Herstellung des homogenen Flintglases hat Fraunhofer nicht veröffentlicht; doch kannte Guinant einiges davon, indem er eine Zeit lang den Fraunhofer’schen Versuchen beiwohnte. Diese Kenntniß hat Guinant mit nach Hause genommen und später in einer nahe bei Paris errichteten Glashütte verwerthet, bis sein Nachfolger Bontemps das Geheimniß an die Pariser Akademie verkaufte. Inzwischen war Fraunhofer viel weiter geschritten und stellte bereits Fernrohre mit Objektivlinsen von sechs, ja sieben Zoll Durchmesser her. Diese Instrumente zeigten beim Gebrauch den Astronomen die Gegenstände in solcher Schärfe und Klarheit, daß sämmtliche andere bis dahin vorhandene Ferngläser daneben als höchst untergeordnet und unvollkommen erschienen. Alle Sternwarten beeilten sich, ihre Sehwerkzeuge bei Fraunhofer zu bestellen; die Ueberlegenheit der englischen Optiker war rettungslos dahin! Freilich war es nicht allein die Methode der Glasbereitung, welche der Fraunhofer’schen Linse ihre Ueberlegenheit verschaffte, sondern die ganze Konstruktion dieser Fernrohre, die nach völlig neuen Principien und mit Hilfe von überaus vollkommenen, von Fraunhofer selbst erdachten Apparaten ausgeführt wurde. Auf das Theoretische und Technische derselben kann hier nicht eingegangen werden; nur so viel sei hervorgehoben, daß auch die Riesenteleskope der Gegenwart noch im Allgemeinen nach Fraunhofer’scher Konstruktion hergestellt, die Gläser nach den Methoden, die er aufgefunden und angezeigt, auf ihr Verhalten gegen den Lichtstrahl geprüft werden.
Fraunhofer ist im wirklichsten Sinne des Wortes der Vater der heutigen Optik; ohne seine Instrumente wäre die beobachtende Astronomie noch nicht auf ihre heutige Höhe gekommen. Besonders waren es zwei astronomische Apparate, das sogenannte Heliometer für die Sternwarte zu Königsberg und der große Refraktor (astronomisches Fernrohr) für Dorpat, welche am Ende des ersten Viertels unseres Jahrhunderts mit Recht zu den Wunderwerken der optisch-mechanischen Kunst zählten und den Namen Fraunhofer weit berühmt machten. Das große Fernrohr, welches Fraunhofer nach Dorpat lieferte (und das auch heute noch dort zu den feinsten Beobachtungen benutzt wird), hat eine Objektivlinse von neun Zoll im Durchmesser und eine Länge von vierzehn Fuß. Seine optische Vollkommenheit war so groß, daß sich selbst die weit gewaltigeren Spiegelteleskope Herschel’s an Schärfe nicht damit messen konnten. Dazu hatte ihm Fraunhofer ein äußerst sinnreich konstruirtes Triebwerk beigegeben, mittels dessen das Instrument der Bewegung des Himmelskörpers folgt, so daß ein Stern, wenn er einmal in das Gesichtsfeld dieses Fernrohrs gebracht worden, unverrückt in demselben stehen zu bleiben schien, weil das Uhrwerk der täglichen Umdrehung des Himmels genau folgte. Als die erste Nachricht von diesem optischen Wunderwerk nach England kam, erklärten die dortigen Gelehrten die Herstellung eines so großen Fernrohrs für eine Unmöglichkeit, und erst nachdem der Astronom Struve, dem das Instrument unterstellt war, eine genaue Beschreibung desselben und seiner Leistungen dem Präsidenten der Londoner astronomischen Gesellschaft übersandte, verstummten die Zweifler.
Die großartigen Erfolge, welche Fraunhofer errungen, konnten nicht verfehlen, auch seine persönlichen Verhältnisse glänzend zu gestalten. Er wurde Theilhaber des optischen Instituts von Utzschneider, Mitglied der hervorragendsten wissenschaftlichen Gesellschaften und von seinem Könige in den persönlichen Adelstand erhoben. Leider verfiel seine Gesundheit mehr und mehr; im Frühlinge 1824, sechs Jahre nachdem er das große Fernrohr für Dorpat vollendet hatte, war es ihm kaum mehr möglich, selbst thätig zu sein. Nur mit Mühe hielt er sich beim Glasschmelzen noch aufrecht. Um diese Zeit bestellte der König von Bayern ein Fernrohr, welches das Dorpater an Mächtigkeit übertreffen sollte, und Utzschneider versprach ein solches von zwölf Zoll im Durchmesser. Als Preis wurde die für damals enorme Summe von 30 000 Gulden festgestellt, wovon 20 000 sofort im Voraus gezahlt werden sollten. Das Fernrohr sollte in drei Jahren fertig sein. Es ist vielleicht kaum etwas Anderes mehr geeignet, dem Laien die ungeheuren Schwierigkeiten zu versinnlichen, welche die Herstellung eines solchen Instruments damals darbot, als die Bemerkung, daß Fraunhofer daran zweifelte, ob es gelingen würde, das Objektiv zu vollenden. Er war damals bereits sehr leidend und äußerte: „Es ist eine große Unvorsichtigkeit, die Ausführung eines solchen Instruments zu versprechen. Ich habe neulich mehrere Glasschmelzen gemacht, und sie sind sämmtlich mißlungen.“ Am 7. Juni 1826 erlag sein schwächlicher Körper. Auf seinem Grabmale finden sich die stolzen Worte: [163] Approximavit sidera, „Er hat uns die Sterne näher gebracht.“ Wahrlich ein höherer Ruhmestitel als alle äußerlichen Ehrenbezeigungen!
Fraunhofer’s Tod schien alle von ihm gemachten Errungenschaften in der Herstellung des optischen Glases wieder in Frage zu stellen; denn über seine Fabrikationsmethode hatte er Niemand eine Mittheilung gemacht. Glücklicher Weise hatte er indessen eine Beschreibung derselben beim bayerischen Ministerium niedergelegt, und hierher wandte sich nun zunächst Utzschneider um Auslieferung dieser Papiere behufs Herstellung des großen vom Könige bestellten Fernrohrs. Dieselbe wurde verweigert und das unmittelbare Resultat war, daß nach Ablauf der ausbedungenen drei Jahre das große Instrument noch gar nicht angefangen war. Es wurde ein neuer Termin von weiteren zwei Jahren bewilligt, und endlich erhielt Utzschneider die Fraunhofer’schen Papiere. Ohne Säumen begann er nach ihrer Anweisung das Schmelzen optischer Glasblöcke, aber ohne Erfolg; an 180 000 Mark sollen auf fruchtlose Versuche verwendet worden sein. Erst der junge Georg Merz, Fraunhofer’s Schüler, kam zu besseren Resultaten. Er war in der Lage, sogar noch größere und reinere Glasblöcke zu erzeugen, als Fraunhofer. Dennoch gelang es nicht, das Instrument von 12 Zoll Objektivdurchmesser zu vollenden; auch der zweite Termin lief fruchtlos ab. Die bayerische Regierung drohte mit Zwangsmitteln und entsandte einen Astronomen, um zu untersuchen, was von dem Instrumente fertig sei. Dieser fand das Fernrohr vollendet, aber nicht mit einem Objektivglase von 12 Zoll Durchmesser, sondern nur von 10½ Zoll. Gleichwohl rieth er der Regierung, dieses Instrument statt des zwölfzolligen zu nehmen, da das Gelingen eines noch größeren nur auf Zufall zu beruhen scheine und man nicht absehen könne, wann es geliefert werde. Die bayerische Regierung ging auf diesen Vorschlag ein und Ende 1836, 10½ Jahre nach der Bestellung, war das Instrument endlich in der Sternwarte bei München zum Beobachten aufgestellt. Es erwies sich in seinen Leistungen als höchst vorzüglich und blieb geraume Zeit das mächtigste, den Herschel’schen Riesenteleskopen vielfach überlegene Sehwerkzeug der Astronomen; noch heute zählt es zu den vorzüglichsten Fernrohren.
Nicht ohne Absicht ist hier die Geschichte des Münchener großen Refraktors etwas ausführlich mitgetheilt worden, da sie die Schwierigkeiten, mit denen die Herstellung solcher Instrumente noch in den dreißiger Jahren zu kämpfen hatte, unmittelbar vor Augen führt. Gegenwärtig ist die optische Kunst weit über diesen Standpunkt hinweggeschritten. Nach sehr langen Mühen ist es dem Nachfolger von Guinant, Feil in Paris, dann der Firma Chance in Birmingham gelungen, fehlerfreie Glasblöcke zu erzeugen, welche Fernrohrobjektive von 20, 30, ja 36 Zoll Durchmesser zu schleifen gestatten, und die Amerikaner stellen heute Rieseninstrumente her, deren Gläser den drei- und selbst vierfachen Durchmesser der Fraunhofer’schen besitzen. So hat z. B. das neue Riesenteleskop auf dem Mount Hamilton in Kalifornien ein Objektivglas von 36 englischen Zoll Durchmesser, und die Kosten dieses Instruments beziffern sich auf 430 000 Mark. Beiläufig bemerkt ist es ein Deutscher, J. Lick, der diese Kosten bestritten hat, indem er circa 3 Millionen Mark zur Erbauung einer großen Sternwarte spendete. Mag nun, wie man glaubt, dieses Rieseninstrument das größte Fernrohr mit Glaslinsen sein, welches man überhaupt herstellen kann, oder mag es in Zukunft gelingen, noch weiter zu kommen; jedenfalls ist es Fraunhofer gewesen, der die Wege gewiesen hat, auf denen die Nachfolger heute wandeln. Mit den Werkzeugen, die seine Hand schuf, sind die Schranken des Himmels durchbrochen und die Entfernungen der Fixsterne gemessen worden; noch heute sind die von ihm erdachten und ausgeführten Meßapparate die feinsten, welche der Astronom kennt, und nicht minder ist dem Physiker der Name Fraunhofer ehrwürdig. Auf einen solchen Mann stolz zu sein, hat Deutschland allen Grund, und mit Recht wurde sein Denkmal, eine Erzstatue auf schwarz-grünem Syenit-Sockel, vor dem bayerischen Nationalmuseum errichtet, auf dessen Mittelbau die Inschrift prangt: „Meinem Volk zu Ehr’ und Vorbild.“ Dr. Klein.
Blätter und Blüthen.
Der deutsche Landsturm. Bei den Berathungen über das österreichische Landsturmgesetz, das nach den neuesten Nachrichten früher in Kraft treten soll, als ursprünglich festgesetzt war, wurde man auch wieder an den deutschen Landsturm erinnert, über den merkwürdigerweise die unklarsten Ansichten herrschen; denn nicht Wenige glauben, selbst Kinder und Greise müßten zu den Waffen greifen und die Landsturmmütze aufsetzen, wenn das Vaterland in Gefahr ist. Diese Unklarheit kommt wohl daher, daß das Landsturmgesetz vom 12. Februar 1875 etwas in Vergessenheit gerathen ist, weil, während Reserve und Landwehr alljährlich nach den gesetzlichen Vorschriften einberufen werden, der Landsturm seit 12 Jahren nur auf dem Papier steht. Da in der jetzigen, durch allerlei Kriegsbefürchtungen erregten Zeit die irrthümlichen Ansichten über den Landsturm der Aufklärung bedürfen, so erwähnen wir, daß nach jenem Gesetz von 1875 der Landsturm aus allen Wehrpflichtigen vom vollendeten 17. bis zum vollendeten 42. Lebensjahr besteht, welche weder dem Heere noch der Marine angehören. Den Kern desselben werden also die ausgedienten, aus der Landwehr entlassenen Soldaten, etwa vom 32. bis 42. Lebensjahre bilden. Der Landsturm tritt nur zusammen, wenn ein feindlicher Einfall Theile des Reichsgebietes bedroht und überzieht. Das Aufgebot des Landsturms, das sich auch auf die verfügbaren Theile der Ersatzreserve bezieht, erfolgt auf kaiserliche Verordnung, welche auch den Umfang des Aufgebots bestimmt.
Nach der Einberufung treten für die Landsturmpflichtigen die für den Landsturm geltenden Vorschriften in Kraft; sie sind den Militärstrafgesetzen und der Disciplinarverordnung unterworfen. Bei Verwendung gegen den Feind erhält der Landsturm militärische, auf Schußweite erkennbare Abzeichen und wird in der Regel in besondere Abtheilungen formirt. Die Einstellung erfolgt nach Jahresklassen, mit der jüngsten beginnend. In Fällen außerordentlichen Bedarfs kann die Landwehr aus den Mannschaften des aufgebotenen Landsturms ergänzt werden, jedoch nur dann, wenn sämmtliche Jahrgänge der Landwehr und die verwendbaren Mannschaften der Ersatzreserve bereits einberufen sind.
Das sind die Hauptbestimmungen über den deutschen Landsturm, der zum großen Theil ja aus Männern in den besten Jahren und aus Soldaten besteht, welche in zwölfjähriger Dienstzeit das Waffenhandwerk gründlich gelernt haben. Sollten einmal die Reiterschwärme des slawischen Ostens die deutschen Grenzdistrikte überfluthen, sollten die Franzosen in Elsaß-Lothringen eindringen, so wird der einberufene deutsche Landsturm sich gewiß als eine mächtige Schutzwehr des Vaterlandes erweisen. †
Ein irrsinniger Dorfschulze. In den Aufzeichnungen „Aus den Kriegstagen 1870“ von Georg Friedländer, die sehr frisch und lebendig gehalten sind, findet sich eine Schilderung aus Saint-Privat, welche ein trauriges Bild von dem durch den Krieg verursachten Elend giebt. Der Verfasser hatte bei der Belagerung von Metz in diesem bei der Schlacht von Gravelotte von den Preußen und Sachsen erstürmten Dorfe Standquartier erhalten. Jammer und Verzweiflung herrschten bei den Wenigen, die hier zurückgeblieben waren. Der Sous-Maire, der zweite Dorfschulze, befand sich unter diesen. Er wird uns als ein kleiner lebendiger Mann geschildert, der eigentlich nur umherlief und das Schicksal seines Dorfes noch immer nicht begriffen hatte. „Er fuhr sich in die grauen Haare, seufzte, spuckte, steckte die Hände in die Hosentaschen, so daß die blaue Blouse wie eine Jacke dazwischen saß, und sah ruhelos und unthätig zu, als ich und Tilleck, der trefflichste aller Officierburschen, die Bombenlöcher unseres Gemachs mit Stroh und Kistendeckeln zu verstopfen suchten. Als Seltenheit barg unser Quartier eine Frau, denn die Weiber waren fast alle flüchtig, und so sekundirte die Frau dem Sous-Maire in der Skala jener immer wiederkehrenden Worte: ‚O mein Herr, welcher Krieg, welch ein Elend; mein Gott, welche traurige Zeit, welcher Jammer für Sie und für uns!‘ Gegen Abend holte ich den Wirth herein, daß er uns für einen Franc eine Hand voll Kartoffeln beschaffte; als aber die Frau beim Kochen war, um mir damit nach sieben Fastentagen das erste warme Mahl zu bereiten, da brachte ein heulender kleiner Blousenknabe die Todesnachricht ihrer Mutter, die eben in St. Marie gestorben war.
„Nun war’s mit Allem aus – Madame la Sous-Maire fiel (was ihr Niemand verdenken konnte) in Krämpfe, ich suchte vergeblich zu helfen und zu pflegen, und eilte dann zum Bataillonsarzt, der freilich auch nicht mildern konnte, was die Frau darniedergeworfen hatte. Und wenn’s noch dabei geblieben wäre! Aber dem armen Sous-Maire selbst stieg es vom Herzen in den Kopf, und nachdem er noch ein paar Tage rastlos auf den Trümmern seines Dorfes umhergelaufen war, da wurde er wahnsinnig und mußte weggebracht werden.“
Dies kleine Genrebild ist ein Nachtstück in seiner Art, welches uns den Schrecken und Jammer des Kriegs in einer mitleiderregenden Weise zeigt. Doch auch der frische soldatische Humor und die fröhliche Kampfeslust beleben manche Schilderungen aus jenen Tagen des großen Krieges, denen die Befürchtungen der jüngsten Zeit vor einem neuen blutigen Duell zwischen den beiden Nachbarstaaten ein neues Relief geben. †
Hellenisches Mädchen am Brunnen. (Mit Illustration S. 153.) Wir sehen das griechische Alterthum ganz unwillkürlich mehr, als die nüchterne Forschung erlaubt, im Licht seiner Kunstschätze. Die Männer und Frauen sind uns die Modelle jener Bildwerke, welche eine unvergleichliche Schönheit verkörpern. Mag das Volk von Attika ein wenig mehr mit Schönheit gesegnet gewesen sein, als viele andere Völker – wir besitzen Zeugnisse genug, daß es ebenso unter dem Himmel Griechenlands Häßlichkeit gegeben hat, und die breite Mittelschicht wird weder schön noch häßlich gewesen sein, ganz wie überall. Aber das vermag die Kunst: die Schönheit, welche sie schafft, strahlt zurück auf ihren Ursprung, so sehr, daß heute nicht leicht ein Künstler es über sich gewinnen würde, ein Griechenmädchen der alten Zeit anders als schön zu bilden. So wie in unserer Illustration steht die Griechin vor unserer Phantasie: mit dem „klassischen“ Profilschnitt, der kleinen verdeckten Stirn, der einfach kleidsamen Haartracht – den blühenden Leib von der schönfaltigen, schmiegsam leichten Gewandung einer südlichen Zone verhüllt, welche ein „ewig blauer Himmel“ verstattet. Lassen wir dem klassischen Ideal seinen Tempel; es hat eine Welt zur Schönheit erzogen, und der Realismus der Gegenwart würde uns nie zu ersetzen vermögen, was wir verlören, wenn wir eines Tages aufhörten, „das Land der Griechen mit der Seele zu suchen“.
Etwas vom Pferdebestand. Das enge Verhältniß zwischen Roß und Krieger hat im Laufe der Zeit viel von seiner ursprünglichen Bedeutung verloren; aber trotz der Dampfbahnen und des Uebergewichtes der Fußtruppen ist auch heute noch das Pferd ein wichtiger Faktor in der Kriegführung. Kein Wunder darum, daß sich in Zeiten, wo der Friede bedroht erscheint, die Regierungen einzelner Länder durch Pferde-Ausfuhrverbote vor einer Schwächung ihrer Kriegsbereitschaft zu schützen suchen. Nach den letzten uns zugänglichen Viehzählungen beträgt der Reichthum Europas an Pferden etwa 34 Millionen Stück, so daß durchschnittlich etwa 10 Stück auf 100 Einwohner entfallen. Diese Gesammtzahl der Pferde ist jedoch über die einzelnen Staaten sehr ungleich vertheilt. Fast die Hälfte, rund 17 Millionen Stück, nennt Rußland sein eigen. Der Pferdebestand Oesterreich-Ungarns zählt 3 541 860 und derjenige des Deutschen Reichs 3 522 316 Stück; dann folgen Großbritannien mit 2 906 000 und Frankreich mit 2 868 723 Stück. Die übrigen Staaten
[164] sind verhältnißmäßig pferdearm und kommen wenig in Betracht. Frankreich findet zum Theil in seinen Mauleseln einen nicht unbeträchtlichen Ersatz für die geringere Anzahl der Pferde; denn es besitzt nach der letzten Zählung 292 272 Maulesel, während die Zahl derselben in Deutschland nur 1009 beträgt. In dem oben angegebenen Pferdebestande Oesterreichs sind ferner die Pferde Bosniens nicht mit inbegriffen, deren Gesammtzahl auf rund 160 000 geschätzt wird. Das Verhältniß des Pferdereichthums zu der Bevölkerung einzelner Länder gestaltet sich wie folgt: auf je 100 Einwohner entfallen in Rußland 23 und in Oesterreich-Ungarn 10 Pferde; Deutschland, Frankreich und Großbritannien weisen dagegen auf je 100 Einwohner 8 Pferde auf. Im Militärdienste der europäischen Staaten mögen nach Karl von Scherzer’s Angaben („Das wirthschaftliche Leben der Völker“) in Friedenszeiten 650 000 bis 700 000 Pferde stehen. Rußland ist aber keineswegs das an Pferden relativ reichste Land der Welt. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika zählen 10 838 000 Pferde (etwa 28 Stück auf 100 Einwohner), und dieser außerordentliche Reichthum wird noch durch den Bestand von 1 871 000 Maulthieren verstärkt. Australien erscheint relaliv noch reicher, denn dort kommen auf je 100 Einwohner 56 Stück Pferde. Es giebt sogar Länder, in denen es mehr Pferde als Menschen giebt: so z. B. Argentinien, wo auf je 100 Einwohner 204 Pferde entfallen, oder das durch die Fleischextrakt-Bereitung berühmte Uruguay, in dem je 100 Einwohnern etwa 370 Pferde gegenüberstehen. *
Das Maria-Theresia-Denkmal für Wien. In den zierlichen Parkanlagen zwischen den beiden Hofmuseen am Burgring, deren feierliche Eröffnung mit der Enthüllung des schönsten Denkmals der Kaiserstadt, des Maria-Theresia-Denkmals, zusammenfallen wird, steht bereits der imposante Unterbau zu diesem Monument, das Oesterreich seiner unvergeßlichen Herrscherin widmet. Schon der architektonische Aufbau der nun beendeten Steinmetzarbeiten gewährt einen prächtigen Anblick. Von einer weiten Steinterrasse, auf welche man von vier Seiten her über etliche Stufen gelangt, erhebt sich ein stattlicher postamentartiger Sockel und auf diesem eine sechseckige säulengeschmückte Balustrade aus lichtgrauem Mauthhausener Granit – die Säulen sind dunkler –, welche ein mit Reliefs gezierter aufsteigender Sockel und sodann die Statue der großen Kaiserin, in vierfacher Lebensgröße und in sitzender Stellung, zu krönen bestimmt ist. Die allegorischen Figuren, welche zu Füßen der Kaiserin sitzen, versinnbildlichen die Kraft, die Milde, die Weisheit und die Gerechtigkeit, während auf den vier diagonalen Ausläufern des unteren Sockels die Reiterstatuen der Generale Daun, Laudon, Traun und Khevenhüller, jede einzelne selbst ein Monument, angebracht sind.
Zwischen diesen Reiterfiguren, auf etwas höherliegendem Niveau als diese, erscheinen die Standbilder von Kaunitz, van Swieten, Haugwitz und Nadasdy. Zwischen den Säulen der Balustrade aber zeigen sich Reliefgestalten, welche das „Kriegswesen“, die Politik, die Administration und Kunst und Wissenschaft darstellen. Die letztere wird repräsentirt durch die portraitähnlichen lebensgroßen Bilder von Eckhel, Pray, Gluck, Mozart (als Kind) und Haydn, welche Figuren zu einer schönen Gruppe vereinigt sind. Der Sockel, auf dem die vier Reiterstandbilder stehen werden, besteht aus dunkelgrauem, großweißgesprengtem Pilsener Granit. Je zwei Säulen von Sterzinger Marmor befinden sich bei den vier Votivtafeln, bei denen die Reliefs angebracht werden. Der Gesammteindruck, den das Monument bei dem Beschauer hervorruft, läßt sich durch eine trockene Aufzählung der einzelnen Theile des Denkmals wohl nicht hervorrufen, und seiner Zeit werden namentlich die zu beiden Seiten des großangelegten Standbildes sich erhebenden Museen einen imposanten Rahmen und das kaiserliche Stallgebäude im Hintergrunde eine stattliche Rückwand abgeben.
Puschkin’s Werke. Rußland feiert in Puschkin den größten Dichter in neuer Zeit: wir Deutsche erkennen seine Vorzüge gern an; aber wir bemerken in seinen farbenreichen und schwunghaften Dichtungen doch zu oft Züge, die uns an Lord Byron erinnern. Nach russischem Gesetze gehören die Werke eines Dichters noch fünfzig Jahre nach seinem Tode seiner Familie an; dann werden sie Nationaleigenthum. In Deutschland ist diese Frist bekanntlich auf dreißig, in Oesterreich nur auf zehn Jahre bestimmt. Der Dichter Puschkin fiel am 10. Februar 1837 in einem Duell. Da demnächst die fünfzigjährige Frist verstrichen, so bereitete die Gesellschaft zur Unterstützung hilfsbedürftiger Schriftsteller in Gemeinschaft mit der russischen Sektion der Akademie der Wissenschaften eine wohlfeile Gesammtausgabe von Puschkin’s Werken für das Volk vor. Es schien, als sollte dies Unternehmen noch in letzter Zeit auf ein Hinderniß stoßen, da Puschkin’s Sohn, Generalmajor in St. Petersburg, und seine Tochter Natalie, die in morganatischer Ehe mit dem Prinzen Nikolaus von Nassau vermählt ist, ihren Einfluß geltend machten, eine Verlängerung des Eigenthumsrechts für die Familie zu erlangen. Sie hatten schon den Unterrichtsminister dafür gewonnen; doch die Vorlage ging nicht durch. In Deutschland würden die Schriftsteller sehr zufrieden sein, wenn ihren Familien nach ihrem Tode wie in Rußland ein fünfzigjähriger Zeitraum zur Ausnutzung des geistigen Eigenthumsrechtes von dem Reichsgesetze gewährt worden wäre. †
„Kindermund“. Unter diesem Titel hat Paul von Schönthan in der Reclam’schen Universalbibliothek ein Bändchen herausgegeben, in welchem Aussprüche und Scenen aus dem Kinderleben gesammelt sind. Die drollige Naivetät unserer lieben Kleinen zeigt sich hier oft im schönsten Licht. Paul von Schönthan hat fleißig gesammelt, Zusendungen von allen Seiten erhalten und konnte so diese geflügelten Worte aus der Kinderwelt veröffentlichen, die meistens sehr ergötzlich sind. †
Die Freunde des Damespiels machen wir auf das folgende kleine Meisterstück aufmerksam.
Wird es bewegt von Menschenhand,
So will es nur den Stillestand;
Bewegt es aber selber sich,
Flieht Alles schnell vor seinem Stich.
Fr. F…t in Bremen. Ihre Frage, welchen Beruf Ihr Sohn ergreifen soll, ist für uns um so schwerer zu beantworten, als wir weder mit Ihren Verhältnissen noch mit den Kenntnissen und Neigungen Ihres Sohnes vertraut sind. Wir wollen Ihnen aber gern einige Hilfsmittel nennen, welche geeignet sind, Sie über die einzelnen Berufsarten zu orientieren und Ihnen die Wahl für Ihren Sohn zu erleichtern. Zunächst kommt in Frage, welche Schulbildung Ihr Sohn genossen hat. Will er in den Staatsdienst eintreten, so ist eine höhere Schulbildung erforderlich, da er ohne diese über den Subalterndienst nicht hinaus kommt. Hat er kein Gymnasium absolvirt, so ist die Wahl eines Gewerbes dem Staatsdienst vorzuziehen. Eine Zusammenstellung der wichtigsten Vorschriften über Anstellung und Beförderung in den sämmtlichen Zweigen des Staatsdienstes finden Sie in dem Buche: „Die Berufswahl im Staatsdienst“ von A. Dreger (2. Aufl., Leipzig, C. A. Koch’s Verlag [J. Sengbusch]), das wir Ihnen und überhaupt allen Eltern und Erziehern nicht dringend genug empfehlen können. Dasselbe ist mit Sorgfalt und Sachkenntniß ausgearbeitet und durchaus zuverlässig und vollständig. Ziehen Sie aber eine gewerbliche Berufsart dem Staatsdienst vor, so bietet sich Ihnen ein vortrefflicher Rathgeber in dem Werke „Die Berufswahl unserer Söhne“ von Ernst Rudolph (Wittenberg, R. Herosé). Der Verfasser dieses Buches hat es sich angelegen sein lassen, die Vorzüge und Nachtheile der einzelnen gewerblichen Berufsarten zu beleuchten, und Sie werden sich unter seiner Führung zweifellos leichter entschließen. Rechnen Sie aber auch – wir betonen das nochmals! – mit den Neigungen Ihres Sohnes! Fragen Sie also nicht nur: was soll und was kann er werden? sondern auch: was will der Junge werden? – Für einen Sohn ist die Berufswahl immer noch leichter als für eine Tochter. Da indeß manche Eltern gezwungen sind, sich auch für die letztere nach einem passenden Erwerbszweig umzusehen, so wollen wir bei dieser Gelegenheit zugleich auf ein Buch hinweisen, welches auch hier Rath ertheilt. Dasselbe führt den Titel: „Die Berufswahl unserer Töchter“ von A. von Fragstein (Wittenberg, R. Herosé) und enthält eine genaue Beschreibung aller für das weibliche Geschlecht in Frage kommenden Erwerbsgebiete. Das Werk ist mit Bienenfleiß zusammengestellt und für die gesammte Frauenwelt von hervorragender Wichtigkeit.
R. S. in Breslau. Heinrich Pfeil, der Herausgeber der „Sängerhalle“, feierte in diesem Jahre sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum. Sie erkundigen sich, wann das treffliche Organ des deutschen Sängerbundes begründet worden? Das geschah im Jahre 1861 durch den bekannten Dichter Müller von der Werra; doch schon im folgenden Jahre übernahm Heinrich Pfeil die Redaktion mit der ausgesprochenen Absicht, in der „Sängerhalle“ eine Heimstätte des Männergesanges zu begründen, und mit schönem Erfolg hat er bisher diesem Ziele nachgestrebt.
H. R., Abonnent der „Gartenlaube“ in Tübingen. Sie erkundigen sich nach einer Buchausgabe, in welcher Sie die in der „Gartenlaube“ erschienene Novellette „Romeo und Julie in der Garnison“ finden können. Der Verfasser, Karl Hecker, hat sie in seiner Sammlung „Aus den Memoiren eines Lieutenants“ (Stuttgart, Karl Krabbe) wieder zum Abdruck gebracht. Ueberhaupt können wir Ihnen diese Sammlung wegen des frischen Humors, welcher die meisten Erzählungen beseelt, und der aus dem Leben gegriffenen Schilderungen des Officierslebens bestens empfehlen. Wie Dickens seinen Cruikshank, hat Karl Hecker seinen H. Albrecht gefunden, der durch zahlreiche Illustrationen die Gestalten seines Humors in launiger, oft frappanter Weise verkörperte.
Raucher in K. Selbstverständlich schadet der Tabaksrauch den allermeisten Pflanzen; aber zu Ihrer Beruhigung können wir Ihnen mittheilen, daß es eine ganze Anzahl von Pflanzen giebt, die auch in dem Qualm des Rauchzimmers gedeihen, frisch grünen und fröhlich Blüthen treiben. Die bekannten „Frauendorfer Blätter“ bringen in einer ihrer letzten Nummern ein Verzeichniß von Pflanzen für das Rauchzimmer. Wir führen aus denselben nur folgende an: Latania borbonica, Dracaena congesta, Phoenix tenuis und silvestris, Philodendron pertusum, Ficus elastica. Für Blumenampeln eignen sich Epheu, Tradescantia, Lysimachia numularia foliis aureis und Fuchsia procumbens, die durch ihre rothen stachelbeergroßen Früchte das Auge bis lange in den Winter hinein erfreut.
H. in K. „Mucken“ bezeichnet in der Jägersprache die Gewohnheit mancher „Jagdfreunde“, beim Abfeuern mit dem Kopf zurückzufahren, mit den Augen zu blinzeln und dabei vorbeizuschießen. Die Schüsse derartiger „feuerscheuen“ Herren nennt man „Mucker“ oder „Wanker“.
Inhalt: Herzenskrisen. Roman von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 149. – Der Rastatter Gesandtenmord. Von Professor Dr. Karl Theodor Heigel (Schluß). S. 152. – Ein sangbar Lied. Gedicht von Alfred Friedmann. S. 155. – Das erste Jahr im neuen Haushalt. Eine Geschichte in Briefen. Von R. Artaria. III. S. 156. – Kleine Bilder aus der Gegenwart. Mit Illustration S. 157. – Ein verhängnißvolles Blatt. Erzählung aus den bayerischen Bergen von Anton Freiherrn v. Perfall (Fortsetzung). S. 157. – Die hundertjährige Jubelfeier eines Mannes der eignen Kraft. Von Dr. Klein. S. 160. Mit Illustration S. 149. – Nur Geduld. Illustration S. 161. – Blätter und Blüthen: Der deutsche Landsturm. S. 163. – Ein irrsinniger Dorfschulze. S. 163. – Hellenisches Mädchen am Brunnen. S. 163. Mit Illustration S. 153. – Etwas vom Pferdebestand. S. 163. – Das Maria-Theresia-Denkmal für Wien. S. 164. – Puschkin’s Werke. S. 164. – „Kindermund“. S. 164. – Allerlei Kurzweil: Damespiel-Aufgabe. Von Alfred Regnier. S. 164. – Räthsel. S. 164. – Kleiner Briefkasten. S. 164.
- ↑ Bei den Fernrohren nennt man die dem Auge zugekehrte Linse Okularglas, die dem zu beobachteten Gegenstande zugewendete Objektivglas.