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Die Gartenlaube (1888)/Heft 27

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1888
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[453]
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Alle Rechte vorbehalten.
Die Alpenfee.
Roman von E. Werner.
(Fortsetzung.)

Das Haus, welches Präsident Nordheim in der Hauptstadt bewohnte, entsprach mit seiner wahrhaft fürstlichen Einrichtung vollkommen dem Reichthum seines Besitzers. Das große, palastartige Gebäude lag im vornehmsten Theile der Stadt und war von einem der ersten Architekten erbaut worden; die inneren Räume zeigten eine verschwenderische Pracht, und eine zahlreiche Dienerschaft stand zur Verfügung; kurz es fehlte nichts, was ein Haushalt im großen Stile fordert.

An der Spitze dieses Haushaltes stand schon seit Jahren die Baronin Lasberg. Die verwitwete und ganz mittellose Dame, die von einem ihrer hochgestellten Verwandten dem Präsidenten empfohlen war, hatte sehr gern die Stellung im Hause des reichen Emporkömmlings angenommen, der sie unbeschränkt schalten und walten ließ, und Nordheim, so wenig schwach er auch in solchen Punkten war, empfand es doch als eine Annehmlichkeit, daß eine wirklich vornehme Dame seine Gäste empfing und bei seiner Tochter und Nichte Mutterstelle vertrat. Seit drei Jahren lebte auch Erna von Thurgau im Hause des Onkels, der zugleich ihr Vormund war und sie unmittelbar nach dem Tode ihres Vaters zu sich genommen hatte.

In seinem Arbeitszimmer saß der Präsident, im Gespräch mit einem Herrn, der ihm gegenüber Platz genommen hatte. Es war einer der ersten Rechtsanwälte der Stadt und der juristische Vertreter der Bahngesellschaft, an deren Spitze Nordheim stand; er schien jedoch zu den näheren Bekannten des Hauses zu gehören, denn die Unterhaltung hatte einen vertraulichen Anstrich, wenn sie sich auch augenblicklich um geschäftliche Dinge drehte.

„Sie sollten mit Elmhorst persönlich die Sache besprechen,“ sagte der Präsident. „Er kann Ihnen jedenfalls die beste Auskunft darüber geben.“

„Er ist also hier?“ fragte der Rechtsanwalt etwas überrascht.

„Seit gestern, und wird voraussichtlich eine Woche bleiben.“

„Das ist mir lieb; aber unsere Hauptstadt scheint eine besondere Anziehungskraft auf den Herrn Oberingenieur auszuüben; er ist ziemlich oft hier, wie mir scheint.“

„Allerdings, auf meinen Wunsch. Ich lege Werth darauf, über manches eingehender unterrichtet zu werden, als es durch Briefe geschehen kann. Ueberdies nimmt Elmhorst nur dann Urlaub, wenn er sich wirklich entbehrlich weiß; davon können Sie überzeugt sein, Herr Doktor.“

Doktor Gersdorf, ein Mann von etwa vierzig Jahren, eine äußerst stattliche Erscheinung, mit ernsten geistvollen Zügen, schien die Worte anders gemeint zu haben; denn er lächelte ein wenig spöttisch, als er erwiderte:

„Den Pflichteifer des Herrn Elmhorst zweifle ich gewiß nicht an, wir wissen ja alle, daß er darin eher zuviel thut als zu wenig. Die


Hermann Kaulbach.
Nach einem Selbstporträt.

[454] Gesellschaft kann sich Glück wünschen, eine so tüchtige Kraft gewonnen zu haben.“

„Nun, das ist wahrhaftig nicht das Verdienst der Gesellschaft,“ sagte Nordheim achselzuckend. „Ich habe damals, als es sich um seine Ernennung handelte, Kämpfe genug gehabt, und ihm selbst hat man seine Stellung auch so schwer gemacht, daß ein anderer vielleicht gewichen wäre. Es trat ihm ja überall die ausgesprochenste Feindseligkeit entgegen.“

„Er ist aber ziemlich schnell damit fertig geworden,“ meinte Gersdorf trocken. „Ich erinnere mich, es gab im Anfange bedenkliche Stürme von Seiten der Kollegen, die sich dieses souveräne Auftreten nicht gefallen lassen wollten, aber sie verstummten nach und nach. Ich glaube, der Herr Oberingenieur ist sehr energisch in solchen Dingen, und er hat so auch in den drei Jahren so ziemlich alles in seine Hand gebracht. Man weiß es nun nachgrade, daß er keinen über oder auch nur neben sich duldet als allenfalls den Chefingenieur, und der ist jetzt auch gänzlich auf seiner Seite.“

„Ich tadle diesen Ehrgeiz durchaus nicht,“ sagte der Präsident kühl; „wer empor will, muß sich freie Bahn schaffen. Meine Menschenkenntniß hat wieder einmal recht behalten, all dem Lärm gegenüber, der damals losbrach, als ich dem allerdings noch sehr jungen Manne die wichtige Stellung sicherte. Auch der Chefingenieur war anfangs gegen ihn eingenommen und gab nur widerwillig nach. Jetzt ist er froh, eine so unbedingte Stütze zu haben, und was nun vollends die Wolkensteiner Brücke betrifft, Elmhorsts eigenstes Werk – ich denke, damit kann er sich getrost in die erste Reihe stellen.“

„Die Brücke verspricht allerdings ein Meisterwerk zu werden,“ stimmte Gersdorf bei. „Ein kühnes, großartiges Bauwerk schon in der Anlage, es wird zweifellos der Glanzpunkt der ganzen Bahnlinie. – Es bleibt also dabei, daß ich selbst mit dem Oberingenieur spreche; ich finde ihn doch in seinem gewohnten Hôtel?“

„Nein, Sie finden ihn diesmal bei mir. Ich habe ihm die Gastfreundschaft meines Hauses angeboten.“

„Ah so!“ Ueber das Gesicht des Doktors glitt ein eigenthümliches Lächeln. Er wußte, daß Nordheim Beamte von dem Range des jungen Oberingenieurs stundenlang in seinem Vorzimmer warten ließ; diesen Elmhorst lud er als Gast in sein Haus ein. Man erzählte sich freilich noch viel erstaunlichere Dinge von seiner Vorliebe für den Mann, der von Anfang an sein Günstling gewesen war.

Der Rechtsanwalt aber ließ die Sache für diesmal auf sich beruhen; er hatte andere, wichtigere Dinge im Kopfe und verabschiedete sich etwas zerstreut und eilig von dem Präsidenten mit der Bemerkung, daß er Herrn Elmhorst sogleich aufsuchen werde. Trotzdem schien er keine besondere Eile damit zu haben; denn die Karte, welche er draußen dem Diener übergab, war für die Damen des Hauses bestimmt, bei denen er sich anmelden ließ.

Die Wohn- und Empfangsräume lagen im oberen Stockwerk, und im Salon thronte Frau von Lasberg in gewohnter feierlicher Gemessenheit. Nicht weit von ihr saß Alice; auch sie hatte sich kaum verändert in den drei Jahren. Es war noch immer die zarte, blasse Erscheinung, mit dem müden, theilnahmlosen Ausdruck in den anmuthigen Zügen, die „Treibhauspflanze“, die ängstlich vor jedem rauhen Luftzuge behütet wurde und ein Gegenstand fortwährender Sorge und Schonung für ihre Umgebung war. Ihre Gesundheit schien sich allerdings etwas mehr befestigt zu haben; aber es lag auch nicht ein Hauch von Jugendfrische und Jugendfreude auf dem farblosen Antlitz.

Die junge Dame, welche neben der Baronin Lasberg saß, hatte um so mehr davon. Es war eine kleine, zierliche Gestalt, der die dunkelblaue Straßentoilette mit dem pelzbesetzten Jäckchen allerliebst stand. Unter dem blauen Sammethute blickte ein reizendes, rosiges Gesichtchen hervor, mit dunklen, muthwillig blitzenden Augen, und eine Fülle von schwarzen Ringellöckchen krauste sich über der Stirn. Dazu lachte und plauderte der kleine Mund unaufhörlich; das etwa achtzehnjährige Mädchen war von übersprudelnder Lebhaftigkeit.

„Wie schade, daß Erna ausgegangen ist!“ rief sie. „Ich hatte etwas Wichtiges mit ihr zu besprechen; aber Du erfährst keine Silbe davon, Alice; es handelt sich um eine Ueberraschung zu Deinem Geburtstage. Es wird doch hoffentlich getanzt bei dem Feste?“

„Ich glaube kaum,“ sagte Alice gleichgültig; „wir sind ja schon im März.“

„Aber noch mitten im Winter! Heut morgen hat es geschneit, und tanzen kann man überhaupt immer!“ versicherte die junge Dame, und dabei geriethen ihre Füßchen in eine eigenthümlich zuckende Bewegung, als wolle sie gleich auf der Stelle den Beweis davon liefern. Frau von Lasberg sandte den vorwitzigen kleinen Füßen einen strafenden Blick zu und bemerkte kühl:

„Ich glaube, Sie haben in diesem Winter sehr viel getanzt, Baroneß Wally.“

„Aber noch lange nicht genug!“ erklärte die kleine Baroneß. „Wie bedauere ich die arme Alice, der das Tanzen verboten ist! Man will doch seine Jugend genießen, und wenn man heirathet, ist es ohnehin vorbei damit. ‚Ehe bringt Wehe!‘ pflegte unsere alte Kinderfrau immer zu sagen, und dann weinte sie regelmäßig und sprach von ihrem Seligen. Eine schlimme Prophezeiung! Glaubst Du auch daran, Alice?“

„Alice giebt sich schwerlich mit solchen Gedanken ab,“ sagte die alte Dame zurechtweisend. „Ich muß Ihnen überhaupt gestehen, liebe Wally, daß ich dieses Thema unpassend finde.“

„O!“ rief Wally, „finden Sie das Heirathen auch unpassend, gnädige Frau?“

„Wenn es mit Zustimmung und Billigung der Eltern, mit Beobachtung aller nöthigen Rücksichten geschieht – nein.“

„Dann ist es aber meist sehr langweilig!“ platzte die junge Baroneß heraus und erweckte damit sogar Alice aus ihrer Theilnahmlosigkeit.

„Aber Wally!“ mahnte sie vorwurfsvoll.

„Baroneß Ernsthausen scherzt selbstverständlich,“ sagte Frau von Lasberg mit einem vernichtenden Blick; „aber selbst solche Scherze sind nicht zu billigen. Eine junge Dame kann nicht vorsichtig genug sein in ihren Aeußerungen und ihrem Benehmen; die Gesellschaft ist leider sehr zu Klatschereien geneigt.“

Die Worte mochten wohl irgend eine geheime Beziehung haben; denn um die Lippen Wallys zuckte es, als unterdrücke sie das Lachen; aber sie entgegnete mit der unschuldigsten Miene:

„Da haben Sie vollkommen recht, gnädige Frau. Denken Sie nur, im vergangenen Sommer hat die ganze Badegesellschaft von Heilborn über die häufigen Besuche des Herrn Oberingenieur Elmhorst geklatscht. Er kam allerdings fast in jeder Woche –“

„Zu dem Herrn Präsidenten,“ schnitt ihr die alte Dame das Wort ab. „Herr Elmhorst hatte die Pläne und Zeichnungen für die neue Gebirgsvilla entworfen und leitete selbst den Bau; da war eine häufige Rücksprache unerläßlich.“

„Ja, das wußte alle Welt, aber man klatschte doch! Man hielt sich an die Blumenspenden und die sonstigen Liebenswürdigkeiten des Herrn Baumeisters und meinte –“

„Baroneß, ich muß Sie wirklich bitten, uns mit derartigen Berichten zu verschonen,“ unterbrach sie Frau von Lasberg, indem sie sich in zürnender Majestät aufrichtete. Die vorlaute junge Dame hätte wahrscheinlich noch eine längere Strafpredigt erhalten, wenn nicht ist diesem Augenblick der Diener eingetreten wäre und gemeldet hätte, daß der Wagen vorgefahren sei. Die Baronin erhob sich und wandte sich zu Alice.

„Ich muß in die Sitzung des Frauenvereins, mein Kind, Du darfst heut selbstverständlich nicht ausfahren bei dieser rauhen Luft. Du scheinst überhaupt etwas angegriffen zu sein, und ich fürchte –“

Ein sehr bezeichneter Blick ergänzte die Worte und gab das dringende Verlangen nach einer baldigen Entfernung des Besuches kund, aber leider vergebens.

„Ich bleibe bei Alice und leiste ihr Gesellschaft,“ versicherte Wally, mit der liebenswürdigsten Bereitwilligkeit. „Sie können ganz ohne Sorge sein, gnädige Frau.“

Die gnädige Frau preßte in gelinder Verzweiflung die Lippen zusammen; aber sie wußte aus Erfahrung, daß dies enfant terrible nicht fortzubringen war, wenn es sich einmal in den Kopf gesetzt hatte zu bleiben; sie küßte deshalb Alice auf die Stirn, neigte das Haupt gegen deren junge Freundin und nahm einen würdevollen Abgang.

Kaum hatte sich die Thür hinter ihr geschlossen, so flog Wally wie ein Gummiball in die Höhe.

„Gott sei Dank, daß sie fort ist, Deine allergnädigste Frau Oberhofmeisterin! Ich habe Dir etwas anzuvertrauen, Alice, etwas unendlich Wichtiges; das heißt, eigentlich wollte ich Erna ins Vertrauen ziehen, aber sie ist ja leider nicht da, also [455] mußt Du mir helfen, Du mußt! Oder Du machst zwei Menschen unglücklich, für Zeit und Ewigkeit!“

„Ich?“ fragte Alice, die sich bei dieser bedenklichen Einleitung denn doch veranlaßt sah, die Augen aufzuschlagen.

„Jawohl, aber Du weißt ja noch gar nichts! Jetzt muß ich Dir das alles erst auseinandersetzen, und es ist schon zwölf Uhr und Albert wird gleich hier sein – den Doktor Gersdorf meine ich. – Er liebt mich nämlich, und ich liebe ihn, und wir wollen uns natürlich heirathen; aber meine Eltern wollen das nicht zugeben, weil er bürgerlich ist. Mein Gott, Alice, so sieh doch nicht so erstaunt aus! Ich habe den Doktor so in Eurem Hause kennen gelernt, und in Eurem Wintergarten hat er mir die Liebeserklärung gemacht, vor acht Tagen, als der berühmte Virtuos im Musiksaal spielte und all die anderen zuhörten.“

„Aber –“ versuchte Alice einzuwerfen; sie kam jedoch nicht zu Worte bei der kleinen Baroneß, die ihre ganze Liebes- und Leidensgeschichte unaufhaltsam hervorsprudelte.

„Unterbrich mich nicht, ich habe Dir ja noch gar nichts gesagt! Als wir also an jenem Abende nach Haus kamen, erklärte ich meinen Eltern, daß ich Braut sei und daß Albert am nächsten Tage kommen werde, um mich anzuhalten. Da brach aber ein Lärm los! Der Papa war entrüstet, die Mama empört und der Großonkel schnaubte förmlich vor Wuth. Er ist nämlich eine ungeheure Respektsperson, der Großonkel, weil er so sehr reich ist und wir ihn einmal beerben werden, aber dazu muß er doch erst todt sein, und er hat noch gar keine Lust zum Sterben. Das ist sehr schlimm für uns, sagt der Papa, denn wir haben gar nichts; der Papa kommt nie aus mit seinem Gehalt, und der Großonkel rückt bei Lebzeiten auch nicht das Geringste heraus – so, nun bist Du im Klaren!“

„Nein, ich bin durchaus nicht im Klaren,“ sagte Alice, förmlich betäubt von diesem unendlichen Redestrom, mit dem sie überstürzt wurde. „Was willst Du denn mit Deinem Großonkel?“

Wally schlug verzweiflungsvoll die Hände zusammen über diesen Mangel von Begriffsvermögen.

„Alice, ich bitte Dich, sei nicht so gleichgültig! Ich versichere Dir, sie haben förmlich Gericht gehalten über mich. Die Mama sagte, sie bekomme schon Nervenzucken bei dem Gedanken, ich könne einmal Frau Gersdorf genannt werden; der Papa behauptete, ich dürfe mich nicht wegwerfen, weil ich dereinst eine ‚Partie‘ sein werde, und der Großonkel schnitt ein fürchterliches Gesicht dazu, weil er die Anspielung auf die Erbschaft gewaltig übelnahm; aber er selbst schrie am lautesten Zeter über die Mesalliance. Er zählte mir all unsere Ahnen und Urahnen auf, die sich sämmtlich im Grabe umdrehen würden. Das ist mir nun eigentlich sehr gleichgültig; die alten Herren mögen sich umdrehen, so viel sie wollen; dann haben sie doch eine Abwechselung in ihrer langweiligen Ahnengruft. Aber ich ließ mir unglücklicherweise beikommen, das zu sagen, und nun kam das Ungewitter über mich von drei Seiten zugleich. Der Großonkel hob die Hand empor und that einen Schwur, aber ich schwor auch! So habe ich vor ihm gestanden,“ sie stampfte mit beiden Füßchen den Teppich, „und ihm erklärt, daß ich von meinem Albert nicht lasse, nun und nimmermehr!“

Die kleine Baroneß mußte jetzt endlich einmal Athem schöpfen und benutzte diese unfreiwillige Pause, um an das Fenster zu eilen, da man soeben einen Wagen fortrollen hörte; dann flog sie ebenso schleunig wieder zurück in das Zimmer.

„Da fährt sie hin, die Frau Oberhofmeisterin, Gott sei Dank, jetzt sind wir sie los! Sie ahnt etwas von der Sache; ich bekam nicht umsonst vorhin die spitzen Bemerkungen! Aber jetzt kommt sie vorläufig nicht wieder; denn die Sitzung dauert mindestens zwei Stunden, das wußte ich und darauf habe ich meinen Plan gebaut. Du kannst wohl denken, Alice, daß mir jeder schriftliche und mündliche Verkehr mit Albert streng verboten wurde; natürlich schrieb ich ihm sofort, und sprechen muß ich ihn auch. Ich habe ihn deshalb hierher in Deinen Salon bestellt, und Du sollst der Schutzgeist unserer Liebe sein.“

Alice schien nicht sehr erbaut von der Rolle, die man ihr zuwies. Sie hätte die ganze Eröffnung in einer Weise aufgenommen, welche die heißblütige Wally zur Verzweiflung brachte, ohne jedes Ah und O, nur mit stummer Verwunderung darüber, daß so etwas überhaupt passiren konnte! Eine Verlobung ohne, ja gegen den Willen der Eltern, lag völlig außerhalb des Gesichtskreises der jungen Dame; dazu hatte Frau von Lasberg sie viel zu gut erzogen. Sie richtete sich deshalb mit einer gewissen Entschiedenheit aus ihrer bequemen Stellung empor und sagte:

„Nein, das schickt sich nicht.“

„Was schickt sich nicht – daß Du ein Schutzgeist bist?“ rief Wally entrüstet. „Willst Du mein Vertrauen täuschen, willst Du uns in Unglück, Verzweiflung, in den Tod jagen? Denn wir sterben alle beide, wenn wir uns nicht heirathen dürfen. Kannst Du das wirklich auf Dein Gewissen nehmen?“

Es blieb glücklicherweise keine Zeit, diese Gewissensfrage zu erörtern; denn soeben wurde Doktor Gersdorf gemeldet, und es trat ein peinlicher Moment des Zögerns ein. Alice schien wirklich geneigt, sich für krank zu erklären und den Besuch abweisen zu lassen; aber Wally, die das fürchten mochte, stellte sich dicht vor sie hin und sagte laut und diktatorisch: „Der Herr Doktor ist willkommen!“

Der Diener verschwand, und Alice sank mit einem Seufzer wieder in ihren Sessel zurück. Sie hatte das Aeußerste gethan und sich sträuben wollen; da man ihr aber den entscheidenden Befehl vor dem Munde fortnahm, fand sie sich nicht zu weiteren Anstrengungen veranlaßt, sondern ließ die Sache ihren Lauf nehmen.

Doktor Gersdorf trat ein und Wally flog ihm entgegen, bereit, sich in seine weitgeöffneten Arme zu stürzen; aber er öffnete keineswegs die Arme, sondern zog nur ihre Hand an seine Lippen und trat dann, die kleine Hand noch fest in der seinen haltend, zu der jungen Dame des Hauses.

„Mein gnädiges Fräulein, ich habe vor allen Dingen um Verzeihung zu bitten für die eigenthümliche Art, in der meine Braut Ihre Freundschaft in Anspruch genommen hat; die Verhältnisse zwingen uns leider dazu. Sie wissen vermuthlich schon, daß ich Wally meine Hand angetragen und ihr Jawort erhalten habe; ich wollte am nächsten Tage die Zustimmung ihrer Eltern erbitten, aber der Herr Oberregierungsrath hat meinen Besuch nicht einmal angenommen.“

„Und mich hat er eingesperrt,“ schob Wally empört dazwischen, „den ganzen Vormittag lang!“

„Ich stellte darauf meinen Antrag schriftlich,“ fuhr Gersdorf fort, „und erhielt eine eisig verneinende Antwort, ohne jede Angabe von Gründen. Baron Ernsthausen schrieb mir –“

„Einen ganz abscheulichen Brief!“ fiel Wally wieder ein; „aber der Großonkel hat ihn diktirt. Ich weiß es, ich stand am Schlüsselloch!“

„Jedenfalls war es eine Ablehnung meiner Bitte; da Wally mir aber freiwillig Herz und Hand gegeben hat, so werde ich mein Recht darauf zu behaupten wissen, und deshalb glaubte ich mich auch zu dieser Unterredung berechtigt, obgleich sie ohne Vorwissen der Eltern geschieht. Noch einmal, Verzeihung, gnädiges Fräulein! Sie dürfen überzeugt sein, daß wir Ihre Güte nicht mißbrauchen werden.“

Das klang alles so offen, so männlich und herzlich, daß Alice anfing, die Sache minder unschicklich zu finden, und mit einigen Worten ihre Zustimmung zu erkennen gab. Freilich begriff sie es nicht, daß dieser ernste, zurückhaltende Mann, der nur seinen Berufspflichten zu leben schien, die kleine quecksilberne, übersprudelnde Wally liebte und daß seine Neigung erwidert wurde; aber bezweifeln ließ sich diese Thatsache nicht mehr.

„Du brauchst gar nicht zuzuhören, Alice,“ sagte Wally tröstend. „Nimm doch ein Buch und lies, oder wenn Du wirklich angegriffen bist, so lege den Kopf zurück und schlummere ein wenig. Wir nehmen Dir das durchaus nicht übel, ganz im Gegentheil – nur sorge dafür, daß wir ungestört bleiben.“

Damit ergriff sie ihren Albert am Arm und zog ihn in den Erker, den die halb zurückgeschlagenen türkischen Vorhänge theilweise vom Salon abschlossen. Das Gespräch wurde anfangs im Flüstertone geführt; aber die kleine lebhafte Baroneß hielt das nicht lange aus; sie sprach bald genug erregt und laut, und auch Gersdorf erhob unwillkürlich die Stimme, so daß Alice schließlich die ganze Unterredung mit anhörte. Sie hatte gehorsam ein Buch ergriffen, ließ es aber urplötzlich sinken, da das entsetzliche Wort „Entführung“ an ihr Ohr schlug.

„Es bleibt uns durchaus kein anderes Mittel,‘ sagte Wally, ebenso diktatorisch wie vorher, als sie den Eintritt des Doktors

[456]

Jung Werner beim Freiherrn.
Nach dem Oelgemälde von R. Eisermann.
Photographie im Verlag von Franz Hanfstängl in München.

[457] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [458] erzwang. „Du mußt mich entführen, und zwar übermorgen Mittag um zwölf Uhr dreißig Minuten. Dann reist nämlich der Großonkel nach seinem Gute zurück und Papa und Mama begleiten ihn bis auf die Bahn; sie machen immer so entsetzlich viel Umstände mit ihm. Inzwischen können wir mit aller Bequemlichkeit durchgehen; wir reisen nach Gretna Green, lassen uns schleunigst trauen – ich habe einmal gelesen, daß es dort kein Standesamt und sonstige Umständlichkeiten giebt – und kommen als Mann und Frau zurück. Dann mögen sich all meine todten Ahnen auf den Kopf stellen und der lebendige Großonkel dazu; ich frage gar nichts danach, wenn ich erst Deine Frau bin.“

Der ganze Entführungs- und Reiseplan wurde in höchst überzeugender Weise vorgetragen, fand aber leider nicht die erwartete Zustimmung; denn Gersdorf sagte mit ruhiger Entschiedenheit:

„Nein, Wally, das geht nicht.“

„Nicht? Warum nicht?“

„Weil es verschiedene Gesetze und Paragraphen giebt, die dergleichen romantische Exkursionen nachdrücklich verbieten. Dein kleines Sprudelköpfchen hat freilich noch keine Ahnung von dem Leben und seinen Pflichten; aber ich kenne sie, und es würde mir, der ich eigens berufen bin, das Recht zu schützen, schlecht anstehen, wollte ich dies Recht mit Füßen treten.“

„Was gehen mich denn Deine Gesetze und Paragraphen an!“ fragte Wally, höchlich beleidigt durch diese kühle Aufnahme ihres romantischen Planes. „Wie kannst Du überhaupt von so prosaischen Dingen sprechen, wenn es sich um unsere Liebe handelt! Was sollen wir denn anfangen, wenn Papa und Mama bei ihrem Nein bleiben?“

„Vor allen Dingen warten, bis Dein Großonkel wirklich abgereist ist. Mit diesem starren alten Aristokraten ist nicht zu rechten; ich bin als Bürgerlicher in seinen Augen gänzlich unfähig, eine Baroneß Ernsthausen heimzuführen. Sobald aber sein Einfluß nicht mehr so ausschließlich in Deinem Elternhause vorherrscht, werde ich mir Gehör bei Deinem Vater verschaffen und versuchen, seine Vorurtheile zu überwinden; so leicht und schnell wird das allerdings nicht gehen, wir müssen eben Geduld haben und warten.“

Die kleine Baroneß stand ganz starr vor Schreck bei dieser Auseinandersetzung; sie sah all ihre Luftschlösser zusammenstürzen. Statt des geträumten Romans mit Flucht und heimlich geschlossener Ehe empfahl man ihr geduldiges Warten und Ausharren bei den tyrannischen Eltern, und der Geliebte, von dem sie erwartete, er werde sie im Sturme auf seinen Armen davon tragen, benahm sich so nüchtern und verständig, als beabsichtige er einen regelrechten Prozeß um ihren Besitz zu führen; das war zu viel für ihre heißblütige Natur, sie fuhr zornig auf:

„So sage es doch lieber gleich heraus, daß Dir an meiner Hand nichts liegt, daß Du nicht den Muth hast, etwas dafür zu wagen! Damals, als Du mir Deine Liebe erklärtest, sprachst Du ganz anders. Aber ich gebe Dir Dein Wort zurück, ich trenne mich auf ewig von Dir, ich –“ hier begann sie laut zu schluchzen, „ich werde irgend einen Menschen mit unendlich viel Ahnen heirathen, den mir der Großonkel aussucht; aber ich werde sterben vor Gram darüber, und ehe ein Jahr vergeht, liege ich selbst in der Ahnengruft!“

„Wally!“ sagte die ernste milde Stimme des Doktors vorwurfsvoll.

„Laß mich!“ sie versuchte ihm ihre Hand zu entreißen, aber er hielt sie fest.

„Wally, sieh mich an! Glaubst Du wirklich nicht an meine Liebe?“

Das war wieder jener Ton der vollsten Zärtlichkeit, den Wally nur zu gut kannte von jenem Abende her, wo sie beide allein waren in dem duftigen, dämmernden Wintergarten, wo sie mit klopfendem Herzen und glühenden Wangen das Geständniß der Liebe empfing, während drüben aus dem Saale die Töne der Musik herüberklangen. Sie hörte auf zu schluchzen und blickte durch den Thränenschleier zu dem Geliebten empor, der sich tief herabbeugte.

„Hat meine süße kleine Wally denn gar kein Vertrauen zu mir? Du hast Dich mir zu eigen gegeben, und nun bist und bleibst Du mein, mag sich auch alles dagegen setzen. Ich werde mir mein Glück sicher nicht entreißen lassen, wenn es auch noch eine Weile dauert, bis ich mein Weib in die Arme schließen kann.“

Das klang so warm, so innig, daß die Thränen der jungen Baroneß völlig versiegten, leise sank ihr Köpfchen an seine Brust, und es zuckte schon wieder ein Lächeln um ihre Lippen, als sie halb schelmisch und halb ängstlich fragte:

„Aber, Albert, so lange wird es doch nicht dauern, bis Du so alt wie der Großonkel geworden bist?“

„Nein, so lange nicht!“ tröstete Albert, indem er die letzte Thräne fortküßte, die noch an der Wimper hing. „Dann würde dies böse trotzige Kind, das sich so ohne weiteres von mir lossagt, wenn ich ihm nicht gleich auf der Stelle den Willen thue, mich schwerlich noch wollen.“

„O, Dich will ich immer!“ rief Wally mit stürmisch ausbrechender Zärtlichkeit. „Ich habe Dich ja so lieb, Albert, so grenzenlos lieb!“

Er zog sie in die Arme; aber seine Stimme sank jetzt zum Flüstern herab; Wally antwortete ebenso, und der Schluß der Unterredung blieb unverständlich. Nach etwa fünf Minuten traten beide wieder in den Salon, gerade zur rechten Zeit; denn soeben erschien Oberingenieur Elmhorst, der als Hausgenosse keiner Anmeldung bedurfte und von diesem Rechte Gebrauch machte.

(Fortsetzung folgt.)





Der Hypnotismus, sein Nutzen und seine Gefahren.
1. Die wissenschaftliche Forschung.

Professor J. N. von Nußbaum erzählt in seinem jüngst erschienenen Vortrage „Neue Heilmittel für die Nerven“[1], daß er vor 30 Jahren in Paris Sitzungen beiwohnte, in welchen Experimente mit dem sogenannten thierischen Magnetismus angestellt wurden. „Wir deutschen Mediziner,“ sagt der Verfasser, „hätten natürlich das höchste Interesse daran gehabt, eingeschläfert zu werden, um alles dabei Vorkommende möglichst selbst durchzumachen; allein es ist bei keinem einzigen von uns gelungen, ihn einzuschläfern, so daß die französischen Aerzte, die sich damit beschäftigten, immer ungehalten wurden, wenn wieder einer von uns hypnotisirt werden wollte. ‚Les Allemands passen nicht hierfür,‘ meinten sie. Von den anwesenden Parisern ist es dagegen stets gelungen, mindestens die Hälfte einzuschläfern.“ Professor von Nußbaum hat auch später auf seiner Klinik in München ähnliche Erfahrungen gemacht. Die Deutschen paßten nicht für hypnotische Experimente, sie waren dazu weniger veranlagt als die Franzosen.

Dies mag wohl mit der Grund gewesen sein, warum der Hypnotismus in Deutschland so geringe Fortschritte gemacht hat und bis vor wenigen Jahren von den wissenschaftlichen Autoritäten die sonderbaren Erscheinungen desselben in das Gebiet der Fabel oder des Schwindels verwiesen wurden. Dazu kam ja noch, daß die gelehrigen Schüler Anton Mesmers, der am Ende des vorigen Jahrhunderts als der größte Apostel des „thierischen Magnetismus“ aufgetreten war, durch ihre Schwindeleien die ganze Lehre in den ärgsten Mißkredit gebracht hatten, so daß schon eine einfache Beschäftigung mit derartigen Experimenten als etwas Ungeheuerliches und Unreelles betrachtet wurde. Das Vorurtheil in den fachwissenschaftlichen Kreisen war so festgewurzelt, daß selbst die schlagendsten Forschungen eines ernst die Wahrheit suchenden Arztes, wie die von James Braid in den vierziger Jahren dieses Jahrhunderts, unberücksichtigt geblieben sind und bis auf die neueste Zeit fast gänzlich vergessen wurden.

Heute ist es aber anders geworden. Es fanden sich Meister, welche auch die Deutschen in der Kunst des Hypnotisirens unterrichteten, und wenn wir an die Schaustellungen Hansens und [459] seiner Nachfolger denken, so müssen wir zugeben, daß nunmehr auch die Deutschen für den Hypnotismus sich eignen. Ja, wer die Tageslitteratur und die Fachzeitschriften nach dieser Richtung hin prüft, der wird finden , daß wir trotz unserer geringeren Veranlagung zum Hypnotismus an Auswüchsen desselben zu leiden haben, beinahe ebenso wie die leichter empfänglichen Nachbarn jenseit der Vogesen. Selbst die Behörden mußten gegen den hypnotischen Unfug bei uns einschreiten, und auch die volksthümliche Presse hat die Pflicht, weitere Volkskreise auf die Gefahren des Hypnotismus aufmerksam zu machen. Gleichzeitig darf man die überraschenden Thatsachen, welche eine durchaus vorurtheilsfreie Forschung zu Tage gefördert hat, nicht einfach leugnen. Man muß sozusagen streng zwischen wissenschaftlicher Forschung auf diesem Gebiete der Nervenerscheinungen und einer laienhaften Experimentirsucht unterscheiden. Von der ersten können wir neue Aufschlüsse über ein noch sehr dunkles Gebiet erwarten; letztere kann nur Verwirrung bringen und Schaden stiften.

Was ist nun Hypnotismus? wird zunächst der Laie fragen und eine genaue Definition desselben haben wollen. Leider ist es dem größten Gelehrten nicht möglich, nach dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft diesen Wunsch zu erfüllen. Wir können nur sagen, daß der Hypnotisirte sich in einem eigenartigen Zustand befindet, der dem gewöhnlichen Schlaf in mancher Beziehung nicht unähnlich, in vieler Hinsicht aber von diesem durchaus verschieden ist und darum wohl in früheren Zeiten „magnetischer Schlaf“ genannt wurde.

Am leichtesten können wir durch Anführen einiger Beispiele dem Laien einen Begriff von dem Wesen des Hypnotismus ermöglichen.

Früher glaubte man, daß nur einige wenige Menschen die besondere Eigenschaft hätten, bei andern den hypnotischen Zustand hervorzurufen, nannte sie „Magnetiseure“ und behauptete, sie besäßen ein besonderes „magnetisches Fluidum“. Jetzt wissen wir, daß jedermann, der die nötigen Vorkenntnisse sich erworben hat, andere hypnotisiren kann, und daß es eine ganze Reihe von Mitteln giebt, durch welche dieses Ziel erreicht wird.

Der bekannte Magnetiseur Abbé Faria, der zu Anfang dieses Jahrhunderts in Frankreich wirkte, pflegte seine Patienten zu überraschen, indem er ihnen plötzlich die Hände entgegenstreckte und befehlend rief. „Schlafe!“ Es gelang ihm, auf diese Weise viele zu hypnotisiren. Braid ließ die Patienten einen glänzenden Gegenstand (Glasknopf etc.) fixieren, und diese zuverlässigere Methode wird heute noch am häufigsten angewandt. Heidenhain versetzte seine Studenten dadurch in Schlaf, daß er sie mit geschlossenen Augen auf das Ticken einer Taschenuhr horchen ließ. Andere wieder wenden die sogenannten „Passes“ an, Striche, bei welchen die Handflächen in der Nähe des Körpers langsam und immer in der gleichen Richtung bewegt werden. Es sind dies alles Methoden, bei welchen länger andauernde, gleichmäßige Sinnesreize die Hauptsache bilden.

Früher glaubte man auch, daß nur ein geringer Bruchtheil der Menschen (namentlich Nervenschwache und Nervenkranke) hypnotisirt werden könne. Je mehr aber die Wissenschaft fortschritt, desto größer wurde jener Bruchtheil, und heute nehmen einige der Gelehrten an, daß wohl alle Menschen hypnotisirt werden können, sobald man die für jeden am besten geeignete Methode zur Anwendung bringe. Endlich kann man sich selbst, ohne Zuthun einer zweiten Person, in den Zustand der Hypnose versetzen, was schon Braid an sich selbst bewies.

Welches sind nun die Erscheinungen des magnetischen Schlafes oder der Hypnose? Auch auf diese Frage läßt sich keine eng begrenzte Antwort geben; denn die Erscheinungen sind so mannigfaltig, wechseln so stark je nach dem Grade des Schlafes und der Individualität des Hypnotisirten, daß es der Wissenschaft bis jetzt nicht gelungen ist, sie in ein unanfechtbares System zu ordnen. Je nach der Tiefe des Schlafes unterscheidet Charcot z. B. drei und Liégeois sechs Stufenleitern der Hypnose. In dieser Abhandlung, welche für Laien bestimmt ist, glauben wir, von einem näheren Eingehen auf den kataleptischen, lethargischen oder somnambulen Zustand absehen zu dürfen. Wie groß die Unterschiede zwischen dem einen und dem anderen sein können, mag nur an einem Beispiel erläutert werden.

In der vollständigen Hypnose wird das Gefühl derart abgestumpft, daß der Hypnotisirte keine Schmerzen empfindet; man hat darum den Hypnotismus als Ersatz für das Chloroform anempfohlen, und in der That sind mit dessen Hilfe von vielen Aerzten zahlreiche schwere Operationen ganz schmerzlos ausgeführt worden. Bei leichteren Graden des hypnotischen Schlafes treten dagegen ganz entgegengesetzte Erscheinungen auf.

Das Gefühl ist in solchen Fällen nicht abgestumpft, im Gegentheil, es ist eine sehr auffällige Verfeinerung aller Sinne nachzuweisen. Die Hautnerven werden empfindlicher; der Gesichtssinn verschärft; in vielen Fällen konnten von den Hypnotisirten Worte und ganze Zeilen bei einer so schwachen Beleuchtung noch deutlich gelesen werden, daß weder dieselbe Person im wachen Zustande, noch die andern Anwesenden nur einen Buchstaben zu entziffern vermochten.[2] Auch der Geruchssinn erlangt eine eigenthümliche Schärfe, so daß Hypnotisirte die Eigenthümer der ihnen vorgehaltenen Gegenstände allein durch den Geruch zu finden in der Lage waren.

Die interessantesten und zugleich wichtigsten Erscheinungen, welche während der Hypnose überhaupt beobachtet worden, sind jedoch diejenigen, welche sich aus dem psychischen Gebiete vollziehen: die hochgradige Willensschwäche, welche bis zum gänzlichen Aufgeben des eigenen Willens gesteigert werden kann, die Beeinflussung des Gedächtnisses und die Suggestion.

Das Gedächtniß kann im hypnotischen Somnambulismus ungemein gesteigert werden. Schon in Braids Schriften ist von einer ehemaligen Haushälterin eines hebräischen Geistlichen die Rede, welche im hypnotischen Zustand ganze hebräische Predigten hersagte. Der Geistliche hatte die Gewohnheit, seine Predigten laut auswendig zu lernen, und die Laute hatten sich dem Gedächtniß der Haushälterin eingeprägt. Merkwürdig war es dabei, daß die Haushälterin sich im wachen Zustande keines Wortes der Predigten erinnerte und erst in der Hypnose die klarste Erinnerung des früher Gehörten zeigte.

Aus jüngster Zeit stammt der Versuch von Richet. Er hypnotisirte eine Dame und recitirte ihr einige Verse, von denen sie beim Erwachen nichts mehr wußte. Abermals eingeschläfert, sagte sie dieselben vollkommen richtig auf und hatte sie, erweckt, abermals vergessen. Bottey erzählt, daß ein junger Mensch im hypnotischen Zustande einen ganzen Text, den man ihm diktirt, von einem leeren Blatte richtig ablas, nachdem man ihm die beschriebenen Blätter weggenommen hatte.

Das Gedächtniß kann aber bei ähnlichen Versuchen auch völlig schwinden, namentlich wenn dem Hypnotisirten suggerirt wird, er soll alles das, was er in der Hypnose erlebt hat, vergessen.

Das Wort „suggeriren“ bedeutet so viel als jemand etwas einreden, ihn beeinflussen, daß er etwas thut, und für die Suggestion sind die Hypnotisirten besonders empfänglich.

„Bekanntlich,“ schreibt Professor Dr. H. Obersteiner,[3] „lassen sich willensschwache Menschen durch jedermann beeinflussen; man kann sie leicht dahin bringen, daß sie von Stunde zu Stunde ihre Anschauung wechseln. Wenn nun, wie wir gesehen haben, beim Hypnotisirten der eigene Wille auf ein Minimum reducirt ist, so muß es uns von vornherein begreiflich erscheinen, daß derselbe im höchsten Grade für Suggestionen empfänglich ist.“

In den hypnotischen Schaustellungen, die öffentlich veranstaltet wurden, bildeten die Suggestionserscheinungen die Glanzpunkte des Programms. Da verzehrten die Hypnotisirten rohe Kartoffeln, in der Meinung , es seien Aepfel, tranken ein Glas Wasser, das ihnen als Branntwein gereicht wurde, und taumelten darauf wie Betrunkene; hielten eine Flasche für eine Trompete und bliesen darauf; tanzten mit alten Herren in der Meinung, sie hätten junge Damen vor sich, etc.

Man kann der hypnotisirten Person einreden, daß sie anders heiße, jemand anders sei. So brachte Richet eine dreiundvierzigjährige Dame dahin, sich nach einander für eine Bäuerin, eine Schauspielerin, einen General, einen Prediger, eine Nonne, ein kleines Kind, einen jungen Mann etc. zu halten, und die Hypnotisirte gab sich alle erdenkliche Mühe, sich so zu gebärden, wie es die Rolle erheischte. Als kleines Mädchen will sie ihre Puppe und Süßigkeiten; als General verlangt sie Roß und Degen, kommandirt, beklagt sich über schlechtes Manövriren; als Schauspielerin erzählt sie ihre Erlebnisse etc.

Die Suggestion kann sich auch über die Zeit des hypnotischen Schlafes hinaus erstrecken. Man hat Beispiele, daß, wenn der [460] schlafenden Person der Auftrag ertheilt wird, nach dem Erwachen zu einer bestimmten Zeit eine bestimmte That zu begehen, sie diesen Auftrag erfüllt, selbst wenn die That eine unsinnige ist.

Kurz gesagt, der Hypnotisirte kann zu einem blinden Werkzeug des mit ihm Operirenden werden, und es giebt Fälle, in welchen beinahe Unglaubliches erreicht wurde.

Noch merkwürdiger sind die „negativen Hallucinationen“. Es sind mehrere Personen im Zimmer zusammen. Dem Hypnotisirten wird gesagt, fünf Minuten nach seinem Erwachen werden alle weggehen bis auf den Arzt. Der Hypnotisirte erwacht; man spricht mit ihm über allerlei Gegenstände; aber nach fünf Minuten sind mit Ausnahme des Arztes alle Anwesenden für ihn verschwunden; er antwortet nicht auf ihre Fragen, hört nicht was sie sagen, bemerkt nicht, daß ihn der eine am Arme genommen hat, fragt vielmehr den Arzt: „Wohin sind denn die Herren plötzlich gegangen?“

Mit diesen Beispielen ist jedoch die wunderbare Welt hypnotischer Erscheinungen noch nicht erschöpft. Nicht nur der Geist, sondern auch die Funktionen des organischen Lebens, die wir sonst durch unsern Willen nicht beeinflussen können, sollen der Macht der Suggestion unterworfen sein.

Es ist in der That erwiesen, daß durch Anwendung der Hypnose bedeutsame und praktisch wichtige Thatsachen für die Heilkunde gewonnen werden.[4] Eine neue Entdeckung ist damit wohl schwerlich gemacht worden; denn sogenannte moralische Kuren, in denen der Glaube an ein Mittel oder den Arzt allein heilte, sind seit den ältesten Zeiten bekannt. Die Wissenschaft ist aber durch diese Versuche dem Wesen und den Ursachen jener Wunderkuren nähergetreten, und man darf wohl hoffen, daß die gründliche Untersuchung dieser Frage schließlich zum Wohl der leidenden Menschheit ausfallen wird.

Verhehlen darf man aber nicht, daß der Reihe der glücklichen Treffer auch eine Reihe mißlungener Versuche gegenübersteht, und dies mahnt zur Vorsicht in der Anwendung des neuen Heilmittels.

Man sollte trotzdem meinen, daß dieser Aufschwung der Forschung auf dem Gebiete des Hypnotismus mit Freuden begrüßt werden müßte. Erklärt uns doch derselbe, daß viele Thatsachen die Jahrhunderte hindurch bald als Wunder, bald als Zauber, bald als Schwindel aufgefaßt und gedeutet wurden, natürliche Vorgänge sind, die im Bereich unserer Forschung liegen. Verspricht er uns doch, daß diese sonderbaren, staunenerregenden Versuche mit der Zeit in der Hand eines tüchtigen Arztes zu Heilmitteln werden können, die der leidenden Menschheit zu gute kommen werden!

Aber die Fortschritte des Hypnotismus werden keineswegs überall mit enthusiastischer Freude begrüßt. Man spricht weniger von dessen Nutzen als von den Gefahren, die er mit sich bringt. Wir müssen zugeben, daß diese Befürchtungen durchaus berechtigt sind. Inwiefern die Hypnose zu verbrecherischen Zwecken mißbraucht werden kann, darüber hat die „ Gartenlaube“ schon im vorigen Jahre ihren Lesern berichtet. Heute müssen wir noch auf die G efahren aufmerksam machen, welche aus ihm der Gesundheit und der öffentlichen Moral erwachsen können und zum Theil leider schon erwachsen sind.

Das Suchen nach neuen Heilmitteln ist in der Natur des Menschen begründet. Wenn aber in fernen Welttheilen irgend ein Pflanzenstoff gefunden wird, der ein starkes Gift und zugleich ein Heilmittel ist, so wird niemand von den über das Land verstreuten praktischen Aerzten verlangen, daß sie in ihrer Praxis Versuche mit dem neuen Pflanzenstoff anstellen. Man weiß es wohl, daß dadurch viele nur an ihrer Gesundheit geschädigt werden könnten. Das neue Heilmittel muß zunächst von Specialärzten, die über Kliniken und Hospitäler verfügen, von Professoren, die mit Hilfe ihrer Assistenten den Kranken unausgesetzt beobachten können, in vorsichtigster Weise geprüft werden, und erst wenn die zur Forschung berufenen Mediziner ihr Urtheil abgegeben haben, wird das Heilmittel zum Gemeingut aller Aerzte und aller Kranken.

Ein Heilmittel und Gift zugleich, ein zweischneidiges Schwert ist aber auch die Hypnose, und Aerzte, die über die obenerwähnten Hilfsmittel nicht verfügen und keine Gelegenheit hatten, besondere praktische Studien über den Hypnotismus anzustellen, verzichten zunächst im Interesse ihrer Kranken auf die Anwendung derselben.

Was die Wissenschaft bis jetzt auf diesem Gebiete erlangt hat, das ist im großen und ganzen nur die Feststellung einiger Thatsachen: sie müssen noch ergründet und geprüft werden, bevor wir aus ihnen allgemeine Schlüsse ziehen können, und darum gehört das hypnotische Experiment entschieden und ausschließlich in das Laboratorium des Fachgelehrten.

Die Lage der Dinge ist so einfach, daß man eigentlich weder Papier noch Tinte zu verschwenden brauchen sollte, um sie klar zu legen. In Wirklichkeit aber sieht es ganz anders aus. Die sachverständigen Aerzte schreiten mit der größten Vorsicht vorwärts; dagegen haben wir eine ganze Legion von Heilmagnetiseuren, welche die Menschheit kuriren wollen, ohne irgend welche ärztliche Vorbildung zu besitzen; dagegen werden aus reiner Neugierde und Unterhaltungslust von Laien Experimente angestellt, welche geeignet sind, die Gesundheit der Theilnehmer zu schädigen und die öffentliche Moral zu untergraben. Darum muß der Laie gewarnt werden, und diesem Zweck sollen die in nächsten Nummern folgenden Artikel dienen.




Hermann Kaulbach.

Gewiß kommt es manchem Maler zu statten, wenn er sich durch Noth und Drangsal zur Geltung und Anerkennung hindurchringen muß. Die Energie, mit welcher er allerlei Entbehrungen und Gegnerschaften zu bekämpfen hat, mag mitunter seine Kühnheit und sein Selbstvertrauen heben sowie die Entschiedenheit seiner Gestaltungskraft steigern. Allein nicht immer stehen Mühsale und das raschere Reifen künstlerischer Fähigkeiten in einer förderliche Wechselwirkung. Mancher Kunstjünger unterliegt im Kampfe mit des Lebens Noth; der größte Kraftaufwand bleibt oft unfruchtbar, wenn nicht gute Menschen, wohlwollende Lehrer und günstige Zufälle den jungen Künstler stützen. Besser entwickeln sich vorhandene Anlagen unter dem Schutze einer sorgenfreien Lebenslage; Kunstwerke werden sicherer befriedigen, wenn sie bei voller Muße, in glückshellen Stunden geschaffen wurden, als wenn sie bloße Schmerzenskinder sind.

Hermann Kaulbach gehört nun zu jenen Künstlern, welche ihre Schaffenskraft unter den günstigsten Lebensverhältnissen zur Entwickelung bringen konnten. Als einziger Sohn des großen Meisters Wilhelm von Kaulbach, des vormaligen Direktors der Münchener Kunstakademie, verbrachte er seine Jugend unter den erziehlichen Einflüssen einsichtsvoller Lehrer. Schon als Knabe besaß Hermann eine lebhafte Phantasie und den Drang, dem Spiele seiner Vorstellungen und den Einflüssen aus sein Empfinden einen künstlerischen Ausdruck zu geben; er machte mit großer Leichtigkeit kurze Gedichte, in welchen sein gutes, weiches Herz lebhaft und liebenswürdig das Wart nahm. Schon als fünfjähriger Knabe hat Hermann gereimte Verse aus dem Stegreif vor sich hingesagt. Geibel, Bodenstedt und andere Freunde der Familie Wilhelm von Kaulbachs meinten, daß sich aus Hermann ein bedeutender Dichter entwickeln werde. Hermann Kaulbach würde vielleicht ein tüchtiger Schriftsteller geworden sein, wenn er nicht jener Poesie dienstbar geworden wäre, welche in Werken der bildenden Kunst ihr Heim findet. Bezeichnend ist es für sein Wesen, daß er als Knabe den Werth von Spielsachen gering anschlug, dafür aber um so lieber mit Thieren verkehrte. Er bekam ein Zimmer für Schlangen, welche er fütterte, pflegte, beobachtete und andichtete; Füchse, Hunde, Tauben, Truthähne und Pfauen waren seine Spielgenossen und treuen Freunde. Ihnen erschloß er sein mildes Herz, während er Menschen gegenüber still, ernst und verschlossen blieb.

Wilhelm von Kaulbach, welcher sich viel mit seinem Sohne abgab, nahm ihn nach Berlin, wo er dem Vater zusah, wie er seine weltberühmten Bilder auf die Wand zauberte. Dabei mag sich in der reizbaren Phantasie des hochbegabten Knaben der Drang nach künstlerischem Gestalten entwickelt haben. In Nürnberg, wo er später das Gymnasium besucht hatte, zeichnete [461] und malte er im Hause seines Schwagers Kreling, des Leiters der Nürnberger Kunstgewerbeschule, ohne methodische Anleitung und nur deshalb, weil er am Nachbilden der Naturformen Vergnügen fand. Poet ist Hermann Kaulbach geblieben, auch als er aufgehört hatte, Verse zu machen. Man sieht es ja in seinen Gemälden, wie er die Poesie der Frauen- und Kinderanmuth zu versinnlichen versteht. Leuchtet doch diese Art von Poesie in sein eigenes Leben hinein. Hermann lernte nämlich, noch jung an Jahren, die ebenso anmuthige wie geistesfrische Tochter eines Nürnberger Künstlers kennen, gestand nicht nur ihr, sondern auch dem Vater seine Liebe, und die Verlobung fand statt.

Hermann Kaulbach wollte ursprünglich Arzt werden und besuchte bereits die Vorlesungen Liebigs, Jollys und anderer Universitätslehrer, als Karl von Piloty einmal die Studienköpfe entdeckte, welche Hermann zum Zeitvertreib zeichnete. Piloty redete nun dem geweckten Jünglinge zu, doch Maler zu werden. Wilhelm von Kaulbach hatte dagegen um so weniger etwas einzuwenden, als sich Piloty, der vortreffliche Kunstlehrer, erbot, den vielversprechenden Schüler in seinem eigenen Atelier zu unterrichten. Hermann verbrachte nun mehrere Lernjahre unter dem wohlthätigen Einflusse Pilotys, welcher dem jungen Künstler besonders seit einer gemeinschaftlich nach Venedig unternommenen Reise in treuer Freundschaft zugethan blieb.

Die Liebe förderte die künstlerische Entwickelung Hermanns. „Früher darfst Du nicht heirathen, bis Du Dein erstes Bild verkauft haben wirst,“ sprach Wilhelm von Kaulbach zu seinem Sohne, und diese Worte beflügelten den Lerneifer des jungen Malers. Das erste Bild Hermanns war ein schlichtes Stillleben, von dessen Verkauf der innigste Zusammenschluß zweier hoffender Herzen abhing. Plötzlich kam ein Käufer, welcher dem jungen Maler vierhundert Gulden für dieses Stillleben ausbezahlen ließ, und jubelnd kam der glückliche Bräutigam nach Hause. Da aber saß still lächelnd der edle Kunstmäcen vor einem Glase Wein und vor dem eben angekauften Bilde Hermanns. „Evviva! liebes Kind!“ rief Meister Wilhelm Kaulbach seinem Sohne entgegen; „wann machst Du Hochzeit?“ Heute hängt das erste Bild Hermanns in dem Arbeitszimmer der geistvollen Gattin des Künstlers und sieht auf das häusliche Glück desselben herab.

„Mädchenblüthe.“
Nach dem Gemälde von Hermann Kaulbach.

Die innigen Herzensbeziehungen Karl v. Pilotys zu seinem Schüler Hermann Kaulbach fanden auch darin ihren Ausdruck, daß Piloty, einen Sohn Hermann Kaulbachs aus der Taufe hebend, seinem Pathenkind gestattete, nach amerikanischer Sitte den Namen Piloty-Kaulbach zu führen. Als Karl v. Piloty vor zwei Jahren das Bild H. Kaulbachs „Die Krönung der heiligen Elisabeth“ (siehe „Gartenlaube“ Jahrg. 1886, S. 708. u. 709) der Vollendung nahe auf der Staffelei gesehen, regte er es an, daß der Schöpfer dieses edlen Bildes zum Ehrenmitgliede der Münchener Akademie der bildenden Künste ernannt wurde. Diese Ernennung erfolgte einstimmig. Piloty war eben ein neidloser und warmherziger Künstler, welchem es immer eine aufrichtige Freude bereitet hatte, die Vorzüge seiner Kunstgenossen rückhaltlos anzuerkennen. – Da Professor Hermann Kaulbach das Glück seiner Jugend dem Umstande verdankte, daß sich seine Anlagen zwanglos entfalten, seine Herzenswünsche frei offenbaren durften, so hat er die Freiheit und persönliches Ungebundensein schätzen gelernt und ist später einer jeden Zwangsstellung im Leben aus dem Wege gegangen. Seine Scheu vor Zwangslagen geht sogar so weit, daß er gegenüber Kunsthändlern und Kunstfreunden, welche ein kaum angefangenes Gemälde von ihm erwerben wollen, abwehrend zu bemerken pflegt, doch lieber zu warten, bis das Bild zu Ende gemalt sein werde. Seinen Drang, als Künstler ungefesselt zu bleiben, findet Hermann Kaulbach in dem von ihm oft wiederholten Sinnspruch Paul Heyses prägnant ausgedrückt:

„Mir ward ein Glück, das ich höher schätzte
Als alles Gold in Perus Ebene:
Ich hatte niemals Vorgesetzte
Und niemals Untergebene!“

Bei Hermann Kaulbach bewährte es sich, daß eine tüchtige Schulbildung die künstlerische Entwickelung fördere. Sein feiner Geschmack ist nicht nur die Folge eifriger, technischer Studien, sondern auch die Konsequenz einer gewählten Lektüre, welche ihm, dem Historienmaler, gestattet, immer neue bedeutsame Stoffe für seine Bilder zu finden. Die technische Befangenheit, welche seinen Erstlingswerken noch anhaftete, wurde immer entschiedener überwunden und sein erstes größeres Bild: „Der sterbende Mozart bei Aufführung seines Requiems“ hat im Jahre 1872 in Wien ebenso eine goldene Ehrenmedaille errungen, wie sein letztes Gemälde „Die Krönung der heiligen Elisabeth“ in der Berliner Jubiläumsausstellung.

Vortheilhaft bekannt sind Hermann Kaulbachs Darstellungen zu den Romanen von Ebers und von Gustav Freytag, und an den [462] Illustrationen zu Rückerts „Liebesfrühling“ kann man die vielseitige Gestaltungskraft des Künstlers erkennen und würdigen. Zwölf Bilder zu deutschen und italienischen Opern erweisen ebenfalls H. Kaulbachs künstlerisch rege und frische Phantasie, welche außerdem in seinen originellen Hofnarrenbildern aufblüht, die leider zu wenig bekannt geworden sind, weil sie – kaum fertig gemalt – von Kunstfreunden erworben wurden. Hoffentlich wird der Künstler diese eigenartigen Bilder in einem Sammelwerke herausgeben. Eines derselben, „Der Herzensvertraute“, hat die „Gartenlaube“ im Jahrgang 1887, Seite 28 wiedergegeben. Das Bild, welches unsere heutige Nummer schmückt, „Mädchenblüthe“, ist, wie wir verrathen wollen, das Porträt seiner Tochter.

Der Entwicklungsprozeß bewegt sich bei Hermann Kaulbach, der jetzt zweiundvierzig Jahre alt ist, noch immer in aufsteigender Linie, denn von Bild zu Bild wächst sein Können und der Werth des von ihm Geschaffenen. Gleichwohl bewahrt sich dieser Historienmaler seine liebenswürdige Bescheidenheit, da er als denkender, strenge Selbstzucht haltender Künstler genau weiß, daß die äußersten Grenzen der Kunst ebenso wie die letzten Grenzlinien des Wissens einem jeden gewissenhaft Strebenden unerreichbar erscheinen.

Dr. Adalbert Svoboda.     



Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.
Am Leuchtthurm.
Novelle von Gerhard Walter.

Also das war dein erster Gruß nach vielen, vielen Jahren, mein lieber alter Hausbursch! Wenn du wüßtest, wie er mich gefreut hat! Aber du weißt es ja, du Treuer! Und wenn du gleich das Weltmeer und den Aequator zwischen uns gelegt hast, und wenn wir uns auch scheinbar seitdem in Freud’ und Leid des Lebens aus den Augen verloren: oft habe ich doch dein gedacht in deinem Wandel unter Palmen und auch du hast deine Gedanken über den Ocean fliegen lassen, bis sie die sicht- und greifbare Gestalt eines Briefes annahmen, der mir erzählte, daß dir Glück und Liebe drüben hold gewesen, daß du deiner dunkeläugigen und schwarzlockigen Donna Juanita Teresa de Oliveira auch von mir berichtet, und daß sie, die Edle, dich getrieben, das erste Exemplar deiner Verlobungsanzeige an mich zu schicken. Das wirft ein wahrhaft elektrisches Licht auf euch beide. – Zum Lohn will ich dir nun auch einen langen, langen Brief schreiben, nachdem ich deiner Braut die Hand geküßt und sie dir so gedrückt und geschüttelt habe wie an jenem Abend beim „Siebenkäs“, als wir aus Maßkrügen Schmollis tranken in seliger Fuchsenzeit.

Mir ist so riesig wohl zu Muth heut Abend. Was für Bilder hat dein Brief vor meiner Seele erstehen lassen! Komm, setz’ dich zu mir, wie einst auf dem steinharten Kattunsofa der Madame Ruck – mein jetziges ist etwas weicher und mit olivenfarbenem „Granit“ überzogen – nimm dir wieder die lange Couleurpfeife vom Nagel und laß uns wieder jung werden!

Wenn sich zwei nach langen Jahren treffen, dann fliegt es herüber und hinüber, das köstliche: „weißt du noch?“ – Und zu dem kleinen Roman meines Lebens, den ich dir jetzt als Antwort auf den deinen erzählen will, muß ich auch den Anfang machen mit „weißt du noch?“ Nur vorher zu deiner allgemeinen Orientirung bemerkend, daß ich Landrichter in diesem reizenden Bergstädtchen und –. „Doch ich will nicht vorgreifen,“ wie jene sagte.

Ja, Fritz, weißt du noch, wie wir an einem wunderschönen Apriltage uns zum ersten Mal als Hospitanten in der Germanenkneipe trafen und da gleich entdeckten, daß wir in demselben Hause wohnten? Weißt du noch, daß wir am nächsten Morgen zusammen zum Frühschoppen bei dem oben erwähnten Manne mit dem melodischen Namen zogen und daß der Frühschoppen bis zur Dunkelheit und noch etwas länger dauerte? Weißt du noch, daß wir dann im gleichen Schritt und Tritt wieder auf die Germanenkneipe zogen und uns gleich zusammen zum Einspringen meldeten?

Und was dann kam – so das wissen wir beide nicht mehr! (Prost, ich komme dir ’nen Halben, Confuchs; habe mein Seidel neben mir stehen; das Glas ging längst in Trümmer, aber den Deckel habe ich noch, und unter all den vielen eingeritzten Namen – habe neben manchen schon ein Kreuz ins Zinn graben müssen – steht auch deiner!)

Aber ich führe dich wieder in meine Bude. Da seh’ ich vor uns meinen runden Zehnmännertisch mit der weißgrünen Wachstuchdecke und auf ihm eine kleine Spiritusmaschine, und sehe in dem kleinen Blechtopf unsere gewohnheitsmäßigen vier Abendeier sieden. Zuweilen nahmen wir auch die kleine Pfanne in Gebrauch und machten uns Spiegeleier, manchmal auch, besonders zu Anfang des Monats, Rührei; und die Welt war eine Einrichtung, an der wir nichts, gar nichts auszusetzen hatten, wenn wir nach vollbrachtem Mahl mit der meterlangen Pfeife zum Fenster hinausschauten, in Geduld die Stunde abwartend, bis wir auf die Kneipe stiegen.

Aber entsinnst du dich auch wohl noch, daß auf der andern Seite der Straße ein Garten lag, ziemlich verwildert, so etwas eichendorffisch romantisch, mit Gebüsch, das niemals Schere und Messer gesehen, und mit Wegen, die anderswo als Grasplätze gegolten hätten? Und daß aus dem dichten Grün zuweilen silberhelles Lachen klang, und daß über die Steige zuweilen zwei allerliebste Mädchengestalten huschten, die eine davon mit dunkelbraunem, die andere mit blondem Haar? Dann weißt du auch noch, daß ich in die Braune bald aufs heftigste verliebt war, und weißt, wie wir in den Garten hinunterspähten, wo sie manchmal bei dem verwilderten Rosenbeet sich zu schaffen machten und wir sie so recht ohne Deckung bewundern konnten.

Du weißt aber noch mehr! Auch daß wir eines Sonntagnachmittags vergnügt und guter Dinge, aber ehrbar und sittsam hinausgingen nach dem „Weißen Schwan“ – und daß ich erschrak und roth wurde wie ein Pensionsmädel, das ein Lieutenant zum Lancier auffordert, als ich dort unterm Fenster im grünen Kleide meine holde Nachbarin vom Garten sitzen sah zwischen ihrer Schwester und einer alten Tante, welche den beiden Mädels, die sonst wohl nicht viel herauskamen, auch einmal ein Vergnügen hatte machen wollen. Und wie ich da noch im seligen Schreck in der Thür stand, da hob sie die großen, blauen Augen – das war eben ihre Hauptschönheit, die braunen Haare und die blauen Augen und sah mich – und – es zieht mir noch warm durchs Herz vor Freude! – und wurde dunkelroth. Ja, wenn Schiller nur das Eine gedichtet hätte: „Das Auge sieht den Himmel offen“, dann wäre er doch mein Liebling und ich hätte mir seine gesammelten Werke gekauft.

Altes, gutes Tantchen, hättest du geahnt, wie allmählich hinter deinem schmalen Rücken ein Kreuzfeuer eröffnet ward, erst nur scheu und schüchtern, nach und nach immer stärker, und wie dabei zwei junge, frische, unverdorbene Herzen, das eines Juristen im ersten Semester und das eines jungen Sanitätsrathstöchterleins, in lichter Gluth auflohten – ach, da wärst mit deiner Häkelarbeit zu Hause geblieben, über die du so wundervoll kurzsichtig gebeugt hinter deinem Steinkrügel saßest! Und du hättest kaum so harmlos dem Studenten gedankt, der dich und deine lieblichen Schützlinge in den Tannen von Stieglitzhof einholte, um sich gemessen zu erkundigen, ob eine der Damen vielleicht das eben auf dem Wege gefundene duftige Taschentuch verloren habe; und hättest nicht so gutmüthig und redselig dich für verpflichtet gehalten, ein Gespräch anzuknüpfen über den wundervollen Nachmittag, ein Gespräch, das du, Fritz, so verständnißinnig aufzunehmen und fortzusetzen verstandest, neben der guten Dame und dem klugen Aennchen gehend, während der andere Germane freudetrunken hinter euch herwandelte an der Seite Hildegards, die vor Freude über das wiedergefundene Tüchlein wie eine Rose glühte. Die beiden sprachen eigentlich nicht viel zusammen und äußerlich war’s eine etwas verlegene Partie. Aber am Wege, da, wo er umbog, stand ein prachtvoller rother Fliegenpilz unter einer grünen Tanne; den zeigte er ihr, und sie standen davor still und besahen ihn sehr ernsthaft; ihre Hände streiften sich, zwei warme Hände – und plötzlich schlang er den Arm um das reizende Kind, neigte sich zu ihr, küßte sie auf die weichen, süßen rothen, warmen Lippen und seine Augen blickten tief in die blauen sonnigen Augen, die im [463] holdesten Liebesschein zu ihm aufsahen. Fritz, Mensch – das war der schönste Moment meines Lebens! Nein, einer war noch schöner.

„Hildegard!“ schallte die Stimme der Tante jenseit der Biegung, und Hildegard wand sich los, hochathmend, glühend, und hielt die Händchen vors Gesicht. „Die Tante merkt’s!“ flüsterte sie – und wir gingen schnell hinterher. Die Tante merkte nichts; aber Aennchen machte lächelnd eine allerliebste Grimasse.

Und eine selige Zeit fing an. Erinnere dich der Mittagsstraßenbummel, wie’s da in der Hauptstraße von Studenten aller Farben schwärmte. Siehst du sie nicht noch oben im Fenster am Eckhaus zum Markt, die beiden reizenden Mädchenköpfe; und schaust du das Schwesterpaar nicht, wie es daherwandelte im Schloßgarten in der Abendkühle? Da stand, ganz verborgen, eine Bank unter und zwischen süß duftendem Jasmingesträuch; da hielt ich wohl an manchem Abend eine kurze prächtige Viertelstunde lang zwei kleine, weiche Händchen und sah, oft stumm vor Glück, in ein liebliches Blumengesicht. Das Glück ruhte dann aus bei uns auf seiner rastlosen Fahrt durch die Welt. „Und Du kannst noch zehn Jahre warten – zehn Jahre sind bald herum!“ sang sie leise vor meinem Ohr. Ja, was waren uns zehn Jahre? Wozu eigentlich überhaupt heirathen? Waren wir nicht selig genug? – Ja, dann konnten wir freilich immer beisammen sein und brauchten nicht auf den Schlag der Thurmuhr ängstlich zu horchen. „O wenn Papa das wüßte!“ hauchte sie wohl – „er ist auf die Studenten gar nicht gut zu sprechen! Sei nur recht fleißig, daß wir uns bald verloben können!“ – Wir waren beide reinen Herzens und darum waren wir auch so selig. – Eine Mama war nicht mehr im Hause; Hildegard ging selbst in reizender Wichtigkeit mit dem klirrenden Schlüsselbund am Schürzenband über den Flur, wenn ich bei dem alten Herrn Kirchenrath, der über ihnen wohnte, meine Korrekturbogen ablieferte. Nöthig hatte ich es im Grunde nicht, Korrekturen zu lesen; weshalb that ich es wohl? Um einen lächelnden Gruß, einen feurigen Blick, einen schnellen, verstohlenen Kuß zu erhaschen! – Aber Liebe und Korrektur und Kneipe, sie hielten mich nicht vom Arbeiten ab. Im Gegentheil, die süße, stille, verschwiegene Leidenschaft für Hildegard war mir wie ein Leitstern durch alle Fährlichkeiten und Verlockungen des Lebens. „Du bist für ihr Leben mit verantwortlich!“ das stand überall geschrieben, wohin mein Blick geleitet wurde. „Mein eigen soll sie sein – keines andern mehr als meins – und so leben wir in Freud und Leid, bis uns Gott der Herr auseinander scheid’t!“ sang ich still in mich hinein über dem Corpus juris. – Es sollte bald genug zum Scheiden gehen!

Du erinnerst dich des großen Kellerfestes am Schluß des Sommersemesters und des Auszugs dorthin nach dem Festmahl im „Goldenen Löwen“, weißt noch, wie stolz wir drei Renommirfüchse, der Senden, du und ich, zu Pferd stiegen, als der Zug sich ordnete und wir in großem Wichs, den Schläger in der Faust, hinter der Musik dreinritten an der Spitze all der braven ritterlichen Gesellen; hinter uns die Fahne und die Chargirten? Wie ließ ich meinen Schimmel steigen, und wie fühlt’ ich mich frei und groß, nach dem alten Liede: „In seinem Arm wohnt Riesenkraft – und Freiheit ist sein Los!“ Aber ein anderes Lied sollte es mir anthun! Auf den Bürgersteigen stand wohlgefällig lächelnd der Philister Schar; aus den Fenstern schaute es Kopf an Kopf – war manch lieb Gesicht darunter! – aber das liebste auf Erden neigte sich dort in dem hohen Eckhaus heraus, lächelnd, bethörend. Warum mußte die Musik auch gerade, als wir dicht daran waren, anstimmen:

„Es ritten drei Reiter zum Thore hinaus – ade!
Feinsliebchen die schaute zum Fenster hinaus – ade!“

Und droben, da winkte sie, von der ich glückseliger Bursch kein Auge verwandte, mit dem Tüchlein – und wie ich unten so vorbeiritt, entfiel es ihrer Hand und flatterte herab. Da gab ich dem Schimmel die Sporen, daß er steil aufbäumte, und riß ihn an der Kandare herum, daß er mit mächtigem Satz zu Seite und fast in die gaffende, aufkreischende Menge hineinsprang; und ehe noch das Tuch zur Erde kam, hatte ich es aufgefangen mit der Spitze des Speers und barg es, die Zügel lassend, an meiner Brust, den Schläger senkend zum Gruß vor der lieblichen Mädchenblüthe – und dann euch nach, wie das Wetter! Es war ein gutes Reiterstückchen, geübt im Rausch der Jugend und der ersten Liebe – aber es sollte mir und ihr verderblich werden.

Als die Gäste angefahren kamen und ich an ihrem Wagen stand, in dem sie mit Aennchen und ihrem Vater saß, da blickte sie mich traurig an, und ich meinte, die sonst so klaren Augen schauten trübe und verweint. Kalt und vornehm grüßte mich der Vater und hob selbst sein Töchterlein hinaus. Wohl durfte er es mir nicht wehren, daß ich nach altem Festbrauch und Burschenrecht ihr den Arm bot; aber sie ging still, den Blick gesenkt, neben mir her. Auf Schritt und Tritt folgte uns der alte Herr, und als ich sie zu ihrem Sitz geführt hatte, von wo sie dem Festspiel zuschauen sollten, da sagte er laut, daß ich’s hören mußte. „Also, Hildegard, denk’ daran, daß Du unter keinen Umständen tanzen darfst. Ich hab’ es Dir als Arzt verboten!“ Ein kurzer, stummer Blick traf mich, der mir sagte: „Warum hast Du das gethan! Nun ist unser Geheimniß verrathen und alles vorbei!“

Und auch für mich war alle Festfreude dahin. Wie die Brüder auch ihr Bestes thaten und zündender Witz raketengleich von der luftigen Bühne sprühte und wie sie da unten lachten und jubelten – ich sah nur sie, und sie lachte nicht! Wie war da für mich der frohe Tag so sonnenleer geworden! Und erst als die Paare zum Tanz sich reihten und der Sanitätsrath würdevoll seinen Wagen bestellte, da bäumte mein Herz sich auf in grimmigem Leid. Kein Wort hatte ich mit ihr reden können, und ich hatte soviel, soviel im Sinn gehabt! Sie dankte leise und befangen aus dem Wagen, und es zuckte um die rothen Lippen in verhaltenem Weinen. Dann fuhren sie ab. Aennchen, auf dem Rücksitz, sah auch nicht heiter aus. Sie schüttelte kaum bemerkbar den Kopf nach mir hin, als wollte sie sagen „Vorbei!“

Und es war vorbei. Ein einziges Mal noch sah ich sie, auf dem Flur, als ich zu meinem Kirchenrath stieg. Da huschte sie aus der Küche und warf sich stürmisch, eilig, wortlos in meine Arme; heiß brannte ihr Kuß auf meinen Lippen, und verschwunden war sie wieder. Ich stieg wie ein Trunkener die Treppe hinauf und mag tolles Zeug genug da oben im Studirzimmer des alten, trefflichen Herrn geredet haben; denn er blickte mir kopfschüttelnd zuletzt ins Gesicht und sagte milde: „Ein anderes Mal, mein Lieber! Sie sind heute zu aufgeregt!“

Ich mußte auf Ferien gehen, ohne sie wieder gesehen zu haben. Mir war gräulich zu Muth. Da drängte sich auf dem Bahnhof, gerade wie ich in den Wagen steigen wollte, ein zerlumptes Büblein an mich heran, schob mir etwas in die Hand und verschwand in der Menge. Es war ein kleiner, duftiger Briefumschlag, den ich hielt, und drin lag ihr Bild. Hildegards Gesicht schaute mich daraus an! Auf der Rückseite stand geschrieben: „Lebewohl und behalte mich lieb!“ – So reiste ich ab, freudevoll und leidvoll. Mein Herz und mein Denken ließ ich da zurück.

So weit weißt du alles. Was nun kommt, das weißt du nicht. Du kamst nicht zurück im Wintersemester. Deines Vaters Tod hatte alles für dich geändert, und das war mir schon Leides genug. Wir beide haben uns seitdem von Angesicht nicht wieder gesehen! Und als ich in einer dunklen, regnerischen Oktobernacht zum ersten Mal wieder vom Bahnhof durch die stillen Straßen meiner Bude zuwanderte, da fror’s mich bis ins Herz hinein. Und was ich dann erfuhr, zerstörte meinen wonnigen Jugendtraum bis auf den Grund. Hildegard war fortgeschickt mit ihrer Schwester! Endlich, nach langem Forschen brachte ich heraus, daß sie in oder bei Leipzig sich aufhalten sollte. Ich wagte es, einen Brief auf gut Glück an sie abzuschicken. Es dauerte nicht lange, da brachte der Laufjunge des Sanitätsraths ihn mir unter Umschlag auf die Bude.

„Meine Tochter bittet dringend, sie nicht zu belästigen!“ stand auf einem dabei liegenden Zettel.

Nun gab’s zwei Wege für mich: entweder konnte ich nun verlumpen oder ich konnte, statt im tollen Leben, meinen Kummer – und er saß tief! – durch Arbeit betäuben. Ich fiel zunächst auf den ersten Weg. Ich wurde ein wilder Geselle, ein Kneipgenie und ein böser Raufbold. Wenn die Klingen gebunden waren und wenn tosender Gesang und tobende Lust die Kneipe durchbrauste, dann wurde es mir erst wohl. Da rettete mich ein gutes Wort, das ich irgendwo in einer wüsten Stunde las: „Wer ein Lump wird, weil er ein Mädchen nicht bekommen hat, der wäre es höchst wahrscheinlich auch geworden wenn er sie bekommen hätte!“

Das schlug durch! Hildegard einen Lumpen zum Mann? Nein! Und von Stund an kehrte ich um. Ich konnte es noch. [464] Im Grunde war ’s doch wieder nur die Liebe zu Hildegard, die mich aus dem Sumpf zog. Allmählich wurde ich ruhiger, wie der Segen der Arbeit an mir kräftig wurde. Ich ging nach Leipzig. Unwiderstehlich zog es mich dahin. In den nicht häufigen Freistunden, die ich mir gönnte, wanderte ich durch die Straßen, jedes Mädchengesicht musternd, das mir in den Weg kam. Vielleicht, vielleicht begegnete sie mir einmal! Der Zettel des Vaters konnte ja nicht ihr Werk sein! Die Leute, bei denen sie wohnte, mußten meinen Brief aufgefangen haben! Daran klammerte ich mich.

So saß ich eines Abends im Zwielicht in einer Konditorei hinter meiner Zeitung. Ich legte sie nieder – da hörte ich mir gegenüber einen leichten Schrei – ich blickte auf: Hildegard stand bleich und lieblich über das Marmortischchen dort gebeugt und blickte mich an! Ich sprang auf, alles um mich her vergessend. "Fräulein Starke, es ist Zeit, daß wir gehen!“ tönte da kurz und herbe die Stimme einer dürren Dame, die neben ihr saß, in dieses Wiedersehen hinein, und ein Blick traf mich, in dem Abscheu und Schrecken sich spiegelte. Da zog sie mit Hildegard ab in eiliger Flucht! Noch ein tieftrauriger Blick aus den großen, blauen Augen, ein kaum merkbares Beugen des Hauptes – und sie war in Nacht und Nebel verschwunden!

Jetzt suchte ich rastlos vom Morgen bis zum Abend – ich wußte es, sie war und blieb mein. Da fand ich eines Tages, als ich müde nach Hause kam, einen Brief auf meinem Tisch. Ihre Hand, ihre Hand! Ein Lesezeichen fiel heraus, ein kleines rothes Seidenband und ein kleiner, flüchtig geschriebener Zettel:

„In der Nacht gearbeitet! Dir zum Andenken! Werde morgen wieder fortgeschickt und weiß nicht wohin! Vergiß mich nicht! Hildegard.“

Und dann sah ich sie nicht wieder und fand keine Spur von ihr, und kein Zeichen des Lebens oder der Liebe kam je wieder an mich.

Was soll ich dir ein Langes und Breites von mir selbst und mir allein erzählen! Ich machte gute, sehr gute Examina, arbeitete bald hier, bald dort und fand überall offene Thüren; aber in mir regte sich stets die Sehnsucht nach meinem verlorenen Lebensglück. Es machte mir alles keine rechte Freude mehr. Manche liebe Blume blühte an meinem Wege, aber ich mochte mich nicht bücken, sie an meine Brust zu stecken. Ich wurde ein einsamer Mensch. Meine Nachforschungen hatte ich zuletzt aufgegeben. Hildegard war wie vom Erdboden verschwunden. Ihr väterliches Heimwesen war aufgelöst worden, nachdem der Vater gestorben, wie es schien unter eigenthümlichen Umständen, über die ich nirgend rechtes Licht erhalten konnte, und die Töchter waren in die Welt hinausgegangen. Wohin? Das brachte ich nicht heraus! So viel wurde mir allmählich klar: Hildegard wollte sich nicht finden lassen. Weshalb nicht? Ja, wenn ich das gewußt hätte!

Die Gesellschaft und die Geselligkeit unserer Kreise ließ mich kalt, wie gesagt, und ich kam nach und nach so etwas in den Ruf eines Sonderlings und Einsamkeitshubers. Oben im dritten Stock eines Hauses der Vorstadt mit herrlicher Aussicht hatte ich mich einquartiert bei einer jungen Witwe, die mit einem reizenden Büblein da still und ehrbar hauste, und um derentwillen ich manche Anspielung und manchen nicht immer zarten Scherz anhören mußte, bis endlich ein an sich ganz harmloser Anlaß denn doch dem Faß den Boden ausstieß. Ich kam eines Tages von einem langen Spaziergang zurück, auf dem mich der Regen überrascht hatte. Und wie ich so zwischen den Weinbergen eilig meiner Behausung zustrebte, sah ich vor mir auf dem einsamen Wege eine Frau in Trauer, ein schreiendes Knäblein auf dem Arme, und im Näherkommen entdeckte ich meine arme junge Sekretärswitwe, wie sie, triefend vom Regen und glühend von der Aufregung und Angst, eilig dahinschritt. Ich habe immer ein Herz gehabt für duldende Menschen. Schnell war ich an ihrer Seite:

„Erlauben Sie, Frau Wald; die Last darf ich Ihnen wenigstens abnehmen!“

„Nein,“ sagte die stattliche, hübsche junge Frau – "Herr Assessor – das geht nicht!“

Aber ihr Athem ging keuchend. Statt aller Antwort nahm ich ihr das Kind aus dem Arme. „So, nun kommen Sie!“

Und so zogen wir selbander unsere Straße, und oben vor unserer gemeinsamen Etagenthür gab ich ihr das Bengelchen zurück. Aus dankbaren Augen sah sie mich an und ging. Und ich freute mich des kleinen guten Werks.

Unangenehm aber empfand ich das Lachen einiger bekannter Herren am Abend, als ich im Schützenhaus mein Bier trank. Die Redensarten wurden allmählich anzüglicher und deutlicher und die vermeintlichen Scherze nahmen schließlich eine Gestalt an, die ich mir nicht gefallen lassen wollte. Ich nahm meinen Hut und wollte gehen. Da hörte ich halblaut ein Wort fallen von einem Gruß, den ich bestellen sollte, so daß ich mich kurz umkehrte und, während das Blut mir stürmend in die Stirn stieg, mit scharfem Schlag die Infamie rächte. Die Folge war ungeheures Aufsehen, ein Duell auf Pistolen, bei dem ich meinen Gegner lahm schoß und selbst verwundet wurde, daß ich sieben Wochen im Lazareth lag; zwei Monat Festung, meine Versetzung nach einem entfernten Gericht und Bekanntwerden meines Namens bis in das kleinste Käseblatt in allen Provinzen. Am Schluß der erbaulichen Artikel hieß es gewöhnlich: "Wie wir erfahren haben, soll ein Liebeshandel die Veranlassung zu der blutigen Affaire gewesen sein.“ Da hauste ich nun nahe der Grenze unter einem rohen Geschlecht – und wurde allmählich müde. Es ist ein böses Ding für einen jungen Mann, wenn er von Erinnerungen leben soll. Und das that ich. Ich hatte für nichts und für niemand zu sorgen, ritt meilenweit ins flache, öde Land hinein und saß abends still zu Haus hinter meinem Theekessel, rauchte meine lange Couleurpfeife und las. Wenn ’s Zehn schlug, klappte ich mein Buch zu und legte das rothe, flüchtig bestickte Seidenband aus Leipzig hinein. – Wäre Feuer bei mir ausgebrochen, hätte ich jedenfalls zuerst nach diesem Bande gegriffen und nach dem schweren, tiefen Goldrahmen über meinem Schreibtisch, der ihr Bild einschloß, auf das ich morgens den ersten und abends den letzten Blick warf. Es war mir schon zur Gewohnheit geworden, und oftmals dachte ich kaum etwas Besonderes dabei; manchmal aber kam auch das alte Weh der stillen holdseligen Studentenlieb’ über mich, daß ich mich aufs Pferd warf und im wilden Jagen in triefendem Regen und stöberndem Schnee durchs Land ritt; aber das Glück, das verlorene, immer wieder lockende, erjagte ich auf keinem Wege. „Und du kannst noch zehn Jahre warten – zehn Jahre sind bald herum!“ hörte ich ihr, Hildegards, leises Singen auf der Bank im Mondschein. – Ja, sie waren jetzt bald herum; aber was wir uns von ihnen versprochen hatten, war nicht in Erfüllung gegangen und ging nicht in Erfüllung. Immer noch zehn Jahre mehr – jetzt mußte Hildegard sechsundzwanzig Jahre alt sein – immer noch zehn Jahre mehr, bis wir beide alt und grau und stumpf geworden? Ja, lebte sie sie denn überhaupt noch? War der süße, blühende Leib nicht gar schon im Grabe vermodert, die Hand, die am meinen Nacken gelegen, verwelkt? Wußte ich es?

Verstimmt wandte ich dann das Pferd und trabte heimwärts. Mir graute manchmal ordentlich vor dem grauen Städtchen, das da im grellen Abendlicht aus der weiten Schneelandschaft vor mir auftauchte, mit seinem Thurm und seinen verfallenen Wällen dunkel und in scharfen Linien sich abhebend von dem goldigen Horizont.

„Hören Sie ’mal, das geht so nicht mit Ihnen!“ redete mich eines Tags der Präsident auf einer Inspizierungsreise an; „wie kann ein junger, frischer Mann sich so einspinnen! Ich will Ihnen etwas sagen: Sie reichen ein Urlaubsgesuch auf sechs Wochen ein; ich schicke Ihnen einen Referendar als Stellvertreter, und Sie fliegen aus – in die Welt, ‚auf die Dörfer,‘ wie man so sagt. Nur keine Redensarten! Ich liebe die alten jungen Herren nicht; wär’ schade um Sie! Also ich erwarte bestimmt Ihr Gesuch, und dann kommen Sie mit einer jungen Frau zurück. Ist nichts mit den Junggesellen. Nur die berühmte junge Witwe nicht! Hoffentlich tragen Sie um die keinen Gram? Na, na, nur nicht so böse aussehen – meine es gut mit Ihnen!“ Damit schüttelte er mir die Hand und ging.

Also ich sollte auf Urlaub! Nun kam die wichtige und schwere Frage: „Wohin?“ Jedenfalls an die See, am den Staub dieser Pußta hier um mich herum, oder richtiger dieser Lehm-Sahara, ’mal gründlich abzuspülen. Aber es mußte ein einsames Seebad sein; wenig Menschen, keine Kurhotels, keine Kellner. Wo gab es das? Ich studirte Specialkarten. Hier war dies nicht, dort jenes nicht, wie es sein sollte; plötzlich haftete mein Auge auf einem Punkte nicht an, sondern vor der Küste. Da war, eine Seemeile vom Strande auf einer einzelnen Klippe, die zu

[465]
Sommer.

Wenn draußen lastet die Sommergluth,
In Wipfeln schlafen die Winde:
Wo ist die Liebe behütet gut?
Unter der blühenden Linde.
     Das wölbt sich so klug,

5
     Und dämmert genug,

Daß die laute Welt sie nicht finde.

Hoch oben summt es, und hier ist’s still;
Grasmückchen hascht mit dem Gatten –
Da fragen die Lichter, wer küssen will?

10
Ins Herz tief duften die Schatten.

     Im Aug’ ein Stern –
     Und ein Kuckuck fern –
O wunderselig Ermatten!

Viktor Blüthgen.


[466] einer ganzen Reihe ihresgleichen gehörte, welche man durch kleine Kreuze angedeutet hatte – da war auf dieser Klippe ein Leuchtthurm angezeichnet, dessen Licht man auf zwölf Seemeilen weit übers Wasser hin sehen solle. Das war mir nun im Grunde gleichgültig; hauptsächlich kam’s mir nur darauf an, möglichst viel von dem Salzwasser und möglichst wenig von dem Lande der brotessenden Menschen vor mir zu sehen. Am Strande lag ein kleines Fischerdorf, von dem ich nie gehört – da konnte die Menge der Badegäste unmöglich eine besonders große sein. „Wie wär’s,“ sagte ich mir, „wenn du an den Leuchtthurmwärter unmittelbar schriebest und ihm ein anständiges Stück Geld für ein Zimmerchen oben bei der Laterne bötest? Die Leute können auch zuweilen Geld gebrauchen, und dir und ihm wäre vielleicht zugleich geholfen!“

(Fortsetzung folgt.)


Eine Gewissensfrage.

„Geben ist seliger denn Nehmen,“ heißt es in der Schrift, und tausend gute Herzen im weiten Vaterland bestreben sich täglich, das Wort zur Wahrheit zu machen. Aber das Wiedergeben muß offenbar eine viel geringere Seligkeit gewähren, sonst würden nicht so viele sonst ganz rechtliche Menschen, besonders Frauen –

„Nun höre einmal jemand diese Unverschämtheit! Geben wir nicht redlich alles wieder, was man uns geliehen hat? Portoauslagen, Bestecke zur Gesellschaft, wenn die eigenen nicht reichen, Schmuckstücke, Bowlengläser, Lampen und Teller –“

„Auch Bücher und Zeitschriften?! … Warum schweigen Sie denn setzt so plötzlich, meine Damen? (denn ich sehe nur Zuhörerinnen um mich; die Männer gehen den ,Gewissensfragen’ grundsätzlich aus dem Wege, wir brauchen uns keinen Zwang anzuthun.) Also Hand aufs Herz: auch Bücher, geliehene Bücher?“

Pause. – Dann eine Stimme: „Ja wohl, auch Bücher.“

„Wann? Nach wie viel Erinnerungen ? In welchem Zustande?“

O meine lieben, verehrten und reizenden Damen, gestatten Sie mir, hier in der „Gartenlaube“, wo Sie es am wenigsten erwarten, eine kleine Strafpredigt in der Hundstagshitze. – Wo liegt doch momentan der Band Heyse, Dahn, Ebers, Spielhagen, Heimburg, Keyser, Werner, Lewald (von unsern „leichtfertigen Nachbarn im Westen“ zu schweigen), den Ihnen eine gefällige Freundin, sagen wir drei Wochen vor Weihnachten, geliehen? Trotz der dringenden Arbeiten hatten Sie damals Zeit, ihn zu lesen, natürlich, so etwas läßt man nicht ungelesen liegen. In drei, in acht Tagen waren Sie mit der Lektüre fertig und die Begeisterung oder der Aerger (über die „unglaublichen“ Franzosen) sprühten in lebhaften Reden von Ihren schönen Lippen und gaben Gelegenheit zu den animirtesten Unterhaltungen im geselligen Kreise.

Aber das Buch selbst! Man Gott, das dumme Buch – allemal wenn man im pelzbesetzten Kostüm aus zierlichen Knopfstiefelchen „einmal“ ausging, war es richtig droben liegen geblieben; wollte man es morgens dem Dienstmädchen mitgeben, so war gewiß sonst so viel zu laufen, daß man Babette nicht auch damit noch belasten konnte, und die meisten Male, ja – hatte man eben überhaupt nicht daran gedacht.

Und es reihten sich die Tage zu Wochen, die Wochen zu Monaten, es kamen so viel pressante Dinge, auch neue Bücher – mein Gott, wer kann auch alles im Kopfe haben? Ein Hausball folgte mit großer Räumerei; die Zimmer wurden auf den Kopf gestellt, in den Hintergrund des Bücherschrankes flog alles, was von Gedrucktem unnütz herum lag, ohne Unterschied des Formates. Und dann, ja dann kam Ostern ins Land, eine Frühjahrsreise wurde gemacht, und um Pfingsten herum erfolgte eine etwas gereizte Mahnung der Freundin, ihr „endlich“ das Buch zurückzustellen.

Das Buch – ja, ist denn das nicht schon lange zurückgebracht? Erst besinnt man sich, dann sucht und endlich – da man etwas zum Lesen in die Sommerfrische mitnehmen will – findet man es. Aber in welchem Zustand! Die Ecken zerdrückt, das broschirte Rückgrat der Auflösung nahe, und hier aus dem ehemals neuen zartgelben Umschlag lächelt in riesigem Glanze an großer, in Wellenlinien verlaufender Fettfleck unbegreiflicher Herkunft. Ganz unbegreiflich, empörend sogar; denn man ist sonst ein Muster von Ordnung und Reinlichkeit und hat seine Sachen sämmtlich am Schnürchen!

Um die sauerblickende Freundin einigermaßen zu besänftigen, verspricht man ihr nun seinerseits ein neues, sehr interessantes Buch und greift in den Bücherschrank, dritte Reihe rechts, zwischen Fritz Reuter und Ebers hinein, wo es stehen muß. Muß, aber nicht steht. Eine Lücke klafft zwischen den grünen und den rothen Bänden.

Wo ist das Buch?! Nirgends. Wer hat es genommen?? Der bekannte freundliche Anstifter von angenehmen Ueberraschungen, der Herr Niemand. Er läßt bestens grüßen!

Und nun, schönste Frau, bricht Ihr Unwille mit der unwiderstehlichen Beredsamkeit los, die ich schon oft staunend verehrte:

„Wie, soll man sich da nicht todtärgern! Das ganze Jahr leihe ich meine Bücher aus, niemand ist darin gefälliger, als ich. Und ganz ausnahmsweise, daß ich einmal vergesse, eines zurückzugeben; aber mir giebt sie niemand zurück; ich habe schon die schönsten Werke auf diese Weise eingebüßt. Es kann sie ja immer nur ein Bekannter haben, aber alles Fragen ist umsonst. Es giebt offenbar Leute, die es rein vergessen, von wem sie ein Buch geliehen haben!“

„Ach, gnädige Frau, es giebt sogar solche, die vergessen, wem sie es weiter leihen, ohne den Eigenthümer zu fragen. Das ist noch viel ärger. Hören Sie eine schreckliche Geschichte:

Einer meiner Freunde, ein alter, würdiger Rechtsgelehrter, hatte nicht ohne Mühe und Belastung seines Gewissens sich ein verbotenes sozialdemokratisches Buch verschafft und dasselbe nach genommener mißbilligender Einsicht einer sehr jungen, höchst liebenswürdigen Freundin geliehen, welche vorgab, sich für die soziale Frage zu interessiren. Natürlich behielt sie es ein halbes Jahr; endlich mahnte er; sie ging auch an ihren Bücherschrank, um den bewußten Griff zu thun, und siehe da! griff in die Luft. Bebels Buch war verschwuuden; kein Rachsinnen half, sie zerbrach sich den Kopf drei Tage und drei Rächte umsonst, wem sie es geliehen haben könne, es fiel ihr nicht mehr ein. Und nun denken Sie sich die Lage der Aermsten, die dem gestrengen Juristen nicht zu gestehen wagt, daß das kostbare, verbotene, nicht wieder herbeizuschaffende Buch dahin ist! Sie zittert im Gedanken an das, was folgen wird, wenn er endlich doch dahinter kommt; denn wessen kann ein ergrimmter Justizrath nicht alles fähig sein! Aber verklagen kann er sie glücklicherweise darum nicht, und das ist noch ein kleiner Trost.“

Und nun, meine verehrten und holden Zuhörerinnen, nehmen Sie sich sämmtlich ein Exempel daran! Jede von Ihnen möge sich ein Buch anlegen, worin Namen und Datum des Leihgeschäftes pünktlich einregistrirt werden, und Jede möge es einmal probiren, ein gelesenes Buch sofort zurückzustellen! Ersparniß an Aerger ist auch Ersparniß, und zwar eine der besten, die man machen kann!

R. A.


Blätter und Blüthen.


Eine deutsche Musterbühne. Unsere Leser werden gewiß gespannt sein zu erfahren, wo eine solche zu finden ist, und unter den großen und kleinen deutschen Hoftheatern und Stadttheatern danach suchen. Jedenfalls ohne Erfolg – denn auch die eifrigsten Freunde dieses oder jenes Theaters hüten sich doch, demselben die glänzende Etikette einer „Musterbühne“ anzuheften. Nur die fanatischen Anhänger Laubes trugen eine Zeit lang keine Scheu, den von diesem geleiteten Bühnen das rühmende Prädikat zu ertheilen, doch es fehlte nicht an Widerspruch, da auch bei diesen viel mit Wasser gekocht wurde.

Die Musterbühne, an welche wir durch den Titel eines neuen, sehr umfangreichen Werkes erinnert werden, ist diejenige Karl Immermanns in Düsseldorf, und es ist bereits mehr als ein halbes Jahrhundert verflossen, seitdem die deutsche Kunst auf dieser rheinländischen Station eine kurze Blüthenzeit erlebte. Das Werk aber, das wir erwähnten, ist Richard Fellners „Geschichte einer deutschen Musterbühne“ (Stuttgart, J. G. Cottas Verlag). Es ist über das Immermannsche Theater sehr viel geschrieben worden; doch ist das große Publikum trotzdem über die eigentliche Einrichtung desselben im Dunkeln geblieben. Die aktenmäßige Darstellung

[467] Fellners giebt über alles Bezügliche die klarsten Aufschlüsse; besonders aber enthält das Werk eine große Menge von Bemerkungen und Rathschlägen betreffs der dramatischen Kunst, welche theils aus Immermanns sämmtlichen Schriften zusammengetragen sind theils im Anschluß an dieselben von anderen namhaften Theaterkennern und von dem Herausgeber selbst beigesteuert werden.

Lange Dauer hatte die Musterbühne nicht. Die Geldquellen versiegten; die Oper verschlang zuviel Geld. Auch stießen Immermanns Bestrebungen auf vielfache Opposition bei den profanen Theaterjüngern. Sind die Zeitverhältnisse heute günstiger geworden für ein derartiges Unternehmen? Wir bezweifeln es mit Recht. Immermann war ein ausgezeichneter Dramaturg, das geht aus jeder Seite dieser Aufzeichnungen hervor, kenntnißreich, feingebildet, unermüdlich, dabei imponirend und herrschgewaltig; und doch die kurze Herrlichkeit! Heutzutage sind Männer wie er selten. Gleichwohl ist es ein hohes Verdienst, an der Reform des Theaters zu arbeiten; denn die Schaubühne ist ein Werthmesser für den Bildungsstand eines Volkes.


Carl Schurz. Der freundliche Empfang, welchen unser Reichskanzler dem hervorragenden nordamerikanischen Staatsmann zu theil werden ließ, beweist, wie sehr sich die Zeiten geändert haben: gehört doch Karl Schurz zu denjenigen Revolutionären der bewegten Epoche von 1848 und 1849, deren Thaten damals wegen ihrer Kühnheit das größte Aufsehen machten. Geboren am 2. März 1829 in Liblar bei Köln, studirte er in Bonn, wo er mit Kinkel in näheren Verkehr trat, betheiligte sich im Frühjahr 1849 an der Erstürmung des Siegburger Zeughauses, kämpfte dann in Baden wie Kinkel gegen die Reichstruppen, wurde wie dieser gefangen genommen, entkam aber nach der Schweiz. Von hier aus begab er sich 1850 unter angenommenem Namen nach Berlin, wo es ihm gelang, die Flucht Kinkels aus Spandau ins Werk zu setzen. Dann begab er sich nach London, wo er sich verheirathete, und von hier aus nach Amerika.

C. Schurz.
Originalzeichnung von C. W. Allers.

Damit war seine romanhafte Jugend in Europa abgeschlossen. Schurz hatte kaum das einundzwanzigste Lebensjahr hinter sich, als er bereits eine solche Fülle revolutionärer Erlebnisse in den Annalen seines Lebens verzeichnen konnte. In Amerika hat er als Staatsmann, Diplomat, General und Journalist in Berufskreisen, die in Europa scharf getrennt zu sein pflegen, eine hervorragende Rolle gespielt, stets im Dienste der Freiheit und der Humanität und zu Ehren des Deutschthums, dem er eine leitende Rolle in den großen politischen Bewegungen der Union gesichert.

Im Jahre 1855 finden wir Schurz in Watertown im Staate Wisconsin, wo er als Volksredner für die republikanische Partei mit glänzendem Erfolge wirkte. Im Jahre 1850 lebte er als Advokat in Milwaukee, 1861 begab er sich als Gesandter der Union nach Spanien. Der Bürgerkrieg rief ihn zurück; er wollte für das Sternenbanner gegen die sich lossagenden Staaten des Südens kämpfen. er stieg in rascher militärischer Laufbahn zum Majorgeneral, befehligte eine Division in der Schlacht bei Bull-Run und beteiligte sich an anderen Hauptschlachten des großen Krieges wie an denjenigen bei Gettysburg und Chattanooga.

Nach Beendigung des Krieges wurde der General zum Publicisten, gab 1866 die „Detroit-Post“ heraus, 1867 die „Westliche Post“ in Saint-Louis, wie er denn auch noch in den letzten Jahren, 1883, Redakteur der „Evening-Post“ („Abendpost“) in New-York und, 1885, der „Boston-Post“ in Boston war. In die Zwischenzeit fallen seine hohen Staatsstellungen in Amerika. Nachdem er 1869 vom Staate Missouri zum Bundessenator gewählt worden, wurde er 1877 unter Hayes Minister des Innern.

Ein vorzüglicher Volksredner und ebenso tüchtiger Parlamentarier, dabei mit der Feder schlagfertig wie mit dem Schwerte, ist Karl Schurz einer jener öffentlichen Charaktere, welche, in ihrer überaus vielseitigen Thätigkeit stets das eine Ziel verfolgend, das Wohl ihrer Adoptivheimath, sich in Amerika der höchsten Anerkennung erfreuen und auf welche wir Deutschen mit Recht stolz sein dürfen.


Das Viergespann auf dem Brandenburger Thore. Wir haben vor kurzem in Nr. 25 unserer Zeitschrift der Siegesgöttin auf diesem Thore gedacht. Wie viele haben sich an derselben erfreut und wie wenige wissen Näheres über Entstehung und Schicksale derselben!

Nach einer handgroßen Skizze von J. G. Schadow und nach einem Pferdemodell von Holz der Gebrüder Wohler hat der Hofkupferschmied Wilhelm Ernst Emanuel Jury im Jahre 1794 das Werk in Kupfer getrieben. Werke solcher Skulptur in Edelmetallen kannte das griechische Alterthum; auch von Benvenuto Cellini finden sich einige solche Kunstwerke. Doch in neuester Zeit überwiegt fast ausschließlich der Erzguß; die kunstreichen Hämmerer der Quadriga stehen in der Kunstgeschichte fast einzig da; nichts Aehnliches giebt es in so kolossalem Maßstabe und zugleich von solcher Formenschönheit, wie die Gruppe des Brandenburger Thores. Und wie interessant sind die Schicksale dieser Gruppe! Nach der Niederlage von Jena war Preußen den Franzosen preisgegeben; diese rückten in Berlin ein und der Kaiser Napoleon I., der sich sehr auf den Kunstfreund herausspielte und eine Menge kostbarer Kunstschätze nach Paris senden ließ, fand auch die Viktoria des Brandenburger Thores mitnehmenswerth, er befahl dem General Daru,[WS 1] den die Franzosen selbst „notre Voleur à la suite de la grande Armée“ (unser Dieb im Gefolge der großen Armee) nannten, die Quadriga von dem Thore abzunehmen und sie nach Paris zu bringen. Dies machte den tiefsten Eindruck auf das Volk, welches dieser Viktoria eine symbolische Bedeutung gab; es nährte den patriotischen Ingrimm für den Rachekrieg der Zukunft. Meilenweit begleitete das Volk unter Schluchzen und Thränen das unter der Eskorte französischer Dragoner fortgeschleppte Kunstwerk. Uebrigens ist das preußische Palladium in Paris nicht enthüllt, nicht den Blicken des profanen Volks gezeigt worden.

Nach der Einnahme von Paris im Jahre 1814 kehrte die Quadriga nach Berlin zurück, und zwar feierte die Trophäe einen Triumphzug von der Seine nach der Spree. Ueberall heftete das Volk dem Wagen seiner Göttin Inschriften nebst Blumen, Bändern und Kränzen an. Ein Buch dieser Inschriften, in der Bibliothek des Prinzen Alexander von Preußen befindlich, enthält 60 enggedruckte Oktavseiten, Kern- und Sinnsprüche, Ergüsse in Prosa und Versen. Auf sechs Wagen, deren größter mit 9 Pferden bespannt war, wurde die Siegesgöttin durch französische Fuhrleute unter Bedeckung von etwa 30 preußischen Kriegern wieder nach Berlin geführt. Wir entnehmen diese Mittheilungen einem mit romanhaften Elementen reichversetzten historischen Gemälde „Die Quadriga, ihre Zeit und ihre Meister“ von Elise Schmidt (Berlin, 1888), in welchem der Kupferbildner Jury, seine Familie und Schadow selbst die Hauptrolle in der theils geschichtlich überlieferten, theils freierfundenen Handlung spielen.


Das hygienische Schulkleid. Die englische Bewegung für Kleiderreform der Mädchen und Frauen, über welche wir vor einiger Zeit berichteten, steht nicht vereinzelt da, sondern macht sich schon seit einigen Jahren in Schweden und Norwegen fühlbar, wo die weibliche Thätigkeit in gelehrten und geschäftlichen Berufsarten, sowie die Gleichstellung beim Universitätsstudium längst durchgeführt ist. Ein Verein gebildeter Frauen in Stockholm und Christiania hat in Uebereinstimmung mit Aerzten und Professoren den Grundsatz aufgestellt, daß angesichts des heute auch an die Frau herantretenden Kampfes ums Dasein die Toilettenfrage nicht mehr ihr Denken ausfüllen darf, daß sie eine einfache, billige und vor allem praktische und hygienische Kleidung haben muß. Der schwedische Reformverein geht minder radikal vor als der englische; er läßt vorerst die äußere Hülle noch bestehen und wendet sich der Reform der Unterkleider zu, welche, den Bedürfnissen des nordischen Klimas entsprechend und in Rücksicht auf die vielfachen Sportübungen der dortigen Mädchen: Schlittschuhlaufen, Eissegeln, Fahren auf Schneeschuhen bei 20 Grad Kälte, warm und doch leicht sein sollen. Deshalb schlägt der Verein vor, die mehrfachen der freien Bewegung hinderlichen Unterröcke abzuschaffen und statt ihrer unter dem Blousenoberkleid mit fußfreiem Rock ein paar warme bequeme Beinkleider zu tragen. Ein locker sitzendes Leibchen als Ersatz des Korsetts, Schuhe mit niedrigen Absätzen vervollständigen das „hygienische Kleid“, in welchem sich ohne Zweifel Kinder und ganz junge Mädchen viel behaglicher befinden werden als in ihrer bisherigen, knapperen Tracht. Ob die Reformbestrebungen aber bei der großen Frauenschar Anklang finden, welche heute Modebazars und Putzläden füllt und immer das Neueste verlangt?

Das ist eine große Frage, welche wir im Hinblick auf die Geschichte der Moden und die Gesetze der Menschennatur nicht so unbedingt zu bejahen wagen, wie die feurigen Vorkämpferinnen der Reform.


Panoramenkarten der Zukunft. Die Rundschau, welche ein Aussichts- oder Höhenpunkt bietet, wurde bisher, soviel mir bekannt ist, stets nur in Längenflächen, aus bandartigen Blättern, gezeichnet. Diese Darstellungsart entspricht aber durchaus nicht der natürlichen Anlage dieser Ansichten, welche doch in einem Kreise rings um uns liegen. Unser Auge, unser Blick braucht sich gewissermaßen nur um seine eigene Axe zu drehen, so schauen ihm ja all die berückenden Bilder, welche in kreisförmiger Fläche uns umgeben, entgegen. eine Panoramenkarte, welche uns diese im Kreise liegenden Ansichten, diese Rundschaubilder, auf bandartigen Blättern zeigt, kann, selbst wenn sie auf das Gewissenhafteste ausgeführt ist, doch nur in geringerem Maße nützlich werden und wird namentlich dem ungeübten Kartenleser oder demjenigen, der zum ersten Male die Aussicht von einem bestimmten Höhenpunkte betrachtet, kaum große Aufklärung über die einzelnen sich ihm zeigenden Bergspitzen,

  1. Vermutlich Pierre Daru (1767–1829), französischer Schriftsteller, Historiker, Militär- und Staatsbeamter

[468] Ortschaften etc. bringen. Nur schwer wird er sich zu orientiren vermögen; denn es wird ihm ganz besonders an Anhaltspunkten für diese Orientirung fehlen. Schon vor mehr als zwanzig Jahren hat aber der damalige Kurarzt in dem steierischen Badeorte Rohitsch-Sauerbrunn, Dr. Joseph Burghardt, ein Panorama vom Donatiberg, (884 Meter) in Kreisform gezeichnet, dessen Centrum der Standpunkt des Betrachters auf dem Berggipfel selbst war. es waren in demselben nicht nur die einzelnen sichtbaren Hohen, Berge und Kogel in getreuen Kontouren fixirt, sondern auch en miniature im Aufriß Kirchen und Schlosser Sowie sonstige Orientirungspunkte: Alleestraßen, Bahnen, Brücken etc. angegeben und deutlich beschrieben. Doch die damalige Zeit war dem Touristenwesen nicht so gewogen wie die heutige und die ungemein praktische Neuerung blieb in weiteren Kreisen unbekannt. Nun ist von dem touristischen Zeichner Johann Pabst in Wien – ohne daß derselbe Kenntniß hatte von jener Karte – eine ähnliche Panoramenkarte in Kreisform, gewissenhaft und profilgetreu, fast reliefartig gezeichnet, erschienen, welche die Rundschau von der Stephaniewarte auf dem Kahlenberge bei der Donaumetropole in ungemein klarer, leicht orientirender Art wiedergiebt. Selbstverständlich fehlen bei den Kontouren der Bergzüge und der einzelnen Berge, welche das Rundbild abschließen, auch die genauesten Höhenangaben nicht, So daß die Karte in dieser neuen Gestalt nicht etwa nur eine Tändelei, sondern auch für ernstere Bestrebungen vollkommen brauchbar ist. Jedenfalls ist diese Neuerung der Beachtung der Panoramenzeichner zu empfehlen. Das touristische Publikum wird denselben dann sicherlich für die Einführung dieser „Rundpanoramen" Dank wissen.

Ernst Keiter.     


Jung Werner beim Freiherrn. (Mit Illustration s. 456 und 457.) Da sehen wir ihn vor uns, den Helden einer Dichtung, welche jetzt hundertfünfundfünfzig Auflagen erlebt hat, den Helden einer Oper, welche über alle deutschen Bühnen gegangen, den Trompeter von Säkkingen, den wackern Jung Werner, den Viktor v. Scheffels Muse in Deutschland so populär gemacht! Der Maler stellt ihn uns dar, wie er auf dem Schloß des Freiherrn erscheint, dem er abends unten ein Trompeterstückchen vorgeblasen und der nicht eher ruht, bis sein Diener im Städtchen den Trompeter ausfindig gemacht, da gerade ein solcher seinem Orchester fehlt.

„Dort im hohen Rittersaale,
Wo der Wände Holzvertäflung
Mit verstäubten Ahnenbildern
Mannigfach geschmücket war,
Saß behaglich in dem Lehnstuhl
Bei dem lustig lohen Feuer
Des Kamins; der alte Freiherr.
Grau schon war sein langer Schnurrbart
Zu der Narb’, die auf die Stirn einst
Ihm ’ne schwed’sche Reiterklinge
eingezeichnet, war vom Alter
Manche Furche schon gezogen,
und es hatt’ ein schlimmer Gast sich
In des Freiherrn linkem Fuße
Unberufen eingenistet;
Zipperlein nennt man’s gewöhnlich.“

Werner ist bescheiden eingetreten:

„Prüfend ruht des Freiherrn Auge
Auf jung Werner, Must’rung haltend.
Bei dem Vater, an den Lehnstuhl
Sich anschmiegend, schaute schüchtern
Margaretha nach dem Fremden,
und bei beiden war des ersten
Flücht’gen Blicks Ergebniß günstig.“

Jung Werner wird des Freiherrn Trompeter. Wie verhängnißvoll ihm der Eintritt in das Schloß werden sollte, das weiß das deutsche Volk, welches Scheffels Dichtung in seinen Hausschatz aufgenommen.


Petrarca und die Kölner Frauen. Als Petrarca auf seiner Reise nach Köln und Aachen in ersterer Stadt weilte, war er daselbst Zeuge des überraschenden Schauspiels einer Feier der kölnischen Frauen am Vorabende des Johannisfestes. Das ganze Ufer des Rheins sah er mit einer herrlichen Schar von Frauen und Mädchen bedeckt, über deren Schönheit der Sänger Lauras erstaunte. „Welche Gestalten, welche Anmuth und welch liebliches Benehmen!“ berichtet er. „Wahrlich, man hätte sich verlieben können, ohne ein schon vorher mit Liebe erfülltes Herz. Unglaublich war der Zulauf und doch ohne Gedränge. Alles athmete Muth und Freude. Ein Theil der jugendlichen Gestalten war mit wohlriechenden Blüthenranken und Blumen umgürtet, und mit zurückgestreiftem Gewande wuschen Sie die weißen Hände und Arme im Flusse, wobei sie in ihrer Sprache mir unverständliche und doch wohllautende Sprüche wechselten.“ Auf Petrarcas Frage nach der Bedeutung des seltsamen Beginnens erhielt er zur Antwort: „Das sei ein uralter Brauch des Volkes, namentlich der Frauen; denn man glaube, alles im Jahre bevorstehende Unglück durch die an diesem Tage übliche Abwaschung im Flusse wegzuspülen, woraus dann nur Fröhliches begegne.“ Petrarca aber erwiderte seufzend: „Wie beneide ich euch, ihr glücklichen Anwohner des Rheins, daß euer Fluß Leid und Klagen hinwegschwemmt – o, wenn doch auch Po und Tiber dies vermöchten!“ – Petrarcas Worte haben die Erinnerung an dieses Johannisfest der Kölner Frauen erhalten – das Fest selbst ist der modernen Zeit zum Opfer gefallen.


Jägeraberglaube des 16. Jahrhunderts. In Noë Meurers „Jagd- und Forstrecht“, welches Werk im 16. und 17. Jahrhundert eine Reihe von Auflagen erlebte, finden sich am Schluß auch einige „Geheimnuß und Kunststücke“, so den Jägern zu wissen nöthig. Ein vergrabener Wolfsschwanz sichert nach denselben einen Meierhof vor dem Besuche des Wolfes; ein im Hause aufgehängter Wolfsschwanz vertreibt die Fliegen daraus. Löwenschmalz, mit welchem man den ganzen Leib einschmiert, schützt den Jäger vor wilden Thieren: „derowegen, so dir ein Wolf oder Bär begegnet, so fliehe nicht, auf daß er das Schmalz rieche.“ Der Amethyst, den der Jäger bei sich trägt, bringt Glück auf der Jagd. Um vor dem wilden Schwein sicher zu sein, hänge man Krebsscheren an den Hals. Dann sind noch viele andere Mittel aufgezählt, die man theilweise gar nicht wiedergeben kann, wie man den Hirsch an sich locken, Hasen, Füchse, Wölfe in großer Menge an einem Ort versammeln und erlegen, Vögel leichtlich fangen könne etc.


Wann ist der erste Amerikaner nach Deutschland gekommen? Ohne Zweifel im Jahre 1521. Wie man weiß, fand damals der berühmte Reichstag in Worms, wo auch Luther erschien, statt. Um dem Kaiser Karl V. zu huldigen, hatte Cortez aus Mexiko einen Eingeborenen gesendet, der in seiner Nationaltracht zum Staunen und zur Verwunderung der Grafen und Herren und Fürsten erschien, die daselbst in so großer Menge zusammengekommen waren, daß man von letzteren allein 66 zählte.


Skat-Aufgabe Nr. 8[5]
Von Wilh. Helbig in Eisleben.

Ein Spieler hatte auf die folgende Karte:

(tr. B.)
(p. B.)
(c. B.)
(car. B.)
(tr. K)
(tr. 7.)
(c. As.)
(c. Z.)
(car. As.)
(car. D.)

Eichel (tr.)-Solo-Schneider angesagt, er verlor aber nicht nur das Spiel, obwohl noch g.D., g.K. (p.As, p.K.) im Skat lagen, sondern wurde sogar selbst Schneider. – In welcher Hand war der Spieler? Wie waren die übrigen Karten vertheilt und wie war der Gang des Spiels?

Auflösung der Skat-Aufgabe Nr. 7 auf S. 372:

Wenn die Karten so vertheilt sind:

Vorhand: sW, e7, gZ, gO, g9, g8, g7, rD, r8, r7;
Hinterhand: eD, eZ, e8, rZ, r9, sD, sZ, s9, s8, s7

und der Spieler rK, rOgedrückt hat, wird sich folgendes Spiel ergeben:

1. gO, gK![6] eD (–18),   3. gZ, gD, eZ (–31)
2. sD, sW,[7](–16) 4. sZ, rD!, sK (–2514)

und der Spieler ist Schneider. Hat dagegen der Spieler sK, sO gedrückt, so wird er nach

1. gO, gK eD (–18),   3. sD, sW, rW (+15)

zunächst die Trümpfe herausholen und höchstens noch 28 Augen in r abgeben.


Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

H. D. in Magdeburg. Die Wappen sind ohne Zweifel aus dem buntbemalten Schilde der gallischen und germanischen Völker entstanden, denn Wappen ist das gleiche Wort wie Waffen. Sie waren ursprünglich ein Vorrecht des waffenführenden Adels. Die Wappen der Städte, Kirchen und Klöster mögen von dem Paniere entstanden sein, mit welche die Angehörigen der Stadt oder des Abtes in Feld zogen; die Schildform war hier blos Nachahmung. Mit dem Aufblühen der Städte nahm der Gebrauch der Wappen auch bei dem Bürgerstande zu. Früher war mit der Ertheilung eines Wappenbriefes auch die Erwerbung des Adels verknüpft; im 16. Jahrhundert aber war diese Standeserhebung nicht mehr damit verbunden und der Kaiser verlieh auch Wappen allein. Von dieser Zeit an erhielten auch die kaiserl. Pfalzgrafen das Privilegium, Wappen zu ertheilen, von welchem sie einen sehr ausgedehnten Gebrauch machten, natürlich gegen entsprechende Bezahlung. Ueber den Grund, welcher eine Person oder eine Korporation veranlaßte, dieses oder jenes Wappenbild anzunehmen, ist selten etwas Zuverlässiges bekannt, wenn nicht etwa ein redendes Wappen vorliegt, wobei der Etymologie allerdings oft großer Zwang angethan wird. Heutzutage werden von den Heroldämtern nur mit dem Adel Wappen verliehen; doch steht es jedem frei, sich ein Wappen nach eigenem Geschmacke beizulegen, sofern er sich nur nicht solche regierender Häuser und adeliger Familien, Staatswappen etc. heraussucht oder irgend welche Rechte aus der Führung seines Wappens ableiten will. Eine große Anzahl bürgerlicher Familien hat ein Wappen geführt. Selbstverständlich ist es ein Unsinn, wenn ein Wappenfabrikant einem Herrn Braun in Berlin ein Wappen giebt, das zufällig einmal ein Braun in München führte; das gleiche Wappen führen doch nur die, welche nachweisbar zur selben Familie gehören, nicht jene, welche zufällig den gleichen Namen haben. Ein Recht haben diese Wappenfabrikanten gar nicht; es wird sogar mancherlei Schwindel von solchen getrieben und öfters, um ihren Angaben mehr Wahrscheinlichkeit zu geben, ein angeblich „in Nürnberg befindliches ‚Europäisches Wappenbuch’ Bd. 96 Fol. 840“ (oder ähnliche hohe Ziffern) citirt, das aber noch niemand gesehen hat.

Freund der „Gartenlaube“ in L. Auf Seite 360 des laufenden Jahrgangs unseres Blattes soll es in dem Markittschen Roman „Das Eulenhaus” nicht Prinzeß Margarethe, sondern Prinzeß Katharina heißen.

C. K. in R. Solche Bücher können Sie sich in jeder Sortimentsbuchhandlung vorlegen lassen.

V. K. Kothes „Kathechismus der Gedächtniskunst” (5. Aufl., Leipzig, J. J. Weber) dürfte Ihren Wünschen entsprechen.

K. V. in Dresden. Der Dorfroman von Ludwig GanghoferDer Unfried“, den unsere „Gartenlaube“ brachte und der wohl den Lesern unseres Blattes eine lebhafte Theilnahme eingeflößt hat, ist als Buch im Verlag von Adolf Bonz u. Komp. in Stuttgart erschienen.


  1. Eduard Trewendt, Breslau 1888.
  2. Vergl. auch den Artikel „Der Gesichtssinn eines Hypnotisirten“, Jahrg. 1888, S. 35.
  3. „Der Hypnotismus mit besonderer Berücksichtigung seiner klinischen und forensischen Bedeutung“. Wien, 1887.
  4. Diese Meinung vertritt auch der berühmte Irrenarzt Prof. Dr. von Krafft-Ebbing in seiner soeben erschienenen Schrift „Eine experimentelle Studie auf dem Gebiete des Hypnotismus“ (Stuttgart, Ferdinand Enke.)
  5. Diese Aufgabe ist im Problemturnier des vorjährigen Skatkongresses durch einen Preis ausgezeichnet worden
  6. Nimmt der Spieler sofort gD, so wimmelt die Vorhand im 2. Stich zunächst rD und sticht erst im 3. Stich mit sW, um dann gZ nachzubringen.
  7. Vorhand kann hier auch zuerst rD wimmeln, dann ergiebt sich durch Umstellung der Stiche dasselbe Resultat.

Anmerkungen (Wikisource)