Die Gartenlaube (1888)/Heft 33
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- (Fortsetzung.)
Auf dem Schreibtisch Wolfgangs stand in einem reichgeschnitzten Rahmen Alicens Bild. Es war ähnlich, aber wenig vortheilhaft, denn die zarten weichen Linien der Züge verschwammen allzu sehr in der Photographie und die Augen waren völlig ausdruckslos. Die schlanke junge Dame in der überreichen Toilette machte hier völlig den Eindruck einer jener nervösen, blasirten Erscheinungen, wie man sie oft in der großen Welt findet. Auch Doktor Reinsfeld schien dieser Meinung zu sein; er sah auf das Bild, dann auf seinen Freund und bemerkte trocken. „Glücklich bist Du aber nicht geworden dadurch, daß Du Dein Ziel erreicht!“
Wolfgang wandte sich rasch und heftig um.
„Warum nicht? Was meinst Du damit?“
„Nun, fahre nur nicht gleich wieder auf! Ich kann mir nicht helfen, aber Du bist verändert seit den letzten Monaten. Ich erhalte aus der Stadt die Nachricht Deiner Verlobung und denke, Du wirst zurückkommen, strahlend vor Triumph über die Verwirklichung all Deiner Zukunftspläne, statt dessen bist Du fortwährend ernst, verstimmt, reizbar im höchsten Grade, Du, der allezeit Ruhige und Besonnene – was hast Du eigentlich, Wolf?“
„Nichts! Laß mich in Ruhe!“ lautete die abweisende Antwort, aber Benno trat zu ihm und legte die Hand auf seine Schulter.
„Wenn Deine Verlobung eine Herzensgeschichte wäre, so würde ich glauben, daß da etwas nicht in Ordnung ist, aber –“
„Ich habe ja kein Herz, Du hast es mir oft genug gesagt,“ warf Wolfgang bitter ein.
„Nein, Du hast nur Ehrgeiz – weiter nichts!“ sagte Reinsfeld ernst.
Elmhorst machte eine ungeduldige Bewegung.
„Predige nicht schon wieder, Benno! Du weißt, in dem Punkte verstehen wir uns nicht. Du bist und bleibst –“
„Der überspannte Idealist, der lieber mit seiner Herzallerliebsten trockenes Brot ißt, als mit einer vornehmen Frau Gemahlin in der Equipage fährt! Ja, ich bin nun einmal so unpraktisch angelegt, und vorläufig reicht es noch nicht einmal zum Brot für Zwei aus, deshalb ist es ein Glück, daß ich überhaupt keine Herzallerliebste habe.“
„Wir müssen gehen,“ sagte Wolfgang abbrechend. „Alice erwartet mich um zwölf Uhr, und nun thu’ mir den Gefallen und nimm Dich wenigstens etwas zusammen. Ich glaube, Du kannst nicht einmal mehr eine regelrechte Verbeugung machen.“
„Ist auch sonst nicht nöthig bei meinen Patienten,“ versetzte Benno trotzig. „Die sind zufrieden, wenn ihnen geholfen wird, ohne Verbeugung, und wenn Du keine Ehre mit mir einlegst bei Deinem vornehmen Fräulein Braut, so ist es Deine Schuld; warum schleppst Du mich hin wie ein Opferlamm. – Fräulein von Thurgau ist doch wenigstens mit gekommen?“
„Jawohl!“
„Und sie ist vermutlich auch eine große Dame geworden?“
„In Deinem Sinne allerdings.“
Die Antworten klangen sehr einsilbig und lauteten nicht sehr tröstlich für den
[550] armen Doktor, der diesem Besuche mit einer wahren Herzensangst entgegensah. Er wagte gleichwohl nicht, sich zu sträuben, denn er war es nun einmal gewohnt, sich von seinem Freunde beherrschen zu lassen. So nahm er denn auch jetzt den neu aufgebügelten Hut, der trotzdem sein ehrwürdiges Alter nicht verleugnete, vom Tische und machte Anstalt, die berühmten „Gelben“ anzuziehen, während er ergebungsvoll sagte:
„Wenn es denn durchaus nicht anders geht – in Gottes Namen!“ –
Oberhalb der Bahnlinie, etwa eine halbe Stunde von dem künftigen Stationsgebäude entfernt, lag die neue Villa des Präsidenten, zu der ein eigens angelegter, bequemer Weg führte. Das Haus, in dem hier üblichen Gebirgsstil, mit vorspringendem Dach und zierlichen Holzgalerien, entsprach wenigstens äußerlich seiner Umgebung, war aber trotz seines einfachen Gewandes vollkommen darauf eingerichtet, einen so anspruchsvollen Haushalt wie den Nordheimschen aufzunehmen. Die Lage war prachtvoll und bot die Aussicht über den schönsten Theil des Gebirges; die Matten ringsum hatte man mit Anlagen versehen und den nahen Wald in einen kleinen Naturpark verwandelt. Das hatte freilich unendliche Mühe und unglaubliche Kosten verursacht und sollte doch im Grunde nur für einen Aufenthalt von wenig Wochen dienen, aber Nordheim pflegte nicht nach den Kosten zu fragen, wenn er irgend etwas plante, und gab dem Baumeister unbeschränkte Vollmacht. Elmhorst hatte denn auch in der That ein kleines Meisterwerk geschaffen in diesem Bergschlößchen, das zum Eigenthum seiner Braut bestimmt war.
Im Inneren hatte man freilich auch nicht mehr den Schein der Einfachheit festgehalten. Das Licht fiel durch bunte, kostbar gemalte Scheiben auf Flur und Treppen, und teppichbelegte Stufen führten zu einer Reihe von Zimmern, die, wenn auch nicht so prachtvoll wie die Salons in der Stadt, ihnen an Luxus und Behaglichkeit doch wenig nachgaben. Es waren reizende kleine Nestchen, vorwiegend in lichten Farben gehalten, und jedes einzelne bot eine entzückende Fernsicht.
Der Präsident war erst vor einigen Tagen mit seiner Familie auf der neuen Besitzung eingetroffen und Alice, der die Höhenluft verordnet war, sollte die beiden Sommermonate hier zubringen. Nordheim selbst hatte wie gewöhnlich keine Zeit zur Erholung, er nahm hier nur sein Absteigequartier, zur Besichtigung der Bahnarbeiten, wie er es früher in Heilborn genommen hatte, und jetzt riefen ihn schon wieder Geschäfte nach der Stadt zurück. Er hatte allerdings schon am Morgen abreisen wollen, war aber durch eingetroffene Briefe, die sofort erledigt werden mußten, noch einige Stunden zurückgehalten worden. Sein Wagen stand bereits angespannt und er selbst befand sich bei seiner Nichte, die er kurz vor der Abfahrt noch sprechen wollte.
Ernas Zimmer lag im oberen Stockwerke, die Glasthür, welche auf die Galerie führte, war geöffnet und draußen lag Greif, behaglich im Sonnenschein ausgestreckt.
Der Hund war fast das einzige Andenken, welches das junge Mädchen damals aus der Heimath mitgenommen hatte, dies eine aber vertheidigte sie auch mit der ganzen Leidenschaftlichkeit ihrer Natur gegen den Onkel und Frau von Lasberg, die das „lästige Geschöpf“ nicht dulden wollten. Es sollte zurückbleiben, aber da gab es eine unendlich stürmische Scene. Erna weigerte sich entschieden, das Haus zu verlassen, wenn man ihr nicht gestatte, Greif mitzunehmen, und Nordheim hatte endlich nachgegeben, unter der Bedingung, daß der Hund niemals in die Wohnräume der Familie komme.
Das war denn auch nicht geschehen, Greif war überhaupt manierlicher geworden, er hatte Lebensart gelernt und es fiel ihm jetzt nicht mehr ein, im Salon eine Jagdscene aufzuführen; aber das damals noch sehr junge Thier hatte sich erst jetzt zu seiner vollen Kraft und Schönheit entwickelt. Es hatte etwas Löwenartiges, als es so ausgestreckt lag, mit den mächtigen Pranken dem langen dunkelgelben Fell und den grossen schwarzen Augen, die jeder Bewegung seiner jungen Herrin folgten.
Es mußte eine ganz besondere Veranlassung sein, die den Präsidenten zu Erna führte. Er hatte ja sonst überhaupt niemals Zeit für seine Familie und auch nicht das Bedürfniß, mit ihr gemüthlich zu verkehren; sie sah ihn gewöhnlich nur bei Tische, wenn er nicht tage- und wochenlang abwesend war. Selbst sein Verhältniß zu der eigenen Tochter war ein sehr kühles und seiner Nichte stand er vollends fremd und kalt gegenüber. Er lebte und webte nur in seiner geschäftlichen Thätigkeit, alles andere, sogar die Familienbeziehungen, waren ihm vollständig Nebensache.
Er war im vollen Reiseanzuge eingetreten, ohne Platz zu nehmen, und sagte flüchtig, wie im Vorbeigehen:
„Ich wollte Dir nur mittheilen, daß ich vor einer Stunde einen Brief von Waltenberg erhalten habe. Er ist gestern in Heilborn eingetroffen und denkt einige Wochen dort zu bleiben, wahrscheinlich macht er Euch morgen einen Besuch.“
Die Worte klangen gleichgültig, aber es lag eine gewisse Schärfe in dem Blick, der dabei auf Erna ruhte. Sie nahm die Nachricht ebenso gleichgültig auf und erwiderte ruhig:
„So? Dann werde ich Alice und Frau von Lasberg benachrichtigen.“
„Frau von Lasberg weiß es bereits und wird es nicht an der nöthigen Rücksicht fehlen lassen; ich wünsche aber, daß sie ihm auch von – anderer Seite zu theil wird. Hörst Du, Erna?“
„Ich wüßte nicht, Onkel, daß ich gegen Deinen Gast rücksichtslos gewesen wäre.“
„Meinen Gast? Als ob Du nicht so gut wie ich wüßtest, was ihn an unser Haus fesselt und was ihn jetzt nach Heilborn führt. Er will endlich einmal Gewißheit haben, und ich kann es ihm nicht verdenken, wenn er des Spiels müde ist, das nun schon monatelang mit ihm getrieben wird.“
„Ich habe nie mit Herrn Waltenberg gespielt,“ sagte Erna kühl. „Ich fand es nur für nötig, ihm gewisse Schranken zu ziehen, denn er scheint der Meinung zu sein, daß er nur die Hand auszustrecken braucht, wenn irgend etwas seinen Wunsch reizt.“
„Nun, wir wollen nicht darüber streiten, denn Du scheinst mit Deiner kühlen Zurückhaltung grade das Rechte getroffen zu haben. Männer wie Waltenberg, die einen förmlichen Kultus mit ihrer Freiheit treiben und jedes Familienband als eine Fessel empfinden, wollen eigenartig behandelt sein. Ein Entgegenkommen hätte ihn vielleicht stutzig gemacht, das scheinbar Versagte reizt ihn.“
Die Augen des Mädchens flammten unwillig auf.
„Die Berechnung stellst Du an, Onkel – nicht ich!“
„Gleichviel, wenn sie nur richtig ist,“ sagte Nordheim, ohne auf den Vorwurf zu achten, der in den Worten lag. „Ich habe mich bisher nicht eingemischt, weil ich sah, daß der Weg trotzalledem zum Ziele führte, jetzt aber wünsche ich, daß Du nicht länger einer Erklärung ausweichst. Ich zweifle nicht, daß Waltenberg schon in der nächsten Zeit die entscheidende Frage an Dich stellen wird, und Deine Antwort –“
„Könnte anders ausfallen, als er es wünscht!“ ergänzte Erna mit voller Bestimmtheit.
Der Präsident stutzte und sah seine Nichte forschend an.
„Was soll das heißen? Du wirst doch nicht etwa den tollen Einfall haben, ihn abzuweisen?“
Sie schwieg, aber in ihrem Antlitz zeigte sich wieder jener herbe Trotz, der schon dem sechzehnjährigen Mädchen eigen war. Nordheim mochte diesen Ausdruck kennen und wissen, was er verhieß, denn er runzelte finster die Stirn.
„Erna, ich erwarte mit aller Bestimmtheit, daß meinem ernsten und wohlüberlegten Plane keine unnöthigen Hindernisse bereitet werden. Es handelt sich um Deine Vermählung mit einem Manne –“
„Den ich nicht liebe!“ unterbrach sie ihn heftig.
Nordheim lächelte, halb spöttisch, halb mitleidig.
„Dachte ich es doch, daß wieder irgend eine Ueberspanntheit dahinter stecken würde! Liebe! Die sogenannten Liebesheirathen enden stets mit Enttäuschung. Eine Ehe muß auf vernünftigerer Grundlage aufgebaut werden und Alice giebt Dir das Beispiel dazu. Glaubst Du vielleicht, daß sie sich von romantischen Gefühlen bestimmen ließ bei ihrer Verlobung, oder daß Wolfgang es that?“
„O nein – er am wenigsten!“ sagte Erna mit unverschleierter Verachtung.
„Was in Deinen Augen natürlich ein Verbrechen ist! Ich vertraue ihm trotzdem die Zukunft meiner Tochter an und bin überzeugt, daß er ein guter Ehemann sein wird. Einen Romantiker hätte ich mir überhaupt nicht zum Schwiegersohn gewählt. [551] Waltenberg kann sich freilich diesen Luxus gestatten, er hat die Mittel dazu. Er ist im Grunde ebenso excentrisch wie Du, Ihr seid Euch im höchsten Grade ähnlich und deshalb begreife ich nicht, was Du eigentlich an ihm auszusetzen hast.“
„Seinen Egoismus! Er lebt nur für sich und für das, was ihm Lebensgenuß heißt. Er kennt weder Vaterland noch Beruf, weder Pflichten noch Ehrgeiz, will das alles nicht kennen, weil es ihn in diesem Genusse stört. Ein solcher Mann wird nie ein ernstes Streben, nie eine Zukunft haben und er kann auch eine Frau nicht lieben, denn er liebt nur sich allein.“
„Er bietet Dir aber seine Hand und das ist in diesem Falle die Hauptsache. Wenn Du von Deinem künftigen Gatten nur Ehrgeiz und Energie verlangst, dann allerdings hättest Du Wolfgang heirathen müssen. Der hat eine Zukunft, dafür verbürge ich mich.“
Erna zuckte zusammen und ihre Stimme klang beinahe schneidend, als sie rief:
„Verschone mich mit solchen Scherzen, Onkel – ich bitte Dich!“
„Ich bin nicht zum Scherzen aufgelegt,“ sagte Nordheim scharf. „Aber beiläufig, Erna, Dein Verhältniß zu Wolfgang ist ein sehr unerquickliches und die Art, wie Ihr beide Euch gegenübersteht, ist wenig angenehm für die Umgebung. Ich bitte ernstlich, den schroffen Ton zu ändern, der nachgrade bei Euch zur Regel geworden ist. – Um aber wieder auf die Hauptsache zurückzukommen, so scheinst Du zu glauben, daß Du unter allen möglichen Bewerbern zu wählen hast, bis irgend einer Deinem Ideale entspricht. Es thut mir leid, Dich aus Deinem Irrthum reißen zu müssen, aber Du hast überhaupt keine Wahl. Ein armes Mädchen wird allerdings umschwärmt und gefeiert, wenn sie schön ist – geheiratet wird sie für gewöhnlich nicht, denn die Männer verstehen zu rechnen. Dieser Antrag ist der erste, den Du erhältst, und wird voraussichtlich der einzige bleiben; überdies ist es eine glänzende Partie, auf die Du gar nicht rechnen konntest – Du hast allen Grund, zuzugreifen.“
Die Worte wurden nicht in dem Tone vernünftiger wohlwollender Ermahnung gesprochen, es lag etwas unglaublich Herzloses und Verletzendes in der Art, mit der Präsident Nordheim seiner Nichte auseinandersetzte, daß sie trotz ihrer Schönheit gar keinen Anspruch darauf habe, geliebt und gewählt zu werden, weil sie arm sei. Erna war bleich geworden und ihre Lippen bebten, aber ihr Gesicht sprach eher alles andere aus als Fügsamkeit.
„Und wenn ich trotz alledem nicht zugreife?“ fragte sie langsam.
„So hast Du Dir die Folgen selbst zuzuschreiben. Deine Stellung dürfte keine beneidenswerthe sein, wenn Du unvermählt bleibst. Alice heirathet im nächsten Jahre, wie Du weißt.“
„Und in demselben Jahre werde ich mündig – und frei!“
„Frei!“ spottete Nordheim. „Wie großartig das klingt! Du bist wohl in Fesseln und Banden in meinem Hause, wo Du als Tochter aufgenommen wurdest? Oder pochst Du vielleicht auf Dein väterliches Erbtheil? Das ist nicht mehr als ein Bettelpfennig und Du bist an die Ansprüche einer vornehmen Dame gewöhnt.“
„Ich habe mit meinem Vater in den einfachsten Verhältnissen gelebt,“ sagte Erna bitter, „und wir sind glücklich gewesen – in Deinem Hause war ich es nie!“
Der Präsident zuckte verächtlich die Achseln.
„Ja, Du bist die echte Tochter Deines Vaters! Der zog es auch vor, auf einem Bauernhofe zu hausen, statt mit seinem alten Namen in der Welt Carriere zu machen. Nun, Waltenberg bietet Dir ja die ersehnte Freiheit. Als seine Gattin hast Du Reichthum und Lebensstellung, er wird Dir jeden Wunsch befriedigen, jede Laune erfüllen, wenn Du es verstehst, ihn zu beherrschen. Ich fordere zum letzten Male, daß Du die Sache vernünftig ansiehst. Thust Du es nicht, so sind wir beide zu Ende mit einander. Ich habe keine Duldung für Ueberspanntheiten, die sich in der Thurgauschen Familie fortzuerben scheinen.“
Erna gab keine Antwort und er schien sie auch nicht zu erwarten, denn er wandte sich zum Gehen, blieb aber an der Thür noch einmal stehen und sagte mit eisigem Nachdruck:
„Ich hoffe mit aller Bestimmtheit, Dich bei meiner Rückkehr als Braut zu finden – leb’ wohl!“
Er ging und einige Minuten später hörte man seinen Wagen fortrollen.
Erna warf sich in einen Sessel, das Gespräch hatte sie doch tiefer erregt, als sie dem kalten Manne zeigen wollte, der ihre Vermählung einzig und allein als ein vorteilhaftes Geschäft behandelte.
Als Braut! Sie schreckte zurück vor dem Worte, das sonst einen Zauberklang hat für jedes Mädchen, und doch wurde sie geliebt von jenem Manne, dem einzigen, der nicht danach fragte, ob sie reich oder arm sei, der sie hinausführen wollte aus diesem Hause, wo das Geld allem regierte, weit fort, in eine Welt von Freiheit und Schönheit! Vielleicht lernte sie es dennoch, ihn zu lieben, vielleicht war er trotzalledem der Liebe werth! War es denn nicht möglich, sich zu überwinden?
Sie verbarg in qualvollem inneren Kampfe das Gesicht in beiden Händen. Da fühlte sie eine leise, schmeichelnde Berührung. Greif war unbemerkt hereingekommen und stand jetzt dicht vor ihr. Er legte den mächtigen Kopf in ihren Schoß und sah sie fragend an mit seinen großen schönen Augen, als fühle er das Leid seiner jungen Herrin mit. Sie blickte auf, das Thier war ihr ja das Einzige, was sie gerettet hatte aus jener glücklichen, sonnigen Jugendzeit in den Bergen an der Seite des Vaters, dessen vergötterter Liebling sie war. Jetzt ruhte er längst schon im Grabe, die alte theure Heimath war verschwunden von der Erde und sein einziges Kind lebte in dem fremden Hause, eine Fremde, trotz aller Verwandtschaftsbande.
Erna schluchzte plötzlich laut auf, sie schlang beide Arme um den Hals des Hundes und sich zu ihm niederbeugend flüsterte sie:
„O Greif, wären wir doch wieder in dem alten Wolkensteiner Hofe, wären sie nie gekommen, diese Fremden! Sie haben Deinem Herrn den Tod gebracht und mir – noch Schwereres!“
Der Wagen des Präsidenten rollte schon auf der Bergstraße dahin, die bis zur Eröffnung der Bahn die einzige Verbindung war, als Elmhorst und Reinsfeld die Wohnung des ersteren verließen und zu der Villa emporstiegen. Der künftige Schwiegersohn bedurfte natürlich keiner Anmeldung, die Diener bückten sich tief vor ihm und er führte den Freund sofort zu seiner Braut. Wenn der Doktor aber schon dem Besuche selbst mit Befangenheit entgegensah, so wurde er vollends bedrückt durch diese Umgebung, an die er so gar nicht gewöhnt war.
Er stand auf weichen Teppichen, die jeden Schritt unhörbar machten, inmitten eines Zimmers, das ihm wie ein Zaubergemach erschien. Die weißen Spitzenvorhänge an den Fenstern waren herabgelassen und schufen eine halbe Dämmerung in dem kleinen Raume, der dadurch nur um so schöner und behaglicher schien mit seinen hellgrauen Tapeten und dem matten Blau der seidenen Polster und Portieren. Nur wenige Gemälde schmückten die Wände und eine Statuette von weißem Marmor erhob sich aus einer Blumengruppe, deren Düfte leise die Luft durchhauchten. Es war hier alles so licht, so zart und duftig wie in einem Elfenreiche.
Aber Benno war leider nicht gewohnt, mit Elfen zu verkehren. Er stolperte über den Teppich, ließ seinen Hut fallen, bückte sich danach und stieß, als er sich wieder aufrichtete, ein Tischchen um, das Wolfgang noch glücklich auffing und vor dem Fall bewahrte. Stumm und wehrlos ließ er die unvermeidliche Vorstellung über sich ergehen, machte eine höchst ungeschickte Verbeugung und als nun noch das kalte, strenge Gesicht der Frau von Lasberg vor ihm auftauchte, die mit sichtbarem Befremden diese „Persönlichkeit“ musterte, da war es ganz aus mit seiner Fassung.
Elmhorst runzelte die Stirn; so schlimm hatte er sich die Sache doch nicht gedacht. Aber sie war nun einmal angefangen und mußte durchgeführt werden. Er kürzte daher die Vorstellung möglichst ab, zur großen Erleichterung des armen Benno, der in seinem altmodischen Staatsanzuge wirklich eine höchst unglückliche Figur spielte. Er hielt den „Aufgebügelten“ krampfhaft fest in den Händen, welche nunmehr die verhängnißvollen „Gelben“ schmückten; sie waren ihm natürlich um zwei Nummern zu weit und schlotterten förmlich um seine Finger. Der Herr Oberingenieur legte in der That keine Ehre ein mit seinem Freunde, als er ihn zu seiner Braut führte.
[552]
[553] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [554] „Du hast mir versprochen, liebe Alice, Dich der Behandlung des Doktor Reinsfeld anzuvertrauen, hier bringe ich ihn Dir! Du weißt es ja, wie besorgt ich um Deine Gesundheit bin.“
Der Ton der Worte war in der That besorgt und äußerst rücksichtsvoll, aber es lag keine Zärtlichkeit darin. Reinsfeld, den die Vornehmheit der Baronin schon gänzlich eingeschüchtert hatte, wagte der jungen Millionärin gegenüber nicht einmal eine Verbeugung, denn seiner Meinung nach mußte diese noch weit vornehmer und hochmüthiger sein. Er stand da, mit der Miene eines Opferlammes, als eine leise, aber unendlich sanfte Stimme an sein Ohr schlug.
„Sie sind mir willkommen, Herr Doktor, Wolfgang hat mir schon viel von Ihnen erzählt.“
Der Herr Doktor sah ganz überrascht auf und blickte in ein Paar große braune Augen, die allerdings etwas verwundert, aber ohne jeden Spott auf ihm ruhten. Er hatte noch die in Atlas und Spitzen gehüllte Erscheinung im Kopfe, die er aus dem Bilde kannte und die ihm dort so unnahbar erschien, und jetzt sah er eine zarte Gestalt, im weißen duftigen Morgenkleide, das lichtbraune Haar nur lose aufgenommen, ein blasses, aber liebliches Antlitz, dessen Ausdruck wohl müde, aber nichts weniger als blasirt und hochmütig war. Er war förmlich bestürzt darüber und stotterte etwas von großer Ehre und vielem Vergnügen, blieb aber natürlich schon im zweiten Satze rettungslos stecken.
Der Ausflug, den ich vor einigem Jahren an einem Maisonntage von Athen nach dem deutschen Dorf in Attika Herakli (oder auch Irakli) machte, sollte mir nicht nur ein Bild über den jetzigen Zustand dieses halb vergangenen bayerisch-griechischen Idylls verschaffen, sondern ich hatte dabei auch die Absicht, mir einmal durch ein recht greifbares Beispiel eine deutliche Vorstellung zu verschaffen von dem Entwickelungsgange des griechischen Volkes in seiner Mischung mit fremden Volksbestandtheilen. Was in dieser deutschen Kolonie sich vollzogen, das mußte ja vorbildlich sein für die Bildung des neugriechischen Volksthums überhaupt, denn anders ist es auch, im großen und ganzen, nicht zugegangen während der Ueberfluthung mit fremden Stämmen im frühen und späten Mittelalter und unter der Türkenherrschaft.
Irakli, wie es im Volksmunde heißt; Herakli, wie es die Gebildeten und die Eisenbahnverwaltung in der Erinnerung an ein altes Heraklesheiligthum nennen, ist an Dörfchen von ungefähr 30 Häusern, also 30 Familien, und kaum 200 Seelen; es liegt, mit der Eisenbahn in 20 Minuten erreichbar, nordöstlich von Athen, unweit des Flusses Kephisos, mit schönem Blick auf das Parnesgebirge und den Gipfel des Pentelikon. Das Dorf ist Eisenbahnstation der stark befahrenen Bahn Athen-Kephisia und sogar Knotenpunkt der hier abzweigenden wichtigen Linie Athen-Laurion. Aber der Verkehr nach beiden für Athen so bedeutsamen Orten braust an dem stillen Herakli vorüber; selten steigt jemand auf der kleinen, weit vom Dorf entlegenen Station aus oder ein, und als ich mit einem athenischen Freunde auf dem Frühzuge dort anlangte, erregten wir die neugierigste Aufmerksamkeit der Eisenbahnbediensteten.
In den vierziger Jahren dieses Jahrhunderts ist das Dorf entstanden, und zwar, wie immer bei Neugründungen in Griechenland, auf einer alten Kulturstätte. Bayerische ausgediente Soldaten, Halbinvaliden, die nicht mehr nach der deutschen Heimath zurückkehren wollten, wurden hier von König Otto angesiedelt und mit genügenden Mitteln zum Fortkommen ausgestattet. Der Erdboden eignet sich mehr zum Weinbau als zur Körnerfrucht; er ist, wie fast aller attische Boden hartschollig, stark mit verwittertem Felsgeröll untermischt und schlecht bewässert. Westlich läuft in ziemlicher Entfernung die Fahrstraße nach Tatoi, dem Landsitz des Königs Georg, und nach Dekelea, der alten attischen Gebirgsfestung, vorüber, und bis zur Fahrstraße von Athen nach Kephisia ist’s wohl eine gute Stunde weit. Nicht einmal von der jetzigen Station führt eine Fahrstraße, wäre es auch nur ein leidlicher „Bauernweg“, nach dem ehemals deutschen Herakli. Alle Verkehrsadern laufen daran vorbei, keine berührt es.
Jene bayerischen Ansiedler hatten zum größeren Theile deutsche Frauen geheirathet, Töchter deutscher Handwerker in Athen, die vom Hofstaat lebten. Aber gleich bei der Gründung des Dorfes war etwas griechisches Blut hineingekommen; einige griechische Frauen wirthschafteten schon damals an der Seite ihrer bayerischen Gatten, und damit war der Gährungsstoff gegeben zu der langsamen, aber unaufhaltsamen Umwandlung des Volkscharakters jener kleinen Gemeinde.
Rundum wohnten Griechen, wie sie heute dort wohnen in den zahlreichen Dörfern und Weilern der attischen Ebene. Auf den Verkehr mit diesen griechischen Nachbarn angewiesen, viel zu weit von Athen entfernt, um regelmäßig mit dem damals noch ziemlich starken deutschen Element der Hauptstadt in Verbindung zu bleiben, hörten die bayerischen Ansiedler beim ersten Schritt aus ihrem Dorf heraus nur Griechisch, welches sie ja schon vorher in der Armee und im städtischen Verkehr erlernt hatten. Es hätte einer größeren Widerstandsfähigkeit bedurft, als sie der einfache Deutsche im Auslande meist besitzt, um sich trotz der guten eigenen Kenntniß des Griechischen und trotz des täglichen Verkehrs mit Griechen die reine Muttersprache zu erhalten. Die Kinder der Mischehen lernten natürlich von der griechischen Mutter zuerst Griechisch und später vom Vater nicht immer Deutsch, denn dieser sprach ja auch mit der Gattin nur griechisch. So wurden schon in der nächsten Generation, eigentlich schon wenige Jahre nach der Gründung, ganze Familien mit deutschem Oberhaupt sprachlich zu Griechen.
König Otto nahm sich freilich nach Kräften seiner eigenthümlichen Schöpfung an und sorgte namentlich dafür, daß sie eine deutsche Schule und einen deutschen Pfarrer erhielt. Die Kirche trägt noch heute äußerlich einen ungriechischen Charakter, wie sie denn auch nicht dem griechisch-katholischen, sondern dem römisch-katholischen Gottesdienst geweiht ist. Was wurde aber aus einer deutschen Schule, deren Kinder im elterlichen Hause und auf der Dorfgasse zum Theil Griechisch hörten und selbst sprachen? Nachdem der erste deutsche Lehrer abgenutzt war, fand sich nicht leicht wieder ein Nachfolger. Denn er hätte ja aus Deutschland bezogen werden müssen; und welcher deutsche Lehrer hätte sich bei kläglichem Gehalt in jene Einsamkeit und Fremdheit verbannen lassen? Man nahm also seine Zuflucht zu einem deutschen Pfarrer, der nun gleichzeitig Lehrer sein mußte. Aber gar bald fand sich auch kein Pfarrer mehr aus Deutschland selber für das verkrüppelte ferne Gemeinwesen, und nun ging der Umwandlungsprozeß mit Riesenschritten vorwärts. Als vollends vor einem Menschenalter König Otto das Land verließ, hatte die letzte Stunde des deutschen Dorfes Herakli geschlagen, denn von nun ab kümmerte sich überhaupt niemand mehr um jenen verlorenen Posten.
Der Zustand, in dem ich Herakli im Mai des Jahres 1886 vorfand, war vollends ein kritischer. Bis dahin hatte es einen Pfarrer gehabt, der mit bewundernswerther Hingebung sich der Wahrung des Deutschthums annahm, ohne selbst ein Deutscher zu sein. Herr Armágos, der bisherige Ortspfarrer, dem ich die meisten Angaben über Herakli verdanke, stammt von der Insel Syra her, dem Hauptsitz des römischen Katholicismus in Griechenland. Er hat seine Studien in München gemacht, spricht ein angenehmes Bajuwarendeutsch, hat Verständniß und Liebe für deutsche Art, deutsche Litteratur und deutsches Volk und ist während vieler Jahre ein treuer Hüter des ihm anvertrauten fremden Menschengutes gewesen. Auf die Dauer aber hat er die furchtbar bedrückende Einsamkeit nicht ertragen und selbst die neugeschaffene Eisenbahnverbindung mit Athen hat nicht vermocht, ihm seine Bürde leichter zu machen. Als ich ihn besuchte, war er im Begriff, Herakli den Rücken zu kehren auf Nimmerwiedersehn, und wenige Wochen später traf ich ihn dann auf dem Dampfer, der mich von Korinth der Heimath zuführte, auf dem Wege nach München begriffen.
Schon Herr Armágos hat sich genöthigt gesehen, griechisch zu predigen und griechisch die Christenlehre zu treiben. Unter den Frauen des Dörfchens sind nur noch sehr wenige, die Deutsch genug verstehen, um dem höheren deutschen Stil in Predigt und kirchlicher Unterweisung zu folgen. Sie hören von ihren Männern wohl die wichtigsten deutschen Wörter des täglichen Verkehrs in Haus und Hof, aber sie selbst sprechen sie nicht nach.
[555] Aehnlich stand es um die Zeit, wo ich Herakli besuchte, mit der von Herrn Armágos geleiteten Dorfschule. Zwar hielt er streng darauf, daß es eine Unterrichtsstunde „deutsch Lesen“ gab; aber den Unterricht selber mußte er in griechischer Sprache ertheilen, weil die Kinder die höhere abstrakte Sprache eines deutschen Unterrichts nicht mehr verstanden. – Der Nachfolger des Herrn Armágos ist kein Deutscher, sondern hat nur nothdürftig etwas Deutsch in Griechenland gelernt.
Man kommt nach mühsamer Wanderung von der Eisenbahnstation, querfeldein über Sturzäcker und Weinfelder, über Gräben und Wildbachschründe („Rewmata“ nennt sie der Grieche), nach dem hoch gelegenen Dörfchen, auf dessen stillen Gassen sich blondköpfige Jungen mit funkelnden, schwarzen Augen herumtummeln. Die Farbe des Gesichts und der Haare ist deutsch, aber der Blick ist griechisch, und die Zunge ist auch griechisch geworden, wie wir bei der Antwort auf die erste Frage nach dem Namen merken. Dieser Knirps sagt, er heiße Franz (oder vielmehr Franziskos) Müller; jener nennt sich Lukas Setz; ein dritter Georg (genauer Jorji) Kegelmeier; doch schon an der Aussprache dieser Namen hören wir, daß es hier aus ist mit der deutschen Sprache als einem lebendigen Dinge.
Ein besonders lehrreiches Beispiel für die Art, wie sich der Umwandlungsprozeß in solchen Zwitterbildungen zu vollziehen pflegt, bietet die Familie des angesehensten Bürgers von Herakli, des deutschen Bierbrauers Fix. Der Name hat unter den Deutschen in Athen guten Klang, denn der „alte Fix“, der Vater des Herakliers, ist der Begründer und Pfleger der Bierbereitung und des Biertrinkens in Griechenland. Die berühmte Bierstube von Bernudakis in der Hermesstraße zu Athen verzapft Fixsches Bier, und daß es erbärmlich schmeckt, daran ist wahrscheinlich nicht des Herrn Fix Bierbraukunst schuld, sondern die schlechte Art der Aufbewahrung und Behandlung durch griechische bier-unverständige Hände. Der junge Fix, der in Herakli wirthschaftet, spricht selber noch vorzügliches Bayerndeutsch, aber daneben auch ein vollkommenes Volksgriechisch und in seinem eigenen Hause fast nur das letztere; denn seine Frau, obwohl eine geborene Deutsche, ist in einem römisch-katholischen griechischen Kloster erzogen und hat dort nur griechisch und französisch gesprochen, so daß nun diese beiden deutschen Eheleute im eigenen Hause und im Verkehr mit den Kindern sich nur des Griechischen bedienen. So geht es mit dem Deutschthum dieser versprengten deutschen Menschen inmitten eines ganz fremden Volksthums.
Ich habe diese Darstellung der Verhältnisse von Herakli nicht gegeben, um daran wehmüthige Betrachtungen über einen „verlorenen Bruderstamm“ oder dergleichen zu knüpfen. Es mag schade sein um die paar armen Leute, die nicht wieder in ihre eigentliche Heimath gelangen und doch auf dem fremden spröden Boden nicht gedeihlich fortkommen konnten; aber Deutschland hat andere sprachliche und nationale Verluste im Auslande zu beklagen, als daß es lange klagen sollte um jenes Häuflein verlorener Söhne in Attika. Ich selbst habe vielmehr Herakli an und für sich angesehen und möchte es als solches auch den Lesern vorführen, als ein im hellen Sonnenlicht der Gegenwart sich darstellendes Belegstück für die Art, wie das griechische Volksthum sich zu den fremden Eindringlingen im Mittelalter verhalten hat. Was sich an diesem abgelegenen Fleck Erde Attikas in dem kurzen Zeitraum von 40 Jahren vollzogen hat, das hat sich unzählige Male in den Thälern des Peloponnes, auf den Ebenen von Thessalien und an den Berghängen der Inseln abgespielt.
Niemand leugnet, daß Welle auf Welle fremder Volksstämme über das griechische Volk, über die Nachkommen der „alten Griechen“ hingefluthet ist seit dem Untergange des römischen Reichs bis zur Unterwerfung unter das Türkenjoch. Die Geschichte bietet kein Beispiel, daß ein eroberndes Heer die Sprache und die Sitten des von ihm ausgerotteten Volkes angenommen, und die slavischen Stämme, die im frühen Mittelalter in Griechenland eindrangen, sowie die französischen und italienischen Heere, die ihnen im späteren Mittelalter folgten, waren allesammt nicht zahlreich genug, um das griechische Volksthum und die griechische Sprache so zu ändern, daß man von einem neuen Volke, kaum von einem Mischvolke, reden darf. Slaven, Franken, Italiener ließen sich unter den Griechen nieder, gründeten wohl auch eigene Dörfer, ganz wie die bayerischen Veteranen in Herakli; aber sie heiratheten die Töchter des Landes, sie verkehrten freundschaftlich mit den Dörflern desselben Bezirks, ihre Kinder spielten miteinander. Just so, wie es den Deutschen in Attika ergangen, so ist es auch den fremden Eroberern griechischen Bodens geschehen: sie haben nach zwei, drei Menschenaltern Art, Sprache, ja selbst ihre Namen verloren und sind zu Griechen geworden. Gerade von den der Zahl nach mächtigsten Eindringlingen haben die Neugriechen am wenigsten aufgenommen: von den Slaven. Das Neugriechische hat überhaupt nur sehr wenige Fremdwörter; am wenigsten aber, wenn überhaupt welche, aus dem Slavischen.
In wenigen Jahren wird das schöne lebendige Beispiel Herakli nicht mehr unmittelbar zum Studium sprachlicher und nationaler Umbildung benutzt werden können, denn alsdann wird wohl auch die letzte Spur ehemaligen Deutschthums dort verschwunden sein. Um so wichtiger erschien mir der Versuch, wenigstens den Zustand dieses deutschen Dorfes in Attika festzuhalten, in welchem ich es vor nun zwei Jahren fand; wer es heute aufsucht, wird ihn schon wesentlich verändert finden.
Alle Rechte vorbehalten.
Die Damen bedauerten lebhaft, daß die Erzählung des jungen Astronomen keinen befriedigenden Schluß habe. Dieser entschuldigte sich, er sei kein Dichter, und die Geschichten, welche das Leben dichte, blieben nun einmal öfters ohne harmonischen Abschluß.
„Vielleicht ist die Ihre aber noch gar nicht zu Ende,“ meinte der Maler, „und das Leben dichtet Ihnen noch unvermuthet den passenden Schluß hinzu.“
„Offen gestanden, ich habe früher manchmal auch diesen Aberglauben gehegt, jetzt bin ich aber längst der Meinung, daß gerade der poetische Reiz meines Abenteuers in seinem fragmentarischen Charakter besteht, und gerade darin erblicke ich das Wesen des Wanderzaubers, daß auf Reisen selbst Herzenserlebnisse an der Seele flüchtig vorüberziehen wie die Eindrücke der Landschaft und keinen anderen Eindruck zurücklassen, als den eines schönen, reinbeglückenden Bildes.“
„Im Grunde ist denn doch diese Auffassung,“ ergriff nun Professor Schröder das Wort, indem er sich über den weißen Bart strich, „ebenso romantisch wie pessimistisch. Mir fielen vorhin bei Ihrem Schluß ein paar Verse Scheffels ein, des Dichters, auf dessen Spuren wir hier im Gebiete des Säntis wandern, Verse, die für seine im Grunde so melancholische Gemüthsart ebenso bezeichnend sind wie für seine Neigung, an die Schönheitswelt der Alpen seine poetischen Gedanken anzuknüpfen. Er schildert in dem Gedicht eine Wanderung fahrender Schüler über Alpenhöhen:
‚Hier blitzt ein Städtlein und dort ein Gefilde,
Dort eines Stromes sich schlängelnder Lauf,
Dort auch ein See, wie ein Menschenaug’ milde,
Aus der vernebelten Ferne herauf.
Flüchtig nur winkt es und flüchtig versinkt es
In das umflorende Dunstmeer zurück …
So ist das Leben – sternschnuppig nur blinkt es …
So ist die Minne, die Hoffnung, das Glück.‘
Meine persönliche Erfahrung setzt mich dagegen in Stand, dem Leben wie dem Reisen bleibendere und tiefer greifende Segnungen nachzurühmen. Mich wenigstens hat meine erste größere Reise in die Alpenwelt nicht nur von ähnlichem Pessimismus befreit, [556] sondern auch an dauerndes Glück zu glauben gelehrt. Wenn niemand sonst sich zum Worte meldet, will ich Ihnen dies Erlebniß erzählen.“
„Bitte, Herr Professor! Wir hören!“
„Jene Tage liegen bereits so abgeklärt hinter mir, daß ich von dem jungen Privatdozenten Hermann Schröder, dem Helden meiner Geschichte, völlig objektiv erzählen kann, wie von einem guten Freund, an dessen Jugendgeschicken ich einstmals herzlichen Antheil genommen. Wie schon angedeutet, war dieser für seine Wissenschaft begeisterte junge Gelehrte in der Zeit, welche jenem Erlebniß vorausging, von einem Pessimismus angekränkelt, wie er ihn später nie hat theilen können. Dieser Pessimismus war freilich keine Aeußerung eines etwa angeborenen Trübsinns, sondern die Folge von Ereignissen, die nicht nur auf ihn so niederdrückend gewirkt haben. Seine Universitätsjahre fielen in jene Zeit, da die Träger der deutschen Bildung von der Deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche eine Neuerrichtung des deutschen Reichs im Zeichen der Freiheit erhofften und auch anfangs erhoffen durften in Anbetracht der Begeisterung, mit welcher, gleich den edelsten deutschen Männern wie Grimm und Uhland, der beste Kern des Volks in allen Schichten diesem Ideale anhing und zustrebte. Ein geborener Rheinländer, studirte unser junger Freund in Bonn, anfangs die Rechte, bis er sich mit wachsender Ausschließlichkeit den schönen Wissenschaften, im besonderen der Litteratur- und Kunstgeschichte, zuwandte, angezogen durch die glänzenden Vorträge Gottfried Kinkels, welchem er auch trotz des Unterschieds in Stellung und Alter freundschaftlich näher trat. Die in dem engeren Kreise des wegen seines Freisinns schon wiederholt gemaßregelten Dichters herrschende politische Erregtheit, seine Theilnahme an den Kämpfen für die Verwirklichung eines freigeeinten deutschen Vaterlands ergriff auch ihn, und als die so schön erblühten Hoffnungen dann im Jahre 1848 gewaltsam zerstört wurden, fand die revolutionäre Gegenbewegung der Patrioten auch ihn in ihren Reihen. An dem Sturm auf das Zeughaus in Siegburg nahm auch er theil und würde dem geliebten Lehrer und Führer sogar auf den Kampfplatz in der Pfalz und Baden gefolgt sein, wenn ihn nicht direkt nach jener Sturmnacht ein hitziges Nervenfieber ergriffen und ihn jeder Theilnahme an allem, was ihm theuer war, entzogen hätte…
Doch mich beengt die objektive Erzählungsform, die ich wählte, lassen Sie mich nicht mehr wie von einem Fremden, sondern frei von der Leber weg von mir selber erzählen.
Als ich wieder genas, war Kinkel gefangen und mit ihm so mancher, auch mir lieber Gefährte des Siegburger Waffenganges; andere Gesinnungsgenossen waren nach der Schweiz und England geflohen, denn die Reaktion wüthete unbarmherzig. Auch ich wandte mich nach Zürich, wo ich meine Studien zum Abschluß brachte, mein Doktorexamen bestand und dann an die Ausarbeitung eines größeren litterargeschichtlichen Werkes ging, das meiner Geistesrichtung entsprach; es behandelte die Anfänge der politischen Dichtung im Mittelalter. Die Arbeit sollte mir die akademische Laufbahn ebnen, für welche ich inneren Beruf fühlte. Sie sollte mich aber auch abziehen von der Gedankenwelt trübster und kraftlosester Art, welche sich meines Gemüthes infolge des Fehlschlagens jener großen Erwartungen bemächtigt hatte. Empfand ich doch sogar meine Freiheit, mein Unbehelligtbleiben, während meine Freunde im Kerker schmachteten, als eine Schuld, obgleich ich doch wahrlich nicht dafür verantwortlich war, daß meine Natur unter den ungewohnten Aufregungen so schnell einem Nervenfieber zur Beute fiel. Bei den Eindrücken, welche mich nach dem Verlassen des langen Krankenlagers empfingen, hatte mein angegriffenes Geistes- und Seelenleben nicht recht wieder genesen können. Eine allgemeine Verstimmung der Nerven war zurückgeblieben, ein die Thatkraft lähmendes Mißtrauen in meine Kraft und die Kraft der Menschen überhaupt; sie äußerten sich in einem resignirten Verstummen all den idealen Fragen gegenüber, die mir vorher das Herz so mächtig bewegt hatten, während mein Geist über die Unzulänglichkeit menschlichen Wollens, über die Ohnmacht idealen Strebens trostlos grübelte. Ich empfand es als demüthigende Schmach, durch die Schwächlichkeit meines Körpers um die Ehre gebracht worden zu sein, für meine Gesinnungen im offenen Kampfe einzustehen, und mit Neid auf das Märtyrerthum meiner eingekerkerten Genossen las ich die Berichte von deren kühner Standhaftigkeit im Verhör, während sich um meine geringe Betheiligung selbst die Untersuchungskommissionen nicht kümmerten. Meiner Heimkehr ins Vaterland stand nicht einmal ein elender Steckbrief im Wege.
Dennoch trat ich dieselbe nicht an. Die Nachrichten von der Reaktion, die auf allen Gebieten geistigen Lebens Platz gegriffen, lauteten zu abschreckend für einen jungen Gelehrten, für dessen Beruf Gedanken- und Redefreiheit Voraussetzung des Gedeihens sind. So habilitirte ich mich in Zürich als Privatdozent und verwandte den größeren Theil meiner Zeit auf mein Buch, dessen Interesse mich schließlich doch nöthigte, einige deutsche Städte ihrer Bibliotheken wegen aufzusuchen, um dort gewisse Quellenwerke und Handschriften zu benutzen.
Eine solche Reise führte mich im Frühjahr 1851 nach Wien, und da mich dort unvermuthete Funde von Manuskripten, die ich auf der kaiserlichen Bibliothek machte, zu einer durchgreifenden Umarbeitung mehrerer Kapitel meines Buchs nöthigten, blieb ich dort länger, als ich ursprünglich beabsichtigt hatte, sagte für das Semester meine Vorlesungen ab und miethete mich in der Nähe der Bibliothek ein, wo ich mich bald derart hinter meinen Büchern eingesponnen hatte, daß ich von den Lockungen des Frühlings und der lebenslustigen Kaiserstadt kaum etwas spürte. Für mich war und blieb diese das ‚Capua der Geister‘, wie sie der strafende Mund des Dichters genannt hatte. Der fröhlich leichte Sinn der Bevölkerung erschien mir so kurze Zeit nach den furchtbaren Auftritten der Straßenkämpfe fast als frivole Leichtfertigkeit.
An jene Tage, da auch in Wien, dem Wien Metternichs, für die Freiheit gekämpft wurde, fühlte ich mich täglich beim Auf- und Niedersteigen der Treppe zu meiner hochgelegenen Wohnung durch das Schild vor der Wohnung des ersten Stockwerks erinnert, das einen altaristokratischen Namen trug, welcher, einem der Führer der Reaktion in Oesterreich zugehörig, damals viel, in liberalen Kreisen aber immer nur mit Abneigung, ja erbittertem Grimm genannt wurde. Freilich war es nicht jener berüchtigte Staatsmann selbst, der hier wohnte. Wie ich von meiner Wirthin, einer gutmütigen alten Wiener Kleinbürgerin, der ein Plausch über alles ging, schon bald nach meinem Einzug erfuhr, wurde der erste Stock von einer Schwägerin des gefürchteten ‚Demagogenriechers‘ bewohnt, deren Mann Leibarzt eines der kaiserlichen Erzherzöge gewesen und früh gestorben war. Sie bewohnte die schöne Etage mit ihrer einzigen Tochter. Auch zu sehen bekam ich beide bald.
Der Eindruck war ein sehr verschiedener. Die alte Medizinalräthin hatte in ihrem Wesen und Antlitz ganz jenen Stolz ausgeprägt, der den Ambitionen dieser Familie entsprach, und ihre kühle, strenge Art wirkte um so auffälliger, als die Dame beständig auf die Hilfe und Liebe von ihr untergebenen Menschen angewiesen war: sie hatte ein neuralgisches Leiden und mußte sich im Rollstuhl fahren lassen. Die Tochter, deren Gestalt von vollendeter Schönheit war, hatte dagegen in ihren Zügen zwar auch einen Zug von ernster Zurückhaltung und vornehmem Selbstbewußtsein, welcher die natürliche Anmuth derselben beeinträchtigte, aber in ihrem Blicke äußerte sich ein warmes Seelenleben, das sehr wenig zu der frostigen Gemessenheit ihres Benehmens paßte.
Ich hatte gleich beim ersten Begegnen Gelegenheit, diesen Blick kennen zu lernen. Bei der Rückkehr von der Bibliothek fand ich eines Abends den Eingang ins Haus gesperrt durch den Rollstuhl der alten Dame, der von einem gleichfalls bejahrten Diener in den Flur geschoben wurde. Da ihm die Schwelle bei dieser Manipulation einige Schwierigkeit machte, war das Fräulein vor der Thür stehen geblieben und ich wurde auf diese Weise ihr Gegenüber, da ich natürlich auch warten mußte. Unwillkürlich lüftete ich grüßend den Hut; sie erwiderte den Gruß mit einer kühlen, kaum merklichen Neigung des Kopfes, doch mit einem Blick, der in höflichster Weise um Entschuldigung bat wegen der von der Mutter verursachten Störung der Passage. Diese stumme Art nöthigte mich unwillkürlich auch zum Schweigen; sie verdroß mich, denn ich meinte, darin die Anmaßung der jungen Aristokratin erkennen zu sollen. Während der Diener in Gemeinschaft mit einem Stubenmädchen, das heruntergeeilt war, den Rollstuhl sammt der Baronin hinauftrug, passirte dem Manne ein Unglück. Er trat fehl, strauchelte und wäre wahrscheinlich gefallen, wenn ich, der ich hinter ihm schritt, ihn nicht hätte [557] aufhalten können, worauf ich ihm kurzer Hand und das Lamento der erschrockenen alten Dame nicht achtend, die noch fehlenden Stufen den Stuhl tragen half. Dann grüßte ich kurz und stumm, ganz wie die alte Dame, ohne daß es mir entging, wie die Tochter mir einen Blick voll freundlicher Sympathie nachsandte. Ich begegnete ihr noch oft, und sie erwiderte stets freundlich meinen Gruß, aber die Wärme jenes Blickes fand ich nicht wieder. Doch vergessen konnte ich ihn nicht; er stahl sich in meine Träume, er leuchtete plötzlich zwischen den Zeilen meiner alten Pergamentfolianten hervor, in denen ich die Originale der Minnelieder altprovençalischer Troubadours, der Bertrand de Born und Guillem de Cabestaing studirte, Strophen, die jene kecken Bekenner kühner und freier Gedanken einst an gesellschaftlich hoch über ihnen stehende Frauen gerichtet hatten, durchglüht von hoffnungsloser Liebe.
Thoren, die sie waren, sagte ich oft in jenen Tagen zu mir, Thoren, sich in so unnahbare Wesen zu verlieben, welche – wenn sie wirklich die Frauen dieser Dichter geworden wären – sie in jeder Beziehung die erhoffte Herzens- und Geistesgemeinschaft hätten entbehren lassen. Jene – muthvollen Kämpen einer neuen Zeit mit freien Anschauungen und diese hocharistokratischen Ritterdamen, ganz erfüllt von den Vorurtheilen eines herzlosen, in strenge Formen gezwängten Feudalismus! … Ich aber – fühlte mich gewappnet gegen derartige Schwächen. Und wenn mich jene Blicke noch tiefer getroffen gehabt hätten, ich hätte mich schon hüten wollen, ihnen mein Herz preiszugeben. So meinte ich. Doch wenn ich ihr dann wieder auf der Treppe begegnet war oder beim Vorübergehen aus ihrer Wohnung den Gesang einer mich im Innersten ergreifenden Altstimme vernommen hatte – das Mignonlied in Beethovens herrlicher Komposition sang sie mit Vorliebe – da waren meine Gedanken wieder ganz in ihrem Bann und mir war, als habe ich selbst ähnliche Gedichte an sie zu richten wie jene hoffnungslosen Troubadours. Ja, es war Thorheit, es war Wahnsinn, was jene gethan; aber was kümmert sich die Liebe darum, ob das, was sie anstiftet, Thorheit ist. Ich war verliebt in jene stolze Trägerin eines von jedem freisinnigen deutschen Mann damals gehaßten Namens – trotz all meiner Klugheit …
Natürlich ließ ich ihr meine Empfindungen mit keinem Wimpernschlag merken. Aber je mehr ich gegen die schnell emporgewachsene Leidenschaft ankämpfte, um so mächtiger nahm sie von all meinem Denken und Fühlen Besitz. Ich schämte mich; ich verhöhnte mich im Stillen; aber immer mehr zehrte das Verlangen, sie zu sehen, an mir und machte mich zum Narren meiner Grundsätze. Denn diese Liebe erschien mir in den Stunden ruhiger Ueberlegung als Verrath an meiner Ueberzeugung. Schließlich verlor ich alle Fähigkeit, wie bisher an meinem Werke fortzuarbeiten. Ich ging schon damit um, in eine andere Wohnung zu ziehen, weil ich es in demselben Hause mit ihr doch nicht aushalten könne; da nahm mich eines Mittags ein junger Arzt, der mit mir denselben Mittagstisch besuchte, bei Seite und sagte mit wohlwollendem Ernst zu mir: ‚Lieber Freund, Ihr Aussehen und Ihr Wesen machen mir Sorge. Ihre Nervosität ist in letzter Zeit bedenklich gesteigert. Klappen Sie Ihre Bücher zu und reisen Sie auf ein paar Wochen ins Gebirg. Es ist hohe Zeit! Folgen Sie meinem Rathe!‘
Ich folgte ihm um so bereitwilliger, als ich an demselben Tage durch meine Wirthin erfuhr, die Damen vom ersten Stock, von denen ich mehrere Tage nichts gesehen, seien, wie nun schon mehrere Jahre um diese Zeit, nach Ischl ins Bad gereist. Nicht als ob ich nun die Absicht gehabt hätte, ihnen nachzureisen, – im Gegentheil. Wohl klang es wie Lockruf in meiner Seele, ihre Art, wie sie die Goethesche Sehnsuchtsstrophe ‚Dahin dahin‘ gesungen hatte; aber die Reise, die ich vorhatte, sollte mich grade von solcher Sehnsucht
[558] befreien, mich nicht wieder in ihre gefährliche Nähe bringen. Aber daß auch sie nicht mehr hier war, erleichterte mir doch den Entschluß zur Abreise. Die österreichische Alpenwelt ist so groß, und Ischl so klein; da kann man sich ja schon ausweichen.
Die Herrschaften kennen das Salzkammergut?
„Wir waren erst voriges Jahr vier Wochen in Aussee,“ erwiderten zustimmend die Kurzschen Eheleute.
„Und ich habe schon dreimal den Dachstein bestiegen, das eine Mal von Süden her, die zwei andern Male von Gosau aus; da ist der Anstieg ein recht schwieriger,“ sagte der Engländer.
„Und wir haben das herrliche Land von See zu See durchschweift,“ riefen die Malersleute. Nur der Astronom war noch nicht dort gewesen.
„Nun, da steht Ihnen noch eine Fülle lieblicher und großartiger Eindrücke von eigenstem Reize bevor. In jener herrlichen Gegend, wo eine fast südliche Vegetation die Thäler und Seeufer mit Lustgärten überzieht, während zu ihren Seiten mächtige Felsenkämme über waldigen Vorbergen gen Himmel ragen, ging mir damals zuerst die Pracht und Schönheit unserer Alpen auf. Und noch viel anderes.
Ich ging wirklich nicht nach Ischl. Ich mied es ängstlich und empfand es mit Genugthuung, wenn Touristen, mit denen ich in Unterhaltung kam, das modische Solbad zwischen den Salzbergen für den langweiligsten Ort im Lande erklärten. Ich reiste, wie es meiner inneren Unruhe entsprach, nach Laune von einem der schönen Seen zum andern. Zuerst machte ich am Traunsee Station und hier war es, wo ich, der Weisung des Arztes folgend, mich allmählich an immer größere Bergtouren wagte, so daß ich keinen irgend erträglichen Tag vorüberließ, ohne eine Höhe zu besteigen. Im Anfang überwog die Anstrengung den Genuß. Ich war ja des Steigens zu ungewohnt, um mich nicht von einem mehrstündigen Auf- oder Niederstieg wie zerschlagen zu fühlen.
Eine der ersten steileren Höhen, die ich damals erklomm, war in ihren Anfängen ein Kalvarienberg und die Mühseligkeit des Anstiegs, den Wallfahrtsstationen vorüber, erschien mir in der That als eine Kasteiung. Mißmuthig war ich noch vor Schluß der Table d’hote aufgebrochen, hatte erst in meinem Zimmer Ruhe gesucht, und da ich sie dort nicht fand, war ich aufgebrochen und hatte planlos den Weg eingeschlagen, von keinem anderen Wunsche beseelt als dem, allein zu sein und nichts mehr zu hören von den Phrasen übertünchter Höflichkeit und überfirnißter Thorheit, die mich bei Tische umschwirrt hatten. Das waren nun Menschen, auf Rang und Stand höchst eifersüchtige Menschen gewesen, die sich alle für höchst gebildet erachteten, und doch hatte ein jeder gesprochen, als erschöpfe sich in Toiletten-, Küchen-, Etikette- und Sportfragen das Interessengebiet des Geistes. Und das wird immer so bleiben, sprach ich in mich hinein. Aller Fortschritt der Menschheit ist nur ein scheinbarer, weil man den Fortschritt einzelner mit dem der Menschheit verwechselt. Der Weg, den ich beschritt, zog jedoch wegen seiner Steilheit meine volle Aufmerksamkeit auf sich. Es war das ausgewaschene Bette eines offenbar einst mächtigen Gewässers. Wohl viele hundert Jahre hatte hier das Wasser fließen müssen, ehe es diesen Weg so glatt und sauber in die Felsen eingescheuert.
Unwillkürlich fiel mir der lateinische Sprach ein: gutta cavat lapidem – der Tropfen höhlt den Stein. Und wie ich mühsam Schritt für Schritt auf dem steilen Pfade empordrang, nur nach langer Mühe ein Ziel erreichend, das nach dem Augenmaß wie im Sprunge zu erreichen geschienen, da machte sich in meine Gedanken die versöhnliche Einsicht, daß eben auch die Höhen des menschlichen Fortschritts nicht allen zugänglich und nicht gleichmäßig zu erklimmen sind und die Langsamkeit des Vorwärtsschreitens in ihrer Natur begründet ist. Je höher ich stieg, um so kleinlicher erschien mir der Anlaß meines Grolls. Und als ich oben auf der Spitze des Berges war, da überkam mich ein wonniges Gefühl des Befreitseins von Trübsal und Kleinmuth, entzückt schweifte mein Blick ins weite Land über Berg und Thal, über blitzende Spiegel von blauen Seen und weiße Gipfel von blauen Bergen und auf meine Lippen drängte sich der Ausruf: ‚Die Welt ist doch schön – trotz alledem.‘ Und gleich dann mußte ich an sie denken, deren Anblick ich fliehen wollte, deren Bild mich aber überallhin begleitete. Auch sie, die Nichte des finsteren Reaktionsmanns, hier oben würde sie aus dem Anblick der schönen großen Gotteswelt eine ähnlich befreiende Wirkung gewinnen.
Und mit jeder neuen Bergfahrt fühlte ich mich, obgleich sie mich den Menschen entrückte, den Menschen und der bunten Mannigfaltigkeit ihres Strebens näher gebracht. Viel trug dazu bei der Eindruck, den ich von dem Leben der Landleute dieser schönen Gebirgswelt empfing. Die zähe Ausdauer, mit der diese Leute dem entlegensten Erdstrich zwischen Felsentrümmern Gras und Futterkräuter für ihr Vieh abgewinnen, ihre Genügsamkeit und ihre Fähigkeit, von Herzen froh zu sein in ihrer Dürftigkeit, steigerte meine Achtung vor dem Menschenthum und ließ mir die socialen Unterschiede, die uns im Qualm der Städte entzweien, in ihrem Kern nur noch gering erscheinen. ‚Und sie bewegt sich doch,‘ sagte ich mir, wenn ich in einem weltentlegenen Einödhof des Gebirgs moderne Werkzeuge in Gebrauch fand, ‚und sie bewegt sich doch vorwärts, die Menschheit‘– wenn ich Spuren geistiger Aufgeklärtheit entdeckte bei Leuten, denen ich die Kunst des Lesens nicht zugetraut hatte. Und: ,Sollten wir uns nicht doch finden können?‘ fügte ich bei, wenn ich der Stolzen gedachte, deren Pfad mein Verstand hatte meiden wollen, während im Stillen mein Herz hoffte, ich möchte ihn kreuzen.
Es war auf der Straße nach Gosau, die vom Hallstätter See aus am Fuße des Salzbergs hin durch das waldumschattete wildromantische Gosauthal führt. Die vielgerühmte Gosauschmiede war mein Ziel; ich wollte in der Nähe des wundersam schönen stillen Alpensees, der seine anmuthige Idylle unmittelbar unter der Gletschermajestät des gewaltigen Dachsteinmassivs entfaltet, ein neues Standquartier suchen. Ich war in der fröhlichsten Stimmung und sang ein altes Studentenlied vom Wandern. Plötzlich hörte ich hinter mir einen Wagen in schnellem Tempo heranfahren. Da ich inmitten der Straße ging, schwenkte ich nach rechts ab, mich unwillkürlich nach der Ursache der Störung umsehend.
Eben kam die Equipage herangerollt und schon wollte ich mich zum Weitergehen wenden, da erblickten meine Augen Fräulein Josephine neben einer freundlichen alten Dame im Wagen. Nur für einen Moment verlor ich die Fassung. Dann grüßte ich höflich. Die Damen erwiderten freundlich den Gruß und die ältere, welche mich mit Interesse angeblickt hatte, richtete dann eine Frage an ihre Nachbarin, worauf sie mit ihrem Sonnenschirm dem Kutscher das Zeichen zum Halten gab.
Beide Damen wandten sich mit einladender Gebärde nach mir um, ich war an ihrer Seite.
,Ein Bekannter meiner Nichte, Herr Doktor, das freut mich. Wir armen Frauen reisen so allein durch die Berge, da ist das Vergnügen doppelt groß, einen Herrn zu finden, an dessen Rath und Stütze man zu appelliren ein Recht hat.‘
Die Nichte, welche hoch erröthend neben ihr saß, wollte sie unterbrechen. Die alte Dame aber ließ sich nicht stören und stellte sich vor als Schwester der Mutter Josephinens, als welche sie es für ihre Pflicht gehalten habe, ihren Liebling aus der Monotonie des Ischler Badelebens auf einige Tage zu befreien und sie zu einer Wagenpartie nach den schönsten Orten des Salzkammerguts einzuladen. Doch was sei eine solche Vergnügungsfahrt ohne Herrengesellschaft!
‚Aber Tante!‘ flüsterte wiederum Josephine.
‚Ei was, ich will mit Eurer Duckmäuserei nichts zu thun haben; ich sage meine Meinung immer ehrlich heraus. Also, Herr Doktor, Sie haben die Wahl. Wollen Sie zu uns einsteigen oder dürfen wir zu Ihnen auf die Straße kommen, um an Ihrer Wanderlust teilzunehmen, die Ihnen da eben so fröhlichen Gesang aus dem Herzen lockte? Josephine, die über diese Fröhlichkeit sehr erstaunt that – ich wundere mich gar nicht darüber – hat schon während der ganzen Fahrt beklagt, daß sie nicht zu Fuß durch die schönen Thäler einherziehen könne. Wollen Sie uns mitnehmen?‘
Ich öffnete in einer ganz eigenen Stimmung, die aus Seligkeit und Verlegenheit wundersam gemischt war, den Wagenschlag, aber sie, deren Nähe mich so erregte, zögerte noch, indem sie mit einem Frageton, der sich an mich wandte, zur Tante sagte, sie wisse doch nicht, ob sie berechtigt wären, an mich solche Ansprüche zu erheben; Tante hätte sie falsch verstanden, wir hätten zwar [559] in demselben Hause gewohnt – ,Ei was da‘ unterbrach sie die lebenslustige alte Dame, ‚siehst Du denn nicht, daß der Herr sehr erfreut ist über den Zwischenfall? Nur ohne Umstände! Schnell ausgestiegen! Dafür sind wir auf Reisen. Kutscher, fahren Sie nur immer voraus und halten Sie, wo die Wege nach Ober- und Untergosau sich theilen.‘
Auf diesem so originell eingeleiteten Spaziergang durch eines der schönsten Alpenthäler der Welt, vor uns die zackige Wand der Donnerkogel, überragt von einigen schneeigen Spitzen des Dachsteins, lernten wir uns nun eigentlich erst kennen. Sie hatte bisher in Ischl wie auch in Wien ein recht einsames Leben geführt. Das Leiden ihrer Mutter und deren Kur-Diät hatten auch ihrem Bewegungsbedürfniß enge Schranken gezogen. Der oberflächliche Umgangston in den Gesellschaftskreisen, mit denen die Mutter Verkehr Pflegte, hatte sie, wie schon gelegentlich der früheren Aufenthalte in Ischl, wenig befriedigt. Ja, sie war eine Aristokratin, sie war in konservativen und feudalen Anschauungen aufgewachsen; aber sie hatte das bürgerliche Element in seinen besten Vertretern, in Künstlern und Gelehrten, kennengelernt und in ihrer stillen Wohnung, wo sie seit des hochgebildeten Vaters Tode viel einsame Stunden gehabt, hatte ihr die sonst von niemand benutzte Bibliothek des Verstorbenen Quellen höchster Bildung erschlossen. Wohl war sie in einer Klosterschule erzogen und dann von einer französischen Gouvernante mit jenen Kenntnissen versehen worden, die nur auf äußere Repräsentation berechnet sind, aber sie hatte seitdem auch Goethes ,Faust‘ und Humboldts ,Kosmos‘ gelesen und ihre mir so sympathischen Augen blickten mit besserer Einsicht in die Welt, als so mancher meiner früheren Bekannten, der sich hoher Bildung vermaß. Das alles erfuhr ich, während wir, bald allein, bald mit der freundlichen Patronin uns unterhaltend, der in stiller Bergeinsamkeit gelegenen Gosauschmiede zuschritten. Daß ich aber den Muth zu all den Fragen fand, verdankte ich einzig dem befreienden und belebenden Einfluß der erhabenen Alpennatur. Wie bringt doch das Leben in der freien Natur der Natürlichkeit näher; wie schnell entstand hier eine herzerquickende Intimität zwischen zwei Menschen, die drin in der Stadt, obgleich in demselben Hause wohnend, kaum mehr als drei Worte mit einander gewechselt hatten!
Aber trotz dieser Annäherung, trotz der zwischen uns emporblühenden Freundschaft blieb ein Etwas zwischen uns, was meine Hoffnungen niederdrückte. Das viele Alleinsein, das leider nicht sehr herzliche Verhältniß der Mutter zu der Tochter hatte in dieser eine gewisse Selbständigkeit des Meinens und Willens entwickelt, die mich bisweilen wie Standeshochmuth berührte.
Unser Leben im Schutze der Tante hatte sich sehr gemüthlich gestaltet. Sie fuhr mit uns spazieren, nahm die Mahlzeiten mit uns, anstrengendere Partien aber ließ sie uns allein unternehmen. So gab sie der nach einer richtigen Hochtour sich sehnenden Nichte auch die Erlaubniß, mit mir die Zwieselalp und von da den großen Donnerkogel zu besteigen, diese herrlichen Aussichtspunkte, welche gleichzeitig in die Gletscherwelt des vielgipfeligen Dachsteins aus unmittelbarer Nähe intimen Einblick und einen weiten Ausblick über die Höhen, Thäler und Seen der Salzalpen gewähren. Sie hatte gehört, daß man diese Gipfel ganz gut ohne Führer besteigen könne, und setzte meinem Vorschlag, dennoch einen solchen zu nehmen, hartnäckigen Widerspruch entgegen.
Es war ein heißer Tag, und obgleich wir sehr früh am Morgen aufgebrochen, machte sich die Gluth der Sonne bald genug geltend. Wir stiegen anfangs mit frischer Kraft und in bester Stimmung die Zickzackwege zur Zwieselalp bergan, deren Beschreiten kein beschwerliches gewesen wäre, wenn nicht der lockere Glimmerschiefer den Füßen nur einen schlüpfrigen Halt geboten hätte. Ich ließ sie zunächst voranschreiten, um ihr sofort, im Falle sie es bedürfe, als Stütze dienen zu können. Auch wenn ich nicht verliebt gewesen wäre, würde mich der Anblick der vor mir elastisch emporsteigenden schlanken Gestalt entzückt haben. Dennoch glitt ihr kleiner Fuß wiederholt aus und ich bot ihr an, sie bei der Hand zu führen. Das verdroß sie: sie bedürfe solcher Hilfe nicht. Auch bat sie mich, voran zu gehen, sie werde schon sicher nachkommen. Da ersteres bei steileren Stellen ohnedies nöthig gewesen wäre, zögerte ich nicht, es zu thun. Doch ersuchte ich sie, dicht hinter mir zu bleiben. Da sie gerade wieder ein Rutschen der Glimmersteine verursacht hatte, machte sie, darüber ärgerlich, sich dran, den steinigen Fußpfad zu verlassen und über den grasigen, mit Knieholz durchsetzten Abhang emporzuklimmen. Umsonst warnte ich sie davor; sie schwang ihren Alpenstock und stieg rüstig voran: hier sei der Weg viel weicher und zudem schneide sie dabei gehörig ab.
Ich beeilte mich nun, an ihre Seite zu gelangen; es war auch hohe Zeit. Als ich bei ihr war, hatten sich ihre Füße im Geäst eines breitwuchernden Alpenrosenbusches verfangen; als sie glücklich wieder frei war, lachte sie aber mich aus.
Der Abhang wurde steiler und steiler, moosüberwachsene Felsblöcke stellten sich in den Weg, und noch zeigte sich nicht der Fußweg, auf den sie gedacht hatte, nach wenig Minuten wieder zu gelangen. Schattenlos dehnte sich vor uns die grüne, felsübersäete Berghalde steilan; um mir zu zeigen, daß sie gar wohl den eigenwillig aufgesuchten Schwierigkeiten gewachsen sei, muthete sich die solchen Steigens völlig Ungewohnte Uebermenschliches zu. Ich drang in sie, einmal still zu stehen und zu rasten – sie schritt, schweigend mit dem Kopfe schüttelnd, weiter; da – als ich wieder von dem steinbesäeten Wege aufsah, brach sie zusammen.
Ich eilte vorwärts. Hinter einer Zwergkiefer fand ich sie, auf den Alpenrosenteppich hingestreckt. Eine Ohnmacht, ein Hitzschlag hatte sie getroffen. Ich selbst fühlte mich bei dem Anblick wie vom Schlage gerührt. Doch ermannte ich mich schnell. Ich hob ihr Haupt und legte es so, daß es vom Schatten der Kiefer gekühlt ward. Ich machte ihren Hals frei, damit sie freier athmen könne. Dann nahm ich aus meinen, leichten Rucksack die mitgenommene Weinflasche, von der zu trinken sie vorher abgelehnt hatte. Ich netzte mit dem kühlen Naß ihre Schläfe; dann setzte ich ihr die Flasche an den Mund, der fest geschlossen war. Die ersten Tropfen rieselten ungetrunken über Wangen und Kinn.
Auf einmal aber löste sich die Starrheit in dem bleichen Antlitz. Sie öffnete die Lippen und mit gierigen Zügen trank sie von dem erquickenden Wein. Und jetzt öffnete sie die Augen. Träumerisch schaute sie in die meinen, die gewiß mit warmer Zärtlichkeit auf ihr ruhten.
,Welch schöner Traum!‘ hauchte sie und schloß die Augen wieder, jetzt mit dem Ausdruck wohliger Schlafseligkeit. Dann öffnete sie aufs neue wie durstig die Lippen. Ich reichte ihr wieder den Wein; sie trank davon, doch nur wenig; dann schüttelte sie enttäuscht den Kopf.
,Fräulein Josephine!‘ rief ich, indem ich mein Gesicht zu dem ihren niederbeugte. Da fühlte ich meinen Hals von den Armen der Träumenden umfaßt, sie schmiegte ihre Wangen an die meinen:
‚Hier bin ich!‘ sagte sie leise aus dem Traume heraus und nannte mit dem Ausdruck zärtlicher Liebe meinen Namen.“
Der Professor, der selbst wie in träumerischer Entrücktheit dies letzte erzählt hatte, blickte wie erwachend auf. Er fuhr sich über die Stirn und lächelte dann seinen Zuhörern zu.
„Wozu mehr erzählen? Das war mein schönstes Reiseerlebniß! – Wie es kam, daß wir am Abend nach diesem Morgen als verlobtes Paar an jener Stätte glückseligen Unglücks wieder vorüberschreiten konnten? Das Bewußtsein weiblicher Schwäche, das von ihrer Ohnmacht zurückgeblieben, und noch ein anderes Bewußtsein hatten die Starrheit des Stolzes von ihr genommen. Sie fühlte, daß im Kampf gegen elementare Schwierigkeiten nicht der Eigenwille entscheidet, wenn ihm die Kraft zur Ausführung fehlt. Sie fühlte, daß sie mich liebe. Soll ich noch schildern, wie wir uns oben auf der luftigen Bergesspitze emporgehoben fühlten und erhaben über so vieles, was unten in den Städten die Menschen scheidet und die trennenden Vorurtheile nährt, wie wir uns so rein in unserer Menschlichkeit dort gegenüber standen, daß uns leicht zu überwinden schien, was uns noch trennte; wie die einst für unübersteigbar gehaltenen Hindernisse im Austausch der Seelen uns nichtig erschienen gegenüber der Harmonie der Natur, wie sie unseren entzückten Blicken sich darbot? Ein Wort sagt alles: es fanden sich unsere Herzen auf Bergeshöh’n: so hab’ ich mir im Freien mein Weib voll Freiheit gefreit.“
Am 18. August, am Tage der Schlacht von Gravelotte und Saint-Privat, wird in Leipzig das Siemeringsche Siegesdenkmal enthüllt, welches lange Jahre hindurch die Gemüther der Leipziger Bürgerschaft so angelegentlich beschäftigt hat. Namentlich die Frage, welchen Platz das große Monument schmücken solle, hat lange Zeit vielen Staub aufgewirbelt. Die Entscheidung, unterstützt durch die Gutachten der Kunstverständigen, fiel zu Gunsten des Marktplatzes aus. Hier im Herzen der Stadt, vor dem alten schönen Rathhause, umrahmt von den hohen alterthümlichen Häusern, von denen es sich in seiner energischen Gliederung wirksam abhebt, wies man ihm seine Stelle an.
So erhebt es sich jetzt auf dem Markte, ein echtes Volksdenkmal, mitten im regen Leben und Treiben des Tages. Gekrönt wird es von der mächtigen Gestalt der Germania, die als Kriegerin nach erkämpftem Siege, als gewaffnete Schirmerin des Friedens erscheint. Ihr Schwert ruht in der Scheide. Sie hat es vom Gürtel gelöst, über die rechte Schulter gelegt und hält es am untern Ende; ihre Linke ruht auf dem mit dem Reichsadler gezierten Schilde. Der faltenreiche, in breiten Massen angeordnete Brokatmantel ist zurückgeschlagen, wird am Halse mit einer Spange zusammengehalten und läßt die stolze Gestalt, die von einem Lederpanzer umspannt wird, in aller Kraft und Schönheit hervortreten. Das etwas nach links, dem Rathhause zugewendete Haupt wird von einem geflügelten Helm bedeckt; unter dem Helm quillt das reiche Haupthaar hervor und wallt frei über Nacken und Rücken. Der Ausdruck der Züge ist von energischer Schönheit, von stolzer Selbstgewißheit, nicht kriegerisch drohend, sondern friedlich gesinnt, den Frieden schützend.
Diese Germania, in Kupfer getrieben, aus der Howaldtschen Werkstatt in Braunschweig hervorgegangen, hat beinahe die doppelte Grüße der unteren überlebensgroßen Figuren. An den vier Ecken des Hauptsockels auf stark ausladenden Postamenten sehen wir die Reiterstandbilder des Königs von Sachsen, des deutschen Kronprinzen (des jüngst verstorbenen Kaisers Friedrich III.), des Reichskanzlers Fürsten Bismarck und des Generalfeldmarschalls Grafen Moltke. Alle bezeugen das seltene Talent des Meisters für monumentale Porträtbildnerei. Er weiß das Charakteristische in großen Zügen zu treffen und verliert sich nirgends in kleinliches Detail. Die Vorderseite des Hauptsockels zeigt uns die erhabene und wunderbar zu Herzen sprechende Gestalt Kaisers Wilhelms des Siegreichen als Rundfigur; er ist sitzend dargestellt, im vollen Krönungsschmucke, das Haupt lorbeerumkränzt; der Thron tritt aus einer Nische der Postamentwand auf halbrundem Sockel heraus.
An jeder der vier Seiten des Hauptpostaments stehen, nach den Ecken zu, zwei Fahnenträger, volksthümliche Kriegergestalten mit dem eigenartigen Gepräge bestimmter Waffengattungen. So gipfelt sich das Denkmal von der breiten Grundlage des kämpfenden Volkes, durch den Kreis der Herrscher, Feldherren und Staatsmänner zu der Idealfigur der allbeherrschenden Germania empor.
Die Inschriften des Denkmals künden mit schlaghafter Kürze seine Bedeutung:
„Uns’rer Väter heißes Sehnen,
Deutschlands Einheit, ist erstritten.
Uns’re Brüder haben freudig
Für das Reich den Tod erlitten.
Enkel mögen kraftvoll walten,
Schwer Errungenes zu erhalten.“
So hat die Stadt Leipzig mit treuem Bürgersinn ein Denkmal errichtet, welches nicht nur ihr selbst, sondern auch dem ganzen Deutschland zur Ehre gereicht, und auch zum größten Ruhme dem Meister, der es geschaffen. Rudolf Siemering, der den Lesern der „Gartenlaube“ in früheren Schilderungen schon begegnet ist, stammt aus Ostpreußen, aus jenem Lande, in welchem große Denker das Licht erblickt haben, welches aber der bildenden Kunst bisher wenig Meister geschenkt hat. Siemering ist im Jahre 1835 in Königsberg geboren, kam dann nach Berlin zu Bläser, wo er mitarbeitete an den Reliefs für die Dirschauer Brücke. Aus der für das Berliner Schillerdenkmal ausgeschriebenen Konkurrenz ging er neben Reinhold Begas als Sieger hervor. Sein Entwurf wurde zwar nicht ausgeführt, doch fand der Künstler fortan die warme Theilnahme und Beachtung der Kunstkenner.
[561][562] Bald gewann er auch die Anerkennung weiterer Kreise durch seine sitzende Figur König Wilhelms I. in der Vorhalle der Berliner Börse, durch sein Denkmal Albert von Gräfes und die Büste von Wilms vor dem Bethanienhospital in Berlin, durch das für Marienburg geschaffene Denkmal Friedrichs des Großen und vor allem durch seine bedeutendste bisherige Schöpfung, sein Lutherdenkmal zu Eisleben, welches am 10. November 1883 enthüllt wurde. Durch sein Leipziger Siegesdenkmal hat er sich jetzt neben den Dresdener Meister Schilling gestellt.
Die gediegene Kraft des ostpreußischen Volkscharakters prägt sich in seinen Schöpfungen aus; er ist wahr und schlicht, markig und treffend in seinen Bildnissen. Ein Meister ist er besonders im Relief, wie der Reliefschmuck beweist, mit welchem er die beim Einzug der Truppen in Berlin 1871 im Lustgarten errichtete Gestalt der Germania schmückte, deren Abbildungen die „Gartenlaube“ im Jahrg. 1871, S. 772 und 773 brachte. Auch für die Leipziger Siegesgöttin war ein solcher Reliefschmuck bestimmt, und zwar für die Seitenwände des Hauptsockels. An seine Stelle ist jetzt auf der Vorderseite das Bild des Kaisers getreten. Jedenfalls hätten die großen für diesen Sockel entworfenen Reliefs, die mit Rücksicht auf die Kosten nicht zur Ausführung gelangten, durch ihre malerische Wirkung für des Künstlers schöpferische Kraft in diesem Bereiche der bildenden Kunst ein glänzendes Zeugniß abgelegt.
Seit Jahren ist in unserem Volke ein Wandertrieb erwacht, der uns in den Sommermonaten aus der Schwüle der Stadtmauern in die grünen Hallen des Waldes hinauslockt. Sie ist jetzt auch gar nicht schwer zu erreichen, die freie Natur! Aus dem stauberfüllten Herzen einer Millionenstadt bringen uns die Dampfzüge in einer halben Stunde an stille Seen und in rauschende Haine; ja selbst Reisen ins Gebirge sind heutzutage kein großes Unternehmen. Tausende können sie ausführen. Erfreulich ist diese Bewegung, welche die weitesten Volksschichten ergriffen hat, und man muß alles dransetzen, sie zu erhalten und auszubilden. Aber eine Schattenseite besitzt sie doch: wir benutzen den Dampf und rühren zu wenig unsere Füße. Dies kann man allerdings nicht vom Touristen im Hochgebirg behaupten, der nur zu oft viel zu viel steigt und marschirt und häufig seine Gesundheit eher schädigt als stärkt. Wohl aber wird jeder zugeben, daß die gewöhnlichen Sommerfrischler oder Leute, die nur Sonntagsausflüge machen, das Fußwandern in geringem Maße pflegen. Man braucht ja nur den Volksmassen auf ihren Ausflügen zu folgen. Ein Konzert- oder Biergarten in einem benachbarten Dorfe ist das Ziel der meisten. Wer das für einen Naturgenuß hält, der ist zu bedauern, und für das Volkswohl ist es durchaus nicht gleichgültig, wie die kurzen Erholungsreisen ausgeführt werden; denn die Touristen zählen nur nach Tausenden, und der Rest, der in der Nähe der Stadt Erquickung finden soll, beziffert sich nach Millionen.
Laßt man über die Schar der Sonntagsausflügler einen Blick schweifen, so erkennt man in ihr sofort das erschlaffte, nervöse Geschlecht. Es sind Kulturmenschen, die an das hastige Treiben unserer Zeit gefesselt sind und die Fesseln nicht abzustreifen vermögen. Mit der Eisenbahn sind sie ins Freie hinausgeeilt, haben die bequemsten Züge, die in den Mittagsstunden abgehen, gewählt, und nach einem kurzen Marsche über staubige, viel begangene Straßen erholen sie sich bei Bier und Tabaksqualm.
Wie sehr zu beneiden ist die geringere Zahl dagegen, welche von früh an den Wald aufgesucht hat, im Freien kampirt und nur während der kurzen Mittagsrast den Lärm des Gasthauses vernimmt! Sie hat das Richtige getroffen und wenigstens auf eine Zeit den Kulturmenschen abgelegt und sich von den entnervenden Einflüssen des modernen Hastens und Treibens befreit.
Zu bedauern ist namentlich, daß jene lässige Art der Erholung auch unsere Jugend zum großen Theil ergriffen hat. Auch bei ihr arten die Ausflüge häufig zu Bier- und Weinreisen aus. „Man muß,“ schrieb vor kurzem Professor Friedrich Ratzel, „unsere Jugend in den Sommerfrischen des bayerischen Hochlandes oder des Thüringerwaldes sich lümmeln sehen, um die ganze Seichtigkeit des poesie- und thatkraftarmen Lebens würdigen zu können, welches das Weiterfressen der blasirten Genußsucht und die Pflege des leider in der Naturanlage nun einmal vorhandenen Phlegmas unserer Zeit verheißt.“
Als Heilmittel gegen diese Uebel hat man den leiblichen Sport empfohlen und Rudervereine und Radfahrerklubs gegründet; es giebt aber ein noch wirksameres Mittel, das mit einem Schlage Millionen helfen kann, und dieses ist das Wandern zu Fuß mit Ränzel und Stab.
Gerade in unserer Zeit, wo wir sozusagen nicht zu gehen brauchen, wo Pferdebahnen, Eisenbahnzüge, Dampfschiffe und Seilbahnen uns bis in die tiefsten Waldwinkel und aus Bergspitzen bringen können, ist es unumgänglich nöthig, die Wanderung zu Fuß in Ehren zu erhalten und Lust und Freude an derselben namentlich in der Jugend groß zu ziehen. Der „Sport zu Fuß“ ist jedermann zugänglich. Stahlroß und Ruderboot erfordern schon eine Kapitalanlage; Schusters Rappen besitzt im Deutschen Reiche jedermann.
Die Fußwanderung ist dabei auch eine Kunst, die gelernt sein will und ihrem Jünger die reichlichsten Freuden und Genüsse bietet. Wer zu wandern versteht, der wird es zugeben mit jauchzendem Herzen. Der Wanderer gewinnt den besten Einblick in das Leben und Weben der Natur; nur der Wanderer findet Schätze an Orten, an denen der Eisenbahnzug pfeilschnell vorübersaust; nur der Wanderer vermag Land und Leute genau kennen zu lernen und kehrt mit neuem Reichthum an Wissen und Erfahrung heimwärts. Darum sollte ein jeder, der nicht wandern kann, wandern lernen.
Vor 48 Jahren hat ein Freund des Wanderns, der bekannte Buchhändler Fr. Joh. Frommann, in dessen elterlichem Hause Goethe verkehrte, ein „Taschenbuch für Fußreisende“ geschrieben und drucken lassen. Der Ton, der das Werkchen durchweht, war ein so kerngesunder, die Rathschläge so beachtenswerth, daß vor einigen Jahren Dr. Friedrich Ratzel, der berühmte Professor der Erdkunde an der Universität Leipzig, sich der Aufgabe unterzog, das Werkchen zu ergänzen und neu herauszugeben (Friedrich Frommanns Verlag in Stuttgart). In diesem Taschenbuch wird genau erörtert, wie man wandern soll, was man auf Fußreisen lernen kann, und jeder wird darin etwas finden können, was seinen eigenen Anlagen entspricht.
Naturgenuß – aber nicht am Biertisch unter der Glasveranda, sondern an murmelnden Quellen in den majestätischen Hallen des Waldes, – Naturgenuß – aber nicht vom Coupéfenster des Kurierzuges erhascht, sondern in vollen Zügen in der Morgenfrühe beim Vogelgesang und Windesrauschen vom Fußwanderer genossen, das ist das große Heilmittel gegen die blasse Krankheit des 19. Jahrhunderts. Und wer bedarf desselben nicht?
Wie trefflich schließt Professor Ratzel seine Einleitung zu dem erwähnten Taschenbuch für Fußreisende:
„Wir haben alle in diesen letzten geräuschvollen Jahrzehnten die moralischen Wirkungen der Kulturfortschritte, der Wissenschaft, der Aufklärung, der wissenschaftlichen und ästhetischen Bildung überschätzt; wir haben alle nöthig, daß wir an den ewig frischen Gesundbrunnen der unmittelbaren Naturfreude zurückkehren. Jene konnten uns bereichern und verfeinern; dieser vermag zu stärken und zu stählen, und dieses ist, was wir jetzt vor allem nöhig haben. Hören wir auf, immer nur auf unsere Kulturhöhe stolz zu sein; steigen wir zeitweilig etwas herab auf die Stufe des Naturmenschenthums, freuen wir uns immerhin, daß wir eisenbahnfahren und telegraphiren können, aber freuen wir uns noch mehr, so lange wir im Stande sind, den Wanderstab zu schwingen und das Ränzel zu tragen.“
In früheren Jahrhunderten wurde selbst das Spazierengehen von der Obrigkeit überwacht und leider den Bürgern verboten, Sonntags in die Nachbardörfer zu gehen. Dies geschah namentlich im 17. und 18. Jahrhundert. Die Väter der Stadt wollten durch ihre Verordnungen der Unsitte des Kneipens steuern und fügten am Schlusse ihrer Erlasse erläuternde Sätze hinzu wie der nachfolgende: „Mögen hierbey doch wohl leiden, daß an einem Sonntag ein ehrlicher Bürger nach der Morgenpredigt vor das Thor, sich in Unschuld zu ergötzen oder zu seinen Sachen zu sehen, spaziere, wenn er vor der Abendpredigt wieder hereinzukommen sich vornimmt.“
Derartige väterliche Bevormundung lassen sich die Kinder des 19. Jahrhunderts nicht mehr gefallen; aber wir sollten uns auch auf diesem Gebiete der Freiheit, die wir errungen, würdig erweisen. Heute achtet kein Stadtbüttel darauf, wie und wohin wir spazieren gehen, um so mehr sollten wir selbst darauf sehen, daß die kurzen Stunden der Erholung, die uns zur Verfügung stehen, richtig benützt werden, daß sie uns stärken an Leib und Seele!
Die Eröffnung des deutschen Reichstages durch Kaiser Wilhelm II. (Mit Illustration S. 552 und 553.) Am Abend des 24. Juni hielt das Kaiserpaar in vierspänniger Equipage, geleitet von zwei Schwadronen der Gardes du Corps, seinen Einzug in die Reichshauptstadt, und am Mittag des folgenden Tages fand im Weißen Saale, diesem prächtigsten Raume des alten Schlosses an der Spree, die feierliche Eröffnung des deutschen Reichstages statt.
Als Kaiser Wilhelm II. gefolgt von fast sämmtlichen deutschen Fürsten, den Saal betrat, wurde er mit einem Hoch empfangen. Festen Schrittes und ernsten Antlitzes stieg er die drei Stufen zum Throne hinan und im Halbkreis herum gruppirten sich die regierenden deutschen Fürsten, an ihrer Spitze König Albert von Sachsen und Prinzregent Luitpold von Bayern – eine imponirende Versammlung, zusammengetreten, um an der Seite des jungen Kaisers von des Deutschen Reiches Glanz und Macht und von der unverändert festen Einigkeit seiner Fürsten vor aller Welt offen und ernst Zeugniß zu geben. Auf einer logenartigen Erhöhung hatte die Kaiserin mit dem Kronprinzen, einem schönen, mit kindlichem Ernst dreinschauenden Knaben, Platz genommen. Der Kaiser [563] trug den Purpurmantel des Schwarzen Adlerordens und gleich ihm die meisten übrigen Fürsten und Ritter dieses Ordens. Zu beiden Seiten des Thrones sah man die greisen Paladine Kaiser Wilhelms I., Bismarck, Moltke u. a., die Minister und Mitglieder des Bundesraths, die Generalität und die Hofchargen – und ihnen gegenüber hatten, Freund und Gegner friedlich dicht neben einander, die Mitglieder des Reichstags Aufstellung genommen, die Minderzahl im schlichten Gesellschaftsanzug, die Mehrzahl in Civil- und Militäruniformen und den bunten Staatskleidern der preußischen Ritterschaft.
Einen ergreifenden Eindruck machte es, als der greise Fürst Bismarck, das Knie vor dem jungen Monarchen beugend, diesem die Thronrede überreichte. Stehend verlas der Kaiser das wichtige Aktenstück; er sprach kurz, fast abgerissen, aber deutlich, die Hauptstellen der Rede mit erhobener Stimme scharf markirend.
„Ich bin entschlossen, Frieden zu halten mit jedermann, so viel an Mir liegt!“ – der kurze Satz mochte wohl der bedeutungsvollste und inhaltschwerste der ganzen Thronrede sein und der Telegraph trug ihn mit Blitzesschnelle hinaus in alle Länder der Welt. Markig wie das Wesen des jungen Kaisers sind diese Worte des Friedens, ernst, ohne Drohung, fest und vertrauenerweckend. Sie sind das Regierungsprogramm des Monarchen, ein Gelübde, den Frieden des Reiches zu schützen und zu schirmen so lange es geht – und wenn er einst von seinem Worte sollte lassen müssen, dann trifft nicht ihn die Schuld. – Es war die schlichte, überzeugende Sprache der Wahrheit, die ein lebhaftes Echo fand in der großen glänzenden Versammlung der ersten Reichstagseröffnung unter Wilhelm II. und im Herzen des ganzen deutschen Volkes, und der Ernst dieses Kaiserwortes fand Achtung und Würdigung weit über die Grenzen des Deutschen Reiches hinaus.
Adalbert v. Chamisso. Am 21. August sind fünfzig Jahre verflossen seit dem Tode eines Dichters, der in unserer Litteratur eine durchaus originelle Stellung einnimmt. Von französischer Herkunft, hat er sich auf dem deutschen Parnaß einen Ehrenplatz erobert – und das ist ein einzig dastehender Fall in unserem seit Jahrhunderten so oft von Frankreich her beeinflußten Schriftthum. Wir haben soviele französirende deutsche Dichter, daß ein deutschdichtender Franzose zu ihnen in einem höchst seltenen Gegensatze steht. Und doch fällt ein Dichter wie Chamisso schwer ins Gewicht, da er Bedeutendes und Dauerndes geschaffen hat, was sich von jenen Eintagspoeten meistens nicht sagen läßt.
Freilich hat Chamisso, am 30. Januar 1781 auf dem Schlosse zu Boncourt in der Champagne geboren, vom Jahre 1790 ab, wo er mit seinen Eltern ausgewandert war, eine deutsche Erziehung erhalten auf dem französischen Gymnasium in Berlin. Er war Page der Gemahlin Friedrich Wilhelms II. und trat dann 1798 in ein Berliner Regiment ein, wo er 1800 Lieutenant wurde. Noch hatten sich seit der Schlacht von Roßbach die preußischen und französischen Heere nicht gemessen; die Schmach des Marschalls Soubise war noch ungerächt und es mochte in Frankreich als eine Art von Vaterlandsverrath erscheinen, daß der Sohn einer emigrirten Familie unter den preußischen Fahnen diente. Im Jahre 1806 trat er aus diesen Diensten wieder aus, führte ein wechselvolles Wanderleben, begab sich nach Paris und verweilte später längere Zeit bei der geistreichen Frau von Staël in Coppet. Hier begann er mit 32 Jahren naturwissenschaftliche Studien, die er mit großem Eifer an der Berliner Universität fortsetzte. In den Jahren 1815 bis 1818 begleitete er den russischen Seekapitän Kotzebue auf seiner Reise um die Welt als naturforschendes Mitglied der Expedition. Nach seiner Rückkehr erhielt er eine Anstellung am botanischen Garten, wurde Mitglied der Akademie der Wissenschaften, gründete sich eine Häuslichkeit und lebte so theils den Studien, theils der Dichtung bis zu seinem Tode 21. August 1838.
Der deutschen Sprache längere Zeit hindurch nicht vollkommen mächtig, zeigte er sich doch als sprachgewaltiger Beherrscher derselben schon in seinen ersten Dichtungen; die graziöse Schalkhaftigkeit des französischen Geistes war in „Peter Schlemihls wundersamer Geschichte“, dieser klassischen Humoreske, nicht zu verkennen und sie schützte ihn auch davor, sich in den Irrgängen der romantischen Schule zu verlieren, welche damals in Deutschland den Ton angab. Ferner schützte ihn davor seine tüchtige naturwissenschaftliche Bildung, welche die Dinge der Wirklichkeit fest und klar ohne Verschleierung und Verzauberung ins Auge faßt, und der Weltblick, den er bei seiner großen Seereise erproben konnte, über welche er Bemerkungen und Ansichten von praktischem und wissenschaftlichem Werthe veröffentlicht hat. Diese Weltreise befruchtete nach seine Phantasie mit großartigen Anschauungen und eine Dichtung wie „Salas y Gomez“, ein Stimmungsbild aus dem Großen Ocean, mit dem ergreifenden Ausdruck einer grenzenlosen Weltverlassenheit, ist als die schönste Frucht dieser großen Reise zu bezeichnen. Das Herbe und Schroffe in Chamissos Charakter prägt sich in diesen Versen von meisterhaftem Gefüge und ehernem Stil aufs nachdrücklichste aus. An diese Dichtung schloß sich der junge Westfale Freiligrath an, als er die Wunder der Ferne in phantasievollen Gedichten schilderte. Die Balladen Chamissos wie „Die Löwenbraut“ haben Kraft und Spannung und eine gewisse Treffsicherheit des oft knappen Ausdrucks. In seinen Liedern wechselt graziös sich Einschmeichelndes mit herbem Ton; es ist viel Kindliches, bisweilen auch Schelmisches darin. Einige seiner Liedercyklen aber haben sich eingebürgert im deutschen Hause und ihn besonders zu einem Lieblinge der Frauenwelt gemacht.
Die „Gartenlaube“ hat des Dichters in vielen Artikeln gedacht; eine eingehende Würdigung desselben enthält der Artikel „Adalbert von Chamisso“ von Hermann Schults, welcher im Jahrgang 1881 (S. 4) zu seinem hundertsten Geburtstage erschien.Ein verkanntes Genie. (Mit Illustration S. 549.) Jeder giebt den Werth sich selbst – sagt Butler im „Wallenstein“, und wir dürfen wohl nicht daran zweifeln, daß unser Schildermaler, der eben damit beschäftigt ist, ein wildes Schwein mit voller Naturwahrheit auf das Wirthshausschild zu pinseln und daneben ein Stillleben mit Würsten und Weingläsern, sich für einen Künstler hält, welcher den großen holländischen Meistern der Thier- und Stilllebenmalerei vollkommen ebenbürtig ist. Sein Künstlerkopf ist allerdings ausdrucksvoll genug, und die Art und
[564] Weise, wie er mit der Cigarre im Munde und der Brille auf den Augen den Pinsel führt, zeugt vom größten Behagen und Selbstgefühl. Doch wie selten findet das Genie den verdienten Lohn! Mittelmäßigkeiten schwelgen in den Herrlichkeiten des Ruhms, in allem Luxus des Lebens, und eine Kraft, die das Größte zu leisten vermöchte, wird zu schnödem Tagwerk verurtheilt. Das sind die Gedanken, die durch den Kopf des unbekannten Künstlers gehen, sobald er den Pinsel bei Seite gelegt hat; doch so lange er selbst bei der Arbeit ist, verliest er sich in dieselbe mit der vollen Hingebung, aus der allein die großen „Meisterwerke“ hervorgehen. †
Der deutsche Böhmerwaldbund unterstützt die wirthschaftlichen und nationalen Bestrebungen im südlichen Böhmen. Wie groß seine Verbreitung ist, geht daraus hervor, daß er aus 153 Bundesgruppen mit 206 000 Mitgliedern besteht. Er unterstützt alle deutschen Vereine, besonders Handwerker, Gesellen, Arbeiterinnen, landwirthschaftliche Vereine. Er vertheilt Stipendien an die Schüler deutscher Fach- und Mittelschulen, hat selbst eine Korbflecht- und eine Töpferschule gegründet, in 60 Orten Volksbibliotheken aufgestellt, an seine Bundesgruppen Hunderte von Zeitungen, Büchern und Bildern versendet. Ebenso wurden viele hundert Obstbäume, die verschiedenartigsten landwirthschaftlichen Maschinen und Sämereien vertheilt, auch der Fortschritt der Landwirthschaft durch Errichtung von Zuchtstierstationen gefördert. Alljährlich finden Gruppentage und Wandervorträge statt, die Zeitung „Mittheilungen des deutschen Böhmerwaldvereins“ erscheint viermal im Jahr. In Höritz und Rudolfstadt wurden Kaiser-Joseph-Denkmäler errichtet.
Soeben hat der Böhmerwaldbund ein neues Lebenszeichen gegeben und einen Führer durch den Böhmerwald und das deutsche Südböhmen erscheinen lassen, der, mit Karten, Wandernotizen, Landschaftsbildern reichlich ausgestattet, ganz geeignet scheint, die Aufmerksamkeit der Touristen auf diese Landschaften zu lenken, die, an Naturschönheiten und historischen Erinnerungen reich, gegenwärtig eine Bevölkerung haben, deren Regsamkeit im nationalen Sinn die größte Anerkennung und Unterstützung verdient. †
Vorsicht beim Genuß getrockneter Pilze. Auch der eßbare Pilz kann bei unvorsichtigem Genuß der Gesundheit schädlich werden. Dies gilt namentlich von den ausgewachsenen, wurmstichigen oder faulen Exemplaren aller eßbaren Gattungen wie Morchel, Champignon, Steinpilz etc. Bei Benutzung frischer Waare sind die verdorbenen Exemplare leicht zu erkennen und auszuscheiden. Es giebt aber auch ein leicht anzuwendendes Mittel, unter den getrockneten Pilzen die verdorbenen zu erkennen. Man braucht nur die Pilze vor der Zubereitung durch kochendes und kaltes Wasser zu reinigen und aufzufrischen und alsdann alle ungesund aussehenden Stücke zu entfernen. In derartig aufgefrischtem Zustande lassen sich auch in den getrockneten Pilzen etwa beigemengte Exemplare giftiger Gattungen leichter erkennen. Das Fleisch des eßbaren Steinpilzes bleibt z. B. nach dem Trocknen weiß, während seine gefährlichen Nebenarten blau zu werden pflegen. *
G. J. etc. Seit dem Tode Kaiser Friedrichs ist thatsächlich kein Tag vergangen, an welchem nicht eine größere oder kleinere Anzahl von dem kaiserlichen Märtyrer gewidmeten Gedichten bei uns eingegangen wäre, und die Gesammtziffer derselben beläuft sich auf mehrere hundert! Hätten wir auch nur die besseren derselben zum Abdruck bringen wollen, so würden dieselben mehrere Nummern unseres Blattes gefüllt haben! Wir mußten davon natürlich absehen. Indem wir aber den verehrlichen Verfassern und Verfasserinnen hiermit besten Dank für ihre freundlichen Einsendungen sagen, sprechen wir noch unsere besondere Freude darüber aus, daß so viele österreichische Poeten unserm verewigten deutschen Kaiser und damit auch dem Deutschen Reich ihre wärmsten Sympathien entgegenbrachten.
K. W. in Breslau. Das photographische Atelier von F. Surand in Elbing hat eine „Kaiser-Kollektion von Ueberschwemmungsbildern“ veranstaltet, welche 17 Nummern umfaßt. Die Bilder in Großfolioformat zeichnen sich durch Klarheit der Ausführung aus und ihre Gegenstände sind so gewählt, daß sie einen Ueberblick über das ganze Ueberschwemmungsgebiet gewähren. Wir heben hervor die Darstellung eines Dammbruchs, die Bilder, welche die Ueberschwemmungen der Stadt Elbing darstellen, sowie das Pfarrhaus in Neukirch, wo für die Ueberschwemmten gesorgt wird, und den versöhnenden Abschluß, der in dem letzten Bilde liegt, welches uns die Mannschaften der freiwilligen Krankenträgerkolonnen des Kriegervereins Trunz zeigt. Möge das künstlerisch werthvolle Album dazu beitragen, den Wohlthätigkeitssinn der Deutschen noch lange Zeit auf diese schwer heim gesuchten Gegenden zu lenken!
Fräulein Z. in S. Sie wollen eine Seereise unternehmen und bitten uns, Ihnen ein Mittel zu nennen, welches der Seekrankheit vorbeugt oder diese kurirt. Ja, wenn wir ein solches untrügliches Mittel hätten! Der Erfinder wäre gewiß ein reicher Mann geworden. Sie schreiben, von einem Freunde sei Ihnen Champagner empfohlen. Wenn er gut ist, so schmeckt er nicht schlecht, und er zählt gewiß zu den Mitteln, die am wenigsten bei der Seekrankheit schaden. Helfen soll er aber nicht. In letzter Zeit ist von ärztlicher Seite das Einnehmen von Bromsalzen als Präservativmittel empfohlen worden. Schon vor der Abreise soll man Brom einnehmen, bis man in den Zustand des sogenannten „Bromismus“ verfällt, der sich durch Mattigkeitsgefühl in den Gliedern, fortdauernde Schläfrigkeit und Unlust zur Thätigkeit kundgiebt. In diesem Zustande muß man die Seereise antreten. In einer Broschüre „Vollständiges Vorbeugen der Seekrankheit“, die in Kopenhagen erschienen ist, wird dieses Mittel warm empfohlen. Es kann aber nur vom Arzt verordnet werden. Ob es sich wirklich bewähren wird? Die Zukunft wird es zeigen.
B. in Hamburg. Die bedeutende Gemäldesammlung des weiland Altgrafen Franz zu Salm-Reifferscheid in Prag wird im Auftrage der Erben öffentlich versteigert werden, und zwar im September dieses Jahres durch die E. A. Fleischmannsche Hofkunsthandlung in München. Die Sammlung enthält Gemälde erster Meister der deutschen und französischen Schule.
Schon im Sommer vorigen Jahres, nach dem Ableben der in den weitesten Kreisen bekannten und beliebten Gartenlaube-Erzählerin, wurden wir von zahlreichen Verehrern und Verehrerinnen derselben aufgefordert, eine Gesamt-Ausgabe der Marlitt’schen Romane zu billigem Preise herauszugeben und so die Anschaffung derselben Allen, auch den weniger Bemittelten, möglich zu machen.
Wir kommen diesen vielfach an uns gelangten Wünschen nach und veranstalten von
Die neue Ausgabe beginnt mit: Bd. 1. „Das Geheimnis der alten Mamsell“; demselben folgen: Bd. 2. „Das Haideprinzeßchen“. – Bd. 3. „Reichsgräfin Gisela“. – Bd. 4. „Im Schillingshof“. – Bd. 5. „Im Hause des Kommerzienrathes“. – Bd. 6. „Die Frau mit den Karfunkelsteinen“. – Bd. 7. „Die zweite Frau“. – Bd. 8. „Goldelse“. – Bd. 9. „Das Eulenhaus“.– Bd. 10. „Thüringer Erzählungen“ (Inhalt „Amtmanns Magd“, „Die zwölf Apostel“, „Der Blaubart“, „Schulmeisters Marie“).
Die Illustration der neuen Ausgabe haben wir einer Anzahl der tüchtigsten Künstler übertragen und ebenso für musterhafte Ausführung der Bilder in Holzschnitt und Zinkographie, für guten Druck und eleganteste Ausstattung gesorgt.
Es ist somit allen alten Freunden E. Marlitt’s, wie auch der jüngeren Generation, welcher zum Teil noch viele ihrer Werke fremd sind, die günstige Gelegenheit geboten, mit dem geringen Aufwand sich in den Besitz einer schönen, illustrierten Ausgabe der sämtlichen Romane und Novellen der unvergeßlichen Erzählerin zu setzen und so auf billige und bequeme Weise eine in hohem Grade anregende und fesselnde Lektüre für viele Mußestunden zu erwerben.
Beinahe alle Buchhandlungen sind in den Stand gesetzt, Bestellungen entgegenzunehmen und die erste Lieferung zur Ansicht vorzulegen. Wo der Bezug auf Schwierigkeiten stößt, wende man sich direkt an die