Die sieben Worte Jesu am Kreuz/Das fünfte Wort Jesu am Kreuz

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
« Das vierte Wort Jesu am Kreuz Hermann von Bezzel
Die sieben Worte Jesu am Kreuz
Das sechste Wort Jesu am Kreuz »
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
|
Das fünfte Wort Jesu am Kreuz.
(18. März 1915.)
Matth. 27, 46. 
Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut und sprach: Eli, Eli, lama asabthani? das ist: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?


Geliebte Gemeinde!

 Mit dem fünften Wort des Herrn Jesu am Kreuze sind wir auf die Höhe seiner Passion gelangt und blicken von dieser Höhe in ein Meer von Angst und Schuld und Sünde, aber auch in ein Meer unermeßlicher und unaussäglicher Gnade. Dort brandet das Meer, in das auch deine und meine Schuld sich ergossen hat, und hier leuchtet, durchsichtig wie des Himmels Blau, rein, klar, ohne Bewegung und ohne Haft, nur in der Wallung der Liebe und des Erbarmens das Meer seiner ewigen Güte. Wenn wir in dieser Passionsstunde, in die mit Gottes Gnade einst die Stunde unserer letzten Passion einmünden soll, auf daß von uns das Grauen der Gottverlassenheit weiche, die Tiefe und Größe des Gotteswortes ermessen wollen, so laßt mich ganz einfach reden, auch wenn es euch zunächst befremdlich wäre, von des

 Zum ersten laßt mich reden von des Menschen Allmacht.

 Sprichst du recht? – Von des Menschen Allmacht? – von des Menschen, der in seinem Leben ist wie| das Gras und wie die Blume auf dem Felde; wenn der Glutwind der Wüste darüberzieht, so welkt das Gras und die Blume verfällt und der Ort, da sie wuchs, kennet sie nicht mehr. Allmacht des Menschen? – und der Psalmist sagt: „Was ist der Mensch, daß du sein gedenkst“ (Ps. 8, 5), und der große Prediger des Alten Bundes klagt: „Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, geht auf wie eine Blume und fällt ab, flieht wie ein Schatten und bleibet nicht“ (Hiob 14, 1.2). Alle Größe des Menschen trägt in sich das Geheimnis der Vergänglichkeit, alle Herrlichkeit das Gepräge des Todes und, was er für die Ewigkeit ersann, entführt die eilende Stunde. Und doch, dieser arme Mensch, den ein einziger Luftzug entwurzeln und entführen kann, hat eine furchtbare Allmächtigkeit.

 Schon da hebt seine Allmacht an, wenn der Prophet spricht: „Das Menschenherz ist ein trotzig und verzagt Ding, wer kann es ergründen?“ (Jer. 17, 9). Alle Wissenschaft der Welt, alle Denkgröße ihrer Meister, alle Gedankenfülle ihrer Denker reicht nicht dazu, um die Geheimnisse des Herzens eines armen Bettlers zu entriegeln und zu entsiegeln. So abgrundtief ist die Gedankenwelt auch des Armen, so ungründig gehen die Gedanken hinab, daß kein Menschenmeister sie entziffern und erkennen kann. „Ich, der Herr, kann es“ (Jer. 17, 10). Aber es ist, als ob der Herr die Menschen aufforderte, an die Grenze der Allmacht zu kommen, wenn er durch den Propheten sagen läßt: Der Herz und Nieren prüft, spricht: „Ich kann es.“

 Und dann steigt die Allmächtigkeit des Menschen, wenn der Herr unter Tränen bitteren Leides und der Enttäuschung seiner Hoffnungen vor den Toren Jerusalems klagt: „Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie| eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel; und ihr habt nicht gewollt!“ (Matth. 23, 37). „Ich recke meine Hände aus den ganzen Tag zu einem ungehorsamen Volk, das seinen Gedanken nachwandelt“ (Jes. 65, 2). Er lockt, der Mensch entweicht; er redet, der Mensch verweigert; er bittet, der Mensch schlägt ab; er eilt ihm nach, der Mensch weicht aus. Seht, das ist die Allmächtigkeit des Menschen, die sich dem Gnadenworte entziehen und dem Besitz der Vergebung entnehmen und um das Heil sich selber bringen kann. Gott kann alles: er kann Welten vernichten und verneuen, er kann Erden umschaffen und Himmel verändern, er kann Zeiten in Ewigkeiten herein- und Ewigkeiten in Zeiten hinaussenden, er kann aller Dinge Größe mit seinem allmächtigen Worte erfüllen und tragen, aber er kann dein Herz nicht zwingen, ihm zu glauben und deine Seele nicht nötigen, ihn zu lieben und kann dein Leben nicht zu ihm heranbringen, wenn es sich weigert, ihm ergeben zu sein.
.
 Aus dieser Größe des menschlichen Widerstandes wächst das wundersam schreckhafte Geheimnis empor, von dem das Kreuzeswort des Menschensohnes zeugt. Der Mensch ist so mächtig, daß er den Sohn von dem Vater trennen und den Vater dem Sohn entfremden kann. „Wer mich siehet, der siehet den Vater.“ „Ich und der Vater sind eins“[WS 1], spricht der, in dessen Munde kein Betrug erfunden worden ist. Und da kommst du mit deiner Sünde und die Welt mit ihrer Missetat und die Zeit mit ihrer Schuld und der Menschen Leben mit all seinem Unrecht und scheidet den allmächtigen Gott von seinem Sohne und reißt von dem Herzen des Vaters den Sohn der Liebe. Das ist die Furchtbarkeit der Menschengröße, daß sie in das zarteste Liebesgeheimnis, das den Vater mit dem Sohn verbindet, frech, frei und ungehemmt eindringt und| so lange die Sünde anwachsen und das Unrecht ansteigen und die Schuld hereinfluten läßt, bis der Vater sein heiliges Angesicht vor dem verbirgt, in dem er sich selbst sieht und findet, und sich von dem wendet, der der Sohn seines Wohlgefallens und der Abglanz seines Wesens ist. Wenn es nicht so furchtbar wäre, könnten wir uns rühmen: Ich hab’, was nie kein Mensch gedacht, Gott seinen Sohn genommen, ich habe, was nie ein Engel vermocht, was selbst der Fürst des Abgrundes nicht zu tun imstande war, erreicht: ich habe mich zwischen den heiligen Vater und den schuldlosen Sohn gestellt und habe so lange auf den Sohn meine Schande, meine Sünde und Schuld, mein Elend und meine Untreue gebürdet, bis er unter der Last der Sünde zum Fluch ward, über den Gott zürnte.
.
 Das ist die Furchtbarkeit der Todesstunde unseres Herrn von der sechsten bis zur neunten Stunde: das tiefe Schweigen, als ob die Natur warten wollte, was ihr Herr im Himmel gegen ihren Herrn auf Erden vermag, als ob die Erde lauschen wollte, ob der Vater zu seinem Sohne das lösende, ladende oder das verdammende und verurteilende Wort spräche. Drei Stunden geht es über die Erde wie ein ehrfürchtiges, andächtiges, mitleidsvolles Schweigen. Die Sonne verliert ihren Schein und der Tag wandelt sich in Dunkel und die Helligkeit verkehrt sich in Trübnis, daß man sähe, wo es hinaus wolle. Und um die neunte Stunde hatte die Sünde ihr Werk und der Sünden Allmacht ihr Tun vollbracht. Um die neunte Stunde rief der Heilige Gottes in die Stille und in das Schweigen der Elemente, in die harrende Menschheit, in die bebende Engelschar, hinab in das Jauchzen der Hölle: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ Das ist die Allmacht der Sünde: sie scheidet Gott von Gott, sie trennt den Heiligen von dem Gehorsamen, sie entfernt| den Gerechten von dem Schuldlosen, sie verbirgt das Antlitz der ewigen Gottesleutseligkeit vor dem furchtbaren Ernste der Stunde.

 „Siehe, das ist Gottes Lamm“[WS 2], das wird in dieser Stunde Wahrheit, da der unter der Last unserer Sünde zusammenbrechende Heiland niemand mehr hat, dem er sich anvertraut. Die Menschheit hat ihm ihre Schuld gegeben und der Vater ihm seine Huld entzogen; die Menschheit hat ihn ihre Untreue büßen und der Vater seine Treue nimmer fühlen lassen; die Menschheit hat ihn mit allem, was ihr eigen war an Gottesferne und Gottesöde und Gotteswidrigkeit, belastet. Alle Wunden wurden ihm geschlagen, alle Schmerzen wurden ihm erregt und keine Arznei ihm dargereicht. „Ich suchte Hilfe bei den Menschen und fand keine. Da gedachte ich, Herr, an deine Barmherzigkeit, und wie du allezeit geholfen hast“ (Sir. 51, 10–11).

 Das ist das Geheimnis, vor dem, wer nur ein wenig denken will, in Anbetung versinkt: Solches hat meine Sünde angerichtet. Ich habe es nie gewußt, was Sünde ist; sie war mir leicht, darum nahm ich sie leicht. Das leere Wort, die lose Rede, der unreine Gedanke, der bittere Neid, der schnöde Zorn, der leere Hochmut, das ist mir alles so leicht gefallen und ihn hat es so hart beschwert. Mein ganzes Leben setzt sich aus Kleinlichkeiten zusammen, deren jede mich vom Leben trennt, aus Geringfügigkeiten, deren jede mich von Gott scheidet. Ich achtete ihrer nicht und lebte mit der Welt in Lust und Freuden und schließlich im Wohlbehagen der Gewöhnung, bis ich unter dem Kreuze erwachte. Das ist dein Werk, Allmacht der Sünde, du hast dem Vater den Sohn entrissen und dem Sohn den Vater genommen!

|  Und wenn es möglich wäre, Geliebte, so steigt die Allmacht der Sünde noch höher oder tiefer – wie soll ich sagen – und legt dem heiligen Sohne ein Rätsel auf. Ihm, der in das Herz des Vaters wie in ein offenes, felsiges Buch der Gnade blickte, ihm, der im Auge des Vaters lauter Huld und Liebe, sein eigen Leben widerstrahlend fand, wird jetzt der Vater rätselhaft, nicht mehr das lockende Geheimnis: „Wunder aller Wunder, ich senke mich in dich hinunter“[WS 3], sondern das grauenhafte Geheimnis; wie im Abgrund des Hochgebirges sieht er schwindelnde Tiefen, da kein Grund mehr ist. Früher hat der Sohn sich in des Vaters Klarheit liebend versenkt, einen Reichtum von Perlen um den andern herausgefördert, eine Herrlichkeit um die andere enträtselt. In seinem aufgedeckten Angesicht spiegelte sich die Klarheit Gottes. In dem Angesichte Jesu Christi leuchtete die Herrlichkeit des Vaters. Und jetzt – mit verhaltenem Atem, mit dem Grauen des Todes, mit dem Schrecken der Hölle, mit der Furchtbarkeit der Nacht, in die kein Stern mehr fällt und in die kein Licht mehr leuchtet, spricht der heilige Sohn, dem alle Dinge vom Vater offenbart sind und dem der Vater alles kundgetan hat: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“
.
 Daß meine Schuld dem Sohne Rätsel aufgibt, daß Menschensünde den Heiland zu Fragen nötigt, daß er so oft ratlos an meinem Leben steht, um das er sich gemüht, um das er gegraben und gesorgt hat, das wundert nicht. Aber daß der Vater dem Sohne zum schreckhaften Rätsel und die ewige Gottesliebe dem Geliebten zum Abgrund der Hölle wird, das ist der Sünde und des sündigen Menschen Allmächtigkeit. Nun ist auf der ganzen, schweigenden, zum Tode erschrockenen, zum Sterben sich rüstenden Erde, die sich anschickt,das Blut des Heiligen zu trinken,| nur noch eine Frage – eine Frage, an deren Lösung mein und der Welt Leben hängt – die Frage: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

 Denkt euch eine einzige Minute, wenn diese Frage nicht beantwortet wäre! Wenn der Vater den letzten Liebesdienst dem Sohne verweigert hätte und diese ungelöste Frage jetzt noch durch die Welt und durch deine Seele klänge! Was wäre dann dein Los? Elend vom Elend abgelöst, Sterben zum Sterben geboren, Sünde, die an der Sünde sich ergötzt und von der Sünde gestraft wird, und schließlich das gelle Hohnlachen des Todes und der Hölle! Wenn die weltbewegende, seelenverneuende, himmelerschließende Frage nicht beantwortet wäre und das Kreuz wie ein großes Fragezeichen hinab auf die Erde, hinan zum Himmel ragte, wie wäre es dann? Dann wären wir die elendesten unter allen Kreaturen, ärmer wie der Stein, der nie hoffte, ärmer wie die Blume, die die Sichel des Schnitters trifft. Darin wären wir ohne Hoffnung auf Gott hingewiesen, den wir immer verfehlen, weil wir müssen, der uns immer verfehlt, weil er will. Dann wären wir ohne Hoffnung und noch einmal sei es gesagt: Verflucht muß der Tag sein, darin es hieß: es ist ein Mensch geboren. Und das alles vermag die Allmächtigkeit des Menschen.

 Aber von diesem grauenhaften Bilde, das doch dein und mein Bild ist, von dieser schauerlichen Gedankenreihe, die du vielleicht noch nie überlegt hast – aber es wäre Zeit, sie zu überlegen, ehe die Ewigkeit kommt, in der man sie erfährt – davon weg wollen wir uns zu dem Allerärmsten wenden, durch den wir reich werden, und auf den Ohnmächtigen blicken, in dem wir alles erreichen, auf den, der so entstellt war, daß ihn kein Menschenauge mehr ansehen, aber auch keine Menschenkunst darbilden konnte.| Wir wollen reden von des Menschensohnes Ohnmacht in drei ganz einfachen Worten:

Er hat nur ein fremdes Wort für seinen Schmerz,
er hat nur einen Blick in Gottes Herz,
und all sein Denken, das glitt höllenwärts.

 Er hat nur ein fremdes Wort für seinen Schmerz. Wenn es dir bange ist, dann gibt dir der Schmerz die Worte, und wenn du krank bist, weißt du selbst die Rede, die deiner Krankheit würdig Bild ist. Und den meisten Menschen ist es eine Freude, mit selbstgewählten und wohlgesetzten Worten die Krankheit und das Leid zu schildern, das sie bedrückt. Es ist, als ob sie sich’s einmal vom Herzen reden müßten; es ist, als ob man es sich so erleichterte, wenn man sagt, was und wie man leidet. Und Gott gibt die Tränen, damit man es sich leichter macht, und die Worte, damit man sich Trost zuspricht. Aber der Menschensohn, den die Sünde der Welt beschwert, hat kein Wort mehr für seinen Schmerz. Es haben ihm Menschen Worte leihen wollen: „Euch sage ich allen, die ihr vorübergehet: Schauet doch und sehet, ob irgendein Schmerz sei wie mein Schmerz, der mich getroffen hat“ (Klag. 1, 12). Es hat der große, alttestamentliche Prophet in einer wunderbaren Sympathie des Leidens die Worte ihm vorbereitet, sie ihm dargeboten, aus Dankbarkeit vorahnender Freude sie ihm dargereicht. Es ist, als ob der große Prophet den Königsmantel ausgezogen und das Bettlergewand angelegt hätte: Nimm meine Worte! Wähle meine Rede! Vielleicht ist aus meinem Leid dir etwas diensam und aus der Kunde meines Schmerzes dir etwas brauchbar. Er aber sucht nach Worten und findet sie nimmer. Er will es der Welt sagen, was er leidet, nicht damit man mit ihm leide, sondern damit man für ihn bete. Er will es uns gestehen, welch eine Gewalt die Sünde hat,| er will es uns in dieser Scheidestunde sagen, was es um die Sünde ist, die den Heiligen von dem Leben trennt – und er findet keine Worte mehr. Alles erscheint ihm unzureichend, seine Sinne vergehen, seine Worte versagen, seine Rede stockt und verstummt. Da dringen zu ihm aus der Tiefe der Gottesverdammnis, aus dem Schrecken der Gotteseinsamkeit die Psalmenklänge heran, die einst sein königlicher Ahne, mehr ahnend als wissend, auf zerrissener Harfe angestimmt hatte: „Ich bin ein Wurm und kein Mensch“ (Ps. 22, 7). Und wie der hochgelobte Herr und leidende Menschensohn in diesen Psalmenklängen, die aus vergangenen Tagen der Wind zu ihm herüberträgt, sucht und tastet, da gelangt des Heiligen Gedächtnis an den schwersten, den tiefsten: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ Was jener ahnt, hat er erfahren. Was jener in übersteigendem Vollmaß des Schmerzes geweissagt, hat er in Wirklichkeit des Leidens erlebt: sein Gott hat ihn verlassen. Das ist ein unaussprechliches Weh, darum hat ihm ein anderer das Wort dafür geliehen. Ein fremdes Wort für seinen Schmerz!
.
 Und – nur einen Blick in Gottes Herz! „Mein Gott!“ Wie wenn die Sonne untergeht und noch einmal ein Strahl die Erde beleuchtet, und dann kommt die schweigende Finsternis und bedeckt alles mit ihren Schauern und Schatten, so erhascht der sterbende Heiland in der Todesnot noch einmal einen Strahl Gottes, noch einen Blick Gottes, noch etwas, das wie ein ferner Gruß an ihn herandringt. Er, der mit dem Vater alles besprochen hat, der alle Stunden und alle Zeit beim Vater war, vom ersten Tag bis heute, hört jetzt plötzlich wie von ferne etwas von dem alten Worte: Ich werde zu ihm sagen: Mein Sohn und mein Kind (Ps. 2, 7 u. 2. Sam. 7, 14), Und dieser ferne Gruß,| der des Gottverdammten Ohr erreicht, dieser letzte Strahl, der das brechende Auge trifft, ist es, der ihn sprechen läßt: „Mein!“

 So groß auch die Allmächtigkeit der Sünde ist, das eine Wörtlein kann sie ihm doch nicht austilgen, das eine Wörtlein, in dem die Seligkeit beschlossen ist, kann sie ihm nicht ganz verwerfen: „Mein!“ In diesem „Mein“ liegt für den Verfluchten am Kreuz, für den Verdammten zur Hölle ein Trost, der ihn nicht ganz verzagen läßt. Und bin ich nicht mehr dein Kind, so bist du doch „mein Gott“! Und bin ich dir nicht mehr angenehm, so bin ich doch auf dich geworfen von meiner Jugend an! Und bin ich dir nicht mehr der Sohn der Liebe, so bin ich dir doch befohlen als dein anderes Ich!

 „Mein Gott, mein Gott!“ – daß er seinem Sohne, damit er nicht in der tiefen Höllenglut verzagt und unter der Last der Aufgabe ersterbe, dieses Wörtlein noch gelassen hat, dafür danken wir ihm tausendfach, dafür preisen wir ihn einst in Ewigkeit. Daß er seinen Sohn nicht in der Hölle Glut und der Sünde Schreck und des Todes Not hat hineingleiten, nicht in die Unendlichkeit der Gottesferne und der Gotteswüste hat forttragen lassen, sondern daß er ihm das eine Wörtlein hingereicht hat: „So du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, daß dich die Ströme nicht sollen ersäufen“ (Jes. 43, 2), das, Geliebte, wenn ihr wirklich euren Heiland von Herzen liebt, das sollt ihr dem himmlischen Vater danken in Zeit und Ewigkeit.

 Endlich das Dritte: all seine Blicke gehen höllenwärts. So hat er die Hölle entmächtigt, indem er sie durchschaute, so hat er sie überwunden, indem er sie durchmaß, so hat er sie für dich und mich getragen, indem er die wenigen Stunden der Gottverlassenheit als| Ewigkeiten der Gottesferne erlitt. In diesen Stunden haben ihn all die Feinde Gottes umringt. Da ist die Frage an ihn gekommen: Warum hast du mir dort in der Wüste nicht gefolgt? Ich hätte dir alle Herrlichkeit gegeben. Warum hast du nicht dort in der Wüste die Steine zu Brot umgezaubert? Jetzt mußt du verschmachten. Warum bist du nicht von des Tempels Zinne in meinem Geleite herabgestiegen? Jetzt hängst du einsam und allein am Kreuz. Aller Spott der Hölle und alles Mitleid der Engel und alle Stumpfheit der Menschen und all das bittere Weh, umsonst gelebt zu haben, alles vereinte sich in diesen Stunden, da er war von Gott verlassen. Und dann sind sie hergekommen und etliche haben ihn in ihrer Weise getröstet, etliche gehöhnt: „Er rufet dem Elia.“ Er hat den Trost nicht mehr verstanden und den Hohn nicht mehr vernommen, – er war ganz allein.

 Aber dieses sein Alleinsein und diese Gottverlassenheit am Kreuz hat meine allmächtige Sünde entmächtigt und meinen ohnmächtigen Glauben gestärkt. Diese Gottverlassenheit hat meine Gottwidrigkeit getragen, gebüßt und getilgt und den Jammer meiner Gottesferne in die Freude gewandelt: Die Welt ist mit Gott versöhnt, die Fremde ist zur Heimat, die Wüste zur Aue, die Ferne zur Gottesnähe geworden. Hinfort soll uns kein Unfall töten; denn er hat überwunden.

 In dieser Stunde, da dein teuerster Bruder, der Sohn der leidenden Menschheit, starb, verworfen und verlassen, hat die Sünde zwar nicht ihre Macht, aber ihr Recht und der Feind der Seele zwar nicht seine Gewalt, aber seinen Anspruch verloren. In dieser Stunde heißt es, – ich weiß es nicht besser zu sagen – „daß ich möchte trostreich prangen, hast du sonder Trost gehangen“[WS 4].

|  Wenn ihr, Geliebte, eurer Seele heute abend noch so viel Stille gönnen wollt, daß sie zwei Gedanken erwäge: wie schrecklich die Gottverlassenheit und wie selig die Gotteinigkeit sei – dann habt ihr etwas Gutes getan. Und er verdient es, daß ihr ihm dieses erzeiget. Wenn ihr euch in eure Seele rufen wollt, was er für euch gelitten hat, dann werdet ihr reich werden.

 Und nun frage ich euch, wie ich schon manchmal in Passionspredigten es getan habe: Ist das alles, was wir eben als Diener des gekreuzigten Christus bezeugt und verkündet haben, Menschenphantasie, falsche, alte, verblaßte, abgebrauchte Wissenschaft? Ist das alles, für das wir heute und in dem wir heute noch sterben sollen und, Gott sei Dank, sterben können, ist das alles Torheit etlicher rückständiger Theologen oder ist es nicht vielmehr die höchste Weisheit, daß „Gott seines eigenen Sohnes nicht verschonet hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben“? (Rö. 8, 32). Was habt ihr denn, wenn ihr das Kreuz Jesu nimmer habt? Wer hilft euch denn in der Todesstunde, wenn er nicht hilft? Wer steht euch bei, wenn alles euch verläßt, wenn eure Tugend sich als fadenscheinig und euer korrektes Leben sich als Lüge erweist? Wer tröstet euch, wenn der letzte geliebte Mensch von eurem Sterbebette scheidet und spricht: Hier ist es vorüber!?

 Mein Christ, das ist je gewißlich wahr und ein teuer wertes Wort: „Gott hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht“ (2. Kor. 5, 21). Gott sei Dank, der uns durch die Niederlage seines Geliebten den Sieg geschenkt und in der Verlassenheit seines Sohnes die Heimat gegönnt hat!

Ich danke dir von Herzen,
O Jesu, liebster Freund,

|

Für deines Todes Schmerzen,
Da du’s so gut gemeint.
Ach gib, daß ich mich halte
Zu dir und deiner Treu’,
Und wenn ich nun erkalte,
In dir mein Ende sei.[WS 5]

Amen.




Anmerkungen (Wikisource)

  1. Joh. 14, 9; 10, 30.
  2. Joh. 1,29.
  3. Aus Strophe 5 aus Gerhard Tersteegens Lied „Gott ist gegenwärtig“ (EG 165).
  4. Aus Strophe 5 des Passionsliedes „Jesu, meines Lebens leben“ von Ernst Christoph Homburg (1659; EG 86, hier in der Textversion von EKG 65).
  5. Strophe 5 des Passionsliedes „O Haupt voll Blut und Wunden“ von Paul Gerhardt (1656; EG 85).
« Das vierte Wort Jesu am Kreuz Hermann von Bezzel
Die sieben Worte Jesu am Kreuz
Das sechste Wort Jesu am Kreuz »
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).