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Friedrich Christoph Dahlmann (Treitschke)

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Autor: Heinrich von Treitschke
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Titel: Friedrich Christoph Dahlmann
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 11,12, S. 164-167,
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Nachruf auf Friedrich Christoph Dahlmann
2-teiliger Artikel
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Friedrich Christoph Dahlmann.

Von Heinrich v. Treitschke.

Unter der großen Zahl guter Männer, welche dieser arge Winter uns entrissen, ist Einer, der wie Wenige eine Untugend unserer rasch lebenden Tage an sich erfahren hat – ihre Fertigkeit, Menschen zu vernutzen und zu vergessen. Nicht gehoben von der Huld der Großen, nicht getragen von der Gunst der Menge, war er dennoch während langer Jahre ein Lehrer und Führer der Freiheitsbestrebungen unseres Volkes. Und heute wird sein Name nur noch selten genannt von einem Geschlechte, dessen politische Ideale zum guten Theile in den Gedanken dieses Mannes wurzeln.

Friedrich Christoph Dahlmann ward am 13. Mai 1765 im Bürgermeisterhause der damals schwedischen Stadt Wismar geboren. So durch die Geburt mitten hineingestellt zwischen die deutsche und die skandinavische Welt, hat er auch, siebzehnjährig, auf der Kopenhagener Hochschule seine gelehrte Bildung begonnen. Die

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Friedrich Christoph Dahlmann.

deutsche Wissenschaft gewann ihn erst, als er seit d. J. 1804 in Halle bei F. A. Wolf und Schleiermacher philologische und schönwissenschaftliche Vorlesungen hörte. Als ein Schatz für das Leben blieb ihm von diesen classischen Studien die Gewöhnung an eine streng wissenschaftliche Methode und ein geläuterter Schönheitssinn. Und ein noch köstlicheres Gut trug er davon. Ihm geschah wie Unzähligen: erst als Deutschland verloren schien, begann man zu erkennen, daß es ein Deutschland gebe. Aus dem Jammer und der Schande der bonapartischen Herrschaft erwuchs dem jungen Manne die fromme, treue Liebe zum Vaterlande. Es waren unstäte Tage; „man wußte in dieser napoleonischen Zeit nichts mit sich anzufangen.“ Umsonst suchte Dahlmann in Deutschland nach einer Stellung im Leben; da führte ihn in Dresden ein glücklicher Zufall mit Heinrich von Kleist zusammen, und der gemeinsame Haß gegen die fremden Zwingherren, die gemeinsame Liebe zur Kunst machte den besonnenen, erwägenden Gelehrten rasch vertraut mit dem leidenschaftlichen, reizbaren Dichter. Dahlmann selbst hat uns geschildert, wie die Beiden selbander nach Böhmen und auf das kaum verlassene Schlachtfeld von Aspern wanderten, wie zu Prag Kleist seine Hermannsschlacht hervorholte, den Freund begeisterte durch die Kraft und Kühnheit des wunderbaren Gedichts, und Beide sich zusammenfanden in der Hoffnung auf einen Befreiungskampf bis zum Ende, „bis das Mordnest ganz zerstört und nur noch eine schwarze Fahne auf seinen öden Trümmerhaufen weht“. Die Hoffnung ward für diesmal zu Schanden. Dem Heinrich Kleist brach das Herz, weil seine stürmische Ungeduld das langsame Reisen des Volksgeistes nicht abwarten mochte. Dahlmann aber erwarb sich zu Wittenberg die Doctorwürde und betrat i. J. 1811 in Kopenhagen die akademische Laufbahn, lehrte und schrieb über das Lustspiel der Athener und machte sich vertraut mit dem Wesen und den Schriften jenes Dänenvolkes, dem er bald ein so unbefangener und darum ein so verhaßter Gegner werden sollte.

Schon nach einem Jahre ward er als Professor der Geschichte nach Kiel gerufen. Sehr schmerzlich empfand er es, daß ihm die Theilnahme an dem nun ausbrechenden Freiheitskriege versagt blieb, denn nach teutscher Weise dachte er groß von dem Kriege und pflegte noch in den politischen Vorlesungen seiner letzten Jahre mit warmer Vorliebe von dem edlen Handwerke des Soldaten zu reden. Er mußte sich begnügen, durch Briefe seiner Mecklenburger Heimath Nachricht zu geben von dem Untergange der Franzosen in Rußland und an seinem Theile die große Erhebung vorbereiten zu helfen. Nach dem Siege ward ihm die Ehre, den Tag von Belle-Alliance in akademischer Festrede zu verherrlichen. „Und wie uns alle Zeichen günstig werden, seit wir einig sind!“ – so freudig, so zukunftssicher blickte Dahlmann in jenen Tagen der jungen Hoffnung auf sein Volk und mahnte schon damals, daß Schleswig, [166] obwohl vom deutschen Bunde ausgeschlossen, trotzdem durch Stammesart und Geschichte zu Deutschland gehöre.

Nur zu bald folgte die schwere Enttäuschung. In den Congreßberathungen über die Bundesacte behielt die Meinung jener Staaten den Sieg, welche den Rheinbund geschlossen hatten; das Geschenk Bonapartes, die Souveränetät der Einzelstaaten, blieb erhalten. Noch eine kurze Frist, und die in übereilter Hast entworfene Bundesacte ward für ein makelloses, unantastbares Werk erklärt. Der vaterländische Sinn, der begeisterte Idealismus unserer Jugend, ohne welche das Werk der Befreiung nie gelungen wäre, wurden den neuen Gewalthabern verdächtig. Der Bundestag begann seinen Kampf gegen das Einzige, was unser Volk noch einte, gegen deutsche Geistesbildung; die Septemberbeschlüsse von 1819 stellten unsere Hochschulen unter polizeiliche Aufsicht, und der Deutsche mußte mit anhören, daß ein französischer Staatsmann uns sagte: „Eure Staatsmänner thun mir leid, sie führen Krieg mit Studenten.“ Das war zu viel für Dahlmann’s Rechtsgefühl und Gelehrtenstolz. Als er ein Jahr darauf den Geburtstag des Herzogs von Schleswig-Holstein feiern sollte, nahm er das Thema: „was der Staat den Hochschulen schuldig sei“. Die lateinische Rede ist gedruckt, natürlich zu Schleswig; denn wie hätte die deutsche Censur die kühnen Worte des Redners ertragen mögen, der die Universitäten durch jenen Bundesbeschluß „unvergeßlich herabgewürdigt und beleidigt“ nannte? Mit bitterem Spotte bezeichnet er das Majestätsverbrechen als „das eigenthümliche und einzige Verbrechen derer, welche nie ein Unrecht gethan;“ er warnt vor der Verfolgung „jener edlen Liebe der Freiheit, welche zugleich die Liebe des Guten und aller Tugenden und edlen Künste ist“. Aber sein streng gewissenhafter Sinn findet in dem erlittenen Unrechte zugleich die Aufforderung an Professoren und Studenten, durch Gesetzlichkeit und Fleiß zu beweisen, wie schwer der Bundestag sich versündigt. Noch immer war er dem Studium der Politik und der modernen Geschichte fern geblieben. Aber längst hatte er begriffen, was ja Preußen, als die Berliner Hochschule gegründet ward, öffentlich anerkannte, daß die heutige Wissenschaft nicht länger die todte Gelehrsamkeit früherer Tage bleiben dürfe, sondern den ganzen Menschen ergreifen, den Charakter veredeln solle. Er war zuerst ein Mensch und ein Bürger, dann erst ein Gelehrter. Als daher unter dem Schutze desselben Bundestages, der die Wissenschaft geknebelt, die große Sammlung deutscher Geschichtsquellen erscheinen sollte, lehnte Dahlmann jede Betheiligung ab; denn „mein guter Name ist mir mehr werth als ein wissenschaftliches Unternehmen,“ und „ich möchte nicht, daß es gelänge, auf dem mit Unterdrückung und Verfolgung – und womit vielleicht bald? – befleckten Boden edle Früchte der Wissenschaft durch gebundene Hände zu ziehen.“

Schleswig-Holstein war ihm bald eine zweite Heimath geworden; seine Mutter stammte aus dem Lande, und seine durchaus niederdeutsche Natur, langsam erwärmend, aber das einmal Liebgewonnene mit Treue und nachhaltiger Kraft festhaltend, fühlte sich wohl unter dem verwandten Menschenschlage. Er beschenkte seine Landsleute mit einer Ausgabe und Erklärung der Chronik des Neocorus, jenes alten Pfarrherrn, der die Heldenkämpfe der Dithmarscher Bauern für „de leve Frieheit“ so köstlich treuherzig zu schildern wußte. Seine Vorlesungen über alte Geschichte wurden der Mittelpunkt für die allgemein-wissenschaftlichen Studien zu Kiel, und in Kopenhagen vergab man es ihm nicht, daß er den zahlreichsten Hörerkreis um sich versammelte. Von dem Ernste und der Vielseitigkeit seiner damaligen Arbeiten geben die „Forschungen auf dem Gebiete der Geschichte“ ein Zeugniß – Abhandlungen über Fragen aus der altnordischen und der griechischen Geschichte, keine darunter für das Wesen des Mannes so bezeichnend wie die Untersuchung über Herodot. An dem „Vater der Geschichte“ preist Dahlmann die erste Tugend des Historikers, die schlichte Wahrhaftigkeit: „die die ganze Welt beherrscht, die Furcht vor dem Lächerlichen, berührt die erhabene Einfalt seines Sinnes nicht.“ Aber auch durch praktische Thätigkeit ward Dahlmann seinen Landsleuten werth: er war ihr Vorkämpfer bei dem Beginne des dänisch-deutschen Streites. Prälaten und Ritterschaft von Schleswig-Holstein ernannten ihn zu ihrem Secretär. Als solcher verlangte er das verbriefte Recht der Steuerbewilligung zurück, das diesen Ständen von Alters her zustand, aber von der dänischen Regierung widerrechtlich vernichtet worden war. Die Stände und ihr unermüdlicher Secretär begnügten sich nicht mit wiederholten Eingaben und Druckschriften aus Dahlmann’s Feder. Sie brachten die Sache vor den Bundestag, der nach seiner löblichen Gewohnheit die Verfechter des deutschen Rechtes dadurch widerlegte, daß er ihre Eingabe confisciren ließ. Durch diese Arbeiten für das Recht seiner Mitbürger ward Dahlmann zuerst auf das Studium der Politik geführt. „Vierzigjährig, also nach spartanischen Begriffen gerade ausgewachsen“, schrieb er zum ersten Male wissenschaftliche Aufsätze über Politik in die Kieler Blätter, und es waren köstliche Früchte, die so langsam und stätig gereift waren. Da führte ihn i. J. 1829 ein Ruf nach Göttingen hinweg. Die Liebe und das Vertrauen der Schleswig Holsteiner hätte ihn gern zurückgehalten, doch das entschiedene Mißwollen der Dänen gegen den unverbesserlichen Unruhestifter versperrten ihm in Kiel jede Aussicht auf eine gesicherte Zukunft.

In Göttingen erschloß sich ihm nicht nur ein größerer akademischer Wirkungskreis, er las jetzt zumeist über Politik und neuere deutsche Geschichte; bald ward er auch berufen, sein politisches Nachdenken praktisch zu verwerthen. Es galt damals, die Adelsherrschaft, welche bisher, nicht gestört von dem fernen Landesherrn, in Hannover geschaltet, zu verdrängen durch ein modernes constitutionelles Regiment. Die Verfassung Hannovers, welche im Jahre 1833 rechtmäßig zu Stande kam, entstand mit wenigen Aenderungen aus den Entwürfen Dahlmann’s, der sich das persönliche Vertrauen des Regenten, des Herzogs von Cambridge, enworben hatte und von der Universität zu der entscheidenden Ständeversammlung abgeordnet wurde. Bei alledem stand Dahlmann den Durchschnittsmeinungen der Gebildeten jener Tage sehr fern. Die lange Mißregierung des Bundestages hatte die Gemüther dem deutschen Staatsleben entfremdet; man blickte mit würdeloser Bewunderung auf das Trugbild des französischen Kammerwesens, meinte auch wohl, eine kleine Revolution mehr könne nicht schaden, wenn sie den liberalen Bestrebungen diene. Wie wenig hatte Dahlmann’s sittlicher Ernst mit solcher Frivolität gemein! Er beurtheilte die Menschen nach ihren Mitteln, weil der guten Zwecke Jedermann sich rühme: „einen Liberalismus von unbedingtem Werthe, d. h. einerlei durch welche Mittel er sich verwirkliche, giebt es nicht.“ Darum war er im Göttinger Senate der Einzige, der den Muth besaß, in den Tagen der tragikomischen „Göttinger Revolution“ ein entschiedenes Einschreiten gegen die Studentenschaft zu fordern, freilich auch der Erste, der nach der Niederschlagung des Aufruhrs Milde gegen die Besiegten verlangte. Jene Jahre, welche über die Gesinnung des Mannes zu entscheiden pflegen, hatte er verlebt unter dem großen Eindrucke der preußischen Reformen von 1807 bis 1813. Zudem war er nicht durch philosophische Speculation, wozu sein auf das Concrete gerichteter Sinn wenig Neigung spürte, sondern durch die harte Arbeit des schleswig-holsteinschen Verfassungskampfes in die politische Thätigkeit eingeführt worden. So verstand es sich ihm von selber, daß es nicht gelte fremdländischen Idealen nachzutrachten, vielmehr „die Politik auf den Grund und das Maß der gegebenen Zustände“ – das will sagen: des deutschen Volkslebens – zurückzuführen. Während in dem alternden Freiherrn von Stein die Gewaltigen jener Zeit den heimlichen Jakobiner, die Liberalen der französischen Schule den heimlichen Junker beargwohnten, nannte es Dahlmann zürnend ein böses Zeichen, daß der Tod des größten deutschen Staatsmannes fast spurlos vorübergehe an seinem Volke: „Die Zeit wird kommen, da man ihm seine Tugenden verzeiht.“ Dahlmann war Monarchist; denn wie konnte er von republikanischen Formen unser Heil erwarten, wenn er um sich schaute und es mit Händen griff, daß die edelste demokratische Revolution unsres Jahrhunderts, die Befreiung des deutschen Bauernstandes, ein Werk ist der Monarchie in Preußen? Seine Hoffnung stand auf Preußen; und die Herren in Berlin, dienstbar geworden den Habsburgern und ihrem Metternich, machten es damals den Freunden Preußens gar schwer, die Wahrheit zu verkündigen, daß sich Niemand einen guten Deutschen nennen soll, der sich mit der frevelhaften Hoffnung trägt, das Größte und Herrlichste, was die politischen Kräfte unsres Volkes geschaffen, – den preußischen Staat – zu zerstören. In Berlin am wenigsten freute man sich dieses Bewunderers von Preußen, welcher nicht müde ward auf die Nothwendigkeit eines Reichstags für Preußen hinzuweisen; denn er ist vom Könige feierlich verheißen „und gar nicht wie ein Weihnachtsgeschenk, wie ein Putzhut, den man dem Volke giebt, das sich darein vergafft hat, sondern als eine inhaltsvolle, tiefsinnige Einrichtung, als der Schlußstein einer ehrenwerthen [167] Staatsbildung.“ Und unter der Menge besaßen nur Wenige den beherrschenden historischen Blick Dahlmann’s, welcher durch Preußens augenblickliche Irrthümer sich selber nicht beirren ließ in dem Glauben an Preußens Beruf und Zukunft.

Sehr wohl wußte Dahlmann, wie wenig er sich damals einen Parteimann nennen konnte. Darum schickte er (1835) sein wissenschaftliches Hauptwerk, den ersten Theil der „Politik“, mit dem Wunsche in die Welt, daß es allen politischen Secten mißfallen möge – ein Werk, woran, wie an Allem, was aus dieser Feder floß, nicht blos der Kopf, sondern der ganze Mensch gearbeitet hat. Weitab stand Dahlmann von jenen „rabulistischen Naturen, welche alles in Staatssachen Erlernte nur für die nächsten äußeren Zwecke ausbeuten“; eben diese wollte er „dadurch entwaffnen, daß man die Tiefen dieses Zweiges der Erkenntniß aufdeckt“. Aber mit Vorliebe allerdings verweilte sein Nachdenken bei jenen Staatsfragen, welche das lebende Geschlecht in Noth und Sorgen zu lösen sich abmühte. Daher war damals die wissenschaftliche Darstellung der verfassungsmäßigen Monarchie sein Hauptzweck. Und so entsteht für den oberflächlichen Leser leicht der Schein, als wolle Dahlmann einen „guten Staat“, ein constitutionelles Staatsideal aufbauen – derselbe Dahlmann, welcher dem Aristoteles bewundernd nachrühmt, es gebe eine aristotelische Staatslehre, aber nicht einen aristotelischen Staat.

In Wahrheit bildet den größten Vorzug von Dahlmann’s politischer Auffassung jener echthistorische Sinn, welcher den Staat zwar als „eine ursprüngliche Ordnung, einen nothwendigen Zustand, ein Vermögen der Menschheit“ begreift, die Staatsformen aber in den Fluß der Zeit stellt und auch die entlegensten Bildungen der Staaten aus den gegebenen Volkselementen zu verstehen vermag. Die heutige Gesellschaft wird geschildert mit den schlagenden Worten: „Fast überall im Welttheil bildet ein weitverbreiteter, stets an Gleichartigkeit wachsender Mittelstand den Kern der Bevölkerung; er hat das Wissen der alten Geistlichkeit, das Vermögen des alten Adels zugleich mit seinen Waffen in sich aufgenommen. Ihn hat jede Regierung vornehmlich zu beachten, denn in ihm ruht gegenwärtig der Schwerpunkt des Staates, der ganze Körper folgt seiner Bewegung. Will dieser Mittelstand sich als Masse geltend machen, so hat er die Macht, die ein jeder hat, sich selber umzubringen, sich in einen bildungs- und vermögenslosen Pöbel zu verwandeln.“

Damit ist scharf und ohne Vorbehalt der Grundgedanke ausgesprochen jener gebildeten Demokratie, welcher die Zukunft Europa’s gehört und welche nirgends die Stätte so bereitet findet wie in Deutschland mit seiner humanen Bildung und der sehr gleichmäßigen Vertheilung seines Volksvermögens. Kein Wunder, daß dies Buch, obwohl es des gelehrten Stoffes nicht allzuviel bringt – denn Dahlmann wollte lieber „belehrt als gelehrt“ sein – für die Gebildeten unseres Volks während langer Jahre eine wahre Schule des politischen Denkens wurde. Und giebt es heute Undankbare, welche Dahlmann’s politische Lehren hochmüthig zum alten Eisen werfen, so können wir nicht laut genug versichern, daß auch jetzt noch Niemand in Deutschland ein verständiges Wort über politische Dinge redet, der nicht, bewußt oder unbewußt, bei Dahlmann in die Schule gegangen. Es bleibt tief zu beklagen, daß er den Torso nicht vollendet und der Lesewelt nicht ebenso klar wie seinen Zuhörern bewiesen hat, mit welchem rastlosen Fleiße er bis in sein spätestes Alter seine Gedanken zu läutern und fortzubilden wußte.

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Autor: Heinrich von Treitschke
Titel: Friedrich Christoph Dahlmann
aus: Die Gartenlaube 1861, Heft 12, S. 183-185
Teil 2


[183] … Und dieser Mann voll Rechtsgefühles, voll wissenschaftlicher Ruhe und maßvoller Pietät vor dem Gegebenen sollte jetzt als ein Staatsverbrecher schmachvoll des Landes verwiesen werden! Schon als im Sommer 1837 die Kunde kam von dem Tode des guten Königs Wilhelms IV. von England-Hannover, ahnte Dahlmann, seines Bleibens sei nicht lange mehr in Göttingen, wo er politischen Einfluß, wissenschaftlichen Ruhmes die Fülle und Beweise der Liebe und Verehrung von allen Seiten gefunden hatte. Am 1. November hob der neue König Ernst August die zu Recht bestehende Verfassung eigenmächtig auf, welche Dahlmann nach Bürgerpflicht ehrte, als sein Werk liebte. Die Beamten entband der König ihres nicht ihm geleisteten, Verfassungseides. Während ein dumpfes Murren durch das Land ging und mancher Beamte sich jenes trostlosen Wortes getröstete: „ich unterschreibe Alles, Hunde sind wir ja doch,“ gingen die Göttinger Gelehrten mit einander zu Rathe, und am 18. November unterzeichneten Sieben von ihnen eine von Dahlmann entworfene Vorstellung an das Universitätscuratorium, worin sie erklärten, daß sie sich auch jetzt noch durch ihren Verfassungseid gebunden hielten. Es war kein politischer Act; denn die „bösen Sieben“ waren keineswegs sämmtlich Parteigenossen, und nur Dahlmann, Albrecht und Gervinus wurden durch ihre Wissenschaft auf Staatsfragen hingeführt, während die beiden Grimm, Ewald und Wilh. Weber in ihrer gelehrten Thätigkeit mit dem Staate Nichts zu thun hatten. Es war eine „Protestation des Gewissens,“ eine That der Bürgertugend, die einzig mögliche Antwort ehrlicher Männer auf die Zumuthung den Eid zu brechen. Aber dahin war es mit unserem Vaterlande gekommen, daß die schlichte Rechtschaffenheit, welche im bürgerlichen Verkehr Jedermann bei uns erwartet und ausübt, im öffentlichen Leben als waghalsige Kühnheit, als Staatsverbrechen erschien. Auch heute, wo dem Beispiele Hannovers so viele deutsche Landesherren gefolgt und von dem Rechtsboden in den meisten Einzelstaaten nur wenig karge Reste noch übrig sind auch heute soll unser Volk es den Sieben nicht vergessen, daß sie damals durch eine mannhafte That den Bann der Trägheit brachen, der auf unserem Lande lastete. Unsere Gelehrten insbesondere sollen wieder und wieder die goldenen Worte durchdenken, womit Dahlmann und seine Genossen damals die Aufgabe des deutschen Gelehrten bezeichneten: „Das ganze Gelingen unserer Wirksamkeit beruht nicht sicherer auf dem wissenschaftlichen Werthe unserer Lehren, als auf unserer persönlichen Unbescholtenheit. Sobald wir vor der studirenden Jugend als Männer erscheinen, die mit ihren Eiden ein leichtfertiges Spiel treiben, ebenso bald ist der Segen unserer Wirksamkeit dahin. Und was würde Sr. Maj. dem Könige der Eid unserer Treue und Huldigung bedeuten, wenn er von Solchen ausginge, die eben erst ihre eidliche Versicherung freventlich verletzt haben?“ Hatte man am Hofe zu Hannover es kaum der Mühe werth gehalten, nach einem Rechtsvorwande für den Staatsstreich zu suchen, so war man jetzt auch sofort entschlossen, das aufsässige „Federvieh“ zu beseitigen. Nach wenigen Wochen wurden die Sieben abgesetzt, ohne daß man auch nur jene wahrlich sehr bequemen Formen achtete, welche der Bundestag für die Entfernung „staatsgefährlicher“ Professoren vorgeschrieben. Dahlmann ward mit Jakob Grimm und Gervinus sogar aus dem Lande getrieben, weil die Drei ihren Protest brieflich an Verwandte mitgetheilt hatten. Wohl mochte dem großen Wiedererwecker alldeutscher Dichtung das Wort aus den Nibelungen in der Seele klingen: „war sint die eide kommen?“ als eine Schaar Kürassiere die Zierden der Göttinger Hochschule über die Landesgrenze brachte und drüben auf hessischem Boden der in Schaaren vorausgeeilte Göttinger Bursch die geliebten Lehrer zum letzten Male mit einem Hoch empfing.

Dahlmann, den seine Schüler damals als den „Mann des Wortes und der That“ begrüßten, ging nach Leipzig, um eine Stätte zu finden, wo er nicht nöthig hätte, „die Lehre des Meineids in seine Vorträge über Staat und Versassung aufzunehmen“. Die That der Sieben wirkte nach. Zu deutlich hatte sich offenbart, daß ein Kleinstaat heutzutage nicht mehr fähig ist, Charaktere zu ertragen. Und als der Bundestag zusah, ruhig zusah, wie eine Landesverfassung vor seinen Augen „wie ein Spielzeug“ zerbrochen [184] ward, da schwand auch dem Gutmüthigsten der Glaube, daß unsrem Volke vom Bunde jemals Heil kommen könne. In diesen Tagen ist der Bundestag sittlich zu Grunde gegangen.

Aber die Gegner waren rührig. Der Minister v. Rochow belehrte die Elbinger Bürger, welche ihrem Landsmann Albrecht eine Adresse gesendet, daß es dem Unterthanen nicht zieme, „die Handlungen des Staatsoberhauptes an den Maßstab seiner beschränkten Einsicht anzulegen.“ Und die amtlichen Blätter ergingen sich in solchen Verleumdungen über die Sieben, daß Dahlmann, seiner Bescheidenheit zum Trotz, sich entschließen mußte, zum ersten Male in eigner Sache öffentlich zu reden. Er erzählte den Hergang in der classischen Schrift: „Zur Verständigung“. Freilich, das Buch mußte in Basel erscheinen. Wie es in Deutschland stand mit der Freiheit der Meinung, darüber sprach Dahlmann sich aus in der Vorrede, welche er der juristischen Vertheidigungsschrift seines Genossen Albrecht voranschickte. Die Güte eines Freundes des Verstorbenen hat mir das Blatt verschafft, und ich lese in den schönen gleichmäßigen Schriftzügen: „So lange es bei uns nicht in politischen Dingen, wie seit dem Religionsfrieden Gottlob in den kirchlichen, ein lebendiges Nebeneinander der Glaubensbekenntnisse giebt, (so lange, die das beste Gewissen haben könnten, sich gebehrden, als ob sie das schlechteste hätten, so lange der feigherzigste Vorwand genügt, um nur Alles abzuweisen, was an dem trägen Polster der Ruhe rütteln könnte,) ebenso lange giebt es keinen Boden in Deutschland, auf dem Einer aufrecht stehend die reifen Früchte politischer Bildung pflücken könnte.“ Daß die hervorgehobenen Worte nicht gedruckt wurden, dafür sorgte der Rothstift der Leipziger Censur. Denn sie enthielten einen deutlichen Hinweis auf die sächsischen Minister, welche zwar wohlmeinend genug waren, den Verwiesenen im Lande zu dulden, aber den Muth nicht fanden, für die gute Sache offen aufzutreten. So fand Dahlmann in Leipzig zwar edle Gastfreundschaft und werkthätige Hülfe von Vielen, denen es eine Lust war, ihm die Verbannung zu erleichtern, aber die an der Hochschule angekündigte Vorlesung durfte nicht stattfinden.

Bald ging er nach Jena; und wie schon in Göttingen die „Quellenkunde der deutschen Geschichte“ Zeugniß gegeben von dem rüstigen Fortgange seiner historischen Studien, so schrieb er jetzt in den Tagen der Muße seine erste größere Geschichtserzählung, die „Geschichte Dänemarks“. Ein gelehrtes Werk - denn „nach langer Arbeit unter Bausteinen wird man nicht alle Erde vom Kleide los, die Noten-Noth schleppt Einem wie die Erbsünde nach“ - aber auch ein schönes Lesebuch: denn Dahlmann verstand die damals bei uns noch sehr seltene Kunst, den rein-menschlichen Gehalt der Geschichte lebendig zum Leser reden zu lassen. Schilderungen wie jene des freien Bauernstaates der Ditmarschen oder die Charakteristik des grausamen Königs Christiern II. vergißt Keiner wieder.

Erst nach der Thronbesteigung Friedrich Wilhelm’s IV. kamen den Sieben bessere Zeiten. Und es waren frohe Tage für Dahlmann, als ein ehrenvoller Ruf ihn nach Bonn führte und dort die Arndt und Böcking und Simrock und ein freudiges Willkommen der Studentenschaft ihn aufnahmen. Gar bald schmeichelte sich ihm der Zauber des rheinischen Gebens in’s Herz, dem kein Deutscher widersteht. Scheinen doch in diesem preußischen Rheinlande alle Gegensätze des deutschen Lebens, der ganze überschwängliche Reichthum unseres Volksthums auf kleinem Raume vereinigt; man sieht da einen Mikrokosmos von Deutschland. Der deutsche Großstaat mit seiner straffen Ordnung, seiner protestantischen Wissenschaft inmitten der katholischen Welt; die trauliche Enge des nordischen Familienlebens neben der ungebundenen Heiterkeit, der schönen Sinnlichkeit süddeutscher Art; und unter den geborstenen Trümmern der Ritterburgen ein ganz bürgerliches, demokratisches Geschlecht, das die trennenden Schranken mittelalterlicher Standesbegriffe schier völlig übersprungen hat und mit der rastlosen Thätigkeit moderner Menschen auf seiner Welthandelsstraße sich tummelt.

Diese ersten Bonner Jahre waren die heitersten in Dahlmann’s Leben, die Zeit, da sein Name in Aller Munde war. Damals entstanden aus seinen Vorlesungen seine beiden bekanntesten Geschichtswerke, die Geschichte der englischen und der französischen Revolution. Es war nicht die Absicht, die Resultate umfassender Quellenforschungen zu geben; aber wirken sollten die Bücher, die Mitlebenden belehren und warnen durch das treue und lebendige Bild verwandter gährender Zeiten. „Wer auf diesem Pfade sich irgendwie entzieht, nach Art der Buhlerinnen halb zeigt und halb verbirgt, da aufhört, wo er anfangen sollte, Ereignisse häuft, wo es sich darum handelt, die herbe Frucht der Selbsterkenntniß zu pflücken, der mag bequem sich im Vaterlande betten und überall, wo es hoch hergeht hochwillkommen sein; allein ein echter Jünger der Geschichte, ein Mann der Wahrheit, ein Freund Deutschlands ist er nicht.“ Der Zweck ward erreicht: kaum irgend ein anderes Buch hat in den Jahren, welche der Revolution unmittelbar vorangingen, den Gebildeten die Nothwendigkeit constitutioneller Einrichtungen für Deutschland so eindringlich gepredigt. Haben wir auch inzwischen gelernt, über Cromwell und die Helden des englischen Freistaats gerechter zu urtheilen, so hat doch das Ganze der Darstellung noch nichts an seiner ergreifenden Kraft verloren. Und an der Schilderung Mirabeau’s mag man erkennen, wie frei und unbefangen Dahlmann bei aller sittlicher Strenge in die Welt blickte. Der Mann, welcher zu lässig und kühn war, um die Ehre seines Privatlebens zu achten, aber in den Kämpfen seines Volks groß und hochsinnig voranstand – er findet gerechte und warme Würdigung bei dem deutschen Gelehrten, der eine gleiche Sonderung des privaten und des öffentlichen Lebens an sich selber nie ertragen hätte. Man klagt oft über die gedrängte Kürze von Dahlmann’s Styl. Aber ist es denn ein gutes Zeichen, daß unsere durch das rasche Zeitungslesen verderbten Leser nach jener englischen Breite verlangen, welche der gedankenreichen deutschen Natur nimmer zusagen wird? Freuen wir uns vielmehr, daß unsere Sprache noch nicht so abgeglättet ist wie die französische, daß sie reich und lebendig genug ist, um einen individuellen Styl zu dulden. Und individuell, ein Bild des Mannes selber ist Dahlmann’s Styl. Es war ihm unmöglich, seine Gedanken anders als nach reiflichem Erwägen zu Papier zu bringen. So wird ihn Jeder verstehen, der noch frisch genug empfindet, um ein mit ganzer Seele geschriebenes Buch auch mit ganzer Seele zu lesen. Ist sein Ausdruck dann und wann geschraubt, so ist er noch häufiger markig, energisch, bezeichnend; und auch schön kann er sein, wenn plötzlich aus der ruhigen Erzählung das übervolle Herz oder die gute Laune hervorbricht, wenn Dahlmann die großen Tage der Elisabeth schildert oder mit seinem Lächeln den gelehrten Narren Jakob I. uns vorführt.

Die Schriften über zwei fremde Revolutionen waren Sturmvögel der deutschen Revolution. Furchtbar rächte sich jene alte Unterlassungssünde, woran Dahlmann so oft warnend erinnert; durch einen mißlungenen Straßenkampf wurde Preußen ein constitutioneller Staat. Das deutsche Parlament trat zusammen, und hannoverische, schleswig-holsteinsche, preußische Wahlkreise wetteiferten um die Ehre Dahlmann, „den radicalen Unitarier, den entschlossenen Einheitsmann“, in die Paulskirche zu senden. Hatte Dahlmann schon zu Göttingen erklärt, die Souverainetät der Einzelstaaten sei mit dem Wesen eines Staatenbundes unvereinbar, so sah er jetzt den Augenblick gekommen, eine monarchische Gewalt über Deutschlands Fürsten zu gründen. Er war nie ein blinder Bewunderer Preußens gewesen: – noch bei seiner Bonner Antrittsvorlesung schien es ihm nöthig, sich gegen den Vorwurf, er hasse Preußen, zu rechtfertigen. Aber sein klares Auge erkannte die Nothwendigkeit, die Reichsgewalt an die Krone Preußen zu übertragen. Der sogenannte Siebzehner-Entwurf, wesentlich das Werk von Dahlmann und Albrecht, sprach diesen Gedanken aus, dessen Ausbau und Weiterbildung noch heute die Aufgabe unsrer nationalen Politik bleibt. Dahlmann scheiterte mit seinen Genossen an dem unlösbaren Widerspruche, daß eine Versammlung ohne Macht über die Macht in Deutschland verfügen sollte, daß ein Parlament ohne Einfluß auf Preußen die Krone Preußen seinen Zwecken dienstbar machen sollte, und daß neben diesem Reichstage ein Reichsverweser stand, der in sich nur den österreichischen Unterthan sah und trotz aller biederen Reden niemals andere als Habsburgische Zwecke verfolgte. Dahlmann am wenigsten war geneigt, die mangelnde legitime Macht des Parlaments durch die Kraft der Massen zu ersetzen. Der gehaltene Ernst seiner Rede war wenig geeignet für das dramatische Leben der Debatte. Ihm fehlte zum praktischen Staatsmanne der starke persönliche Ehrgeiz, die rasche Beweglichkeit und jene rücksichtslose Kühnheit, welche in den Personen nur Mittel zum Zwecke sieht. Das deutsche Parlament verlief sich im Sande, und Dahlmann erfuhr das tragische Geschick, daß manche seiner besten Tugenden in diesen Tagen wildester Bewegung ihm ein Hemmniß wurden. Aber es ist ein Unrecht, ihm zur Last zu legen, was die idealistische Unklarheit der Zeit verschuldete, [185] und unverantwortlich ist es, ihn, den Bescheidensten der Menschen, als das Prototyp jener selbstgefälligen Gelehrten zu bezeichnen, welche sich so gern die Eigentlichen, die Edlen, die besten Männer nannten.

Als nun der Bundestag wieder auferstand von den Todten und unsere Flotte unter den Hammer brachte, als Dahlmann sein liebes Schleswig-Holsten verrathen und die besten Früchte der deutschen Bewegung im Brühl’schen Palaste zu Dresden als schätzbares Material vermodern sah, da verzweifelte er an der Lebenskraft und Lebenswürdigkeit der Kleinstaaten. „Sollte diese große Bewegung an dem Uebermuthe der Könige von Napoleons Gnaden scheitern und das Heil unseres Volks sich noch einmal zur Nebensache verflüchtigen, so hemmt, wenn es abermals fluthet, kein Damm die wilden Gewässer mehr, und der Wanderer wird die Reste der alten deutschen Monarchie in den Grabgewölben ihrer Dynastieen aufsuchen müssen.“ Um so fester hielt er bis zum Tode den Glauben an den Beruf des deutschen Großstaates. „Uns thut ein Herrscherhaus noth, welches gänzlich sich unserem Deutschland widmet. An den Hohenzollern Preußens können wir ein solches Herrscherhaus nicht nur haben, sondern mit dem schlechtesten und dem besten Willen kann es kein Sterblicher dahin bringen, daß wir es nicht an ihm haben. Es ist für Deutschland gar keine Zukunft möglich ohne Preußen.“

Zu retten, was zu retten war, ging er nach Berlin und stritt in der ersten Kammer für den Ausbau der Verfassung, für das volle Steuerbewilligungsrecht des Unterhauses und für das Fernhalten des Junkerthums aus dem Oberhause. –

Das jüngste Jahrzehnt verbrachte er wieder in Bonn. Der Staat des Herrn von Manteuffel bot seinem öffentlichen Wirken keine Stätte. Noch immer las er vor vollen Bänken in dem großen Saale Nr. XI., der die Ausschau bietet über die Baumgänge des Hofgartens hinweg nach den Gipfeln des Siebengebirges und vor Zeiten wiederhallte von dem festlichen Lärme des geistlichen Hofes von Köln. Ungebeugt, das Haar noch dunkel, die ernsten, ja grimmigen Züge fast bewegungslos, bis dann und wann ein leichtes Heben der Hand, ein Blitzen des Auges die innere Erregung bekundete – so stand er vor uns. Kein falsches Pathos, keine jener kleinen Künste, welche den Hörer mehr reizen als fesseln. Eine ruhige, gleichmäßige Rede, langsam, doch sicher ergreifend durch den Reichthum der Gedanken und die Plastik der Schilderung, nicht mit Stoff überladen, aber ein festes Gefüge der entscheidenden Thatsachen und Gesichtspunkte, das häuslicher Fleiß des Hörers leicht ausfüllen mochte. Und was mehr ist, in jedem Worte Muth und Kraft und Geistesklarheit. Mit bewußter Absicht führte er seine Geschichtsvorträge gern bis in die neueste Zeit herab, um die Jugend zu lehren die Wahrheit zu ertragen. Gar Manchem seiner Schüler wird es noch heute im Herzen nachklingen, wie Dahlmann – im Winter 1852, in den wildesten Tagen der Reaction – seine deutsche Geschichte mir der Schilderung der Dresdner Conferenzen schloß: „Seitdem sind alle Hoffnungen auf eine Einigung Deutschlands gescheitert, und wie der Rechtszustand darniederliegt, davon geben Kurhessen und Schleswig-Holstein ein Zeugniß. Doch genug, übergenug, ich schließe.“ Der regsamere Theil der Studentenschaft brachte ihm noch die alte Liebe entgegen: unsere Burschenschaft ist nie rheinaufwärts zum Commerse gefahren, ohne vor Dahlmann’s Hause die Fahne zu schwenken und ihm ein Hoch zu bringen. Seine letzten Jahre waren sehr trübe, verbittert durch das Elend des Vaterlandes und durch schwere persönliche Erlebnisse. Von den Wenigen, denen er das Glück seiner Freundschaft und den Einblick gönnte in sein reiches Herz, starb ein guter Theil hinweg. Auch Frau und Tochter wurden ihm entrissen; auch Otto Abel starb, der junge, vielverheißende schwäbische Historiker, der in Dahlmann’s Hause fast wie ein Sohn verkehrte; er rieb sich auf, weil sein Traum von der Kaiserherrlichkeit der Hohenzollern nimmer Wahrheit werden wollte. – Am 5. December ist Dahlmann gestorben. Er ruht auf jenem schönen Friedhofe, wo dem Römer Niebuhr sein König ein römisches Denkmal erbaute, wo neben der alten Deutschordenskapelle die Größen des neuen Bonn, die Schlegel, Bunsen, Arndt, die letzte Stätte gefunden.

Fast jeder vielgenannte Mann hat einen Doppelgänger in der öffentlichen Meinung. Unfähig, einen bedeutenden Charakter als Ganzes zu begreifen, haftet die Menge gern an einer auffälligen Aeußerlichkeit; und findet sich gar ein müßiger Kopf, jene wahre oder unwahre Eigenheit mit beißendem Witze zu verspotten, so entsteht ein Zerrbild, das kein Reden mehr aus den Köpfen der Menschen vertreibt. So ist die Meinung entstanden, Dahlmann, der poetische, gemüthvolle Mensch, sei ein trockner Doctrinär gewesen. Und noch häufiger läßt sich die Rede hören, er habe sich überlebt. Und doch sind alle jene Ziele, um welche Dahlmann’s politisches Wirken sich bewegte, für uns noch immer ein Gegenstand nicht des Genusses, sondern der Hoffnung. Er stritt für den Rechtszustand in Hannover – und er selber mußte noch erleben, wie das Spiel von 1837 in häßlicherer Form aber und abermals aufgeführt ward! Vor einem halben Jahrhundert mahnte er an Deutschlands Recht auf Schleswig – und noch heute betritt der Deutsche bei Altona die Fremde! Er stritt für das preußische Kaiserthum – und noch immer schaltet über uns der Bundestag! Aber lauter noch klingt das Lob: er war ein Mann von gutem Gewissen und voll hohen Muthes, wo es Recht und Vaterland galt, Einer der Wenigen, welche der ruhelose Muthwille und der gewaltthätige Uebermuth wirklich fürchtete. Und wehe unserem Volke, wenn wir je der Meinung würden, diese antike Lauterkeit des Charakters könne bei uns veralten!

Wer Dahlmann’s Namen nennt, soll der Worte gedenken, welche er selber einst schrieb, als er seinen rheinischen Landsleuten die traurige Mähre erzählte von dem Tote des letzten aus dem holsteinischen Grafenhause: „Wenn ich den Chor christlicher Tugenden mustere, den man jetzt häufig spazieren führt, sucht mein Blick nach einer unter ihnen, von deren ernster Schönheit, im strengen Ebenmaße der Glieder, alte verschollene vaterländische Kunden reden. Unter ihrem festen Tritte sprießen keine Blumen, aber heilende Kräuter bezeichnen ihre Bahn. Sie muß das Haus hüten, höre ich. Möge sie behüten das Haus der Deutschen, die hohe Gerechtigkeit!“