Zum Inhalt springen

Memoiren einer Sozialistin/Zehntes Kapitel

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
« Neuntes Kapitel Memoiren einer Sozialistin Elftes Kapitel »
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
[266]
Zehntes Kapitel


Allein in Grainau! – Noch lag der Schnee bis zum Tal hinunter, und die Sonne stand noch nicht hoch genug am Himmel, um mehr als ein paar Stunden am Tage das Dörflein wieder zu grüßen, vor dem sie sich im Winter monatelang hinter den steilen Wänden des Waxensteins versteckte. Nur im Rosensee spiegelte sie schon länger ihr strahlendes Antlitz, als wollte sie sich überzeugen, ob sie würdig des kommenden Frühlings wäre. Der riß hie und da keck an der grauen Wolkendecke und guckte mit seinem hellen blauen Himmelsauge neugierig auf die arme, kahle Erde herunter. Seltsam, wie wohl mir war, kaum daß die Loisach, voll und gelb von Schneewasser, mich lärmend, wie ein übermütiger Bub, willkommen hieß. Mich störten der Regen nicht und der Sturm, die mir kühlend um Stirn und Wangen strichen; in den Lodenmantel gewickelt, ging ich all die vertrauten Wege, und niemand zankte mich, wenn ich zerzaust und beschmutzt nach Hause kam, oder gar die Mahlzeit versäumte. Die gute Kathrin schüttelte nur nachsichtig lächelnd den Kopf, streichelte mir mit einem zärtlichen: „Ach die liebe Jugend“ die heißen Wangen und ließ es sich nicht nehmen, mir die [267] gewärmten Strümpfe und Schuhe selbst über die Füße zu ziehen.

War das eine Wonne, allein zu sein! Über mein Tun und Lassen selbständig zu entscheiden! Ein Schmetterling, der aus dem Puppenpanzer kriecht, konnte nicht froher sein als ich! Plötzlich – ich saß grade unter tropfenden Bäumen auf der nassen Bank, die der Sepp mir gezimmert hatte – fielen mir meine achtzehn Jahre ein; – Himmel, war ich jung! Ganz überwältigt von dieser Erkenntnis, lief ich in großen Sprüngen den Berg hinab und konnte mich vor Lachen nicht fassen, als ich der Länge nach im Moose lag.

Tante Klotilde verschob ihre Ankunft von einer Woche zur andern. Wenn sie den Schnupfen hatte und das Wetter schlecht war, zitterte sie um ihre Stimme, und vor der Rücksicht auf deren Gefährdung mußte alles andere zurückstehen. Sie schickte mir ermahnende Briefe, in denen sie genau vorschrieb, wie weit ich allein gehen dürfe – eine Viertelstunde im Umkreis wars höchstens –, und schärfte der Kathrin ein, gut auf mich aufzupassen.

Indessen kam der Frühling, und die Bäume steckten ihm zu Ehren ihre ersten grünen Blätterfähnchen aus. Ich saß schon stundenlang auf der Veranda in Tantens Schaukelstuhl – ohne Handarbeit, ohne Buch – und sonnte mich. Außer mir und der Kathrin waren nur der alte Gärtner und sein uralter Pudel im Haus, der im Stoizismus seines Greisentums das Bellen sogar schon aufgegeben hatte. Es war daher mäuschenstill bei uns. Um so mehr erstaunte ich, als eine kräftige Männerstimme eines Morgens an mein Ohr schlug.

[268] „Machen Sie mir doch nichts weiß,“ rief sie, „ich hab doch meine Augen im Kopf, – und wette zehn gegen eins: das Rosenhaus ist bewohnt.“

„Aber wahr und wahrhaftig, Durchlaucht, die Frau Baronin sind noch nicht hier!“ greinte die Kathrin. Ein helles Gelächter war die Antwort.

„Da könnten Sie am Ende recht haben – aber in der ganzen Welt gibt es nur einen so schwarzen Lockenkopf, wie der Alix ihrer, und den sah ich vom Ufer drüben. Gespenster sind nicht so hübsch.“

Hellmut wars! Ich lief hinaus und streckte ihm beide Hände entgegen. Die paar Jahre seit unserem letzten Zusammensein waren wie ausgewischt, und erst als ich sah, daß ein hochgewachsener Mann mit gebräuntem Gesicht und keckem Schnurrbärtchen über den vollen Lippen vor mir stand, errötete ich unwillkürlich.

„Wollen – Sie nicht näher treten!“ sagte ich zögernd.

„Aber Alix – ‚Sie!‘ Wir sind doch alte Freunde,“ damit faßte er meine Hand mit kräftigem Druck und ging mit mir an den eben verlassenen Frühstückstisch, während Kathrin uns ganz blaß und geistesabwesend nachstarrte.

Das Ungewöhnliche der Situation machte uns verlegen. Schweigend holte ich eine Tasse aus dem Schrank und goß ihm Tee ein, während ich fühlte, wie sein Blick auf mir ruhte.

„Wie schön bist du geworden!“ – flüsterte er wie zu sich selbst. In dem Augenblick trat die Kathrin herein und rumorte mit eifriger Geschäftigkeit im Zimmer. Das zwang uns zur Konversation, die, zuerst steif und gezwungen, allmählich immer natürlicher wurde. Nach [269] dem Wie und Warum unseres Hierseins frugen wir einander, und ich erfuhr, daß ihn auf dem Wege nach Oberitalien in München plötzlich die Lust gepackt habe, die Berge von Garmisch wieder zu sehen. „Unserem Verwalter in Partenkirchen kam ich nicht gerade gelegen,“ lachte er, „der hatte Gesellschaft in Mamas Salon, als ich eintrat. Ich habe ihm unter der Bedingung gnädig verziehen, daß er über meine Anwesenheit gegen jeden den Mund halten soll.“

„Dann sind wir beide inkognito,“ rief ich fröhlich, „die Tante findet nämlich im Grunde mein Alleinsein so kompromittierend, daß ich versprechen mußte, mich in Garmisch nicht sehen zu lassen.“

Bis gegen Mittag blieb er. Der guten Kathrin warnende Blicke, die ich zuweilen auffing, nahmen mir den Mut, ihn zu Tisch einzuladen. Am nächsten Morgen aber, vor seiner Weiterreise, versprach er, mir eine „feierliche Abschiedsvisite“ zu machen.

„Wenn das die Frau Baronin wüßte!“ sagte die Kathrin seufzend, als er weg war.

Es regnete in Strömen, als ich am folgenden Tage erwachte „Nun kommt er sicher nicht,“ war mein erster Gedanke, und mißmutig zog ich die Decke wieder über die Schultern. Aber eine leise Hoffnung tauchte gleich darnach auf und zwang mich, statt des alltäglichen Lodenrocks ein hübsches, helles Hauskleid aus dem Schrank zu holen. Kaum saß ich am summenden Teekessel, als ich draußen sein fröhliches „Grüß Gott, Fräulein Kathrin“ hörte. „Naß bin ich wie ’ne Katze, aber pudelwohl, – Sie sehen, die Viecher vertragen sich auch im Menschen,“ fügte er hinzu, und selbst die wohlerzogene [270] Dienerin erlaubte sich, zu lachen. Sie ließ uns sogar allein – es war ja das letztemal, mochte sie sich zur eigenen Beruhigung sagen.

Wie war es behaglich im Zimmer, während draußen der Regen an den Fenstern niedertroff! Wir frühstückten und plauderten miteinander, ganz wie alte Vertraute, und setzten uns schließlich vor den kleinen Kamin, der eine wohlige Wärme ausstrahlte. „Wie wärs mit einer Zigarette? frug er und hielt mir die gefüllte Dose hin.

„In diesen heiligen Hallen?“ antwortete ich, halb erschrocken.

„Bis die Gestrenge kommt, ist der Duft verflogen. – – Ich muß dir was erzählen, Alix, und das geht nicht ohne den Glimmstengel. Der macht Mut, weißt du!“ “ Wir rauchten eine Zeitlang schweigend.

„Du mußt mich nicht so ansehen,“ fing er schließlich wieder an, „sonst kommts mir gar zu komisch vor, daß ich dir Geständnisse mache, wie einem Kameraden.“ Ich rückte lächelnd den Stuhl zur Seite und sah geradaus ins Feuer. „Ists recht so?“

„Fein! – Wenn du nur nicht ein so verdammt hübsches Profil hättest! –“ Er schwieg aufs neue. Nach ein paar Minuten aber begann er: „Ich habe – Dummheiten gemacht in Berlin. Es hat der armen Mama, die so nicht auf Rosen gebettet ist, einen tüchtigen Happen Geld gekostet, die Sache in Ordnung zu bringen –.“ Ein bißchen erschrocken wandte ich den Kopf nach ihm – „es war nichts Gemeines, Alix – Kind, gewiß nicht. Du kannst ja nicht wissen, wies unsereinem geht. Wir sind nicht von Stein – die jungen [271] Mädels der Gesellschaft sind steif und langweilig wie Holzpuppen, – und wenn sies nicht sind, ists ihr Unglück.“ Ich fuhr zusammen. – „Kannst am Ende selbst ein Lied davon singen, was?! – Kurz und gut, siehst du, ich verliebte mich eines Tages in eine Ballettratte – einen süßen, kleinen Käfer, sag ich dir –“, zu dumm, daß ich mich in diesem Augenblick bis zu Tränen ärgerte – „aber gräßlich ungebildet. Ich habe sie eigentlich nur zwei Tage gern gehabt, nachher wars Gewohnheit, Mitleid, – was weiß ich“ – er war aufgestanden und ging unruhig im Zimmer hin und her, die Zigarette zwischen den Fingern zerdrückend. „Ich konnte schließlich nicht länger – ich mußte frei sein! Ihr Vater lief spornstreichs zu Mama und heulte ihr was von zerstörtem Leben, geraubter Ehre usw. vor. Mir gegenüber hatte er bis dahin den untertänig-dankbarsten Diener gemimt. Das übrige kannst du dir am Ende vorstellen!“

Ich zitterte vor Erregung. Mich hatte ein Gedanke gepackt, der mich nicht minder los ließ. „Hat sie – ein – Kind?“ stieß ich mit aller Anstrengung hervor. Verblüfft blieb er vor mir stehen. „Du bist wirklich aus der Art geschlagen, Alix,“ damit streckte er mir die Hand entgegen. „Meine Hand drauf: nein! Wäre das Unglück geschehen, ich hätte anders gesprochen! – Aber wir sind noch nicht zu Ende. Man hat mich auf Urlaub geschickt – nach Italien, wie du siehst! –, und wenn die Galgenfrist zu Ende ist, soll ich – heiraten!“ Mit komischem Entsetzen rang er die Hände.

„Wen?“ frug ich, während mir das Herz hörbar schlug.

„Wen?! Ein kleines Prinzeßchen natürlich, semmelblond [272] – du weißt, wie ich so was liebe! –, bleichsüchtig, eine Figur wie ein wohlgehobeltes Brett.“ Ich spürte mit heimlicher Freude den raschen Blick, der zu mir herüberflog. „Die Ebenbürtigen mit dem nötigen Mammon laufen nicht zu Dutzenden in der Welt herum. Und eine Ebenbürtige muß es sein, Mama träumt doch ständig, daß ihrem Einzigen Vetter Georgs Krone eines schönen Tages auf den Dickkopf fällt! Eine Reiche natürlich auch, – du weißt ja, in wie schmerzlichen Widerspruch unser Portemonnaie zu dem Glanz unseres Namens steht!“

„Und du?“

„Ich wünsche ihm ein langes Leben, eine tüchtige Frau und ein Dutzend Jungens! Zum Regieren hab ich kein Talent, und zum Heiraten am allerwenigsten. Das weiß ich eigentlich erst seit gestern. In der Stickluft Berlins, angesichts des versammelten Familienrats war ich ganz klein. Aber wie ich gestern von dir ging, bin ich noch bis in die Nacht hinein in den Bergen herumgeklettert und habe mir einen ordentlichen Gletscherwind um die Nase pfeifen lassen. Heute weiß ich: es geht nicht – mögen sie mich meinetwegen zu den Insterkosaken versetzen, ich kann die Ebenbürtige nicht heiraten.“

Er wandte mir den Rücken und sah in den Regen hinaus.

„Ich kann nicht“ – wiederholte er leise, „ich muß Eine haben, die ich liebe –“

Es war ganz still zwischen uns. Nur die Uhr tickte laut und heftig.

„Ich möchte hier bleiben, Alix,“ sagte er nach einer [273] Weile mit ruhigem Ernst. „Ich brauche die Einsamkeit und – dich. Du mußt mir helfen überlegen, was aus mir werden soll!“

„So bleibe, Hellmut,“ antwortete ich rasch, aber im selben Augenblick fiel mir die Kathrin ein, und die Tante, und das Gerede der Leute; und schon kam sie selbst, meine getreue Wächterin, und sagte, nachdem sie das Geschirr möglichst langsam abgeräumt hatte:

„Soll der Christoph für Durchlaucht einen Wagen bestellen? Er geht gerad ins Dorf hinunter.“

Hellmut stieg das Blut in den Kopf. Er verstand. „Nein,“ sagte er, „ich gehe zu Fuß. Es ist nicht nötig, daß noch mehr Leute von meinem Hiersein wissen.“ Die Kathrin sah ihn zweifelnd an. „Fürchten Sie nichts für Ihr gnädiges Fräulein, Kathrin,“ fuhr er fort, „ich bin ihr bester Freund und werde nicht dulden, daß ihr auch nur ein Härchen gekrümmt wird.“ Als sie sich daraufhin stumm entfernt hatte, wandte er sich zu mir:

„O über die verdammten Rücksichten auf die Gemeinheit der anderen! Ists nicht das natürlichste von der Welt, daß wir hier zusammen sitzen? Und nun –! Ich kann nicht wiederkommen, – deinetwegen nicht!“

Ich hatte einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Zugleich kam mirs feige und erbärmlich vor, ihn so gehen zu lassen.

„Ich bin viel draußen,“ sagte ich zögernd und verlegen, „wenn du mich brauchst, wie du sagst, dann – dann könnten wir uns irgendwo treffen.“

„Hab Dank, herzlichen Dank, Alix. Aber das macht die Sache nicht besser. – Uns ein heimliches Rendezvous [274] geben, wie – wie … nein, das kann ich dir nicht antun. Machen wirs kurz: Lebwohl.“ Er zog meine Hand an die Lippen und wandte sich, ohne eine Antwort abzuwarten, rasch zur Türe.

In mir kochte es. Ah, wer diesen Götzen der Konvention zerschmettern könnte, auf dessen Altar unsere besten Gefühle und schönsten Stunden verbluteten, dem zu Ehren wir unsere freien Glieder in Fesseln schlugen! Gegen Abend, als ich aus der Gartentür trat, sprang mir ein kleiner Bub in den Weg und hielt mir einen Strauß Schneeglöckchen entgegen. Schon zog ich die Börse, um sie zu kaufen, da drückte der Überbringer ihn mir schelmisch lachend in die Hand und rannte davon. Jetzt entdeckte ich erst den Brief, der um die Stiele gewickelt war.

„Im Begriff, abzureisen,“ schrieb Hellmut „sende ich meiner lieben Freundin diese Blümchen, die einzigen, die ich auftreiben konnte. Ich fahre direkt nach Berlin. So leid es mir Mamas wegen tut, – mein Entschluß steht fest: ich will frei bleiben. Auch wenn ich den Adler auf dem Helm opfern muß. Ich werde mich zu den Ludwigsluster Dragonern versetzen lassen und scheide von Dir mit der Hoffnung auf ein frohes Wiedersehen in Schwerin und auf eine freundliche Fortsetzung unserer unterbrochenen Gespräche.

Dein alter Freund 
Hellmut.“ 

Meine Freude war so groß, daß ich sie allein gar nicht tragen konnte. Die alte Kathrin mußte, so sehr sie sich auch zierte, beim Abendessen neben mir sitzen und den Wein mit mir trinken, den ich mir selbst aus [275] dem Keller geholt hatte. Schließlich rief ich den Pudel herein und trieb ihn im Zimmer so lange im Kreise umher, bis vergessene Jugenderinnerungen in ihm aufdämmerten, und er, fröhlich mit dem Schwanze wedelnd, in ein heiseres Bellen ausbrach.


Mitte Juni war ich wieder in Schwerin. In vier Wochen stand der Einzug des Großherzogs bevor, dem eine Reihe von Festlichkeiten aller Art folgen sollte. Unmöglich konnte ich meiner Mutter alle Toilettensorgen allein überlassen, und meine Tante, die kurz nach Hellmuts Abreise in Grainau eingetroffen war, schenkte mir aus lauter Rührung über meine Pflichttreue ein rosaseidenes Kleid, von weißem, goldgesticktem Tüll überrieselt. Nun saß ich zu Mamas hellem Erstaunen selbst in der Schneiderstube. „Das sind ja ganz neue Talente, die du entwickelst,“ sagte sie, während ich unermüdlich anprobierte, steckte und heftete, nur die mechanische Vollendung der Arbeit der Näherin überlassend. Niemand sollt’ es merken, daß unsere Kleider nicht bei Gerson gearbeitet worden waren. Es war mir beinahe störend, daß ein paar unentwegte Verehrer vom vorigen Winter zu meinem Geburtstag eine Landpartie arrangiert hatten, die mich einen ganzen Tag Arbeitsunterbrechung kosten würde. Schließlich aber amüsierte ich mich dabei köstlich und ließ mir vergnügter denn je den Hof machen. Wir lagerten gerade unter den Buchen und ließen die Sektpfropfen knallen, als mein Vater erschien, der am [276] Vormittag nicht hatte abkommen können, und eine himmelblaue Uniform neben ihm auftauchte.

„Ich bringe Se. Durchlaucht den Prinzen Hellmut gleich mit, der uns heute seinen Besuch hat machen wollen,“ sagte Papa. Alle waren aufgesprungen und verstummt. Jeder Prinz, selbst der kleinste, ruft in jedem, selbst dem vornehmsten Kreis, eine Verlegenheitspause hervor. Hellmut verbeugte sich und trat dann rasch zu mir, die ich mich allein von meinem Rasenplatz nicht gerührt hatte. „Diesen Tag habe ich mir zu meiner Antrittsvisite ausgesucht, um Ihnen als alter Freund meine ergebensten Glückwünsche zu Füßen zu legen.“ Bei der förmlichen Anrede sah ich erstaunt zu ihm auf.

„Ich danke Ihnen, Durchlaucht, daß Sie sich meiner erinnern,“ antwortete ich mit kaum verhülltem Spott.

Als wir nachher ziemlich isoliert beieinander saßen, – die anderen hielten sich trotz all ihrer Neugierde in respektvoller Entfernung –, erklärte er mir sein Verhalten. Mein Vater hatte ihn gebeten, von dem „Du“ unserer Kindheit Abstand zu nehmen, „Sie kennen die Klatschmäuler kleiner Residenzen zu gut, um meinen Wunsch mißzuverstehen,“ hatte er hinzugefügt. Er war ein schlechter Psychologe, der gute Papa! Er hätte wissen müssen, daß dieses Verbot unseren Beziehungen die Harmlosigkeit nahm und ihnen den Stempel der Heimlichkeit aufdrückte. Wir kehrten ohne Verabredung zum Du zurück, sobald wir allein waren, und redeten uns vor anderen, belustigt über die Komödie, die wir den Dummen vorspielten, „Durchlaucht“ und „gnädigstes Fräulein“ an.

[277] Strahlende Sommertage kamen. Die Jahreszeit, in der wir geboren wurden, hat eine geheimnisvolle Bedeutung für unser Leben. Nie fühle ich das Dasein mit seinen Schrecken und Schmerzen, seinen Wonnen und Seligkeiten so stark und tief, als wenn dem Himmel und der Erde Glutwellen entströmen. Wie die Rosenknospe sich öffnet und sich bis zur Tiefe ihres goldenen Kelchs der leuchtenden Sonne preisgibt, so öffnet sich dann mein Herz.

An einem Julimorgen zogen unter klingendem Spiel und wehenden Fahnen Friedrich Franz II. und Anastasia, seine Gemahlin, durch die Straßen von Schwerin zum Schloß. Am Abend desselben Tages, während der Mond hoch am Himmel stand und das Märchenschloß in silberne Schleier hüllte, war der ganze See von großen und kleinen, mit tausenden bunter Lampen geschmückten Schiffen belebt. Bis hoch in die Masten schwangen sich die Lichterketten, und Blumengirlanden schleiften im schimmernden Wasser.

Nur wenige Würdenträger waren an diesem Abend ins Schloß geladen, um von den Terrassen des Burggartens aus dem Schauspiel unten zuzusehen. Wir gehörten dazu, und Hellmut auch, der der Suite des vornehmsten Gastes, des Königs von Griechenland, attachiert worden war.

Abseits stand ich unter den Taxushecken, als eine Stimme hinter mir flüsterte: „Komm mit.“ Ich nahm den Arm, der sich mir bot, und fühlte bebend den Druck, mit der er den meinen an sich preßte.

Versteckt zwischen den Rotdornbüschen lag drunten ein Boot. Es trug keine Lichter, nur Kissen und Decken und [278] zu Füßen der Sitze in hellen Körben eine Fülle von Rosen. Wir fuhren dicht am umbuschten Ufer entlang und hinaus, wo der See immer dunkler und einsamer wurde. Wie ein Heer von Glühwürmchen erschienen von hier aus die Lichter der Schiffe, während der Mond groß und majestätisch zu uns hernieder sah.

„Frierst du, Alix?“ – Er zog die Ruder ein und hüllte mich knieend fester in die Decken. Seine Hand, die meinen bloßen Arm berührte, war heiß und zitterte, und durch mein Herz zuckte ein schneidender Schmerz, der dabei doch so seltsam wohl tat … Wir sahen einander an, – tief und fest.

Da tauchte ein anderes dunkles Boot neben uns auf.

„Durchlaucht verzeihen – die Herrschaften brechen auf –, darf ich meine Hilfe anbieten?“ Graf Waldburg wars, ein Regimentskamerad des Prinzen, der rasch entschlossen in unser Boot sprang, mitten in die bunten Schiffe hineinruderte, wo wir – zu dritt! – von allen Seiten gesehen wurden und mit unseren Rosen in die Blumenschlacht eingriffen; zusammen erschienen wir im Burggarten in der Gesellschaft und erzählten so harmlos als möglich von unsrer lustigen gemeinsamen Fahrt.

„Ich danke Ihnen, Waldburg,“ flüsterte Hellmut. Noch ein Zusammenschlagen der Sporen, ein höflich-kühles Kopfneigen als Antwort von mir, und ich schritt hinter den Eltern dem Wagen zu, der uns heim brachte.

Wie lauter Träume folgten einander die Sommertage. Krachende, kurze Gewitter schienen die sonst so schwere Luft Mecklenburgs immer wieder zu zerstreuen; die Jugend wagte es plötzlich, jung zu sein, und die Alten lächelten nachsichtig darüber.

[279] Der sonst so stille Park war voller Leben: wir tanzten auf glattem Rasen zwischen buntbewimpelten Masten; wir spielten alte traute Kinderspiele unter dem Schatten der Bäume; und, müde geworden, verloren wir uns in den geschnittenen Buchengängen, vorbei an springenden Wasserkünsten und verwitterten Götterbildern. Blind und taub für die Welt um uns her, und doch wie gefeit durch die Weihe der Hohenzeit des Jahres, bewegten wir uns unter den Menschen.

Oft ging es in bekränzten Wagen weiter hinaus in die Wälder, oder an einen der ferneren Seen, von denen jeder uns schöner dünkte als der andere: der eine, weil er sich schmal und lang zum Horizont erstreckte, von freundlichen Dörfern rings umgeben, der andere, weil er einsam und dunkel zwischen bewaldeten Hügeln lag. Oder wir ritten am taufrischen Morgen mit verhängten Zügeln querfeldein, wo oft meilenweit kein Mensch uns begegnete, kein Haus zu sehen war, bis ein stattlicher Gutshof auftauchte, die ärmlichen Taglöhnerhäuser überragend, – ein verkleinertes Abbild von Schwerin. Wenn ich sie sah, pflegte ich schon von weitem Kehrt zu machen.

„Sie fürchten sich wohl vor den Dorfkötern?“ meinte bei solcher Gelegenheit eine schnippische Freundin. „Das traut mir wohl keiner zu,“ antwortete ich, „aber ich schäme mich vor den armen Leuten.“ Alles lachte; nur Hellmut wandte sich mir zu und sagte: „Das würden die armen Leute am wenigsten verstehen. Ich glaube, daß sie für uns nichts empfinden als Neugierde und Bewunderung.“

„Um so schlimmer! Ich verstehe sie nur, wenn sie [280] mit Steinen nach uns werfen,“ entgegnete ich laut und drückte meiner Stute die Peitsche in die Flanke, so daß sie gehorsam in langen Galopp verfiel. Hellmut aber blieb mir dicht zur Seite, griff mit der Rechten kräftig in meine Zügel und sagte, während seine hellen Augen mich übermütig anblitzten: „Wirst du mir nicht davongehen, du Süße, Wilde!“ Mein Groll war verflogen, – daß ich mich ihm, dem Starken, unterwerfen durfte, – welch tiefe Seligkeit war das!

Einmal waren wir nach Rabensteinfeld hinüber gerudert, dem stillen Witwensitz der alten Großherzogin. Mit dem Dampfschiff war uns eine große Gesellschaft vorausgefahren, lauter ältere und gesetzte Angehörige, die zuweilen die Verpflichtung fühlten, uns Jugend zu beschützen. Ich hielt das nie lange aus und war stets die erste, die Mittel und Wege fand, aus ihrem Gesichtskreis zu verschwinden. Hellmut benahm sich korrekter und wollte die Form nicht verletzen. Auch jetzt stand ich mit einem lachenden: „Wer kein Philister ist, folgt mir,“ vom Teetisch auf und ging hinunter an das Seeufer. Ein paar junge Herren kamen mir nach, und empört über Hellmuts Eigensinn, kokettierte ich mit ihnen in erzwungner Lustigkeit.

Als wir in der Abenddämmerung zu Fuß heimkehrten, gesellte er sich endlich wieder zu mir. Eine tiefe Falte grub sich zwischen seine Brauen, die seinem sonst so guten Gesicht einen bösen Ausdruck verlieh. „Das darfst du mir nicht wieder antun – hörst du,“ zischte er mich an und eisern umklammerten seine Finger mein Handgelenk. „Verzeih mir –,“ flüsterte ich, „aber warum hast du mich allein gelassen?“ – „Weißt du nicht, daß ich alles [281] nur um deinetwillen tue?“ – Ganz weich war seine Stimme dabei, und schweigsam gingen wir nebeneinander, die Worte waren zu arm für die Fülle unseres Gefühls.

An einem anderen glühheißen Sommertag gab das Grenadier-Regiment ein Fest im Jagdschloß von Friedrichstal. Heiß und ermattet vom Tanz und vom Spiel, gingen wir alle zum Neumühler See herunter, wo die Buchen und Birken über dem Uferweg dichte Lauben bilden. Allmählich zerstreute sich die Menge hier- und dorthin; wir blieben nur zu fünfen beieinander, – zwei Mädchen und drei Herren. An einer kleinen dichtumbuschten Bucht lagerten wir, und die Lust packte mich, die Füße im Wasser zu kühlen. Meine Gefährtin errötete dunkel bei meiner Aufforderung, es mir nach zu tun. „Du, das ist unpassend,“ flüsterte sie mir leise zu. „Unpassend?“ wiederholte ich laut, „zeigst du vielleicht nicht deine Hände, deine Arme, deinen Hals, – warum nicht deine Füße?“ – „Bravo, bravo,“ applaudierte einer der Herren. Das stachelte mich auf, und keck von einem zum anderen blickend, fuhr ich fort: „Soll ich euch sagen, was wir alle wissen und ihr nur nicht zu sagen euch getraut? – Wir schämen uns nur unserer Häßlichkeit –“ Damit hatte ich rasch Schuhe und Strümpfe abgestreift.

Eine beklemmende Stille trat ein; ich wagte nicht, mich umzusehen, mein Blick haftete auf meinen nackten Füßen, als sähe ich sie zum erstenmal, – sie waren so weiß, so schrecklich weiß! – mir stieg das Blut bis in die Stirne. Ich berührte scheu das Wasser mit den Zehen. „Es – es ist – zu kalt,“ brachte ich mühsam hervor und zog die Füße rasch unter die Kleider. Ein Geräusch verriet mir, daß die Herren sich entfernten; [282] die Kleine neben mir, noch röter und verlegener als ich, half mir rasch beim Anziehen und lief dann auch davon. Langsam erhob ich mich, – die Glieder waren mir schwer, – da stand Hellmut vor mir – ein paar Schweißtropfen auf der Stirn und doch ganz blaß.

„Nun baue ich Tag um Tag eine Mauer um dich, damit nichts und niemand dir zu nahe treten kann, und du – du gibst dich diesen – diesen Schurken preis,“ kam es stockend über seine Lippen. Mir stürzten die Tränen aus den Augen, – doch schon hatten seine Arme mich umschlungen, und sein Mund preßte sich auf den meinen, und die heißen, lang zurückgedämmten Wogen der Leidenschaft schlugen über uns zusammen.

Wie wir uns trennten, wie ich nach Hause kam, – ich weiß nichts mehr davon. Ich weiß nur, daß ich am weit geöffneten Fenster saß und die linde Nachtluft tief und langsam einsog, als hätte ich nie vorher die Wonne des Atmens gekannt. Dann stockte mein Herzschlag, – ein fester Tritt, ein schleppender Säbel unterbrachen die Stille, ein lichtes Blau schimmerte durch die Büsche des Gartens. „Alix –“ klang es sehnsüchtig. – Und ich nahm die Rose, die mir noch zerdrückt im Gürtel hing und warf sie in zwei geöffnete Hände.

Alles Denken war ausgelöscht in meinem Hirn, ich fühlte nur mit gesteigerter Intensität. Morgens am Kaffeetisch umarmte ich zärtlich den Vater, – es fiel mir plötzlich schwer aufs Herz, daß ich seiner rührenden Liebe stets so kühl begegnet war –. „Du hast ja schon in aller Frühe illuminiert,“ sagte er und streichelte mir halb erstaunt, halb beglückt die Wangen. Schüchtern und schuldbewußt küßte ich der Mutter die Hände, – [283] wie schlecht hatte ich bisher ihre Treue gelohnt! – ach, und wie ernst und verhärmt sah sie aus! Als aber das Schwesterchen hereinsprang, hob ich sie auf den Schoß und flüsterte in ihr rosiges, von lauter Goldlöckchen umspieltes Ohr: „Du – ich weiß was ganz Heimliches: heut nacht tanzten die Nixen mit dem grauen Schloßzwerg, bis er vor lauter Atemnot auf den Rasen plumpste. Ich glaub’ immer, da liegt er noch und schnarcht, und die Nixen haben vor Lachen den Heimweg ins Wasser vergessen. Komm schnell hinaus, – am Ende sehn wir sie noch!“ Sie jubelte hell auf vor Freude, und richtig, – zehn Minuten später waren wir unten am See.

Klein-Ilschen suchte – ich aber war still und ernst geworden und sah hinüber zum fernen jenseitigen Ufer: sollte das Glück, das mir dort begegnet war, auch nur ein nächtlicher Spuk gewesen sein? – Wir fanden die Nixen nicht – Klein-Ilschen war böse. Wie wir langsam heimwärts gingen, kam ein Reiter uns entgegen, – ich wagte kaum aufzusehen. Doch schon war er neben mir und hielt den Fuchs am Zügel. „Willst du reiten, Kleine?“ sagte er und hob das Schwesterchen, dessen Leidenschaft Pferde waren, in den Sattel. Still gingen wir weiter, unsere Augen aber versenkten sich ineinander, tief, immer tiefer, – bis sie Gewißheit hatten und auch im fernsten Winkel der Seele nichts Lebendiges fanden als nur das eigene Bild.

„Die Nixen waren weg,“ sagte das Schwesterchen zu Hause zu Mama, „aber Prinz Hellmut ließ mich reiten!“

„Prinz Hellmut?!“ Ein rascher mißtrauischer Blick [284] streifte mich. Ich wandte mich zu den Fenstern und ordnete eifrig die vielen kleinen Lichter zur abendlichen Illumination.

Der Großherzogin Geburtstag war heute; mit dem prächtigsten und zugleich dem letzten Fest dieses Sommers sollte er gefeiert werden. Verwandte und Freunde des Hofes, Deputationen der Garde-Regimenter, der ganze Adel Mecklenburgs waren in Schwerin versammelt. Stundenlang rollten auch vor unserem Hause die Wagen, und die Besucher kamen und gingen; Staatsvisiten waren es zumeist, aber auch solche guter alter Bekannter. Im weißen Spitzenkleid, ein paar gelbe Rosen im Gürtel, stand ich im Salon, neigte mich vorschriftsmäßig über die Hände der Damen und senkte den Kopf vor den Herren. Was mich sonst ermüdete, machte mich heute froh, denn mit geschärften Augen sah ich die Menge der bewundernden Blicke. Wie ich mich dann am späten Nachmittag vor der Abfahrt zum Schloß im Spiegel sah, umrauscht von rosa Seide, deren starker Farbenton gedämpft durch goldgestickten Tüll schimmerte, – Rosen auf der langen Schleppe verstreut und Rosen in den dunkeln Locken –, da war ich zufrieden.

Dicht gedrängt standen die Menschen auf der Schloßbrücke, wo die Wagen nur Schritt vor Schritt vorwärts kamen. „Alix von Kleve“ – „Alix von Kleve“ ging es flüsternd von Mund zu Mund. Dankbar lächelnd neigte ich mich rechts und links aus dem offenen Wagenfenster. Auf den schwarzen Marmorstufen der großen Treppe, in deren tiefem Dunkel das Gold des Geländers und der Säulen sich spiegelte, standen die Lakaien im roten Rock und die Läufer mit dem seltsamen gewaltigen Blumenstrauß [285] über den Stirnen. Und droben in den Vorzimmern gleißte und glänzte es von goldgestickten Uniformen, hellen Schleppen und funkelnden Edelsteinen. Wir wurden zu unseren Plätzen gewiesen. In der Ahnengalerie stand die Jugend. Ich sah durch die Bogenfenster über den See hinaus und rührte mich nicht. Was gingen mich die andern Menschen an? Wozu war ich hier, als allein seinetwegen? Worauf wartete ich, als auf ihn? Die Musik im Thronsaal neben uns intonierte den „Einzug der Gäste“ auf der Wartburg, drei schwere Schläge mit dem Hofmarschallstab kündigten das Nahen der Herrschaften an. Ich erwachte aus meinen Träumen. Ein Rauschen ab und auf: wir versanken in unseren Kleidern und tauchten wieder auf – wie eine lange hellschimmernde Woge. Mein Blick haftete sekundenlang auf dem Herrscherpaar, das langsam durch unsere Reihen schritt: der schlanke Mann mit dem Kennzeichen seines Geschlechts, dem kahlen, glatten Schädel, darunter ein Antlitz von jener blaß-grauen Farbe, die das Morphium allmählich auf die Haut seiner Opfer malt, zwei fiebrig glänzende Augen darin und zwei Lippen, zu jenem wehmütig-freundlichem Lächeln verzogen, mit dem die früh vom Tode Gezeichneten die Jugend grüßen. Neben ihm das Weib: um den üppig-schlanken Leib schmiegte sich ihr Gewand schillernd wie Schlangenhaut, auf dem hoch erhobenen dunkeln Kopf trug sie stolz die Krone von Brillanten, dunkelrot wölbten sich die Lippen über den kleinen weißen Raubtierzähnen, und ein gieriges Leuchten wie von heißem Lebenshunger tauchte in ihren wunderschönen Augen auf. Über uns sah sie hinweg, sie brauchte uns nicht zu sehen, – [286] sie war mehr als die Jugend. In meinem Herzen aber wallte das Mitleid auf – mit dem Mann und mit der Frau.

Dann kam der König von Griechenland, – wie die meisten Könige: kein König. Und dann die Königin, – weich und licht und holdselig, wie die guten Feen aus den Märchen, und hinter ihnen der Schwarm der anderen. – Aber ich sah keinen mehr, denn aus dem Zuge heraus war Hellmut zu mir getreten.

In einem runden Turmzimmer mit bunten Fenstern saßen wir zu vier um den rosengeschmückten Tisch: Hellmut und ich, Graf Waldburg und seine Braut, die kleine Komteß Lantheim. Wir aßen nicht viel, aber unsere Gläser klangen immer wieder aneinander, und prickelnd floß der eisige Sekt durch unsere Kehlen. Leise und schmeichelnd tönte von fern die Musik.

Im goldenen Saal, durch dessen Fenster die Glut des Abendhimmels hineinströmte, während viele hunderte flammender Kerzen alle Wände und Pfeiler aufleuchten ließen wie gelbes Feuer, wurde getanzt. Es war noch fast leer, als wir eintraten. In wiegendem, lockendem Rhythmus klang die süße Walzerweise der „Schönen blauen Donau“ von der Estrade.

Ich lag in seinem Arm, und die Töne schienen uns zu tragen. „Alix – ich liebe dich,“ hauchte mir im weichen Takt der Bewegung seine Stimme ins Ohr – „verzehrend lieb ich dich – ich laß dich nicht los – nie – nimmermehr –“ Sein heißer Atem berührte mich wie ein zärtlich kosender Kuß, und meine Haare wehten um seine Wangen.

„Durchlaucht – Galopp – wenn ich bitten darf!“ [287] hörten wir plötzlich neben uns sagen. Aufatmend standen wir still, – wir hatten wirklich das strenge höfische Walzerverbot vergessen! Im gleichen Augenblicke trat der Kammerherr der Großherzogin auf uns zu: „Ihre Königliche Hoheit befehlen –“

„Mich auch?“ frug Hellmut. Er senkte bejahend den Kopf, während ein leises malitiöses Lächeln seine Lippen kräuselte. Sollte die schöne Fürstin so konventionell sein und unser Vergehen gar noch persönlich rügen wollen?

„Sie tanzen bezaubernd, – ich mache Ihnen mein Kompliment, Fräulein von Kleve!“ sagte sie laut, als ich in tiefer Verbeugung ihre Hand an die Lippen zog. „Die mecklenburger Damen können sich ein Beispiel nehmen!“ Die Umstehenden horchten hoch auf.

„Tanzen Sie noch einmal denselben Walzer, lieber Prinz, den man offenbar nur verbietet, weil man ihn zu tanzen nicht versteht.“

Wie auf Kommando bildete sich ein weiter Kreis um uns. Und wir tanzten. Aber ich fühlte die vielen musternden, neidischen, feindseligen Blicke, die mich betasteten, wie mit feuchtkalten Fingern, und durchbohrten, wie mit Nadelstichen. Ein Schwindel packte mich – fester, immer fester lehnte ich mich in Hellmuts Arm – er trug mich mehr, als daß ich tanzte.

„Führen Sie Ihre Tänzerin auf die Terrasse, – das wird ihr gut tun –“ sagte die Großherzogin, als ich mich blaß und zitternd wieder verbeugte. Ein Ton war in ihrer Stimme, der mich auffahren ließ, – hatte sie unser Geheimnis erraten?

Wir gingen hinaus. Viele bunte Lampions erhellten die Terrasse und den Burggarten, plaudernde Gruppen [288] standen ringsumher. Wir aber suchten die Nacht und die Stille. Tief unten schmiegte sich ein von weißen Blüten übersäter Strauch an die dunkle Mauer, und ein schwerer süßer Duft breitete sich rings um ihn. Jasmin – meine Blume!

Weißt du noch, Hellmut, wie du übermütig in die Zweige griffst und ein Regen schneeiger Blätter mir auf Schultern und Haare fiel? und wie sie matt zu Boden taumelten vor dem heißen Hauch deines Mundes? Du preßtest mich wild an dein Herz, daß der Atem mir stockte, – du hättest mich morden können in jener Nacht, – mit einem Liebesblick hätt ich es dir vergolten. „Warum sagst du mir nicht, daß du mich liebst – warum bist du so still?“ frugst du, und ich seufzte, den Arm fest um deinen Hals: „Ich kann dirs nicht sagen – ich kann nicht – ich liebe dich viel – viel zu sehr!“

Droben tanzten sie wieder – wir sahen die Paare hinter den hellen Fenstern vorüberschweben –, und eine Melodie verirrte sich zuweilen bis zu uns. Wie mit kosenden Stimmen antworteten ihr die Wellen, die plätschernd ans Ufer schlugen, und fern von den hohen Baumwipfeln des Parks klang hie und da ein verträumtes Vogelzwitschern. Immer verzehrender glühten unsere Augen ineinander, verlangender, sehnsüchtiger wurden unsere Küsse.

Da verstummte die ferne Musik, ein heftiger Schreck machte dich zittern. „Wir müssen hinauf“ – sagtest du heiser und fuhrst dann hastig fort, während wir die Treppe zur Terrasse emporstiegen: „Wir müssen uns trennen – mein Dienst ist morgen zu Ende –“

[289] „Und in der nächsten Woche reisen wir,“ flüsterte ich mühsam, – es würgte mir am Halse.

„Im Herbst erst sehen wir uns wieder –“

„Das ertrag ich nicht – –“

„Ich sterbe vor Sehnsucht –“ Und noch einmal zogst du mich an dich, und aufschluchzend barg ich meinen Kopf an deiner Brust.

„Weine nicht, Liebling, weine nicht, – für ein ganzes Leben voll Liebe, das uns bevorsteht, ist das Opfer dieser nächsten Wochen am Ende nicht zu groß,“ versuchtest du uns Beide zu trösten, dabei fielen heiße Tropfen aus deinen Augen mir auf die Stirn. –


Wir fuhren nach Karlsbad, – Mama, Klein-Ilschen und ich. Wir trafen mit einem großen Kreise alter und neuer Freunde zusammen. „Wir“ sage ich, – aber im Grunde war ich gar nicht da, nur mein wandelndes Schattenbild. Automatisch geschah alles, was ich tat: mein Reden und noch mehr mein Lachen. Ich selbst saß still im dunkeln Chorgestühl eines hochragenden Doms, die Hände im Schoß gefaltet, die Augen emporgerichtet zu den in mystischen Farben glühenden Fenstern, unbeweglich horchend auf den Gesang süßer Engelsstimmen, die Stirn umweht von Wolken duftenden Weihrauchs …

Wenn ich neben dem Rollstuhl Stauffenbergs ging, sprach ich wohl mit ihm von alledem, was mein Interesse sonst erregt hatte; aber eine ganz andere, eine fremde Alix war es. Ich selbst, ich lachte über sie und ihren komischen Eifer. Was ging mich die hohe Politik, was [290] gingen mich Darwin, Wagner und Nietzsche an? Neben dem Reichtum lebendigen Lebens, das mir begegnet war, verblaßte alles zu blutleeren Schemen.


Am Abend unserer Rückkehr im Herbst saß ich im Dunkel der Intendantenloge im Theater. „Hoffmanns Erzählungen“, – jenes geniale Werk Offenbachs, das er geschaffen haben muß, besessen vom Geiste des Zauberers, dem es galt, – gelangte zum erstenmal, und ungekürzt, zur Aufführung. Meine Augen durchforschten noch die Logen und Ränge – ich war ja nur gekommen, weil ich überzeugt war, ihn zu finden –, als die ersten Akkorde der Ouverture mich schon gefangen nahmen. Und dann die Oper selbst! Wie es ihr zukommt, war jede possenhafte Nuance vermieden worden; Spalanzani und Coppelius, der geheimnisvolle Brillenverkäufer im ersten Akt, wirkten gespensterhaft, und Olympia, die Puppe, war nicht nur ein Automat, der schließlich zur Erhöhung der Lachlust eines einfältigen Publikums zerbrochen auf die Bühne geschleift wird, – ein Stück Leben schien vielmehr in sie hineingezaubert, das mit einem wehen Laut erstarb. Selbst die Menuetttänzer und Tänzerinnen bewegten sich wie nichts vollkommen Irdisches.

Schon verdunkelte sich der Zuschauerraum am Ende der Pause, als der Bogenvorhang sich teilte, – ein breiter Lichtstreifen fiel herein. Der erste Ton der Barkarole klang gedämpft aus dem Orchester – ein Stuhl wurde zur Seite gerückt – „Alix!“ hörte ich Hellmuts [291] Stimme hinter mir, und sein Mund brannte auf meinem Nacken.

„Schöne Nacht – o Liebesnacht – o stille mein Verlangen!“ tönte es von der Bühne dicht vor uns; ausgestreckt auf Decken und Fellen lag die schöne Guiletta vor ihren Anbetern; ihre nackten Arme und ihre bloßen Schultern leuchteten im Glanz der roten Ampeln. Das Blut strömte mir zum Herzen, meine Hand suchte die des Geliebten. Von einer Melodie durchwogt, wie sie aufreizender, sinnbetörender nicht zum zweitenmal vorkommt, wurde die Luft immer schwüler um uns. Kaum daß wir uns im hellen Licht des Zwischenaktes genug zu ermannen vermochten, um konventionelle Phrasen mit dem Intendanten zu wechseln. Hellmuts Uniform verriet seine Anwesenheit auch im Halbdunkel der Loge, Lorgnetten und Operngläser richteten sich auf uns, und tuschelnd neigten sich die Köpfe zueinander.

Aber schon setzte das Orchester zum letzten Akte ein. „Sie entfloh – die Taube so minnig“ sang der blassen Antonia weiche Stimme. Seltsam – kein Zweifel – sie sah mir ähnlich: der gelbliche Ton der Haut, die dunkeln Locken. Mich fröstelte. O – und als dann der gespenstische Arzt erschien mit der hageren Gestalt, dem glatten Totenschädel und den klirrenden Flaschen in den Händen – – „Mir ist nicht ganz wohl!“ flüsterte ich und stand leise auf. Hellmut begleitete mich. Er hielt meinen vorzeitigen Aufbruch nur für einen Vorwand. Während er mir den Mantel um die Schultern legte, flüsterte er mir zu: „Ich war bei Mama – ein bißchen Tränen hats ihr gekostet –, aber schließlich fand sie sich ins Unabänderliche. Wir dürfen hoffen, Liebling! – [292] Hier alles Nähere,“ er drückte mir ein Papier in die Hand und führte mich bis zum Wagen; schon zogen die Pferde an, als der Schlag sich von der anderen Seite noch einmal öffnete, – mit einem raschen Sprung war er neben mir und ich in seinen Armen, – einen Augenblick nur, einen kurzen, glückseligen. An der nächsten Straßenbiegung verschwand er ebenso, wie er gekommen war. Erst zu Hause, im verschlossenen Schlafzimmer, öffnete ich seinen Brief.

„Mein süßer Liebling,“ schrieb er, „die Wochen ohne Dich waren eine gräßliche Fastenzeit. Zum zweitenmal ertrage ich so etwas nicht. Das habe ich auch Mama gesagt, und da sie so wie so immer um mich zittert – begreifst Du solche Anhänglichkeit, Du Einzigste?! –, so hat sie meine Drohung toternst genommen. Sie wird in den nächsten Tagen Tante Brigitte Sonderburg, ihre verdrehte alte Schwester, besuchen und sehen, ob sie bei ihr das nötige Kleingeld zusammenscharren kann; bei Vetter Georg, dem Knauser, ist nichts zu holen, Mamas eigne Kasse ist völlig schwindsüchtig. Ich schäme mich, Dir so was schreiben zu müssen, meine holde, kleine Göttin Du, und doch mußt Du wissen, warum ich immer noch nicht in Helm und Schärpe antrete. Meine Zulage reicht kaum für mich, der ich das Unglück habe, ein Prinz zu sein, und diese Würde täglich mit barer Münze bezahlen muß. Aber trotz alledem muß es werden, und ich träume schon jede Nacht von dem weichen Nest, das ich für mein Prinzeßchen – viel, viel mehr Prinzeßchen, als alle Ebenbürtigen zusammengenommen! – erobern werde!

Verlobte schicken einander immer briefliche Küsse. Das [293] finde ich fad. Aber holen tu ich sie mir bei allernächster Gelegenheit für die langen sechs Wochen, die Du sie mir schuldig bliebst. Hüte Dich beizeiten, daß Du nicht daran erstickst …“

Ich konnte nicht schlafen. Es lag wie ein eiserner Reifen um meine Stirn. „Der Weg zur Ehe geht durch die Kirche“ pflegte Mama zu sagen, – aber stand nicht ein goldener Götze am Altar, statt des Priesters?

Wir sahen uns oft, aber niemals allein. Eine zehrende Sehnsucht durchwühlte mich wie eine Krankheit. Jeder Händedruck schien mir die Haut zu versengen. Wir konnten den Karneval nicht erwarten, der zu heimlichen Begegnungen tausend Gelegenheiten bot. Ein Ball bei der Großherzogin-Mutter eröffnete ihn endlich. Sie hatte es allen Warnungen zum Trotz durchgesetzt, daß er in ihrem Palais stattfand, dessen Tanzsaal erst vor jedem Fest von der Baupolizei untersucht werden mußte. Diesmal, so erzählte man sich, habe sie schon recht bedenklich den Kopf geschüttelt. Als wir kamen, fiel mein erster Blick auf Hellmut, der mit zusammengezognen Brauen, blaß und finster, allein in einer Fensternische stand. Ewig dauerte es, bis ich all die Verbeugungen und Begrüßungen und stereotypen Phrasen erledigt hatte und meine Hand in der seinen ruhte.

„Ich habe Nachricht von Mama,“ preßte er mühsam hervor, „Tante Brigitte hat rundweg abgelehnt. Für dumme Streiche hätte sie kein Geld!“

Mir wankten die Kniee. Da ging das alte frohe Leuchten über seine Züge, gepaart mit einem neuen Ausdruck starker Energie: „Sei nicht furchtsam, Liebling; du weißt: [294] und wenn ich mich dafür dem Teufel verschreiben sollte, – du wirst mein!“

Junge Liebe ist voller Zuversicht, sie glaubt noch an Wunder; und sie ist sich selbst genug und vergißt darüber die Welt. Es war eine stürmische Saison damals, – kaum ein Tag verging ohne ein Diner, einen Ball, eine Schlittenpartie. Hellmut fehlte niemals. Wenn es nicht anders ging, ritt er noch in der Nacht nach Ludwigslust zurück. Er verlor allmählich die gesunde Farbe, aber wenn ich ihn angstvoll um sein Ergehen frug, lachte er. Wir wurden immer kühner und immer erfinderischer, um uns allein sehen zu können, und die fremdesten Menschen halfen uns dabei: sie zogen sich zurück, wenn wir ins Zimmer traten, sie vertieften sich in ein Gespräch, wenn wir am gleichen Tische saßen, sie mäßigten das Tempo ihres Laufs, wenn sie auf der weiten Eisfläche des Schweriner Sees in unsere Nähe kamen. Daß die Mädchen mich mieden, war mir nur eine Wohltat. Hie und da freilich fing ich ein hämisches Lächeln auf, ein vieldeutiges Augenzwinkern, oder hörte mit halbem Ohr, wie es um mich her raunte und flüsterte. Aber ich dachte darüber nicht nach. Ich vegetierte überhaupt nur noch, und lebte allein, wenn er um mich war.

In diesem Winter wußte ich erst, was Tanzen ist: keine Bewegung, in der wir nach Vorschrift die Füße so oder so setzen, kein harmlos-kindliches Vergnügen aus reiner Freude am rhythmischen Regen der Glieder, – Liebe ist es, Liebe in all ihren tausend Phasen, Liebe, die zwei Menschen zu Eins verschmilzt, die sie auseinanderzieht, um die Sehnsucht zu steigern und sie um so glühender wieder zu vereinen. Liebe, die lockt und kokettiert – sich [295] demütig neigt und siegesbewußt aufrichtet – die mit den anderen lächelt, sich ihnen vorübergehend hingibt, nur um des einen, des Geliebten Glut zu loderndem Feuer zu entfachen.

Die „Barkarole“ beherrschte den Tanz in jenem Karneval. Ich hörte sie bis in meine Träume.

Zu einem Hofball wurde ein Menuett einstudiert, – der Tanz, in dem sich die ganze graziöse Sündhaftigkeit und künstlerisch verklärte Erotik seiner Zeit widerspiegelt. Wir trugen dazu keinen billigen Maskentand, sondern schwere Kleider von Damast, breit ausladend über den Hüften, zum Umspannen schmal in der Taille, mit langen höfischen Schleppen. Rosen und Lorbeer rankte sich auf dem meinen, die alten kostbaren Spitzen meiner Mutter garnierten den Rock, ihre Perlenschnüre schlangen sich mir um Hals und Nacken. Hoch gepudert die Haare, ein Schönpflästerchen am Mundwinkel und eins auf der Brust, – so traf ich im Vorzimmer am Abend des Festes Hellmut, meinen Herrn. Wir staunten einander an, – so hatte ich die ebenmäßige Schönheit seiner Gestalt noch nie empfunden wie jetzt, wo sie im Staatsgewand Ludwigs XV. vor mir stand. Aber sein Gesicht blieb ernst.

„Mir paßt der Narrentrödel nicht!“ sagte er, während wir uns nach Mozarts unvergänglichem Don Juan-Menuett neigten und drehten. „Ist nicht die gleißende Pracht ein Hohn auf unsere Armut?“

„Ich fühle nur, daß wir reich sind, die Reichsten der Welt!“ antwortete ich und lehnte den Kopf zurück, um über die Schulter hinweg ihn selig anzulächeln, wie die Figur des Tanzes es grade befahl.

[296] „Aber ich verkomme vor Qual, solang du nicht mein bist!“ gab er zurück und beugte das Knie in bittender Gebärde zu dem lang gezognen Sehnsuchtston der Musik.

Ein Walzer folgte dem Menuett. Hellmut lehnte mit verschränkten Armen an einem Pfeiler, und jedesmal, wenn ich vorüberkam, fühlte ich seinen Blick.

„Du darfst heute mit keinem anderen tanzen,“ redete er mich an, als mein Tänzer mich verlassen hatte, – er vermochte seiner Erregung kaum Herr zu werden. Vergebens suchte ich ihm das Unmögliche seines Verlangens klar zu machen; „ich verlasse das Schloß, wenn du nicht tust, um was ich dich bitte, – ich halts einfach nicht aus, daß jeder Schmutzfink dich im Arm hält und seine frechen Blicke sich an deiner Schönheit weiden.“ Ich fügte mich beglückt von der Stärke seiner Leidenschaft, und um keinen anderen Verdacht aufkommen zu lassen, bat ich meine Mutter, mir in der Garderobe eine aus Taschentüchern improvisierte Bandage um den „verstauchten“ Fuß zu legen, der mich am Tanzen hindern sollte.

Hellmut und ich trennten uns an dem Abend nicht mehr. Im Ballsaal drängte sich die Jugend, in den Nebenzimmern saßen die Älteren an den Whisttischen. Wir gingen durch die langen Galerien mit ihrer bunten, phantastischen Dekoration, wo die Lampen immer spärlicher brannten. Wir standen eng aneinander geschmiegt vor Tristan und Isoldens Liebesmär, die hier im Schloß der sittenstrengen Obotriten in hellen Farben an den Wänden prangt, und wie Lebendige tauchten Hero und Leanders Marmorbilder im rosigen Schein gedämpften [297] Lichtes vor uns auf; ihr Busen schien zu atmen, an den sein Haupt sich zärtlich lehnte.

Von ferne folgten uns die Tanzmelodien … „Schöne Nacht – o Liebesnacht – o stille das Verlangen –“ klang es leise – sehnsüchtig.

Und Hellmut schlang den Arm um mich, und dicht, immer dichter aneinander geschmiegt, flogen wir durch den halbdunklen Raum. Mir war, als hörte ich ein unterdrücktes Gelächter, – aber im nächsten Augenblick vergaß ich es wieder.

Wir tanzten, – waren wir nicht allein auf mondheller Wiese, von Palmen umrauscht und großen, weißen Blumen umgeben, aus deren Goldkelch betäubende Düfte strömten? Wir tanzten, – wars nicht ein Schaukeln auf kristallhellen Fluten, – sahen wir nicht bis zum Grund, wo die blendenden Leiber nackter Nixen zwischen Wasserrosen auf und nieder tauchten und Lieder, die noch kein Menschenohr gehört, ihren roten Lippen entströmten? – Mein Herzschlag stockte – auf den nächsten Stuhl sank ich schwindelnd zurück, zu meinen Füßen brach der Geliebte zusammen, den blonden Kopf vergraben in meinem Schoß …

„Oh, la marquise Pompadour,
Elle connait l’amour
Et toutes ses tendresses,
La plus belle des maitresses“ –

sang plötzlich eine krähende Sopranstimme hinter uns. Hellmut sprang auf und griff instinktiv an den zierlichen Galanteriedegen, der ihm an der Seite hing.

„Verdammt –“ knirschte er, – es war eine leere Scheide, die er in der Hand hielt. Wir hörten noch ein [298] Rascheln und Raunen und das ferne Schlagen einer Tür, dann wars still.

„Morgen noch fahr ich selbst zu Tante Brigitte und, wenns nicht anders ist, zu Georg. Ich muß ein Ende machen – so oder so!“ flüsterte er mir zu, ehe wir den Ballsaal wieder betraten. Ich suchte meine Eltern; – wir verabschiedeten uns. Am Ausgang, wo sich die meisten Menschen zusammendrängten, trat Hellmut an meinen Vater heran: „Darf ich mich gleich heute für die nächsten Wochen verabschieden, Herr General,“ – sagte er sehr laut und förmlich – „mein Vetter, Herzog Georg, wünscht meine Anwesenheit bei den Hofbällen.“ – „Reisen Sie glücklich,“ antwortete mein Vater, und mir schien, als ob er erleichtert dabei aufatmete. „Amüsieren Sie sich gut“ – brachte ich mühsam hervor und legte meine kalten Finger flüchtig in die seinen.

Nur die fieberhafte Erregung gab mir Kraft, mich in den nächsten Wochen aufrecht zu halten. Ich fehlte in keiner Gesellschaft, auf keinem Ball; keine tanzte so unermüdlich wie ich, an keinem andern Tisch wurde so viel Sekt getrunken wie an dem meinen.

Eines Tages traf ich Graf Waldburg im Theater. Er machte in den Pausen mit großem Eifer Propaganda für eine Schlittenpartie, die mit einem Diner im Hotel enden sollte. „Seine Durchlaucht Prinz Hellmut bittet Sie um die Ehre, Sie fahren zu dürfen,“ wandte er sich an mich. Als ich fragend zu ihm aufsah, zuckte er die Achseln und sagte, nur für mich hörbar: „Durchlaucht haben mir nichts weiter mitgeteilt, als daß ich rasch für eine Gelegenheit zu längerer Aussprache sorgen möchte.“

[299] Zweimal vierundzwanzig Stunden noch! Die Erregung steigerte sich bis zum Unerträglichen. Inzwischen fing es an zu tauen. Ein schmutziges Grau bedeckte die Straßen der Stadt, und dichte Nebel hingen über den Seen. Mit hellem Schellengeläut erschien trotzdem am festgesetzten Tage Hellmuts Schlitten vor unserer Tür, – eine winzige mit Pelzen dicht ausgefütterte Muschel, vor der ein russischer Traber unruhig den Boden stampfte. Mein Vater führte mich hinunter. Hellmuts erster Blick sagte mir alles – ich schwankte, als Papa mir in den Schlitten half. „Also um fünf Uhr pünktlich im Hotel!“ rief er noch freundlich, dann flogen wir davon.

„Georg hat mich ausgelacht – Tante Brigitte war zynisch genug, mir zu versichern: für ein vernünftiges Verhältnis hätte sie Geld – für eine dumme Ehe nicht!“ Mit rauher Stimme hatte er gesprochen. „Was meinst du, wenn wir statt zum Rendezvous auf dem Schloßplatz direkt auf den See führen, – der hält uns nicht lange!“

Ich packte ihn entsetzt am Arm. „Nein, Hellmut, nein,“ flehte ich, „wir haben ja noch gar nicht gelebt!“ Der Fanatismus des Daseins durchglühte mich – so sterben – so – nein! Und wie eine Erleuchtung kam es über mich: Tante Klotilde, – sie mußte und konnte helfen. Mit schmetternden Fanfaren begrüßte die Musik die Ankommenden, als wir beide, die Herzen von neuer Hoffnung geschwellt, auf den Schloßplatz einbogen und uns fröhlich an die Spitze des langen Zuges setzten. War das eine Fahrt durch den Wald, wo der tauende Schnee eine glatte Bahn geschaffen hatte! Wie wir den Nebel nicht spürten, obwohl er unsere Pelze mit [300] Millionen winziger Wasserperlen besetzte, so empfanden wir keinen Zweifel mehr an der wieder erwachten Sonne unseres Glücks.

Die anderen kamen durchfroren von der stundenlangen Fahrt ins Hotel, uns, die wir ihnen weit voran gewesen waren und doch als letzte zurückkehrten, war glühheiß. Noch lange saßen wir zusammen; die vielen Gänge des Mahls, bei dem die meisten Paare immer einsilbiger wurden, das langsame Servieren, das jeden Nichtmecklenburger immer ungeduldiger machte, – wir merkten es nicht. Für uns wars viel zu früh, als es galt, Abschied zu nehmen. Vor dem halbdunkeln Torweg, im rieselnden Regen, umschloß eine kräftige Hand noch einmal die meine, und spitze Nägel gruben sich mir ins Fleisch.

Noch in der Nacht schrieb ich an Tante Klotilde. Mein ganzes Herz schüttete ich ihr aus; mit all meiner Hoffnung klammerte ich mich an sie; jede Seite ihres Wesens suchte ich zu rühren.

Wenige Tage später wurde ich zu ungewohnter Stunde zu meinem Vater gerufen. Hochrot im Gesicht, mit meinem Brief in der Hand, trat er mir entgegen. Mama saß vor Schrecken totenblaß im Lehnstuhl. Es gab eine unbeschreibliche Szene. Demselben Manne, der mir seine Zärtlichkeit nie genug zeigen konnte, war jetzt kein Wort zu verletzend, um mich zu beschimpfen. Ich stand vor ihm, wie versteinert. Erst als er Hellmut einen Ehrlosen nannte und die wahnsinnigsten Drohungen gegen ihn ausstieß, kam ich zu mir. „Das duld’ ich nicht, daß du seine Ehre angreifst,“ rief ich und trat ihm dicht unter die Augen, „schlag doch mit Fäusten [301] auf mich, wenn du willst, aber ihn – ihn darfst du nicht anrühren.“ Papa sah mich groß an, wandte sich ab und stöhnte qualvoll. Das ertrug ich nicht mehr. Weinend warf ich mich ihm zu Füßen. „Papachen – hab’ doch Mitleid mit mir – mein Unglück ist doch schon groß genug“, schluchzte ich. Und dieselbe Hand, die mich fast geschlagen hätte, hob mich empor. „Mein armes, armes Kind,“ sagte er, und mit dem Ausdruck eines zu Tode Verwundeten sah er mich an.

Mama war still gewesen bis dahin. Jetzt hörte ich ihre ruhige kühle Stimme wie von weit, weit her. Sie las den Brief der Tante vor, ich verstand ihn kaum, nur die Worte „Pflicht“, „Opfer“, „Ehrgefühl“ wiederholten sich, wie es schien, häufig. „Alix wird,“ so schloß er ungefähr, „durch diese Erfahrung klug werden und ihre zügellosen Leidenschaften bändigen lernen. Unser ganzes Leben ist Entsagung und Pflichterfüllung …“ Ich lachte gellend auf bei dieser schönen Tirade, um gleich nachher in einen wilden Weinkrampf auszubrechen. Papa trug mich in mein Bett. Meine Mutter verließ mich von da an keine Minute. Gegen Abend ließ sie mich aufstehen. Kaum auf den Füßen konnt ich mich halten, und vor Schmerzen hätte ich am liebsten geschrien, aber meine Willenskraft war stärker als alles. Ich vermochte es sogar, meinen Vater dankbar anzulächeln, als er mir mitteilte, er habe „die schwere Aufgabe auf sich genommen, den Prinzen über den Ausgang der traurigen Angelegenheit in Kenntnis zu setzen.“

Als ich dann, wie immer, im Nebenzimmer den Tee bereitete, hörte ich, mit meinen fieberhaft geschärften Sinnen, Mama zu ihm sagen: „Ich kenne Alix genug, um keine [302] ernstliche Sorge zu haben. Wo wir bisher gewesen sind, – es gab immer irgend eine mehr oder weniger fatale Liebesgeschichte. In diesem Fall, wo ihre Eitelkeit mitspricht, sieht die Sache erheblicher aus.“ „Aber du sahst sie doch! – Eine solche Verzweiflung läßt das Äußerste fürchten!“ wandte mein Vater ein. „Vertraue mir, lieber Hans – du siehst sie immer wie in einem goldnen Spiegel! Ich habe, gottlob, meine sehr nüchternen und klaren Augen behalten,“ antwortete Mama, „wir haben jetzt nichts zu tun, als zu verhüten, daß sie sich und uns durch tragische Posen kompromittiert – alles andre überlasse ruhig der Zeit und –,“ fügte sie mit einem halben Lachen hinzu – „dem nächsten Mann!“

Was sie sagte, war mir nur willkommen, und ich benahm mich, ihren Worten entsprechend, während ich zu gleicher Zeit mit vollkommener Ruhe an die Ausführung eines Planes ging, der vom ersten Augenblick an, da ich von der Ablehnung der Tante erfahren hatte, für mich fest stand. Ich ließ mir zur Gutenacht die Stirn küssen und legte mich ruhig nieder; daß Mama noch einmal kommen und nach mir sehen würde, wußte ich, und wartete, bis sie zurück in ihr Schlafzimmer ging und jeder Ton im Hause erstorben war. Dann stand ich auf, zog mich sorgfältig an, packte das Nötigste in eine bereit stehende Handtasche und schlich mit angehaltenem Atem die Treppe hinunter. Die Haustür knarrte nicht einmal, als ich sie aufschloß. Es regnete in Strömen, kein Mensch war zu hören, noch zu sehen. Ich wartete in meinen Mantel gewickelt, bis ein fester Schritt mir entgegen klang, ein schleppender Säbel auf das Pflaster [303] taktmäßig aufschlug. So kam er jetzt jeden Abend, vom Fenster aus ein verabredetes Zeichen erwartend, in den dicht an unserem Hause liegenden Park. Er fuhr zurück, als er mich vor sich sah. Es bedurfte nicht vieler Worte zwischen uns. Aber was ich gleichgültig, mit einer ganz fremden ruhigen Stimme erzählte, das erschütterte ihn so, daß er sich schwer auf meine Schulter lehnen mußte. „Ich kann dich nicht lassen, Alix!“ stöhnte er immer wieder. „Das sollst du auch nicht, Hellmut!“ antwortete ich fest. „Da uns zum Ehebund der Goldsegen fehlt, schließen wir ihn unter dem Segen der Liebe.“ Mit weit geöffneten Augen sah er mich an. „Du wolltest –?“ klang es fragend, zögernd. „Deine Geliebte werden – ja. Selbstverständlich muß ich Schwerin sofort verlassen – – –“

„Alix, du fieberst – du weißt ja gar nicht, was du sagst, – das ist ja heller Wahnsinn!“ rief er. Ich fühlte plötzlich, wie die feuchte Kälte der Nacht von den Fußsohlen an langsam an mir emporkroch. „Ich bin nicht wahnsinnig, Liebster –“ sagte ich weich und drückte seine Hand zärtlich an meine Wange, „ganz im Gegenteil: ich will die wahnsinnige Weltordnung für mein Teil vernünftig machen! – Nun laß uns nicht länger hier stehen, Hellmut, wo jede Minute kostbar ist. Irgend eine kleine Station wird sich mit deinem Wagen doch noch erreichen lassen, wo ich den ersten Morgenzug erwarten kann –.“ Er trat einen Schritt zurück, – „Mach mich doch nicht zum Schurken – Alix“ – er packte mich am Arm und schüttelte mich, als wolle er mich aus einem Traum erwecken. Und wirklich – während der Regen mir ins Antlitz peitschte – und [304] die letzten Laternen erloschen, kam es mit grausamer Klarheit über mich. „Hellmut!“ rief ich noch einmal und breitete die Arme aus. Er stürzte auf mich zu, bedeckte mir Mund und Augen und Wangen und Hände mit wilden Küssen – und verschwand, wie von Furien gepeitscht, in der dunkeln Allee.

Minutenlang blieb ich wie angewurzelt stehen, dann strich ich mechanisch mit den Händen über den nassen Mantel. Ich mußte mich vergewissern, wer das eigentlich war, der hier draußen im Regen stand. Auch an die Stelle griff ich, wo mir das Herz noch eben wild geschlagen hatte. Es war wohl nicht mehr da – es war wohl tot – oder am Ende in den Schmutz gefallen. Ganz ängstlich sah ich in die schwarzen Pfützen zu meinen Füßen. Jetzt müßt ich eigentlich schlafen gehn – fuhr es mir durch den Kopf. – Gott, war das Täschchen schwer und der nasse Mantel. – Ob ich mich lieber auf die Bank dort setzen sollte?! – Nach ein paar Schritten stockte mein Fuß: nein, das ging nicht, ringsumher standen schrecklich viele Menschen und starrten mich an. Und dann rissen sie alle den Mund weit auf, und von allen Ecken dröhnte und kreischte es –

Oh, la marquise Pompadour –
Elle connait l’amour –
Et toutes ses tendresses –
La plus belle des maîtresses – –

Ich floh die Stufen empor, – riß die Türe auf und setzte mich erschöpft auf die Treppe. Aber sie krochen mir nach – auf Händen und Füßen – wie Würmer. Mit den letzten Kräften schlich ich in mein Zimmer. Und plötzlich kam mir zum Bewußtsein, daß ich – Alix [305] Kleve – hier in triefenden Kleidern auf dem Bette saß. Ein Grauen überfiel mich, als wäre ich mein eigenes Gespenst und schwebte im schwarzen grenzenlosen Weltraum. Die Sinne vergingen mir.

Acht Tage fast lag ich in völliger Apathie. Dann ging ich aus, und bald darauf ins Theater. Man gab „Hoffmanns Erzählungen“ – selbst bei der Barkarole klopfte mein Herz nicht. Es war mir offenbar abhanden gekommen. Nach weiteren acht Tagen tanzte ich wieder. Mama triumphierte.

« Neuntes Kapitel Memoiren einer Sozialistin Elftes Kapitel »
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).