Ob-Ost/Erste Sorgen

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Die Etappe Ob-Ost
von Fritz Hartmann
Feldgrau und Feldbau
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IV. Erste Sorgen
Hannover, den 4. November.

Ich rühmte neulich das deutsche Volksheer. Ich wiederhole: es ist nicht nur der Knüppel aus dem Sack, wenn es zu schlagen, sondern auch ein Tischlein deck Dich, wenn es einzurichten gilt. Ganz gleich, ob Unterstände oder Verwaltungen. Eine Umfrage und die nötigen Fachleute sind zur Stelle. Du wirst es aus Deinem Augenbereiche bestätigen können.

Mein Brief hat sich mit dem Deinigen vom Tage Allerheiligen gekreuzt. Auch er spielt mit einem leichten Scheinwerferblitz über diese Dinge. Er ist 10 m unter der Erde geschrieben. In einer Maulwurfshöhle, aus deren Deckung das feindliche Trommelfeuer wie eiserner Schlossensturm hagelt. Allein das erwähnst Du nur ganz beiläufig. Hauptsache ist Dir, zu erfahren, wie Ob. Ost arbeitet. Es genügt Dir nicht, daß die Mühle klappert. Du willst auch das Mehl sehen, das sie liefert. Willst es in den Fingern zerreiben, ob es fein ist.

[28] Meine Vorstellung malt Dich mir, als Du diese Worte schriebest, in Deiner granatenumwetterten Höllenbolge. Es kommt dabei so etwas wie ein feldgrauer Archimedes mit Hauptmannsachselstücken heraus. Möge der feindliche Kriegsknecht Dir fernbleiben, der jenem die Zirkel störte! Aber durch kommen sie ja nicht. – –

Das Verwaltungsprogramm für Ob. Ost ist von Ludendorff verfaßt. Mit bündiger Klarheit reihen sich die Leitsätze aneinander. Endzweck: „Die Herstellung und Erhaltung geordneter politischer und wirtschaftlicher Zustände im besetzten Gebiete.“ Richtschnur: „In altpreußischer Pflichttreue und Sparsamkeit mit Wenigem viel erreichen.“

Schlichtes Wort hat hier eine ungeheure Aufgabe gesetzt. Ziel erkannt, Kräfte gespannt!

Die Bezirke wurden abgeteilt, die Obliegenheiten umgrenzt, die Kreisspitzen berufen. „Hier Ihr Gebiet; verwalten Sie es“. Einer der Herren erzählte, Hindenburg habe ihm noch zugefügt: „Nun aber nicht gleich drauflosregiert, sondern erst die Verhältnisse gründlich geprüft.“

In aller Hast organisierte nun jeder seinen Beamtenkörper. Sie waren noch nicht einmal in der glücklichen Lage Batockis, der wenigstens [29] sein Tippfräulein mitbringen konnte. Die Klubsessel fehlten erst recht und sind heute noch nicht da. Ich habe sie wenigstens nur in der Villa gesehen, die früher Hindenburg bewohnte, dem Privathause eines jetzt verschleppten deutschen Fabrikanten.

Binnen Wochenfrist war die Kriegsgliederung der neuen Betriebe auf dem Papiere fertig; die Berufenen hatten sich gemeldet. Aber es wurde ein Geduldspiel. Immer wieder mußte geändert, verschoben, anders verpaßt werden. Denn kaum hatten sich die Leiter ihre Bereiche angeschaut, und schon waren diese wieder durch neue Waffenerfolge verdoppelt, ja verdreifacht.

Als am 1. November 1755 jenes schreckliche Erdbeben 30000 Lissaboner unter den Trümmern der Stadt begraben, trat Minister Pombal zu seinem König Josef Emanuel ins Gemach. „Was tun“, rief der gekrönte Schwächling, „um diesem Strafgericht des Himmels zu begegnen?“ Eiskalt antwortete der starkgeistige Vernunftmensch: „Die Toten begraben und für die Lebenden sorgen“. Ganz das Nämliche mußte sich auch die Staffelverwaltung Ob. Ost sagen. Laß mich auf Wilna verweisen: die größte der bereisten Städte. Sie [30] zählte vor Kriegsausbruch eine runde Viertelmillion Einwohner. Davon waren die Russen entflohen, und alles, was Schmutz am Stiefel oder das Herz in regelwidriger Tieflage hatte. Viele waren auch wie Schafherden mit der Kosakenpeitsche fortgetrieben worden. Dafür hatte sich jedoch einhalbhunderttausend Flüchtlinge von anderswoher eingestellt. Lumpenhösler ohne eine Kopeke in der Tasche. Sie alle mußten unter ein Regendach und täglich mit einem warmen Topf in sättigendes Gegenüber gebracht werden. Dazu das vielköpfige Bettler- und Lungertum der Stadt. Vorhandene Nahrungsbestände hatte die russische Besatzung verbraucht, verquast, zuletzt gewissenlos vernichtet. Überall hohläugiger Hunger und völlige Auflösung.

Zunächst einmal taten sich unsere Heeresmagazine aushelfend auf. Später erstand ein Orts-Batocki in der Person des Oberbürgermeisters von Memel. Die unzulänglichen Schlachthöfe wurden erweitert und namentlich gesäubert. Gendarmen haben die Fleischbeschau übernommen. Städtische Backhäuser sind errichtet. Binnen zwei Monaten war die Brotkarte eingeführt, der [31] Milch- und Fettverbrauch geregelt. Frühe Kälte erschwerte die Kartoffelversorgung, es konnten aber Fische und Haushaltswaren beschafft werden. Alle Lebensmittelläden stehen unter scharfer Sauberkeitsaufsicht, was den Inhabern wie ein Eingriff in ehrwürdige Herkömmlichkeit erscheint.

Schwierigkeiten traten ein, woran selbst der Weitsichtige kaum gedacht. So mußte den unterschiedlichen Fast- und Feiertagen der katholischen wie der jüdischen Volksteile Rechnung getragen werden.

Grundsatz war, für die Armen zu sorgen, aber die Bemittelten sich möglichst selbst zu überlassen. Noch heute werden alle Woche 20 000 Brotkarten unentgeltlich verteilt. Namentlich an die Flüchtlinge, die Familien russischer Reservisten und Staatspensionäre. Das kostet monatlich 60 000 Mark, wozu noch 40 000 Mark für bare Beihilfen kommen. Ferner wurden Volksküchen errichtet und Kinderheime, die von 9000—10 000 Spielschülern beschickt werden. Ein volles Einwohnerdrittel soll unterstützungsbedürftig sein. Allerdings fällt ein Teil auf die private Nächstenhilfe der Religionsgesellschaften.

Immerhin mußte man auf die Minderung [32] der Armenlast hinwirken. Dies geschah durch Arbeitsvermittlung. Ein völklich wie religiös gemischter Nachweis wurde eingerichtet. Dieser veranlaßte die Beschäftigung müßiger Hände am Orte, zum Teil durch Notstandsarbeiten.

Eine der bemerkenswertesten Profanbauten Wilnas ist Palais Pac. Alexander I. hat darin gewohnt. Napoleon wurde darin gehuldigt, Adam Mickiewicz, Polens großer Nationaldichter, ist dort mit den anderen „Philareten“ ein- und ausgegangen. Voriges Jahr hatte sich in den erinnerungsreichen Räumen der russische Generalstab breitgemacht. Nun sind in ihnen Arbeitsstuben eingerichtet. Getrennt voneinander beschäftigen sich die Volksstämme der Stadt: Polen, Weißruthenen, Juden und Litauer. Was sie vor dem Auge des Besuchers erzeugen, ist zum Verkaufe ausgestellt, und wir säumten nicht, uns mit Andenken zu versehen. Denn Klöppelei und Stickerei, Flecht- und Webekunst, das Töpfer- und Schnitzerwesen sind von sauberer Hand und fremder Urtümlichkeit. Es ist ein völkerkundlich lehrreicher Gang. Denn die Litauerinnen an ihren Websetühlen werden nicht müde, sich ihre Arbeit durch Volkslieder bald neckischer, bald [33] schwermütiger Art – die berühmten Dainos, von denen schon Herder so viel hielt – zu würzen. Das klang ganz eigen.

Als wir einrückten, herrschten Seuchen und Volkskrankheiten, Cholera, Ruhr, Fleckfieber. Wie dagegen ankommen? Kein Meldewesen vorhanden; die Russen hatten vielmehr grundsätzlich verheimlicht. Wilna hatte früher 200 Ärzte. Davon waren aber nur noch 50 da. Auch diese dürftig vorgebildet und ohne Verständnis für Hygiene.

Unser Militärsanitätswesen griff rüstig durch. Kreisärzte wurden eingesetzt; Krankenschwestern und Entseucher in laufenden Kursen ausgebildet. Wir fanden in Litauen zwei Krankenhäuser vor; heute sind es 21. Ungerechnet die Anstalten für Sondersieche, wie die sehr nötigen Dirnenheime.

Großzügig setzte die Schutzimpfung ein. Sind doch allein 410000 Gaben Pockenlymphe verbraucht worden. Dem Fleckfieber geht man namentlich durch die Entlausungsanstalten zu Leibe. Als Ansteckungsträger sind nämlich die auch sonst völlig tugendlosen Pediculidae einwandfrei entlarvt. Die Familien ganzer Stadtviertel stehen unter vierwöchentlicher Zwangsentlausung.

[34] Als Folge dieser Tatkraft sanken die Seuchenkurven schnell. Die Cholera war im November 1915 bereits ganz erloschen. Allen passiven Widerständen der Trägheit und Einsichtslosigkeit zum siegreichen Trotz ist binnen Jahresfrist die monatliche Sterblichkeit von 721 auf 294 herabgedrückt worden.

Aber das Übel wird auch noch tiefer an der Wurzel gefaßt. Kanalisation war in Wilna nur für Regenwasser vorhanden. Aborte fehlten hier ganz, dort waren sie verschweint. Alle Abfallstoffe flössen durch die Rinnsteine nach der Wilja oder Wileika ab. Heute ist der größte Teil der Wohnungen an das Kanalsystem angegliedert. Den ganzen Winter über hatten 500–600 Mann an diesem Werke geschaffen.

Bialystok liegt an der Biala. Dieser Name bedeutet „die weiße“. Ihm machte jedoch ein übelriechendes Jauchengerinne höhnende Unehre, Kleine Ursachen haben aber nicht nur große Wirkungen, sondern umgekehrt große Ursachen auch kleine. Die Stadt fiel in deutsche Hand und – am Freitag, den 20. Oktober 1916, konnte ich die Kiesel zählen im Sandbette des freundlichen Flüßchens. Wilnas Wasserversorgung war [35] hundeelend. Die Rohre so verbraucht, daß, als die neue Verwaltung den Betrieb auf deutschen Durchschnittsdruck brachte, tagtäglich Leitungsbrüche eintraten. Die Brunnen waren verfallen, durchlässig und unbekümmert neben Jauchegruben. Heute sind sie sämtlich gedichtet und gereinigt; neue hergestellt.

In Grodno haben sich die Russen einfach mit filtriertem Memelwasser beholfen. Artesische Brunnen zu bohren, ist ihnen nicht eingefallen. Unseren Leuten fiel es sofort ein. Schon sind ihrer vier fertig: unmittelbar bei der alten Leitung. Sie liefern einwandfreies wohlschmeckendes Wasser aus nur 30 m Tiefe. Der eine strebt sogar in unerwartetem Ehrgeiz durch starken Eisengehalt nach dem vornehmeren Range eines Gesundbrunnens. Er könnte Nauheim Konkurrenz machen, wo die russischen Generale ihre strapazierten Herzen sonst zu stärken pflegten, wenn Grodno wieder russisch würde. Allerdings: wenn!

Wilna war bei unserem Einmarsch eine fast lichtlose Stadt. Nur ein kleines Gaswerk hatte bestanden, das nicht mehr als tausend Abnehmer hatte. Trotzdem aber eine Merkwürdigkeit insofern, als es als einziges in [36] Europa Holzgas erzeugte. Dies ist Heller als das der Kohle und geruchloser, gerade darum jedoch gefährlicher. Man merkt die Vergiftung nicht.

Sein einer Gasometer war von den Russen gesprengt und außerdem noch mit methodischer Gründlichkeit zerstört. Jede einzelne Wandplatte wies das talergroße Loch eines hindurchgestoßenen Stemmeisens auf. Zwangvolle Plage, Mühe ohne Zweck! Längst arbeitet das Werk wieder und ergiebiger als zuvor. Ebenso die elektrische Stromquelle.

Nur nebenbei erwähnt als deutsches Unterscheidungsmerkmal: auch eine Kesselrevisionsstelle ist bereits gegründet. Sie überwacht alle Anlagen Litauens. So arbeiten die deutschen Barbaren!