Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil/Kapitel V

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Kapitel V
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aus: Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil
Seite: 274–293
von: Ernst Cassirer
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KAPITEL V
DIE SPRACHE UND DER AUSDRUCK DER REINEN BEZIEHUNGSFORMEN. – DIE URTEILSSPHÄRE UND DIE RELATIONSBEGRIFFE

Von der Sphäre der sinnlichen Empfindung zu der der Anschauung, von der Anschauung zum begrifflichen Denken und von diesem wieder zum logischen Urteil führt für die erkenntniskritische Betrachtung ein stetiger Weg. Die Erkenntniskritik ist sich, indem sie diesen Weg durchmißt, bewußt, daß die einzelnen Phasen desselben, so scharf sie in der Reflexion voneinander geschieden werden müssen, doch niemals als voneinander unabhängige, losgelöst existierende Gegebenheiten des Bewußtseins anzusehen sind. Vielmehr schließt hier nicht nur jedes komplexere Moment das einfachere, nicht nur jedes „spätere“ Moment das „frühere“ ein – sondern umgekehrt ist auch jenes in diesem vorbereitet und angelegt. Alle Bestandteile, die den Begriff der Erkenntnis konstituieren, sind wechselseitig aufeinander und auf das gemeinsame Ziel der Erkenntnis, auf den „Gegenstand“ bezogen: die genauere Analyse vermag daher in jedem einzelnen von ihnen schon den Hinweis auf alle übrigen zu entdecken. Die Funktion der einfachen Empfindung und Wahrnehmung „verbindet“ sich hier nicht nur mit den intellektuellen Grundfunktionen des Begreifens, des Urteilens und Schließens, sondern sie ist selbst schon eine solche Grundfunktion – sie enthält implizit, was dort in bewußter Formung und in selbständiger Gestaltung heraustritt. Es ist zu erwarten, daß auch in der Sprache sich dieselbe unlösliche Korrelation der geistigen Mittel, mit denen sie ihre Welt aufbaut, bewähren wird, daß auch hier jedes ihrer besonderen Motive schon die Allgemeinheit ihrer Form und das spezifische Ganze dieser Form in sich schließen wird. Und dies bewährt sich in der Tat darin, daß nicht das einfache Wort, sondern erst der Satz das eigentliche und ursprüngliche Element aller Sprachbildung ist. Auch diese Erkenntnis gehört zu den fundamentalen Einsichten, die [275] Humboldt ein für allemal für die philosophische Betrachtung der Sprache festgestellt hat. „Man kann sich unmöglich“ – so betont er – „die Entstehung der Sprache als von der Bezeichnung der Gegenstände durch Wörter beginnend und von da zur Zusammenfügung übergehend denken. In der Wirklichkeit wird die Rede nicht aus ihr vorangegangenen Wörtern zusammengesetzt, sondern die Wörter gehen umgekehrt aus dem Ganzen der Rede hervor[1].“ Die Folgerung, die Humboldt hier aus einem spekulativen Grundbegriff seines sprachphilosophischen Systems – aus dem Begriff der „Synthesis“ als Ursprung alles Denkens und Sprechens – gewinnt[2], ist sodann durch die empirisch-psychologische Analyse in allen Teilen bestätigt worden. Auch sie betrachtet den „Primat des Satzes vor dem Wort“ als eines ihrer wichtigsten und sichersten Ergebnisse[3]. Zu dem gleichen Resultat führt die Sprachgeschichte, die überall zu lehren scheint, daß sich die Heraussonderung des Einzelwortes aus dem Satzganzen und die Abgrenzung der einzelnen Redeteile gegeneinander nur ganz allmählich vollzogen hat und daß sie frühen und primitiven Sprachgestaltungen noch so gut wie völlig fehlt[4]. Die Sprache beweist sich auch hierin als ein Organismus, in welchem, gemäß der bekannten Aristotelischen Definition, das Ganze früher als die Teile ist. Sie beginnt mit einem komplexen Gesamtausdruck, der sich erst nach und nach in Elemente, in relativ selbständige Untereinheiten zerlegt. So tritt sie uns, so weit wir sie auch zurückverfolgen mögen, immer schon als geformte Einheit entgegen. Keine ihrer Äußerungen kann als ein bloßes Beisammen einzelner materialer Bedeutungslaute verstanden werden, sondern in jeder treffen wir zugleich [276] Bestimmungen, die rein dem Ausdruck der Beziehung zwischen den Einzelelementen dienen und diese Beziehung selbst in mannigfacher Weise gliedern und abstufen.

Diese Erwartung scheint freilich nicht erfüllt zu werden, wenn man die Struktur der sogen. „isolierenden Sprachen“ ins Auge faßt, in denen man in der Tat oft den unmittelbaren Beweis für die Möglichkeit und die Wirklichkeit schlechthin „formloser“ Sprachen erbracht sah. Denn hier scheint sich das eben angenommene Verhältnis zwischen Satz und Wort nicht nur nicht zu bestätigen, sondern unmittelbar in sein Gegenteil zu verkehren. Das Wort scheint jene Selbständigkeit, jene echte „Substantialität“ zu besitzen, kraft deren es in sich selbst „ist“ und aus sich allein begriffen werden muß. Die einzelnen Wörter stehen im Satze als materiale Bedeutungsträger einfach nebeneinander, ohne daß ihre grammatische Beziehung zu irgendeiner gesonderten expliziten Heraushebung gelangt. Im Chinesischen, das den Hauptbeleg für den Typus der isolierenden Sprachen bildet, kann ein und dasselbe Wort bald als Substantivum, bald als Adjektivum, bald als Adverbium, bald als Verbum gebraucht werden, ohne daß diese Verschiedenheit der grammatischen Kategorie an ihm selbst in irgendeiner Weise kenntlich wäre. Auch die Tatsache, daß ein Substantivum in diesem oder jenem Numerus oder Kasus, ein Verbum in diesem oder jenem Genus, Tempus oder Modus gebraucht wird, drückt sich in der Lautgestalt des Wortes in keiner Weise aus. Die Sprachphilosophie hat lange Zeit geglaubt, vermöge dieser Gestaltung des Chinesischen einen Blick in jene Urperiode der Sprachbildung tun zu können, in der alle menschliche Rede noch in der Aneinanderreihung einfacher und einsilbiger „Wurzeln“ bestand: ein Glaube, der dann freilich durch die historische Forschung schon dadurch mehr und mehr zerstört wurde, daß sie zeigte, daß die strenge Isolierung, wie sie heute im Chinesischen herrscht, kein schlechthin ursprünglicher Bestand, sondern erst ein vermitteltes und abgeleitetes Ergebnis ist. Die Annahme, daß die Wörter des Chinesischen nie einen Wandel erfahren hätten, und daß die Sprache niemals irgend eine Art von Wort- oder Formbildung besessen habe, wird – wie G. v. d. Gabelentz betont – unhaltbar, sobald man das Chinesische den nächstverwandten Sprachen vergleicht und es im Gesamtkreis dieser letzteren betrachtet. Hier trete sogleich hervor, daß es noch mannigfache Spuren älterer agglutinierender, ja auch echt flexivischer Bildung an sich trage. In dieser Hinsicht glaubt man heute vielfach die Entwicklung des Chinesischen mit der des modernen Englisch vergleichen zu können, in dem sich gleichfalls der Übergang [277] von einem Zustand der Flexion zu einem Stadium relativer Flexionslosigkeit vor unseren Augen zu vollziehen scheint[5]. Noch bedeutsamer aber als solche geschichtliche Übergänge ist der Umstand, daß auch dort, wo die reine Isolierung sich endgültig durchgesetzt hat, dies keineswegs den Fortgang zur „Formlosigkeit“ schlechthin besagt, sondern daß sich gerade hier, in einem scheinbar widerstrebenden Material, die Gewalt der Form noch aufs deutlichste und kräftigste ausprägen kann. Denn die Isolierung der Worte gegeneinander hebt den Gehalt und den ideellen Sinn der Satzform keineswegs auf – sofern die verschiedenen logisch-grammatischen Verhältnisse der Einzelworte, auch ohne daß besondere Laute zu ihrem Ausdruck verwendet werden, in der Wortstellung aufs prägnanteste bezeichnet werden. Man könnte in diesem Mittel der Wortstellung, das das Chinesische zu höchster Konsequenz und Schärfe entwickelt hat, rein logisch betrachtet, sogar das eigentlich adäquate Mittel des Ausdrucks grammatischer Verhältnisse sehen. Denn eben als Verhältnisse, die selbst sozusagen kein eigenes Vorstellungssubstrat mehr besitzen, sondern in reinen Beziehungen aufgehen, scheinen sie bestimmter und deutlicher, als durch eigene Wort- und Lautfügungen, durch die bloße Relation derselben, die sich in der Stellung ausdrückt, bezeichnet werden zu können. In diesem Sinne hat schon Humboldt, dem im übrigen die Flexionssprachen als die Ausprägung der vollendeten, der „rein gesetzmäßigen Form“ der Sprache galten, vom Chinesischen gesagt, daß sein wesentlicher Vorzug eben in der Folgerichtigkeit bestehe, mit der hier das Prinzip der Flexionslosigkeit durchgeführt werde. Gerade die scheinbare Abwesenheit aller Grammatik habe hier die Schärfe des Sinnes, den formalen Zusammenhang der Rede zu erkennen, im Geiste der Nation erhöht – je weniger äußere Grammatik die chinesische Sprache besitze, um so mehr innere wohne ihr bei[6]. Die Strenge des Baus geht hier in der Tat so weit, daß man von der chinesischen Syntax gesagt hat, daß sie in allen wesentlichen Stücken nichts anderes, als die logisch folgerichtige Entwicklung einiger weniger Grundgesetze sei, aus denen man, rein auf dem Wege der logischen Deduktion, alle besonderen Anwendungen ableiten könne[7]. Stellt man dieser Feinheit der Gliederung andere isolierende Sprachen von primitiver Prägung gegenüber – wie z. B. unter den Negersprachen das Ewe das Beispiel einer rein isolierenden [278] Sprache darbietet[8] – so wird alsbald fühlbar, wie innerhalb ein und desselben „Sprachtypus“ die mannigfachsten Abstufungen und die weitesten Gegensätze der Formbildung möglich sind. Schleichers Versuch, das Wesen der Sprache nach dem Verhältnis zu bestimmen, in welchem in ihr Bedeutung und Beziehung zu einander stehen und danach eine einfach fortschreitende dialektische Reihe zu konstruieren, in der sich die isolierenden, die agglutinierenden und die flektierenden Sprachen wie Thesis, Antithesis und Synthesis zu einander verhalten sollten[9], litt daher unter anderem auch daran, daß hier das eigentliche Einteilungsprinzip verschoben wurde, sofern die sehr verschiedenartige Gestaltung, die das Verhältnis von ‚Beziehung‘ und ‚Bedeutung‘ innerhalb desselben Typus annehmen kann, keine Berücksichtigung fand. Im übrigen ist auch die starre Abgrenzung des flektierenden und des agglutinierenden Typus der empirisch-historischen Forschung mehr und mehr unter den Händen zerronnen[10]. In alledem bestätigt sich auch für die Sprache jenes Verhältnis des „Wesens“ zur „Form“, das sich in dem alten scholastischen Satze: forma dat esse rei ausspricht. Wie es der Erkenntniskritik nicht gelingt, den Stoff der Erkenntnis von ihrer Form derart abzuscheiden, daß beide als selbständige Inhalte erscheinen, die sich nur äußerlich miteinander verbinden, sondern wie hier beide Momente immer nur in Beziehung aufeinander gedacht und definiert werden können, so ist auch im Sprachlichen der bloße und nackte Stoff nichts als eine Abstraktion – als ein Grenzbegriff der Methode, dem keine unmittelbare „Wirklichkeit“, kein realer und faktischer Bestand entspricht.

Selbst in den flektierenden Sprachen, die den Gegensatz des stofflichen Bedeutungs- und des formalen Beziehungsausdrucks am schärfsten ausprägen, zeigt sich, daß das Gleichgewicht, das hier zwischen den beiden verschiedenen Ausdrucksmomenten erreicht wird, ein gewissermaßen labiles Gleichgewicht ist. Denn so klar sich hier im allgemeinen die kategorialen Begriffe von den Stoff- und Sachbegriffen abheben, so findet doch andererseits zwischen beiden Gebieten insofern ein ständiger Übergang statt, als es eben die Sachbegriffe selbst sind, die der Darstellung der Beziehungen als Unterlage dienen. Am deutlichsten tritt dieser Sachverhalt hervor, wenn man die Suffixe, die in den flektierenden Sprachen zum Ausdruck der Qualität und Eigenschaft, der Art und Beschaffenheit [279] u. s. f. gebraucht werden, auf ihren etymologischen Ursprung zurückverfolgt. Bei einer großen Anzahl dieser Suffixe wird die materiale Bedeutung, der sie entstammen, durch die sprachgeschichtliche Betrachtung unmittelbar aufgewiesen und sichergestellt. Immer zeigt sich hier als Grundlage ein konkreter, ein sinnlich-gegenständlicher Ausdruck, der aber diesen anfänglichen Charakter mehr und mehr abstreift und sich zu einem allgemeinen Verhältnisausdruck umgestaltet[11]. Erst durch diese Verwendung der Suffixe wird für die sprachliche Bezeichnung der reinen Relationsbegriffe der Boden bereitet. Was zunächst als spezielle Dingbezeichnung diente, das geht jetzt in den Ausdruck einer kategorialen Bestimmungsform, z. B. in den Ausdruck des Eigenschaftsbegriffs schlechthin, über[12]. Aber wenn dieser Übergang, psychologisch gesehen, [280] sozusagen ein negatives Vorzeichen trägt, so drückt sich doch eben in dieser Negation selbst ein eminent positiver Akt der Sprachbildung aus. Es könnte auf den ersten Blick freilich scheinen, als ob die Entwicklung der Suffixe wesentlich darauf beruhte, daß die substantielle Grundbedeutung des Wortes, von dem sie sich herleiten, mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt und schließlich ganz vergessen wird. Dieses Vergessen geht oft so weit, daß neue Suffixbildungen entstehen können, die ihren Ursprung keinerlei konkreter Anschauung mehr, sondern gleichsam einem mißleiteten Trieb der sprachlichen Form- und Analogiebildung verdanken. So geht bekanntlich im Deutschen die Bildung des Suffixes -keit auf ein derartiges sprachliches „Mißverständnis“ zurück: indem in Bildungen wie êwic-heit das auslautende c des Wortstammes mit dem anlautenden h des Suffixes verschmolz, entstand auf diesem Wege ein neues Suffix, das sich durch Analogiewirkungen immer weiter verbreitete[13]. Aber auch in solchen Prozessen, die man, rein formell und grammatisch, als „Entgleisungen“ des Sprachsinnes anzusehen pflegt, liegt kein bloßer Irrweg der Sprache vor, sondern es stellt sich darin vielmehr die Erhebung zu einer neuen Formansicht, der Übergang vom substantialen Ausdruck zum reinen Beziehungsausdruck, dar. Die psychologische Verdunklung des ersteren wird zum logischen Mittel und zum Vehikel für die fortschreitende Ausbildung, die der letztere gewinnt.

Freilich darf man, um sich diesen Fortgang zum Bewußtsein zu bringen, nicht bei den einfachen Phänomenen der Wortbildung stehen bleiben. Seine Grundrichtung und sein Gesetz kann vielmehr erst an den Verhältnissen der Satzbildung erfaßt werden – denn wenn der Satz als Ganzes der eigentliche Träger des sprachlichen „Sinnes“ ist, so werden auch an ihm erst die logischen Nuancierungen dieses Sinnes deutlich hervortreten können. Jeder Satz, auch der sogen. eingliedrige, stellt schon in seiner Form wenigstens die Möglichkeit einer inneren Gliederung dar und enthält die Forderung einer solchen Gliederung. Aber diese kann sich nun in sehr verschiedenen Graden und Stufen vollziehen. Bald kann die Kraft zur Synthese die der Analyse überwiegen – bald kann umgekehrt die analytische Kraft der Sonderung zu einer relativ hohen Ausbildung gelangt sein, ohne daß ihr eine gleich starke Kraft zur Zusammenfassung entspricht. In der dynamischen Wechselwirkung und in dem Wettstreit [281] beider Kräfte entsteht das, was man die „Form“ jeder bestimmten Sprache nennt. Betrachtet man etwa die Form der sogen. „polysynthetischen“ Sprachen, so scheint hier der Trieb zur Verknüpfung bei weitem vorzuherrschen – ein Trieb, der sich vor allem in dem Bestreben ausdrückt, die funktionale Einheit des sprachlichen Sinnes auch material und äußerlich in einer zwar sehr komplexen, aber in sich geschlossenen Lautfügung darzustellen. Das Ganze des Sinnes wird in ein einziges Satz-Wort zusammengedrängt, in dem es nun gleichsam eingekapselt und wie von einer festen Schale umschlossen erscheint. Aber eben diese Einheit des Sprachausdrucks ist insofern noch nicht echte gedankliche Einheit, als sie nur auf Kosten der logischen Allgemeinheit eben dieses Ausdrucks gewonnen werden kann. Je mehr modifizierende Bestimmungen das Satzwort durch Einverleibung von ganzen Worten oder von einzelnen Partikeln in sich aufnimmt, um so mehr dient es der Bezeichnung einer besonderen konkreten Situation, die es in all ihren Einzelheiten auszuschöpfen sucht, die es aber mit anderen gleichartigen nicht zu einem umfassenden generellen Zusammenhang verknüpft[14]. Demgegenüber stellt sich z. B. in den flektierenden Sprachen ein ganz anderes Verhältnis der beiden Grundkräfte der Analysis und Synthesis, der Sonderung und Vereinigung dar. Hier enthält schon die Worteinheit selbst gleichsam eine innere Spannung und die Ausgleichung und Überwindung derselben. Das Wort baut sich aus zwei deutlich getrennten, zugleich aber unlöslich miteinander verknüpften und auf einander bezogenen Momenten auf. Einem Bestandteil, der rein der objektiven Bezeichnung des Begriffs dient, steht hier ein anderer gegenüber, der lediglich die Funktion erfüllt, das Wort in eine bestimmte Kategorie des Denkens zu versetzen, es als „Substantivum“, „Adjektivum“ oder „Verbum“ oder als „Subjekt“ oder näheres oder entfernteres Objekt zu kennzeichnen. Jetzt tritt der Beziehungsindex, kraft dessen das einzelne Wort mit der Gesamtheit des Satzes verknüpft wird, nicht mehr äußerlich an das Wort heran, sondern er verschmilzt mit ihm und wird zu einem seiner konstitutiven Elemente[15]. Die Differentiation [282] zum Wort und die Integration zum Satz bilden korrelative Methoden, die sich zu einer einzigen streng einheitlichen Leistung zusammenschließen. Humboldt und die ältere Sprachphilosophie haben in diesem Sachverhalt den Beweis dafür gesehen, daß die echten Flexionssprachen den Gipfel der Sprachbildung überhaupt darstellen und daß sich in ihnen, und nur in ihnen, die „rein gesetzmäßige Form“ der Sprache in idealer Vollkommenheit auspräge. Aber auch wenn man sich gegen die Aufstellung derartiger absoluter Wertmaßstäbe zurückhaltender und skeptischer verhält, so ist doch unverkennbar, daß für die Ausbildung des rein beziehentlichen Denkens in den Flexionssprachen in der Tat ein außerordentlich wichtiges und wirksames Organ geschaffen ist. Je mehr dieses Denken fortschreitet, um so bestimmter muß es auch die Gliederung der Rede nach sich gestalten, – wie andererseits eben diese Gliederung selbst wieder auf die Form des Denkens entscheidend zurückwirkt. –

Und der gleiche Fortschritt zur immer schärferen Gliederung, der gleiche Fortgang von der Einheit eines bloßen Aggregats zur Einheit einer systematischen „Form“ zeigt sich, wenn man statt des Verhältnisses des Wortes zum Satz die sprachliche Verknüpfung der Einzelsätze selbst ins Auge faßt. In den ersten Etappen der Sprachbildung, zu denen wir psychologisch zurückgehen können, bildet die einfache Parataxe die Grundregel für den Bau des Satzes. Die Kindersprache zeigt sich durchgehend von diesem Prinzip beherrscht[16]. Ein Satzglied reiht sich an das andere in bloßer Nebenordnung, und auch wo mehrere Sätze zusammentreten, weisen sie nur eine lockere, meist asyndetische Verbindung auf. Die einzelnen Sätze können, wie an einer Schnur aufgereiht, einander folgen, aber sie sind noch nicht innerlich miteinander verkettet und ineinander „gefügt“, sofern zunächst keinerlei sprachliches Mittel besteht, um ihre Über- und Unterordnung in scharfer Differenzierung zu bezeichnen. Wenn daher die griechischen Grammatiker und Rhetoren das Kennzeichen des Stils der Rede in der Entwicklung der Periode sahen, in welcher die Sätze nicht in unbestimmter Folge nacheinander hinlaufen, sondern in der sie sich gleich Steinen eines Gewölbes gegenseitig tragen und stützen[17], so ist dieser [283] „Stil“ der Sprache erst ihr letztes und höchstes Produkt. Er fehlt nicht nur den Sprachen der Naturvölker[18], sondern scheint auch in den höchst entwickelten Kultursprachen nur ganz allmählich gewonnen zu werden. Auch hier muß sehr häufig ein komplexes gedankliches Verhältnis kausaler oder teleologischer Art – ein Verhältnis von Grund und Folge, von Bedingung und Bedingtem, von Zweck und Mittel u. s. f. – durch einfache Koordination wiedergegeben werden. Oft dient eine absolute Satzfügung, vergleichbar dem lateinischen Ablativus absolutus oder dem griechischen Genetivus absolutus, dazu, solche komplexen Beziehungen des „indem“ und „nachdem“, des „weil“ und „daher“, des „obgleich“ und „damit“ anzudeuten. Die einzelnen Gedanken, die die Rede konstituieren, liegen hier sprachlich gleichsam noch in einer Ebene: es gibt noch keine perspektivische Unterscheidung zwischen Vorder- und Hintergrund in der Rede selbst[19]. Die Sprache beweist die Kraft der Unterscheidung und Gliederung [284] im „Beisammen“ der Teile des Satzes; aber sie gelangt nicht dazu, dieses rein statische Verhältnis auf ein dynamisches, auf ein Verhältnis der wechselseitigen gedanklichen Abhängigkeit zurückzuführen und es als solches zur expliziten Darstellung zu bringen. Statt der Schichtung und der genauen Abstufung in Nebensätze dient etwa eine einzige Gerundialkonstruktion dazu, eine Fülle der verschiedenartigsten Bestimmungen und Modifikationen der Handlung ohne das allgemeine Gesetz der Beiordnung zu verlassen, mit einander zusammenschließen und sie in einem festen, aber auch eigentümlich starren Gefüge zu umfassen[20].

Ihren negativen, aber nicht minder charakteristischen Ausdruck findet die Gedanken- und Sprachform, die sich hierin ausprägt, in dem Fehlen derjenigen Wortklasse, die – wie schon die Bezeichnung besagt, die die Grammatiker für sie geschaffen haben – als eines der Grundmittel des beziehentlichen Denkens und des sprachlichen Beziehungsausdrucks anzusehen ist. Das Pronomen relativum scheint in der Entwicklung der Sprache überall eine späte, und wenn man die Gesamtheit der Sprachen überblickt, eine verhältnismäßig seltene Bildung darzustellen. Bevor die Sprache zu dieser Bildung fortgeschritten ist, müssen die Verhältnisse, die wir durch Relativsätze zum Ausdruck bringen, durch mehr oder minder komplexe Satzfügungen ersetzt und umschrieben werden. Verschiedene Methoden dieser Umschreibung hat Humboldt am Beispiel der amerikanischen Eingeborenensprachen, insbesondere am Beispiel des Peruanischen und Mexikanischen, erläutert[21]. Auch die melanesischen Sprachen lassen an Stelle der Unterordnung durch Relativsätze und relative [285] Pronomina eine einfache Nebenordnung von Bestimmungen treten[22]. Was das Ural-Altaische betrifft, so betont H. Winkler, daß es gemäß seinem Grundcharakter, der selbständige Nebeneinheiten nicht duldet, in all seinen Zweigen relativartige satzbindende Konjunktionen ursprünglich überhaupt nicht oder nur in schwachen Ansätzen kenne – wo später solche Konjunktionen gebraucht würden, da gingen sie regelmäßig, wenn nicht immer, auf reine Interrogativa zurück. Insbesondere die westliche Gruppe des Ural-Altaischen, die Gruppe der finnisch-ugrischen Sprachen, ist zu dieser Entwicklung der relativen Pronomina aus dem Interrogativum fortgeschritten, bei der jedoch vielfach indogermanische Einflüsse als mitwirkend angesehen werden[23]. In anderen Sprachen wieder werden zwar durch besondere Partikel selbständige Relativsätze gebildet, dabei werden sie aber so gänzlich als substantivische Nomina empfunden, daß ihnen der bestimmte Artikel vorangestellt wird, oder daß sie als Subjekt oder Objekt eines Satzes, als Genitiv, nach einer Präposition u. s. f. gebraucht werden können[24]. In all diesen Erscheinungen scheint deutlich hervorzutreten, wie die Sprache die reine Kategorie der Relation gleichsam nur zögernd ergreift und wie sie ihr nur auf dem Umweg über andere Kategorien, insbesondere über die der Substanz und der Eigenschaft[25], gedanklich faßbar wird. Und dies gilt selbst für diejenigen Sprachen, die in ihrer Gesamtstruktur den eigentlichen „Stil“ der Rede, die Kunst der hypotaktischen Gliederung schließlich bis zur höchsten Feinheit durchgebildet haben. Auch die indogermanischen Sprachen, von denen man gesagt hat, daß sie, dank ihrer erstaunlichen Fähigkeit zur Differenzierung des Beziehungsausdrucks, die eigentlichen Sprachen des philosophischen Idealismus seien, haben diese Fähigkeit nur allmählich und schrittweise erlangt[26]. Auch in ihnen zeigt z. B. ein Vergleich zwischen [286] dem Bau des Griechischen und dem des Sanskrit, wie die einzelnen Glieder dieser Gruppe in Hinsicht auf die Kraft und Freiheit des beziehentlichen Denkens und des rein beziehentlichen Ausdrucks, auf ganz verschiedenen Stufen stehen. In der Urzeit scheint auch hier die Hauptsatzform gegenüber der Nebensatzform, die parataktische gegenüber der hypotaktischen Verbindung deutlich den Vorrang zu behaupten. Wenn diese Urzeit bereits Relativsätze besaß, so hat ihr doch, nach dem Zeugnis der Sprachvergleichung, ein fester Bestand scharf gegeneinander abgegrenzter Konjunktionen zum Ausdruck des Grundes, der Folge, der Anreihung, des Gegensatzes u. s. f. noch gemangelt[27]. Im Altindischen fehlen die Konjunktionen als eine fest ausgeprägte Wortklasse fast gänzlich: was andere Sprachen, vor allem das Lateinische und Griechische durch subordinierende Konjunktionen zum Ausdruck bringen, wird hier durch das in seinem Gebrauch fast unumschränkte Prinzip der Nominalkomposition und durch Erweiterungen des Hauptsatzes durch Partizipien und Gerundien ersetzt[28]. Aber auch im Griechischen selbst hat sich der Fortgang von dem parataktischen Bau der Homerischen Sprache zu dem hypotaktischen der attischen Kunstprosa nur allmählich vollzogen[29]. In alledem bewährt sich, daß dasjenige, was Humboldt den Akt des selbsttätigen, des synthetischen Setzens in den Sprachen genannt hat, und was er, außer im Verbum, besonders im Gebrauch der Konjunktionen und des Relativpronomens ausgeprägt sah, eines der letzten ideellen Ziele der Sprachbildung ist, zu dem sie nur durch mannigfaltige Vermittlungen gelangt.

In besonderer Schärfe und Deutlichkeit stellt sich dies schließlich in [287] der Ausgestaltung derjenigen Sprachform dar, die sich ihrer Grundbedeutung nach von allem dinglich-substantiellen Ausdruck prinzipiell scheidet, um lediglich dem Ausdruck der Synthesis als solcher, dem Ausdruck der reinen Verknüpfung zu dienen. Im Gebrauch der Kopula erst gewinnt die logische Synthesis, die sich im Urteil vollzieht, ihre adäquate sprachliche Bezeichnung und Bestimmung. Schon die „Kritik der reinen Vernunft“ hat sich in ihrer Analyse der reinen Urteilsfunktion auf diesen Zusammenhang hingewiesen gesehen. Das Urteil bedeutet für sie die „Einheit der Handlung“, durch welche das Prädikat auf das Subjekt bezogen und mit ihm zu einem Sinnganzen, zur Einheit eines objektiv bestehenden und objektiv gegründeten Zusammenhangs verknüpft wird. Und diese intellektuelle Einheit der Handlung ist es nun, die in der sprachlichen Verwendung der Kopula ihre Darstellung und ihr Gegenbild findet. „Wenn ich die Beziehung gegebener Erkenntnisse in jedem Urteile genauer untersuche – so heißt es in dem Abschnitt über die transzendentale Deduktion der reinen Verstandsbegriffe – und sie, als dem Verstande angehörige, von dem Verhältnisse nach Gesetzen der reproduktiven Einbildungskraft (welches nur subjektive Gültigkeit hat) unterscheide, so finde ich, daß ein Urteil nichts andres sei als die Art gegebene Erkenntnisse zur objektiven Einheit der Apperzeption zu bringen. Darauf zielt das Verhältniswörtchen „ist“ in denselben, um die objektive Einheit gegebener Vorstellungen von der subjektiven zu unterscheiden. Denn dieses bezeichnet die Beziehung derselben auf die ursprüngliche Apperzeption und die notwendige Einheit derselben.“ Sage ich: ‚der Körper ist schwer‘, so will dies soviel sagen, als daß Körperlichkeit und Schwere im Objekt miteinander verbunden seien und nicht etwa bloß in der subjektiven Wahrnehmung jederzeit beisammenstehen[30]. So eng stellt sich selbst für den reinen Logiker Kant die Beziehung dar, die zwischen dem objektiven Sinn des Urteils und der sprachlichen Form der prädikativen Aussage besteht. Für die Entwicklung der Sprache aber ist freilich klar, daß sie zu der Abstraktion jenes reinen Seins, das sich in der Kopula ausdrückt, nur ganz allmählich vordringen kann. Der Ausdruck des „Seins“ als einer reinen transzendentalen Beziehungsform ist für sie, die ursprünglich ganz in der Anschauung des substantiellen, des gegenständlichen Daseins steht und an sie gebunden bleibt, immer erst ein spätes und mannigfach-vermitteltes Ergebnis. So zeigt sich in einer großen Zahl von Sprachen, daß sie eine Kopula, in unserem logisch-grammatischen Sinne, überhaupt nicht kennen und daß sie ihrer nicht bedürfen. Ein einheitlicher [288] und allgemeiner Ausdruck dessen, was in unserm „Verhältniswörtchen ist“ bezeichnet wird, fehlt nicht nur den Sprachen der Naturvölker – wie den meisten Negersprachen, den Sprachen der amerikanischen Eingeborenen u. s. f. – sondern er ist auch in anderen hochentwickelten Sprachen nicht zu finden. Selbst dort, wo eine Unterscheidung des prädikativen Verhältnisses vom rein attributiven vorhanden ist, braucht das erstere keine besondere sprachliche Auszeichnung zu erfahren. So wird z. B. im ural-altaischen Kreis die Verbindung des Subjektsausdrucks mit dem Prädikatsausdruck fast durchweg durch einfache Nebeneinanderfügung beider vollzogen, so daß ein Ausdruck wie ‚die Stadt groß‘, „die Stadt ist groß“, ein Ausdruck wie ‚ich Mann‘ „ich bin ein Mann“ besagt u. s. f.[31]. In andern Sprachen begegnen zwar vielfach Wendungen, die auf den ersten Blick ganz dem Gebrauch unserer Kopula zu entsprechen scheinen, die aber in Wahrheit hinter der Allgemeinheit ihrer Funktion weit zurückbleiben. Das „Ist“ der Kopula hat hier, wie sich bei näherer Analyse ergibt, nicht den Sinn eines universellen, der Verknüpfung schlechthin dienenden Ausdrucks, sondern es haftet ihm eine besondere und konkrete, meist eine örtliche oder zeitliche Nebenbedeutung an. Statt des rein beziehentlichen Seins findet sich ein Ausdruck, der die Existenz an diesem oder jenem Ort ein Da- oder Dort-sein oder auch die Existenz in diesem oder jenem Moment bezeichnet. Demgemäß tritt hier eine Differenzierung im Gebrauch der scheinbaren Kopula je nach der verschiedenen räumlichen Lage des Subjekts oder nach sonstigen anschaulichen Modifikationen, mit denen es gegeben ist, ein – so daß also eine andere „Kopula“ verwendet wird, wenn das Subjekt, von dem die Rede ist, steht, als wenn es sitzt oder liegt, eine andere, wenn es wacht, als wenn es schläft u. s. f.[32]. An die Stelle des formalen Seins und des formalen [289] Sinns der Verknüpfung treten hier also immer mehr oder weniger material gefaßte Ausdrücke, die noch gleichsam die Farbe einer einzelnen sinnlich-gegebenen Wirklichkeit an sich tragen[33].

Und auch dort, wo die Sprache bereits dazu fortgeschritten ist, alle diese Sonderbestimmungen der Existenz in einen allgemeinen Seinsausdruck zusammenzufassen, bleibt noch immer der Abstand fühlbar, der zwischen jedem noch so umfassenden Ausdruck des bloßen Daseins und dem „Sein“ als Ausdruck der reinen prädikativen „Synthesis“ besteht. Hier spiegelt die Sprachentwicklung ein Problem wieder, das weit über ihren eigenen Umkreis hinausreicht, und das noch in der Geschichte des logischen und philosophischen Denkens eine entscheidende Rolle gespielt hat. Deutlicher als an irgend einem andern Punkte läßt sich hier erkennen, wie dieses Denken sich zwar mit der Sprache, aber zugleich immer auch gegen sie entwickelt. Von den Eleaten an läßt sich das große Ringen verfolgen, das der philosophische Idealismus mit der Sprache und mit der Vieldeutigkeit ihres Seinsbegriffs zu führen hat. Mit der reinen Vernunft den Streit um das wahre Sein zu entscheiden – das war die scharf bestimmte Aufgabe, die Parmenides sich stellte. Aber ist dieses wahrhafte Sein der Eleatik rein im Sinn des logischen Urteils gegründet, entspricht es lediglich dem ἔστι der Kopula, als der Grundform jeder gültigen Aussage, – oder haftet auch ihm noch eine andere, eine konkretere Urbedeutung an, durch die es der Anschauung einer „wohlgerundeten Kugel“ vergleichbar wird? Parmenides unternimmt den Versuch, sich ebenso wie aus den Fesseln der gewöhnlichen sinnlichen Weltansicht auch aus den Fesseln der Sprache zu lösen. „Darum – so verkündet er – [290] ist all das bloßer Name, was die Sterblichen in der Überzeugung, es sei wahr, festgelegt haben: nämlich Werden und Vergehen, Sein- und zugleich Nicht-Sein, wie Veränderung des Orts und Wechsel der leuchtenden Farbe.“ Und doch ist auch er im Ausdruck seines höchsten Prinzips noch einmal der Gewalt der Sprache und der schillernden Vielfältigkeit ihres Seinsbegriffs erlegen. In der Eleatischen Grundformel, in dem Satz: ἔστι τὸ εἶναι gehen die verbale und die substantivische, die prädikative und die absolute Bedeutung des Seins unmittelbar in einander über. Auch Platon ist hier erst nach langen gedanklichen Kämpfen, die sich am deutlichsten in dem nach Parmenides benannten Dialog widerspiegeln, zu einer schärferen Scheidung gelangt. Im „Sophistes“, der diese Kämpfe abschließt, wird zum erstenmal in der Geschichte der Philosophie die logische Natur der reinen Relationsbegriffe klar herausgearbeitet und das eigentümliche, das spezifische „Sein“, das ihnen zukommt, bestimmt. Von dieser neu gewonnenen Einsicht aus kann Platon der gesamten früheren Philosophie entgegenhalten, daß sie das Prinzip des Seins gesucht habe, aber statt den wahren und radikalen Ursprung des Seins immer nur einzelne seiner Arten, immer nur bestimmte Formen des Seienden aufgewiesen und zur Grundlage gemacht habe. Aber selbst mit dieser prägnanten Formulierung ist der Gegensatz, der sich im Begriff des Seins birgt, nicht aufgehoben, sondern erst scharf bezeichnet. Durch die Geschichte des gesamten mittelalterlichen Denkens geht fortan dieser Gegensatz hindurch. Die Frage, wie die beiden Grundarten des Seins, wie „Essenz“ und „Existenz“ gegeneinander abzugrenzen und wie sie trotz dieser Abgrenzung miteinander zu vereinen sind, wird zu einem Zentralproblem der mittelalterlichen Philosophie. Im ontologischen Gottesbeweis, als dem spekulativen Mittelpunkt der mittelalterlichen Theologie und Metaphysik, erfährt diese Frage ihre schärfste Zuspitzung. Aber auch die moderne kritische Form des Idealismus, die auf den „stolzen Namen einer Ontologie“ verzichtet, um sich mit dem bescheidenen einer „Analytik des reinen Verstandes“ zu begnügen, sieht sich immer wieder in die Mehrdeutigkeit des Seinsbegriffs verstrickt. Noch nach der Kantischen Kritik des ontologischen Beweises hält es Fichte für erforderlich, ausdrücklich auf den Unterschied des prädikativen und des absoluten Seins hinzuweisen. Indem er in der „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“ den Satz A ist A als den ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz aller Philosophie aufstellt, fügt er hinzu, daß in diesem Satz, in welchem das „Ist“ lediglich die Bedeutung der logischen Kopula habe, über die Existenz oder Nicht-Existenz des A nicht das Geringste ausgesagt werde. Das [291] Sein ohne Prädikat gesetzt drücke ganz etwas anderes aus als sein mit einem Prädikate: der Satz „A ist A“ behaupte nur, wenn A sei, so sei A; dagegen sei in ihm davon, ob überhaupt A sei oder nicht, gar nicht die Frage[34]. –

Wenn in dieser Weise selbst das philosophische Denken beständig mit der Unterscheidung zweier Seinsbegriffe zu ringen hat, – so ist es begreiflich, daß im sprachlichen Denken beide von Anfang an nur in engster Verflechtung miteinander auftreten, und daß es nur ganz allmählich gelingt, den reinen Sinn der Kopula aus dieser Verflechtung herauszulösen. Daß die Sprache ein und dasselbe Wort benutzt, um den Begriff der Existenz und um den der prädikativen Verbindung zu bezeichnen, ist eine weit verbreitete, nicht auf einzelne Sprachstämme beschränkte Erscheinung. Um hier nur das Indogermanische zu betrachten, so zeigt sich in ihm überall, daß die mannigfachen Bezeichnungen, die es zur Darstellung des prädikativen Seins verwendet, sämtlich auf die Urbedeutung des „Daseins“ zurückgehen: sei es, daß dieses letztere in ganz allgemeinem Sinne, als bloßes Vorhandensein, sei es, daß es in einem besonderen und konkreten Sinne, als Leben und Atmen, als Wachsen und Werden, als Dauern und Verweilen gefaßt wird. „Die Kopula“ – so sagt Brugmann hierüber – „war ursprünglich ein Verbum mit anschaulicher Bedeutung (die Grundbedeutung von *es-mi ‚ich bin‘ ist unbekannt, die älteste belegbare ist ‚ich existire‘) und das Substantiv oder Adjektiv war Apposition zum Subjekt, die mit dem Prädikatsverbum in innere Beziehung gesetzt war (die Erde ist eine Kugel = die Erde existiert als Kugel). Das sogen. Herabsinken des Verbums zur Kopula geschah dadurch, daß der Nachdruck auf das Prädikatsnomen rückte, so daß es auf den Vorstellungsinhalt des Verbums nicht mehr ankam und dieser sich verflüchtigte. Das Verbum wurde so bloßes Formwort … Als Kopula fungierte in uridg. Zeit sicher es- ‚sein‘, daneben vielleicht auch schon Formen von bheu- ‚wachsen, werden‘, das sich damals mit es- suppletiv verband[35][WS 3].“ Näher scheint die Differenzierung im Gebrauch beider Wurzeln so erfolgt zu sein, daß es (as) als Ausdruck der gleichmäßig fortgesetzten Existenz gefaßt und demgemäß für die Bildung der durativen Formen des Präsensstammes verwendet wurde, während die Wurzel bheu, als Ausdruck des Werdens, vorzugsweise in den Zeitformen zur Anwendung kam, welche wie der Aorist und das Perfekt ein eintretendes oder vollendetes Geschehen bezeichnen (vgl. ἔ-φυ-ν, πέ-φῡ-κα, fui)[35]. Die sinnliche [292] Grund- und Urbedeutung der letzteren Wurzel ist – im Gebrauch von φύω ‚ich zeuge‘, von φύομαι ‚ich wachse‘ u. s. f. – im Griechischen noch deutlich spürbar. Im Germanischen tritt neben die Wurzel bheu, die in die Bildung des Präsensstammes (ich bin, du bist etc.) eindringt, die Hilfswurzel ues (got. wisan, ich war etc.), die ursprünglich den Sinn des Wohnens und Verweilens, des Dauerns und „Währens“ (ahd. wërên) besitzt. Wieder anders hat sich die Entwicklung im Romanischen gestaltet, in welchem der Ausdruck des Seinsbegriffs an die anschauliche Bedeutung des Stehens geknüpft erscheint[36]. Und wie sich hier der Ausdruck des Seins an die Vorstellung der örtlichen Beharrung und der Ruhe anlehnt, so lehnt sich umgekehrt der Ausdruck des Werdens an die Vorstellung der Bewegung an: die Anschauung des Werdens wird aus der des Drehens, sich Wendens entwickelt[37]. Auch aus der konkreten Bedeutung des Kommens und Gehens kann sich die allgemeine des Werdens entfalten[38]. In alledem zeigt sich, daß auch diejenigen Sprachen, in denen der Sinn für die logische Eigenart der Kopula scharf entwickelt ist, sich in der Bezeichnung derselben zunächst nur wenig von anderen unterscheiden, denen dieser Sinn entweder ganz abgeht, oder die es zum mindesten zu einem umfassenden und allgemeingültigen Ausdruck des Verbum substantivum nicht gebracht haben. Auch hier kann die geistige Form des Beziehungsausdrucks sich immer nur in einer bestimmten materialen Umhüllung darstellen, die aber schließlich so weit durchdrungen und bewältigt wird, daß sie nicht mehr als bloße Schranke, sondern als der sinnliche Träger eines rein ideellen Bedeutungsgehalts erscheint. –

So bewährt sich an dem allgemeinen Beziehungsausdruck, der sich in der Kopula darstellt, die gleiche Grundrichtung der Sprache, die wir in aller sprachlichen Gestaltung der besonderen Beziehungsbegriffe verfolgen konnten. Es ist dieselbe Wechselbestimmung des Sinnlichen durch das Geistige, des Geistigen durch das Sinnliche, die wir auch hier wiederfinden – wie wir sie zuvor in der sprachlichen Darstellung der Raum- und Zeitbeziehung, der Zahlbeziehung und der Ich-Beziehung gefunden [293] haben. Es liegt nahe, die innige Verflechtung, die beide Momente in der Sprache eingehen, im sensualistischen Sinne zu deuten – und schon Locke hat, auf Grund einer derartigen Deutung, die Sprache als einen Hauptzeugen für seine empiristische Grundansicht der Erkenntnis in Anspruch genommen[39]. Aber auch für das sprachliche Denken darf man sich, solchen Deutungen gegenüber, auf den scharfen Unterschied berufen, den Kant, innerhalb der Kritik der Erkenntnis, zwischen „Anheben“ und „Entspringen“ macht. Wenn in der Entstehung der Sprache Sinnliches und Gedankliches unlöslich ineinander verflochten scheinen, so begründet doch diese Korrelation, eben als solche, zwischen beiden kein Verhältnis einer bloß einseitigen Abhängigkeit. Denn der intellektuelle Ausdruck vermöchte sich nicht am sinnlichen und aus dem sinnlichen zu entwickeln, wenn er in diesem nicht schon ursprünglich beschlossen läge; – wenn nicht, mit Herder zu sprechen, schon die sinnliche Bezeichnung einen Akt der „Reflexion“, einen Grundakt der „Besinnung“ in sich faßte. Das Wort: πάντα θεῖα καὶ ἀνθρώπινα πάντα findet daher vielleicht nirgends eine so deutliche Bestätigung, als in der Bedeutungs- und Formenlehre hochentwickelter Sprachen: der Gegensatz zwischen den beiden Extremen des Sinnlichen und des Intellektuellen faßt den eigentümlichen Gehalt der Sprache nicht, weil diese in all ihren Leistungen und in jeder Einzelphase ihres Fortschritts sich als eine zugleich sinnliche und intellektuelle Ausdrucksform erweist.

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  1. [1] Einleit. zum Kawi-Werk, W. VII, 1, 72 f.; vgl. bes. S. 143.
  2. [2] Vgl. hrz. ob. S. 104.
  3. [3] Dieser Primat wird außer von Wundt insbesondere auch von Ottmar Dittrich, Grundzüge der Sprachpsychologie I (1903) und Die Probleme der Sprachpsychologie (1913) verfochten.
  4. [4] Vgl. hierzu z. B. die Bemerkungen von Sayce, Introduction to the science of language I, 111 ff., sowie B. Delbrück, Vergl. Syntax der indogerman. Sprachen III, S. 5. Daß in den sogen. „polysynthetischen“ Sprachen eine scharfe Grenze zwischen dem einzelnen Wort und dem Ganzen des Satzes überhaupt nicht zu ziehen ist, ist bekannt; vgl. bes. die Darstellung der amerikanischen Eingeborenensprachen in Boas’ Handbook of the Americ. Ind. Languages I, 27 ff., 762 ff., 1002 ff. u. ö. Auch für die altaischen Sprachen betont H. Winkler, daß es in ihnen zur eigentlichen Worteinheit nur mangelhaft gekommen sei, vielmehr das Wort meist nur in seiner Satzzusammengehörigkeit zum Worte werde. (Das Uralaltaische und seine Gruppen, S. 9, 43 u. ö.) Und selbst in Flexionssprachen begegnen überall Reste eines altertümlichen Sprachzustandes, in dem die Grenzen zwischen Satz und Wort noch durchaus fließend waren, vgl. z. B. für die semitischen Sprachen die Bemerk. in Brockelmanns Grundriß II, 1 ff.
  5. [1] G. v. d. Gabelentz, Die Sprachwissenschaft, S. 252 f.; Chines. Grammatik, S. 90 ff.; vgl. auch B. Delbrück, Grundfragen, S. 118 f.
  6. [2] Humboldt, Einleit. zum Kawiwerk (W. VII, 1, S. 271 ff., S. 304 f.).
  7. [3] v. d. Gabelentz, Chines. Grammat., S. 19.
  8. [1] Näheres in Westermanns Ewe-Grammat., S. 4 ff., 30 ff.
  9. [2] Sprachvergleichende Untersuchungen I (1848), S. 6 ff., II, S. 5 ff. (vgl. ob. S. 108 ff.).
  10. [3] S. hierüber schon Boethlingk, Sprache der Jakuten, S. XXIV (1851), vgl. unt. S. 281 Anm. ².
  11. [1] Im Deutschen bildet hierfür z. B. die Entwicklung der Suffixe -heit, -schaft, -tum, -bar, -lich, -sam, -haft einen bekannten Beleg. Das Suffix -lich, das eins der Hauptmittel für die Bildung adjektivischer Begriffe geworden ist, weist unmittelbar auf ein Substantivum lîka (= Leib, Körper) zurück. „Der Typus eines Wortes, wie weiblich – sagt H. Paul, Prinzipien der Sprachgesch. ³, S. 322 – geht zurück auf ein altes Bahuvrîhi-Kompositum, urgermanisch *wîbolîkis, eigentlich Weibesgestalt, dann durch Metapher ‚Weibesgestalt habend‘. Zwischen einem derartigen Kompositum und dem Simplex mhd. lîch, nhd. Leiche ist eine derartige Diskrepanz anfänglich der Bedeutungen, später auch der Lautformen herausgebildet, daß jeder Zusammenhang aufgehoben ist. Vor allem aber hat sich aus der sinnlichen Bedeutung des Simplex ‚Gestalt, äußeres Ansehen‘ die abstraktere ‚Beschaffenheit‘ entwickelt.“ Bei dem Suffix -heit ist das substantivische Grundwort, dem es entstammt, im Gotischen und Althochdeutschen, sowie im Altsächsischen und Altnordischen noch als selbständiges Wort im Gebrauch. Seine Grundbedeutung scheint hier die der Person, oder die des Standes und der Würde zu sein, aber daneben hat sich aus ihr schon früh die allgemeine Bedeutung der Beschaffenheit, der Art und Weise (got. haidus) entwickelt, die nun, in der Umprägung zum Suffix, für jede abstrakte Eigenschaftsbezeichnung verwendet werden konnte. (Näheres z. B. in Grimms Deutschem Wörterbuch IV, 2, Sp. 919 ff.) Von einer anderen Grundanschauung aus, aber in der gleichen Richtung und nach demselben Prinzip fortschreitend, haben die romanischen Sprachen ihre adverbialen Ausdrücke der Art und Weise geformt, indem sie hierfür zwar nicht den Begriff von einem körperlichen Sein und einer körperlichen Gestalt, wohl aber den zunächst noch ganz konkret gefaßten Ausdruck des Geistigen verwenden, der allmählich den reinen Suffix- und Beziehungscharakter gewinnt (fièrement = fera mente u. s. f.).
  12. [2] So geht z. B. im Sanskrit das Suffix -maya ursprünglich auf ein Substantivum (maya = Stoff, Material) zurück und wird gemäß der Bedeutung desselben zunächst zur Bildung solcher Adjectiva verwendet, die eine Stoffbezeichnung in sich schließen – erst im weiteren Gebrauch entwickelt sich sodann, kraft der Umformung des Nomens zum Suffix, aus dem speziellen Begriff der stofflichen Eigenschaft die allgemeine Eigenschafts- und „Qualitäts“-Bedeutung (mrn-maya aus Lehm gemacht, aber mōha-maya ‚auf Verblendung beruhend‘ etc.). Näheres bei Brugmann, Grundriß II, 13 u. bei Thumb, Handbuch des Sanskrit, S. 441.
  13. [1] Das Material hierfür ist in Grimms Deutschem Wörterbuch V, Sp. 500 ff. (s. v. „keit“) zusammengestellt. Ganz ähnliche Prozesse einer „mißverständlichen“ Bildung von Suffixen finden sich auch in andern Sprachkreisen, vgl. z. B. Simonyi, Die ungarische Sprache, S. 276 f.
  14. [1] Vgl. hrz. was oben (S. 257 f.) über die Form der „Begriffsbildung“ in den amerikan. Sprachen ausgeführt wurde, s. auch S. 239 ff.
  15. [2] Daß übrigens dieser Prozeß selbst wieder sehr verschiedene Grade und Stufen zuläßt, und daß in dieser Hinsicht eine scharfe und absolute Grenzscheide zwischen den flektierenden und den sogen. agglutinierenden Sprachen nicht besteht, ist schon von Boethlingk in seiner Darstellung des Jakutischen (1851) betont worden. Boethlingk hebt hervor, daß zwar in den indogermanischen Sprachen im allgemeinen „Stoff“ und „Form“ weit inniger als in den sogen. agglutinierenden verbunden seien, daß aber in einigen Gliedern der ural-altaischen Sprachen, namentlich im Finnischen und Jakutischen, [282] beide keineswegs so äußerlich aneinanderkleben, wie vielfach angenommen worden sei. Auch hier finde vielmehr eine stetige Entwicklung zur „Formbildung“ statt, die sich in verschiedenen Sprachen, z. B. im Mongolischen, im Türkisch-Tatarischen und im Finnischen in ganz verschiedenen Phasen darstelle. (Die Sprache der Jakuten, Einl., S. XXIV; vgl. bes. Heinr. Winkler, Das Uralaltaische[WS 1] und seine Gruppen, S. 44 ff., über die „Morphologie“ der ural-altaischen Sprachen.)
  16. [1] Vgl. Cl. und W. Stern, Die Kindersprache, S. 182 ff.
  17. [2] Demetrius, De elocutione, § 11–13 (cit. bei Humboldt, W. VII, 233[WS 2]).
  18. [1] Belege für die Vorherrschaft der Parataxe in den Sprachen der Naturvölker lassen sich den Darstellungen der meisten Negersprachen und der amerikanischen Eingeborenensprachen entnehmen. Für die ersteren s. z. B. Steinthal, Die Mande-Negersprachen, S. 120 ff., 247 ff. und Roehl, Schambalasprache, S. 27; für die letzteren s. Gatschet, Klamath language, S. 656 ff. Im Ewe werden – nach Westermann, Ewe-Grammat. S. 106 – alle abhängigen Nebensätze, wenn sie vor dem Hauptsatze stehen, mit dem Artikel lá abgeschlossen; sie werden also eigentlich als Satzteile, nicht als Sätze angesehen. In der Nubasprache werden die Nebensätze wie Nomina behandelt und erscheinen daher mit denselben Kasusbezeichnungen wie die Nennwörter (Reinisch, Nuba-Sprache, S. 142).
  19. [2] Besonders charakteristische Belege hierfür scheinen sich im Kreise der finnisch-ugrischen und der altaischen Sprachen zu finden. Vom Satzbau dieser Sprachen sagt H. Winkler, daß in ihm ursprünglich für Nebensätze aller Art überhaupt kein Raum sei, weil das ganze Satzgefüge ein adnominalartiger, geschlossener, einheitlicher, wortartiger Komplex sei oder lediglich die lückenlose Verbindung eines subjektartigen Teils mit einem prädikatartigen darstelle. In beiden Fällen trete alles nach unserer Auffassung Nebensächliche, wie die zeitlichen und örtlichen, die begründenden und konditionalen Bestimmungen zwischen die beiden einzig wesentlichen Teile des Satzes oder Satzwortes. „Das ist keine Fiktion, sondern das ist noch fast unverkennbar das eigentliche Wesen des Satzes in den meisten uralaltaischen Zweigen, so im Mongolischen, Tungusischen, Türkischen und Japanischen … Das Tungusische … macht den Eindruck, als ob in diesem eigentümlich herausgebildeten Idiom für alles, was an relative oder relativartige Bindung erinnert, überhaupt kein Raum sei. Im Wotjakischen erscheint unser indogermanischer konjunktionaler Nebensatz gleichmäßig und regelmäßig in der Gestalt einer dem Satzgefüge eingereihten Nebenbestimmung nach Art der indogermanischen sogen. absoluten Genitive, Ablative, Akkusative.“ (Der ural-altaische Sprachstamm, S. 85 f., 107 ff.) Auch im Chinesischen ist es – nach G. v. d. Gabelentz, Chines. Grammatik S. 168 f. – eine häufige Erscheinung, daß ganze Sätze einfach aneinandergereiht werden und daß lediglich dem Zusammenhange zu entnehmen ist, ob man ein zeitliches oder ursächliches, ein relatives oder konzessives Verhältnis zu denken habe.
  20. [1] Höchst markante Beispiele für derartige Satzfügungen werden z. B. von J. J. Schmidt in seiner „Grammatik der mongolischen Sprache“ (bes. S. 62 ff., 124 ff.) angeführt. Ein Satz wie unser deutscher Satz: „Nachdem ich das Pferd von meinem älteren Bruder erbeten und es meinem jüngeren Bruder übergeben hatte, nahm dieser dasselbe von mir in Empfang, bestieg es, während ich ins Haus ging, um einen Strick zu holen, und entfernte sich, ohne Jemandem etwas zu sagen“ lautet im Mongol. so, daß er, wörtlich übersetzt besagt: „Ich das Pferd von meinem älteren Bruder erbittend nehmend, meinem jüngeren Bruder gegeben habend, dieser dasselbe von mir empfangend, einen Strick zu holen in das Haus (während) ich ging, der jüngere Bruder, Jemandem ohne etwas zu sagen, es besteigend sich entfernte.“ (Hierbei ist noch – wie H. Winkler a. a. O., S. 112 bemerkt – durch das Wort ‚während‘ in der Übersetzung ein konjunktionales Verhältnis eingeflochten, wo die entsprechende Stelle des Textes keinerlei Konjunktion aufweist.) Ähnliche, ebenfalls sehr bezeichnende Beispiele der Satzkonstruktion durch Anwendung der Gerundia, Supina und partizipialähnlicher Bildungen werden von J. J. Schmidt z. B. aus dem Tibetanischen angeführt (Tibet. Grammat., S. 197).
  21. [2] S. Einleit. zum Kawi-Werk (W. VII, 1, 253 f.). Auch die Klamath-Sprache gebraucht dort, wo wir eingeschobene Relativsätze anwenden, einen Partizipial- oder Verbalausdruck, s. Gatschet, Klamath language, S. 657.
  22. [1] Beispiele bes. bei H. C. v. d. Gabelentz, Die melanes. Sprachen I, 202 f., 232 f., II, 28; Codrington, Melanes. languages, S. 136.
  23. [2] S. Winkler, Der Uralaltaische Sprachstamm, S. 86 ff., 98 f., 110 ff.; vgl. auch Simonyi, Die ungar. Sprache, S. 257, 423.
  24. [3] Vgl. Steindorff, Koptische Grammatik, S. 227 ff; – auch in den semitischen Sprachen ist die „Substantivierung asyndetischer Relativsätze“ häufig, s. hierüber Brockelmann, Grundriß II, 561 ff.
  25. [4] So besitzt z. B. das Japanische (nach Hoffmann, Japan. Sprachlehre, S. 99) keine Relativsätze, sondern muß sie in adjektivische Sätze verwandeln; ähnliches gilt für das Mongolische, vgl. J. J. Schmidt, Grammat. der mongol. Sprache, S. 47 f., 127 f.
  26. [5] „Les langues de cette famille semblent créées pour l’abstraction et la métaphisique. Elles ont une souplesse merveilleusse pour exprimer les relations les plus intimes des choses par les flexions de leurs noms, par les temps et les modes si variés de leurs [286] verbes, par leurs mots composés, par la délicatesse de leurs particules. Possédant seules l’admirable secret de la période elles savent relier dans un tout les membres divers de la phrase … Tout devient pour elles abstraction et catégorie. Elles sont les langues de l’idéalisme.“ Renan, De l’origine du langage 8, S. 194.
  27. [1] „Die Relativsätze“ – sagt Meillet, Introduct. à l’étude comparative des langues indo-européennes, dtsch. Ausg. von Printz, S. 231 – „sind die einzigen subordinierten Sätze, die man füglich als idg. ansehen darf. Die anderen Typen, namentlich die Konditionalsätze, haben in jedem idg. Dialekt eine andere Form.“ Etwas anders wird das Verhältnis von Brugmann gefaßt, der die mangelnde Übereinstimmung daraus erklärt, daß konjunktionale Partikel in der Urzeit zwar vorhanden gewesen seien, daß sie aber in ihr noch einen weiteren Gebrauchsbereich gehabt hätten und noch nicht als Ausdruck für ein bestimmtes einzelnes Gedankenverhältnis fixiert gewesen seien (Kurze vgl. Grammat. S. 653).
  28. [2] Beispiele s. bei Whitney, Ind. Grammatik, S. 394 f. und bei Thumb, Handbuch des Sanskrit, S. 434, 475 ff.
  29. [3] Näheres bei Brugmann, Griech. Grammat. ³, S. 555 f.
  30. [1] S. Krit. d. rein. Vern., zweite Aufl., S. 141 ff.
  31. [1] Vgl. H. Winkler, Der uralaltaische Sprachstamm, S. 68 f.; für die finnisch-ugrischen Sprachen s. z. B. Simonyi, Die ungar. Sprache, S. 403 f.
  32. [2] Beispiele hierfür finden sich insbesondere in den amerikanischen Sprachen: so fehlt z. B. den Algonkinsprachen ein allgemeines Verbum des „Seins“, während sie eine große Zahl von Worten besitzen, die das Sein an diesem oder jenem Ort, zu dieser oder jener Zeit oder unter dieser oder jener besonderen Bedingung bezeichnen. In der Klamath-Sprache ist das Verbum (gi), das als Ausdruck des kopulativen Seins verwendet wird, in Wahrheit eine demonstrative Partikel, die ein Da- oder Dort-sein ausdrückt. (Näheres bei Gatschet, Klamath language, S. 430 ff., 674 f. und bei Trumbull, Transactions of the Americ. Philol.-Assoc. 1869/70). Auch die Indianersprachen der Maya-Familie verwenden in der prädikativen Aussage bestimmte Demonstrativpartikel, die z. B. mit Tempuszeichen verbunden werden können und dann ganz den Anschein eines echten Verbum substantivum gewinnen. Doch entspricht keine dieser Partikel dem allgemeinen und rein beziehentlichen Ausdruck des Seins: vielmehr fallen die einen unter den Nominalbegriff: [289] „gegeben, gesetzt, vorhanden“, während andere die Lage an einem bestimmten Ort oder das Geschehen zu einer bestimmten Zeit andeuten. (Vgl. Seler, Das Konjugationssystem der Maya-Sprachen, S. 8 und 14.) Eine analoge Besonderung findet sich in den melanesischen Sprachen und in vielen afrikanischen Sprachen. „Ein eigentliches Verbum substantivum – so sagt z. B. H. C. v. d. Gabelentz – fehlt im Fidschi; zuweilen kann es durch yaco geschehen, werden, tu da sein, vorhanden sein, tiko da sein, dauern usw. gegeben werden, doch immer mit einer dem eigentlichen Begriff dieser Verba entsprechenden Nebenbedeutung.“ (Die melanes. Sprachen, S. 40; vgl. bes. S. 106.) Für die afrik. Sprachen vgl. z. B. die verschiedenen Ausdrücke für das Verbum substantivum die Migeod (Mende Language, S. 75 ff.) aus den Mande-Negersprachen und die Westermann (Ewegrammat., S. 75) aus dem Ewe anführt.
  33. [1] So bleibt z. B. im Nikobarischen das Sein der bloß kopulativen Verknüpfung stets unausgedrückt: das „Verbum substantivum“ hat hier stets den Sinn des Daseins, des Existierens und Vorhandenseins, insbesondere des Daseins an einem bestimmten Orte, s. Roepstorff, A Dictionary of the Nancowry Dialect of the Nicobarese language, Calcutta 1884, S. XVII, XXIV f.
  34. [1] Cf. Fichte, S. W. I, 92 f.
  35. a b [2] S. Brugmann, Kurze vgl. Grammat., S. 627; Curtius, Grundz. der griech. Etymologie 5, S. 304, 375.
  36. [1] Vgl. italien. stato, franz. été von lat. stare als Partizipialformen zu essere und être. Eben dieser Hilfsgebrauch des sta – ‚stehen‘ war nach Osthoff, Vom Suppletivwesen der idg. Sprachen, S. 15 auch der altkeltischen Sprache bekannt.
  37. [2] So hängt got. wairþan (werden) mit lat. vertere etymologisch zusammen und ebenso geht z. B. das griechische πέλω auf eine Wurzel zurück, die im Altindischen ‚sich regen, bewegen, umherstreichen, fahren, wandern‘ besagt. Näheres bei Brugmann, Kurze vgl. Grammat., S. 628 und bei Delbrück, Vgl. Syntax III, 12 ff.
  38. [3] Vgl. z. B. in den neueren Sprachen: diventare, divenire, devenir, engl, to become, vgl. auch Humboldt, Einl. zum Kawi-Werk, W. VII, 218 f.
  39. [1] S. ob. S. 73 f.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Uraltaische
  2. Vorlage: 223
  3. Der wiederholten Fußnotenziffer ¹ wurde hier die Fußnote Nr. 2 zugeordnet.