Wenn die Schakale feiern/Die Deutschen kommen

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Ich bin es dem Semen Andrejewitsch schuldig Wenn die Schakale feiern
von Hermann Sternbach
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Die Deutschen kommen.

Man hatte sich schon an alles gewöhnt. Denn an was alles gewöhnt sich nicht der Mensch? Sogar an das Glück! Nicht so leicht, aber um so rascher gewöhnt er sich an die Not. Er jammert anfangs, klagt und murrt, ballt einmal die Fäuste, bis die Not ihm wieder die Finger löst und ehe er sich dessen versieht, steckt er in ihr tief drinnen mit offenen Handflächen und verebbtem Herzen.

Wenn man den Feind stets auf dem Nacken sitzen hat, fühlt man den Nacken nicht mehr. Wenn man Tag für Tag Menschen auf offener Straße schänden und peitschen sieht, glaubt man, der Rücken sei geschaffen, von Kosaken mit Stockstreichen gepeitscht und gebrochen zu werden.

Wenn man sieht, wie[WS 1] gar so Viele Masken von ihren Gesichtern in den Straßenkot abwerfen und lohende, bis nun nicht bemerkte Lichter in ihren Augen anzünden und frevle Hände in fremdes Gut tauchen, um sie segenbeschwert herauszuziehen und jubelnd in ihrer Kammer abzuschütteln – wenn man das alles sieht und vergebens auf den Donner wartet, der diese Hände zermalmte: man empört sich nicht mehr.

[50] Wenn man allnachts Jammerchoräle geschändeter Mütter und Mädchen hört; Arbeit, Mühe und Hoffen in Schutt und Asche wandeln sieht, zieht man den Gurt um sein eigenes Leben enger und schrumpft dabei so sehr zusammen, daß man sich mit einer Kerze suchen muß.

Der Mensch gewöhnt sich an alles...

Wolf Schächtel, der ein großes Tuchwarenlager hatte (hatte!), machte sich zuweilen Gedanken über den Lauf der Dinge, denn er war ein gescheiter Mensch und auch den Büchern nicht abhold. Ob er noch auf bessere Zeiten hoffte, er wußte es nicht mit Bestimmtheit zu sagen. Freilich: seine Frau und Kinder vertröstete er immer auf bessere Zeiten. So in aller Stille, denn man war vor den eigenen Wänden nicht sicher. In jeder Ritze steckte das Ohr eines russischen Gendarmen. Er selber (ich meine Wolf Schächtel), er selber las in Verborgenheit den „Natan“. Ob er noch hoffte? Ein Ozean von Frevel und Niedertracht brandete um ihn her und an dem Strande saß Gesindel und „besseres“ Gesindel und fischte und schrie mit der Kosakenbrut zusammen. Er glaubte, die Welt müsse in Schlechtigkeit versinken.

Er selber hatte (wie man so sagt) nicht zu leiden gehabt. Das Haus, mit Laden und Lager, war eines Nachts von Kosaken in Brand gesteckt und in Asche umgetan worden. Er trug den Verlust mit kalter Ruhe. Man hatte überhaupt Schweres leicht zu tragen gelernt. Zuhause aber bei ihm war’s still. Es gelang ihm in den Zeiten, da die Not am schwersten war und die Russengeißel wütete, manches Übel und [51] Unheil von seiner Familie abzuwenden. Ob er es seiner Gescheitheit verdankte? Wohl eher dem Umstande, daß er ein vortreffliches Ruthenisch sprach. Er stellte sich, wo er es am Platze fand, dem Lästigen mutig entgegen. Da wurden sie eingeschüchtert. Die Gefahr stand ihm immer hinterm Rücken und schaute ihm über die Achsel. Es war ein Leben und Schweben in immerwährender Angst. So ungefähr durch acht Monate.

Gegen Anfang Aprils hatten sich bei ihm zwei Soldaten einquartiert. Ältere Trampel schon, bärtig, plump und zahm dabei. Sie kamen aus jenen tiefen, verschneiten Gegenden Rußlands, wo man das Wort „Jewrej“ nicht kennt. Sie schützten Wolfs Haus. Denn so oft ihm ein Leid drohte, waren sie dabei, ließen die raubgierigen Kameraden und Bauern gar nicht zu Worte kommen und schlugen sie mit ihren Kolben krumm. Die Bauern aber, die mit gingen, machten große Augen und flinke Beine, als sie das sahen.

Wolf Schächtel war den beiden „Semljaky“ von der Lena und dem Jenissej wirklich dankbar. Er ließ ihnen Tschay bereiten jedes Abends, unterhielt sich mit ihnen und war ihr Gast. Fragte nach jedem Satz „Kak?“, sagte „charascho“, „nitschewo“ und „job troju matj“ – diesen klassischen Ausdruck russischer Gefühlsschwelgerei.

Bei alledem hatte Schachtel die ganze Zeit über in Schuhen und Kleidern geschlafen und über Weib und Kind gewacht und in das Zimmer seiner Gäste hinüber gehorcht und gebangt, daß es ihnen eines [52] Nachts nicht einfiele, ihn und die Seinigen aus den Betten, aus dem Haus zu jagen.

Auf solche Überraschungen mußte man gefaßt sein – es gab in der Stadt schon so viele, die aus freiem Antrieb hohe Kosakenkolpaks mit samtblauem Boden angelegt und nach verborgenem Österreichertum schnüffelten; all die Mitgänger und Mithelfer gebärdeten sich so, wie wenn das Österreichische ein für allemal unwiderbringlich verloren gegangen wäre. Sie schwollen vor Selbstsicherheit. Und die Zahl der Hoffenden war gering geworden und sie waren klein geworden – ganz klein und stille.

Wolf sah das Alles. Er glaubte schier, daß ihm seine Zwei für immer schon verschrieben wären. Er fühlte sie fast nicht mehr, wollte es ihm dünken. So fest saßen sie ihm an. Die Stadt hatte man ja schon russisch getauft, und sie sprachen von „Dragobytsch gorod“, wie wenn sie hier geboren wären, hier in – Wolf Schächtels Heim und mit ihm zusammen – und wie wenn sie hier das Zeitliche segnen müßten.

Ein Scheinleben war’s; ein Halbleben....

Man ertappte sich zuweilen auf einer Hoffnung. Denn der Frühling war indessen gekommen: keck, glänzend und lockend wie immer, und mit ihm waren die vereisten Herzen aufgetaut. Man sah sich in ihm wie in einem unverhofften, unerwarteten Wunder um. Daß er auch in diesem Jahre kommen werde, wer wollte das glauben? Man meinte eher, das Jahr des Leids werde unendlich lange währen und die Natur knebeln. Der Frühling war eine Überraschung und schien den Zweifelnden eindringlich [53] einreden zu wollen, daß sich noch alles zum Alten kehren werde.

Wie nun Wolf Schächtel auch den halbverkümmerten Kirschenbaum vor dem Fenster sein Dutzend Blüten auf sich nehmen sah, war’s ihm im Herzen auch ein wenig hell geworden. Und er hatte diese Nacht einen leichten, ruhigen Schlaf – – –

An einem der nächsten Morgen – um die Mitte Mai war es – bemerkte er, wie in den bis nun so leicht hinlebenden Russentrubel ein flauer Ton gefallen war. Er erschwerte den Pulsgang der Straßen. Sie sahen heut anders aus, und die Zahl der zivilen Kosakenkolpaks war geringer geworden. Sonst wimmelte es auf den Straßen davon und jeder Mitgänger trug seine Gesinnung höher als der andere. Sie waren heut alle ernster und redeten hastig und gedämpft. Und Lawecki, der sich vor Lachen kugelte, wenn er sah, wie so komisch ein Menschenrücken unter dem Sausen der Nagajka sich wand und krümmte, war tiefsinnig geworden und erwiderte jeden Judengruß höflich und voller Würde.

Es war etwas faul unter ihnen. Die vom „Maly rynek“ wußten es ganz genau! Sie raunten einander ins Ohr: „Ein Rückzug. Scha!“

Es ist im Laufe der Zeit so manches gesprochen und getuschelt worden und im Worte geblieben. Diesmal aber sah es anders aus.

Gegen Mittag war die ganze Stadt von Menschen überschwemmt. Bauern von der Umgegend und den Karpathendörfern waren in unübersehbaren Mengen mit Kind und Rind und allem, was sich nur davonschleppen [54] ließ, in die Stadt gekommen. Ein Wirrwarr von Wagen, Karren und Fuhrwerken aller Art. Ein kopfloses, bleiches Hasten, beschwert von weinenden Kindern, winselnden Hunden, von einem Blöken, Meckern, Brüllen, Wiehern und antreibenden Rufen. Fuhrwerke waren mit den Rädern an- und ineinander geraten. Menschen und Tiere stießen sich, und indem jeder nur an sich dachte, war er dem andern ein Feind geworden. Ein wirres Netz von Angst und Hast.

Es versöhnte und einte sie alle nur der gleiche Schrecken:

Germanzi!

Sie fürchteten die Deutschen. „Germanzi budut rizary –“, die Deutschen würden schlachten. So hatten es ihnen die Russen gesagt. Und sie ließen Haus und Hof und Scholle und flohen davon und sahen aus, wie wenn sie von nachsetzenden Haien mit geöffneten Schlünden verfolgt würden.

Sie wußten nichts zu sagen, als: „Germanzi“ und „Germanzi budut rizaty –“.

Und sie flohen vor den „Germanzi“ , weil sie Menschenschlächter wären...

Gegen Vorabend hatte ein Meer von Truppen aller Gattungen, die von den Karpathen gejagt wurden, die halbe Stadt bis an die Wälder heran überdeckt. Autos sausten und ratterten. Schwere Wagen zogen mit Geknarre und ohrenbetäubendem Gepolter und rangen sich mit Mühe durch die dichten, aufgewühlten und enggewordenen Straßen. Peitschenknalle und Peitschenhiebe – Kommandorufe [55] und Schreie. Kurze Galoppsprünge. Ein wogendes Hin und Wieder. Ein jagendes Von-der-Stelle-wollen. Ein folterndes Stehenbleiben. Ein planloses Fliehen.

Wolf Schächtel sah das alles – – –

Morgens war er früh geweckt worden. Seine Gäste rumorten auf ihrem Zimmer. Sie „packten“.

Germanzi idjot –“ stießen sie aus, als er hereintrat und fielen ihm um den Hals. „Fliehe, rette dich, rette Weib und Kind –“ warnten sie mit Eifer – „denn sie werden euch wie die Kälber abschlachten!“

Wolf zitterte am ganzen Leibe. Denn in seinem Herzen quoll es und schwoll es und klang von erschütternden Jubelhymnen. Sie drängten sich nur so in seine Kehle, auf seine Lippen. Es schüttelte ihn die Freude, daß er keinen Schritt tun konnte.

Die Soldaten aber hatten Mitleid mit ihm. Ob es ihm gar einfalle, hier zu bleiben und sich und die Seinen von den Germanzi abschlachten zu lassen – fragten sie? Ob er nicht wisse, daß die Germanzi mit dem Menschenleben Spott und Scherz treiben?

Wolf faßte sich kaum. Ja. Er wisse es wohl. Aus dem Buch da. Es stehe drin alles geschrieben. Und er reichte ihnen den „Natan“, den er so gerne bei sich trug. Sie sahen das Buch an mit der Miene eines Dorfgelehrten, dem man die homerische Frage vor die Füße wirft.

„In den Büchern steht alles verschrieben –“ sagten sie überzeugend. Und er solle das Nötigste rasch vorbereiten und davonmachen. Und sie würden [56] ihn mit sich nehmen und aufpassen, daß ihm und den Seinen kein Leid widerfahre. Nur rasch! rasch!

Und im Überschwang von Dankbarkeit wollten sie ihn schier gleich mit sich fortreißen.

Er müsse noch etwas besorgen – beschwichtigte sie Wolf. Es gehe nicht so Hals über Kopf – er müsse Weib und Kind vorbereiten –.

Sie staunten ihn an und kratzten sich den Kopf. Es sei keine Zeit zu verlieren – drängten sie.

Er werde bald nachkommen – versicherte Wolf.

Die Soldaten gingen. „Do zwydania –“ sagten sie nur.

Wolf stand eine Weile betäubt da, wie einer, der nach langer, bettlägeriger Krankheit genesen, zum erstenmal ans Fenster tritt. So tat es auch er. Er ging ans Fenster, schaute hinaus und sah, wie die beiden in raschen Sätzen davonliefen. Die Angst ihnen nach.

Und der Tag schien so hell!

Als sie seinen Augen entschwunden waren, stürzte Wolf in das Zimmer zu Frau und Kindern und schrie: wie wenn er besessen wäre: „Kinder! Kinder! Menschen kommen!“ – Er konnte nicht weiter. Und begann zu weinen.

In den Straßen war’s laut und lebhaft geworden. Ein Jubel war vom Himmel gestiegen und hatte mit Wunderhänden alles Leid und alle Trauer hinweggeschwemmt und den Tag zu einem lachenden, weinenden Sonnenfeste gemacht. Die Buben [57] liefen auf flinken Beinen straßaus, straßein und schrieen, was sie nur konnten: „D´ Praißen kimmen! D' Praißen kimmen!“

Die Alten aber verließen Bethaus und Synagoge (ein Schabbes war es), denn Gott war heut draußen unter ihnen....



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: wir