Wenn die Schakale feiern/Ich bin es dem Semen Andrejewitsch schuldig
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Schulim „Seigermacher“ war durch acht Monate Kalvinist und Amerikaner gewesen.
Ich will euch erzählen, wie er es geworden.
Am letzten Tage, da die Stadt von den meisten schon verlassen worden war, faßte er den Entschluß, ebenfalls zu fliehen. Er hatte wo Gaul und Fuhrwerk erstanden, packte seine Siebensachen drauf samt Weib und Kind, sagte „wio“ und zog gegen Sambor. Weit war er nicht gekommen. Denn schon von Bronica, dem zweitnächsten Dorf, mußte er umkehren. Kosaken waren von Süden in Sambor eingerückt. Er sagte seinem Gaul „nazad“ was soviel wie „kehrt“ heißt, und heißa! ging’s wieder zur Stadt zurück. Schulim schwang wacker die Peitsche, diese war ohne Furcht und knallte laut und der Gaul hopste, wie wenn ihm Heimweh in die Beine gefahren wäre.
Als Schulim aber mit Gefährt und Gefährten auf der Lischniaer Landstraße war, dort, wo sie in die Stadt einbiegt, ward sein Gesicht düster wie ein Wind, der sich bei nächtlichem Regenwetter auf die Beine macht: Die Einfahrt zur Stadt bewachten zwei Kosaken [34] Um sie herum ein Schwärm grüßender und staunender Bauern und Bäuerinnen in Röcken weiß wie Neuschnee und zylinderartigen Kolpaks. Diese Überraschung kam über ihn wie ein jähes Seitenstechen.
So geradenwegs hineinfahren, das ging nicht. Es konnte bittere Opfer kosten. Er hielt drum vor der letzten Kortschma, von hier aus konnte man sehen, was los war.
Sie stiegen ab, traten ins Gasthaus und sagten: „Gott helf!“
Der Wirt erwiderte ihren Gruß schüchtern und unwillig.
Sie schwiegen, denn die Furcht saß bei ihnen.
Aber Schulim Seigermacher gehörte nicht zu jenen Naturen, die sich verstecken können und dann von Heldentaten Wunder was erzählen. Wer Schulim Seigermacher heißt, versteckt sich nicht, sondern geht vorerst allein und versucht durchzukommen. Und wenn er einmal jenseits steht, er läßt die anderen nicht lange warten.
Und er faßt Mut und geht. Geht gerade los, wie wenn man noch neunzehnhundertdreizehn schreiben täte.
Er wird von den Kosaken angehalten. So bleibt er stehen.
„Ty jewrej – ?“ fragen sie.
Schulim tat, als verstände er nichts.
Ob er ein Jewrej sei, fragen sie nochmals.
Schulim macht Augen, wie wenn man ihm von einer Dampftramway auf dem Monde erzählte.
[35] Ob er nicht wisse, was ein Jewrej sei?
Nein. Er wisse es nicht. Absolut nicht.
„Nu-zyd? Parch! –“ dolmetscht ein wissender Bauer, stramm und pflichteifrig.
„Da! da! – zyd –“ bestätigt der Kosak und spuckt aus. Ob er einer sei?
Schulim macht eine abwehrende Handbewegung. Er weiß es: diesmal könnte seine Judenheit ihm den Rücken zermalmen.
„Zyd –? –“ zieht er langsam, mit einem Lächeln, das in sein Herz schneidet. „Nie – Kalwin –“
Der Kosak wußte nicht, was „Kalwin“ bedeute, aber es schwante ihm, daß es kein Jewrej sei. Wie zur Selbstversicherung sagte er vor sich hin, halb fragend, halb seine Zweifel tilgend: „Chrystanin“.
Der Zweite aber wandte sich an die umstehenden Bauern mit der Frage, ob sie Schulim kennten. Das heißt: als Juden.
Ein Zittern fliegt dem Uhrmacher von den Beinen bis in die Haare. Seine Hände schlottern, aber er darf es den Bauern nicht verraten. Es beruhigt ihn das eine, daß der Zufall keinen von den Städtischen hierher geleitet. Während sie ihn mustern, seine „herrische“ Kleidung prüfen, seinen sorgfältig nach Schwedenart gestutzten Bart untersuchen, seine Nase messen, wendet sich Schulim an den Kosaken, scheinbar frei und fordernd: „Hör mal, Bruder! Ich rauche leidenschaftlich und hab keinen Tabak. Gib mir was zu rauchen.“
Die Bauern hören, wie er dem Kosaken „Bruder“ zuruft. Dieser greift nach dem Tabak und reicht ihn [36] dem Fordernden. Und Schulim dreht sich eine Zigarette.
Die Bauern aber sind verdutzt, wie sie sehen, daß Schulim von des Kosaken „Magorka“ raucht und sagen endlich: „Ne znajemo jeho“. Sie kennen ihn nicht.
Schulim dankt dem Kosaken, sagt beim Weggehen auf Ruthenisch ein freundliches Wort und tut gemütliche Schlucke an seiner russischen Zigarette.
Er geht weiter. Und geht so lange, wie etwa ein Boryslawer Bürgermeister zum Zeichnen seines Vor- und Zunamens braucht (Schulim wohnt in der zweiten Ecke der Stadt), da wird er von einem zweiten Kosaken angehalten. – Sie stehen überall und hüten Rußlands Grenzen vor Europa....
Schulim bleibt stehen. Er weiß schon, was der Kosak ihn fragen wird; aber er wartet auf die Frage.
„Ty jewrej – ?“
Schulim tut, als höre er nicht recht.
„Jener Posten hat mir erlaubt, in die Stadt zu gehen –“ erwidert er darauf.
Ob er ein Jewrej sei?
Jener Kosak habe es ihm erlaubt – jener Kosak –
Der wachthabende Soldat wird aufgeregt. Seine Stimme wird dicker. Ob er ein Jewrej sei, fragt er nochmals den Weiterwollenden. Ein „Zyd“ –? Und spuckt laut und gehaltvoll eine Parabel von Speichel vor sich hin.
Was ihm auch einfalle? Ein „Kalwin“ – von weit her – von Amerika –!
Der Kosak macht große Augen, scheint eine Weile [37] nachzusinnen und behauptet dann in überzeugendem Brustton: „Ha! ha!Trojprimjirie –“ Vom Dreiverband. Und reicht dem Uhrmacher die Hand. Lacht breit und läßt ihn passieren.
Und Schulim geht frank und frei bis in seine Wohnung. Die ist bereits geplündert worden, ist halb leer. Man hatte auf die Kosaken nicht gewartet...
Seit jener Zeit war der Uhrmacher bei den Russen als Kalvinist und Amerikaner angeschrieben. Zuerst, da die Neuheit der Lage von jedem sein Ich förmlich abschälte, wie der Herbstwind das Laub von den Bäumen schält, hatte der Uhrmacher keine Muße gefunden, über sich nachzudenken. Und er war sonst eine sinnende Natur, hatte immer an so vielem zu drehen und zu deuteln gefunden. Wenn er über seinen gezahnten Rädern und Räderchen saß und durch die aufgesetzte Lupe dem Wirken seiner Hände zusah, wuchs sein Wesen und dehnte sich und seine Seele ward um so reicher, je mehr von ihren Flutungen in jene Räder und Räderchen hinübergeronnen war. Schulim hatte eine hohe Meinung von der Uhrmacherkunst, und wenn er es im Leben nicht wie die anderen von der Zunft so weit brachte, so lag das einzig und allein nur daran, daß ihm sein Tun kein Handwerk, sondern ein Beseelen dünkte.
Er war langsam und nicht pünktlich. Aber was verstanden die Leute davon? Sie brachten ihm ein totes Räderwerk zur Reparatur und wollten es nach [38] zwei Tagen schon völlig fertig und belebt haben. So rasch geht das nicht, sagte sich der Uhrmacher. Denn jede Uhr ist ein Leben, eine Welt für sich, von der großen Stadtuhr mit ihrem Baßbimmen angefangen, bis auf das kleinste Ührchen, das die noble Dame am Busen trägt und dessen Herzschläge so fein sind und zart, wie das Rascheln eines einsamen Blattes in einer schwülen Mittsommernacht. Die Uhren, die er um sich hatte, waren ihm lebende Wesen, eines anders als das zweite, und jedes von gleichem Interesse für ihn.
Daß Schulim jetzt über sich nicht nachdachte, wundert ihr euch etwa? In einer schweren Zeit, wo der Einzelne um so kleiner wird, je wuchtiger die Zeit ihn anpackt, kommt man so selten dazu. Der Hunger, die Furcht, der Mangel waren derartig, daß man nicht einmal Gott zu lästern Zeit fand.
Schulim trieb sich stundenlang herum. Sie waren hungrig bei ihm zuhaus. Er war auf der Suche nach Brot, nach Milch, nach Zucker. – Sich suchte er nicht. Auch hatte er noch keine Augen für das, was den Anderen widerfuhr.
Wie er ins Arbeiten kam, kam er auch wieder ins Denken. Er zog den Schulim der letzten Wochen hervor, gleichsam wie man einen vergessenen Ring aus der Westentasche hervorholt, stellte ihn vor seine Lupe und guckte, prüfte ihn bis auf die Nieren – – [39] und fand ihn klein, erschreckend klein, diesen Schulim der letzten Tage!
Er hatte sich dank einer Lüge, die ihm jetzt so ungeheuerlich erschien, in die Stadt geschmeichelt und hatte es dieser Lüge nur zu verdanken, daß er sich frei und sicher bewegen konnte, während die anderen unbarmherzig gehöhnt und bis aufs Blut gepeitscht wurden. Er aber stand jetzt abseits, hatte, ohne zu bedenken, sich selber ausgeschlossen, gehörte weder zu diesen noch zu jenen, gehörte zu niemand, nicht einmal zu sich selbst. Wer war er jetzt? Und was war er jetzt? Die Gepeitschten mit blutunterlaufenen Striemen wurden in ihrer Seele gefestigt und in ihrem Jammer um den Glauben bereichert, daß die Seele wächst und sich weitet, je härter und unmenschlicher und leiblicher die Folter ist, deren sich die Knechte der Finsternis bedienen. Nicht der Gepeitschte, sondern der Peitschende ist der Erniedrigte, Entwürdigte. Freilich: das wußten die Kosaken nicht und auch die müßigen Zuschauer nicht, die sich an ähnlichen Schauspielen weideten. Indem sie willig zuschauten, besudelten sie das Bißchen Mensch in sich selber.
Und er, Schulim Seigermacher, der über Räder und Räderchen saß und das Jammerschreien der Gepeitschten bis an seinen Werktisch heran hörte, er kam sich nicht wie ein Gepeitschter, sondern wie ein Peitschender vor. Er verglich sich mit Froim Ketzales, der sich Miroslaw nannte und über die kotigen Witze, in denen Trinkbrüder seine „Mischpoche“ schändeten, aus vollem Halse lachte, als wollte er sagen: „Mich gehts nicht an; ich bin Miroslaw, ich bin ich.“
[40] Er begriff den Sinn der Lüge, des Sichverleugnens.....
An den Abenden, die jedem Bewohner Gruseln einflößten, saß der Uhrmacher in seinem stark geleerten und düster gewordenen Heim, und sein Kopf war voll und schwer von alledem, was er des Tages gesehen und gehört hatte. In der Nacht hatte er einen unruhigen, von gespenstischen Träumen aufgestörten Schlaf und erwachte nicht selten, zur Mitternachtsstunde und horchte hinaus und hörte ein scharfes Klopfen an Fenster und Türen, ein Klirren und Knarren, lautes, anherrschendes Reden. Er fing all die Jammerschreie und Hilferufe auf, die in die Finsternis schnitten; er sah das steinerne Schweigen der Heimgesuchten.
Kalte Schauer liefen über seinen Leib. Denn es waren schwere, lähmende Nächte.
Die Tage waren nicht viel erfreulicher. Aber das Sonnenlicht nahm der Jammerlast einen Teil der Schwere, stellte die Heimsucher in den sichtbaren, sonnbeschienenen Rahmen der Wirklichkeit und nahm dem Menschlich-Unmenschlichen die schwarze Hülle des Gespenstischen, Geheimen. Wenn sie bei hellem Lichte in ein Haus traten, war die Furcht geringer, die Hoffnung mächtiger, das Menschliche näher, während in der Nacht jeder einzelne zu einem grausamen, gespenstischen Ungeheuer anschwoll.
Und derselbe Schulim, den allnächtlich die Angst vor ihnen peitschte, derselbe Schulim grüßte freundlich [41] und mit einem Lächeln, wenn sie des Tages in sein Haus kamen. In der Nacht vergaß er es. Aber bei Tag war er ja – Kalvinist und Amerikaner! Er hatte sich bei Sonnenlicht in diese Rolle eingespielt und redete zu ihnen wie einer, der weiß, was ihm von Rechts wegen gebührt.... Und sie waren auch zu ihm ganz anders: sie kamen mit einem Gruß, gaben ihm von ihrem Tabak zu rauchen, ließen zuweilen ein halbes Brot bei ihm liegen und gingen mit einem gutgemeinten Gruß von dannen.
Manch einer verweilte länger und ließ sich in ein Gespräch ein. Schulim war vorsichtig. Man konnte eine unüberlegt, überrasch gesprochene Wahrheit teuer bezahlen. Drum hieß es mit aller Kraft an sich halten, die Seele aus ihrem Futteral nicht heraustreten lassen. Denn es waren unter ihnen nicht wenige, die unzufriedene Worte sprachen in der Absicht, unzufriedene, verkrochene Seelen aus ihren Verstecken, ihrem Österreichertum herauszulocken, um so entweder Geld zu ersparen oder der Ochrana sich dienstbar zu erweisen. Wenn so einer zu Schulim kam und Klagen aufzurollen begann, wehrte Schulim zuerst mit den Händen ab, hielt sich die Ohren zu und entwaffnete ihn, indem er etwa sagte: „Borge mir zwei Rubel; die täten mir eher not als dein Geschwätz.“ Oder wenn einer in ihn drängte: „Bist du zufrieden?“, erwiderte er immer ein und dasselbe: „Ich bin ein Uhrmacher.“ Das war ein kräftiges Argument und ein Köder zugleich, denn sie hatten da gleich zur Hand eine Sammlung von Uhren – sie brauchten nur in ihre Stiefelröhren zu greifen.
[42] Es gab unter ihnen auch welche – sanfte und wahrscheinlich sinnierende Gemüter –, die für die Uhrmacherei ein besonderes Interesse bekundeten. Sie sahen zu, wenn er an ihren Uhren bastelte. Und einer war, der hatte nichts zu richten, der aber fast jeden Tag zu Schulim kam und ihn so sehr an sich gewöhnte, daß er es peinlich empfand, wenn der Soldat einmal länger ausblieb. Er saß stundenlang da, war anfangs wortkarg, taute aber immer mehr auf. Seine Stimme war rauh, sein Gesicht mit den kleinen Augen unschön, aber gewinnend, und in seinem übergroßen Wuchs und seinem vorgeneigten torkelnden Gang lag Gemütlichkeit. Er war von Odessa – Odjessa sagte er – und erzählte von Menschen und Begebenheiten aus seinem Lebens- und Gedankenkreis in schlichter Bauernart, daß ihm der Uhrmacher gerne zuhörte. Der Soldat war Schuster von Beruf und sah zur Uhrmacherkunst wie zu einem heiß ersehnten, aber unerreichbaren Ideal hinauf; sie dünkte ihm der Inbegriff des Höchsten und Edelsten, wie es etwa der Dorfbriefträger dem Gemeindehirten ist. Er war eine bescheidene, stille, genügsame Natur. Aber Schulim, der in den Seelen der Uhren Bescheid wußte, war ein schlechter Menschenkenner. Er blieb paff, als der Soldat einmal ganz unvermittelt an ihn mit der Frage heranrückte, warum er keine Heiligenbilder bei ihm sehe.
„Das ist mir eine Frage –“ dachte der Uhrmacher – „wie ein unverhofft verkündetes Fasten, wenn die Suppe auf dem Tische dampft!“
Es ward ihm unbehaglich. Sein Mißtrauen [43] hatte ihn beim Schopf gepackt. Er vergaß seine Prinzipien, vergaß Froim Ketzales, der sich Miroslaw nannte, und hörte in Gedanken jetzt wieder die Schreie der Gepeitschten. Als aber jener schweigend die Antwort erwartete, entgegnete er: „Ich will’s dir sagen, daß du es weißt. Ich bin ein ‚postupowy chrystyanin‘– ein fortschrittlicher Christ und scher’ mich um diese Dinge nicht. Bilder sind Werke der Menschenhand und die Menschen sind jetzt schlecht geworden. Ich kann’s nicht ausdenken, daß Gott – ja, ich kann’s eben nicht ausdenken –“.
Er hielt inne.
Darauf zog der Soldat seine Kappe vom Haupt, legte sie auf den Tisch mit dem Futter nach oben und hielt sie dem Uhrmacher hin: „Lies, was dort gedruckt steht! Kannst du es lesen? Dort steht aus gedruckt: za carja, za wieru – für den Zaren, für den Glauben! So bekommen wir es. Za familjn – steht nicht dort. Mein Weib und meine Kinder sterben wo Hungers. Odjessa ist eine große Stadt und hat viele arme Leute. Die sterben alle Hungers. Wofür? und warum? Siehst du, mein Vater hat sich auch geschlagen, ’s ist gar nicht solange her. Dort mit den Gelben. Man erzählte von ihm, daß er mit der Harmonika in den Sturm ging, als ihm beide Beine abgeschossen wurden. Die Mutter sollte dann jährlich etwa zehn Rubel für Andrij Gawrylowitsch’ Beine und Leben bekommen. Mein Vater war ein „prostak“ ein Gemeiner. Glaubst du, daß sie auch nur ein einziges Mal diese Summe ganz ausbezahlt bekommen hatte? Kein Gedanke! Zuerst mußte [44] sie vom Dorf in die Stadt, da borgte sie beim Nachbar einige Rubel. Denn zuhaus war kein Bares und in der Stadt gibt man keinem umsonst was zu essen. In der Stadt ging sie von einer Tür zur anderen... Und wenn sie die richtige Tür fand, war der Tschinownik wo weg, und wenn sie ihn traf, hieß er sie morgen oder übermorgen kommen, da die zehn Rubel von Petersburg noch nicht da waren. Ausgerechnet, die zehn Rubel, die man ihr für Andrij Gawrylowitsch auszuzahlen hatte! Sie mußte dann in der Stadt zwei oder drei Tage oder gar eine Woche lang bleiben und wenn sie richtig schon dran war, ausbezahlt zu bekommen, da bekam sie Püffe zu fühlen und man fragte sie zuletzt, was sie suche. „Ich komme für Andrij Gawrylowitsch’ Beine zehn Rubel zu holen“ – sagte die Mutter. Job twoja matj, swinia“ – erwiderte man ihr – „du bekommst nur sieben.“ So haben sie es ihr vorgemacht. Sieben Rubel bekam sie bar. Einige Rubel mußte sie dem Nachbar zurückzahlen, einen Rubel gab sie dem Popen, daß er eine Messe für Andrij Gawrylowitsch lese, und ein oder zwei Rubel blieben ihr. Dem Tschinownik blieben mehr in der Hand. Ja, so gehts bei uns! So kann’s auch meinem Weibe geschehen. Wer weiß es? Heute mich, morgen dich. Warum solls auch mich nicht treffen?“
Seine Stimme wurde gedämpft, weich; sie brach sich, schlug wieder um. Er ließ es nicht zu Tränen kommen.
Schulim sah diesen Soldaten mit seltsamen Augen an. Seine Stimme hatte die Gedämpftheit des [45] Überzeugenden angenommen; sein ganzer Körper vibrierte, wie es zu geschehen pflegt, wenn man mit dem ganzen Herzen bei der Sache ist, er schien gleichsam mitzureden, für die Aufrichtigkeit des Gesagten einzustehen.
Aber Schulim hielt fest an sich. „Vielleicht will mich der doch hereinlegen –?“ dachte er bei sich – und schwieg.
Der Soldat fuhr zu reden fort.
„Mit den Kosaken, siehst du, ist es eine ganz andere Geschichte. Für sie ist das so das richtige Handwerk. Sie rauben, morden und peitschen – sie peitschen auch uns daheim; sie wissen wofür. Sie sind dabei mit dem ganzen Herzen. Denn sie tun’s für sich. Ihnen lohnt es der Zar. Sie haben Boden, Vieh und Acker und kein Tschinownik hat ihnen was dreinzureden. Aber wir, die „Wojaki“ – wir, Soldaten von der Linie – was haben wir davon? Wir schlagen uns nicht für Rußland – nein; für die Kosaken. Für wen hat sich dann mein Vater geschlagen? Für wen?“ – frag ich. Für sich nicht. Für sein Weib auch nicht und auch nicht für mich. Für wen dann? Für Andrij Gawrylowitsch und Semen Andrejewitsch werden bei uns keine Kriege geführt – sag ich dir. Das macht mir kein Mensch weiß. – Aber warum sag ich dir das alles? Bei uns darf ein Schuster nicht reden. Bei euch ist das anders. Wem was wehtut, er darf weinen. Wer klagt, es wird ihm Gerechtigkeit. Bei uns nicht. Wir nähren uns von dem, was uns wehtut. Keiner nimmt uns was davon. Glaubst du, sie sind Christen? Das läßt man [46] uns nur in die Kappen drucken. Sie reden uns nur ein, daß wir uns für den Glauben schlagen. Ich sag dir’s: ’s ist nicht wahr. Wir haben soviel „Cerkiews“, daß die Heiden der ganzen Welt drin Platz hätten zu beten. Wir schlagen uns nicht für das Prawoslawie. Ich sag dir’s und mir kannst du glauben, denn ich bin ein guter Christ.“
Er griff tief in den Abgrund einer Manteltasche und holte von dort eine zerrunzelte Blase mit „Magorka“ hervor und drehte sich eine fingerdicke Zigarette davon. Schulim strich ein Zündholz an und hielt es dem Soldaten vor die Zigarette hin. Der Soldat aber nahm es ihm aus der Hand und dankte in einem warmen, weichen Ton: „Spassiboh! Du bist ein guter Mensch.“ Und bot ihm seinen Tabak an und ließ das Streichholz nicht früher fallen, als bis Schulim eine Zigarette fertig gerollt und angesteckt hatte. Ein grauer, scharfer Rauch ringelte sich über ihren Köpfen.
„Warum schweigt der Uhrmacher –?“ dachte der Soldat.
„Warum sagt er mir das alles –“ fragte sich der Uhrmacher. „Und würde er so zu mir auch dann reden, wenn er wüßte, daß ich kein „postupowy Chrystyanin“ bin?“
Es war ein peinliches Schweigen. Sie fühlten es: es stand zwischen beiden ein Fremdes, das aber nicht sie aufgestellt haben. Schulim war schon bereit, seine Seele aus dem Futteral zu heben und sie auf den Tisch dem Soldaten hinzulegen. Es giftete ihn [47] seine Lüge und daß er dadurch den Menschen in sich und in einen anderen gekürzt.
Es begann schon zu dunkeln, denn der Wintertag war wie ein Greisenschritt so winzig geworden. Der Schnee guckte mit seinen glitzernden Katzenaugen ins Dämmer. Die Zaunpflöcke vor dem Haus trugen aus ihren Häuptern weiße, ragende Bischofsmützen.
Schulim und der Soldat schwiegen.
Da hörten sie von der Straße her ein Schreien, ein herzzerreißendes Weinen und ein Singen dazwischen. Beide traten sie ans Fenster und sahen, wie zwei Kosaken einen Mann schleppten und seinen Rücken mit Nagajkas belegten und von Zeit zu Zeit die Nagajka nach rückwärts schwenkten, um das jammernde Mädchen, das diesem Mann folgte, davonzujagen. Der Mann aber hopste zuweilen und sang dabei. Man merkte es gleich: er war nicht bei Sinnen.
Der Uhrmacher erstarrte zu Eis. Er erkannte den Geschleppten. „Das ist Welwale –“ sagte er zu sich. „Dem haben sie sein Kind geschändet und den Verstand geraubt und schleppen ihn jetzt zu den Schanzen –“ ergänzte er laut.
Der Soldat schnellte empor, wie wenn ihm der Böse in die Glieder gefahren wäre.
„Antichristen! Schakale – schrie er. – Ich schlag’ sie tot.“
Sein Gesicht ward mit einem Mal von einer lohenden Röte überzogen. Er reckte sich, befühlte seinen Gurt, ergriff die Kappe – und mit einem Satz war er fort.
[48] Der Uhrmacher war betäubt. Mehr als betäubt. Er fühlte sich zerschlagen, zerrissen. Es fraßen an ihm Schmerz und Scham. Und er stürzte aus dem Zimmer und rief dem Soldaten nach, in der Meinung, daß jener es hören könnte: „Semen! Semen! ich bin ein Jewrej! ein Jewrej!“
Jener wandte sich nicht um, aber ein Praporschtschyk, geschniegelt und gebügelt, kam gerade vorbei. Der ergriff den Rufenden am rechten Arm mit einer Wucht, daß er ihm beinahe die Knochen zerdrückte, machte mit seinem Leib eine halbe Wendung und belegte ihn mit ein paar Streichen, daß es sauste. Dann ließ er ihn los.
„Ich danke dir!“ – sagte der Uhrmacher. – „Ich bin’s dem Semen Andrejewitsch schuldig –“.
Der Praporschtschyk bekreuzte sich dreimal....