Wilhelm Löhes Leben (Band 1, 2. Auflage)/Zweites Kapitel

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Zweites Kapitel.
Universitätszeit.




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Universitätszeit.
 Reif wie wenige Jünglinge bezog Löhe am 5. November 1826 die Universität Erlangen. Dort lehrten damals neben anderen Professoren der schon bejahrte Kayser, der bekannte Grammatiker und Exeget Winer und der so vielen und auch Löhe zum Segen gewordene Krafft. Auch die philosophische Facultät zählte damals unter ihren Docenten einige berühmte Namen, von denen es hier genügt an F. Rückert, Schubert, an dessen Stelle dann später K. v. Raumer trat, und Döderlein zu erinnern. Rektor Roth hatte Löhe empfohlen, Krafft zu hören. „Das ist ja ein Mystiker“, dachte Löhe, allein aus Respect vor dem Rath seines Lehrers entschloß er sich, in Krafft’s Vorlesungen zu gehen. Während die übrigen Vorlesungen der theologischen Professoren für seine „unruhige und dürstende Seele waren wie heißer Sand“, fand er bei Krafft das Wasser des Lebens, nach dem er verlangte. Doch lassen wir ihn sich selbst über sein Verhältnis zu Professor Krafft aussprechen: „Zum bleibenden Segen, zum Sauerteig, der mehr und mehr mein Leben durchsäuern sollte, wurden mir die Vorträge, die Herr Professor Krafft im Jahre 1826 über den Hebräer-Brief hielt. Zwar hatte ich damals etliche Wochen, da mich Fichte’s Bücher wegen des starken Geistes, den ich in denselben zu spüren meinte, von jenem frommen Lehrer entfernten. Doch verdroß mich bei Fichte, daß er einen höheren Standpunkt des Lebens kennen wollte als den religiösen, und da ich vollends seine Auslegung von Joh. 1.| las, ließ ich ihn liegen und besuchte hinfort mit desto größerem Wohlgefallen Krafft’s Collegia. Diesen meinen Lehrer, der nicht nöthig hat, daß ich ihn hier weiter lobe, hoffe ich einst noch leuchten zu sehen, wie des Himmels Glanz und wie die Sterne immer und ewiglich Dan. 12, 3.“ Von da an saß Löhe, obwohl erst ein angehender Theologe, mitten unter den in den letzten Semestern stehenden Studenten regelmäßig zu Füßen des frommen Lehrers.

 Mit welchem Ernst und Eifer Löhe seine Studien betrieb, und wie er es schon damals verstand, haushälterisch mit seiner Zeit umzugehen, sehen wir aus einem Brief, in welchem er einem Freunde die Ordnung seines täglichen Lebens mittheilte.

 „Täglich beginne ich um 7 Uhr mein Tagewerk. Bis nach 8 Uhr vergleiche ich die lutherische Bibelübersetzung mit dem griechischen Text. Das ist für Dich schon überflüssig; täglich ein halbes Capitel aus dem neuen, ein halbes aus dem alten Testamente ist für Dich genug, zumal da Du Deine Kirchen und Religionsstunden hast. Um 8 Uhr hab’ ich täglich philosophische Moral bei Hofrath Mehmel zu hören. Um 9 Uhr habe ich Mittwoch und Freitag ein hebräisches Grammatikale bei Privatdocent Drechsler. Dann bin ich am Dienstag um 9 Uhr ganz frei, Montag und Donnerstag aber bei Kirchenrath Winer in einem vortrefflichen Collegium von 10–11 Uhr über theologische Einleitungswissenschaft. Länger als bis 11 Uhr habe ich Vormittags keine Collegia. Ich habe also Montags von 9–10, Dienstags von 9–12, Mittwochs von 10–12, Donnerstags von 9–10, Freitags von 10–12 und wieder Montags und Donnerstags von 11–12 Uhr frei. Unter diesen drei vormittägigen Collegien brauche ich mich nur aufs hebräische zu präparieren und das über theologische Einleitungswissenschaft muß ausgearbeitet werden.

|  „Von 12–1 Uhr ist Essenszeit, während welcher ich nebenhin gute Reisebeschreibungen (jetzt die von Humboldts in den Aequinoctialgegenden) lese und excerpiere. Von 1–2 präpariere ich mich auf des Herrn Bergraths Schubert herrliches Collegium, denn ohne Präparation versteht man weder Alles noch sieht man Zusammenhang. Doch ist dies nicht gar strenge, sondern ich ersetze oft die Präparation durch Nachlesen, wenn das Collegium vorüber, und am Donnerstag, wo mich die Arbeit am meisten in Anspruch nimmt, ist es in der Regel so. Von 2–3 liest täglich Herr Bergrath Schubert, von dem und über alles Genauere ich Dich mündlich befriedigen will. Zwischen den Collegien wird immer eine Viertelstunde freigegeben, und weil ich die nachmittägigen fast alle in einem Nachbarhause höre, geh’ ich immer heim und verwende diese Minuten auf Memorirübungen. Von 3–4 liest zwar Böttiger täglich Universalgeschichte, aber seiner Abgeschmacktheit wegen und weil ich diese nicht zu hören brauche, auch lieber für mich dieselbe studiere, gehe ich nur zweimal (Montags und Dienstags) zu ihm, und Mittwoch, Donnerstag, Freitag heimlich in ein vortreffliches theologisches Collegium über den Hebräerbrief, welches der bekannte Professor Krafft, ein sehr liebenswürdiger, ausnehmend frommer Mann, umsonst liest, weshalb er auch seine Zuhörer nicht alle kennt. Dies ist eines von den zwei oben angedeuteten Collegien, die ich nebenbei besuche, und wird ausgearbeitet. Von 4–5 liest Professor Döderlein ein recht angenehmes und belehrendes Collegium über philologische Einleitungswissenschaft, welches ich auch ausarbeite. Um 5 Uhr bin ich sodann Montags bis 6 Uhr, ebenso Donnerstags frei, am Mittwoch schon um 4 Uhr, weil Döderlein nur viermal liest. Am Dienstag höre ich bei Krafft (auch wieder ein Collegium, das ich nicht hören muß, das zweite der beiden obenbemerkten theologischen Collegien)| Missionsgeschichte von 5–6, und zu derselben Zeit gehe ich (aber nur manchmal) am Freitag ins philologische Seminar, welches herzlich schlecht ist, und wo Homers Odyssee gelesen und lateinisch von den Mitgliedern erklärt wird. Ich bin aber kein Mitglied, sondern nur ein Hospes, weil mir die Mitgliedschaft unter dem strengen Döderlein zu bindend ist. Von 6–7 Uhr habe ich Montags und Donnerstags bei D. Doignon französische Sprache (Privatstunde aus meinem Beutel), da solltest Du mich hören, wie ich sprechen kann! Tausend, Du wirst Dich wundern! Am Dienstag aber habe ich bei Professor Kapp ein Collegium über Naturrecht und Politik. Ein wirrer, wüster Kopf, aber doch gelehrter und geschmackvoller als die beiden abgeschmackten: Mehmel und Böttiger! Um 7 Uhr esse ich, und da müssen alle meine pflichtgemäßen Arbeiten geschlossen sein und sind’s auch, ob ich wohl drei Collegia bearbeiten und mich auf zwei präparieren muß, außerdem für meine französischen und englischen Stunden, welche letztere ich willkürlich gebe und mich nicht binden lasse, allerlei zu thun habe. Nur am Donnerstag, wo die drei Collegienbearbeitungen zusammenfallen, kann ich’s manchmal nicht erzwingen. Von 7–8 lese und excerpiere ich. Um 8 Uhr wird eine horazische Ode vorgenommen und bis nach 9 dann im Tacitus (Leben Agricolas für jetzt) studiert, bis nach 10 sitze ich über meinem Thucydides. Dann kommt zum Schlusse Humboldt’s Reise, Herder’s religiöse Schriften, ein Capitel aus dem alten Testament, Abendsegen und Amen, und wenn der Wächter um 11 Uhr dutet, lieg ich sanft gebettet in Schlafes Armen. Am Sonnabend bin ich dann früh auf und meistens in der Morgendämmerung (vor 6 Uhr schon) auf dem Weg nach Fürth. Der Morgen geht hin in Besuchen bei den Meinen, bis nach 3 Uhr lese ich dann und hierauf besuche ich gewöhnlich die| Deinen, welche gut und gescheidt, aber bei weitem (Th. ausgenommen, die gescheidter als die andern und als ich dachte, ist) nicht so gescheidt sind, als ich glaubte. Der Sonntag gehört Gott und meiner Seele; um 6 Uhr Abends bin ich schon wieder in Erlangen über meiner Bibel und neuem Testamente.

 „Da hast Du meine ganze Lebensordnung, und merkst Du denn nicht, wie ich Dich liebe, daß ich so lange mich von meiner lieben Ordnung trennte, um Dir zu schreiben?“

 Wie schon aus dem eben Gesagten ersichtlich, war Löhe’s Leben ein sehr zurückgezogenes, von dem anderer Studenten weit verschiedenes. Von der überschäumenden Jugendlust und ausgelassenen Heiterkeit des studentischen Lebens fand sich bei ihm keine Spur. Die Richtung seines Geistes war hiefür zu männlich und zu ernst.[1] Wider seine Neigung, aber aus Gehorsam gegen den Rath seines verehrten Lehrers Roth, schloß er sich der damals in Erlangen blühenden Burschenschaft an[.]| Als er zum ersten Mal auf dem Burschenhause war, wurde er in Folge eines Mißverständnisses von dem Senior derselben in etwas barscher Weise empfangen. Da Löhe hierauf erklärte, wieder gehen zu wollen, wurde der Senior höflich und forderte ihn auf zu bleiben.
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 Löhe gefiel sich jedoch dort so wenig, daß er seinen Besuch erst nach acht und dann nach vierzehn Tagen und so fort immer seltener wiederholte, bis ihm nicht zu seinem Misvergnügen der Rath gegeben wurde, bei seinem mangelhaften Interesse an den Angelegenheiten der Burschenschaft lieber aus derselben auszutreten. Er fühlte sich wie von einer Last befreit, als sich sein Verhältnis zur Burschenschaft gelöst hatte. „Die Burschen“, so erzählt er den Hergang einem Freunde, „haben mich von ihrer Gesellschaft wieder ausgeschlossen, weil ich an ihren Zwecken zu wenig Antheil nahm. Dies ist wenigstens der Grund, den sie angaben. Ich bin also wieder ein Obscurant wie vor. Darüber ist meine Seele voll Dankens und Rühmens gewesen. Mein Gott hat mich in meine Stille zurückgewiesen, nicht jene. Sie haben mich beschimpfen wollen und habens nicht einmal bei den Menschen erreicht, ich habe unter ihnen selbst noch vier Jünglinge, welche sich durchaus nicht wollen wehren lassen, meinen näheren Umgang zu suchen, und noch viele, die mir wohlwollen. Vor mir selbst aber haben sie ganz recht gethan. Ich gehörte nicht hin, hab’ blos den Rath des Rectors Roth befolgt, gegen meine innere Stimme, so ist’s ganz recht, daß ich so bin ausgestoßen worden aus dem Ort, wohin ich nie hätte gehen sollen. Mein Gott schafft selbst alle Hindernisse bei Seite, die mir den Weg zu Ihm sperren und schwierig machen könnten. Die Welt, auch die außer den Burschen, mag mich nicht; es wird ihr unheimlich bei mir wie mir bei ihr: o daß es zum Zeichen werden möchte, daß ich von der Welt| genommen und Jesu Christo gegeben bin. Joh. 15, 18. 19-17, 6. 9 etc. ib. v. 14. Mein lieber Herr möge mich läutern nach seinem heiligen Willen und mich irrenden Pilgrim, der gleich vornherein der Welt müde ist, dieweil ich doch in der Welt bin und hienieden von ihr viel angefochten werde, mit festem Glauben rüsten, daß ich ein männlich Zeugnis von seiner heiligen Religion ablege zum Trotz der Hölle und der Welt, seinen Kindern aber zur Freude und zum Trost, Ihm selbst zur Ehre. Mit Gott durch Jesum Christum trotz meiner Schwachheit vereint, werde ich einst ganz andere Leiden und Uebel als solche (denn an denen wird mir die Freude gar zu leicht), aushalten und mit Freuden tragen können.“
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 Diejenigen, die Löhe kannten, werden sich über diese schnelle Lösung seines Verhältnisses zur Burschenschaft nicht wundern. Die Führung seines Lebens war schon damals eine so ernste, und das ihm so bestimmt vorschwebende Ziel seines Studiums, das geistliche Amt, verlieh schon seinem Studentenleben so sehr eine Art geistlicher Weihe, daß es nicht Wunder nehmen kann, wenn er an studentischen Gelagen und Lustbarkeiten keinen Geschmack finden konnte. Auch war ihm der Zeitaufwand, den das Verbindungsleben verursacht, zu groß. Seine Eigenart mag sich überdies an gewissen studentischen Manieren und Lebensformen gestoßen haben, wie ihm denn der burschikose Ton Zeitlebens etwas Unsympathisches geblieben ist. Da er ohnedies zum Gesang nicht begabt, auch ein abgesagter Feind des Tabaks und ein ausgesprochener Verächter des bayerischen Nationalgetränkes war (er nannte den Gerstensaft ein Getränke von gemeinem Geschmack), so läßt sich denken, wie wenig er für die Geselligkeit des studentischen Verbindungslebens geeignet war[.] Die Nähe der Heimath ersetzte ihm den Mangel eines geselligen Lebens. Jede Woche machte er sich am Sonnabend auf nach| Hause, wo er im Kreis der Seinen den Sonntag zubrachte. Der Abend des Samstags gehörte dem von ihm gestifteten Missionskränzchen. Einsam war er indeß auch in Erlangen nicht. Es hatte sich ein Kreis ernstgesinnter Studenten an ihn angeschlossen, der sich wöchentlich einmal bei ihm versammelte. Da wurde bis 10 Uhr gemeinsam studiert, und dann blieb die gelehrte Gesellschaft noch in zwangloser Weise bei Thee zusammen. Mit einzelnen aus diesem Kreise, wie z. B. Hornung, Heller, Brunner, Layritz, Mayer, Wißmüller etc., war Löhe häufig, ja täglich zusammen.
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 Von besonderem Interesse müßte es sein, wenn uns in Löhe’s inneres Werden und seinen theologischen Entwicklungsgang ein näherer Einblick verstattet wäre, als dies durch die Beschaffenheit des schriftlich vorliegenden Materials möglich ist. So viel wissen wir bereits, daß Krafft vom entschiedensten Einfluß auf ihn war, und er das wahre Christenthum durch seine Lehre und sein Beispiel kennen lernte. Auf dem Gymnasium huldigte er einer noch ziemlich verschwommenen, nach damaliger Zeiten Weise sentimental angehauchten Religiosität; dagegen schon seine ersten Briefe von Erlangen zeugen von einem völlig neuen religiösen Standpunkt und einem innigen Leben und Weben in den Heilswahrheiten des Christenthums, namentlich in der Lehre von dem gottmenschlichen Versöhner, der Buße und der Rechtfertigung aus Glauben. Es war ihm gegangen, wie er in einem Brief an einen Freund sagt: „Ei, welch ein fröhlicher, neuer Schein, den ein wiedergeborener Augessinn empfängt (1. Joh. 5, 20, Sinn, eigner neuer Sinn).“ Das Schwanken des Uebergangs, die Unruhe einer lange und mühsam nach der Wahrheit ringenden Seele können wir an ihm, im Unterschied von vielen seiner Altersgenossen, nicht bemerken. Da die dürre Haide des Rationalismus längst suchenden Geistern| keine Befriedigung mehr bot, so wandten sich damals mit desto mehr Erwartung und Begeisterung die besten und strebsamsten unter der studierenden Jugend den die Zeit beherrschenden philosophischen Systemen, insonderheit jenem zu, welches den Anspruch machte, die Versöhnung zwischen Philosophie und Christenthum zu sein. Wie viele haben in der Schule des hier gemeinten Philosophen die Wahrheit gesucht, ehe sie nach langen Umwegen und Enttäuschungen bei dem anlangten, der da spricht: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“ Löhe’s Gang war ein andrer. Mag es immerhin auch ein gewisser Mangel philosophischer Begabung gewesen sein, was ihn von tieferem Eindringen in die speculative Gedankenarbeit des Jahrhunderts abhielt: der Hauptgrund war doch die früh gewonnene Ueberzeugung, daß die Wahrheit nicht entdeckt werden müsse, sondern geoffenbart sei, und daß nicht der suchende Philosoph, sondern der gläubige Christ sie finde. Während daher ein großer Theil seiner Altersgenossen von den hohlen Worten geblendet wurde, welche damals menschliche Weisheit vom philosophischen Katheder herab sprach, war Löhe ein Jünger der göttlichen Thorheit, ein Mann des einfachen, rückhaltslosen Glaubens an das Schriftwort. Die Gnade hatte sein Herz frühzeitig fest gemacht. In der That es überrascht, an einem 19jährigen Jüngling eine so ausgeprägte Bestimmtheit des christlichen, theologischen und kirchlichen Standpunktes, wie wir sie bei Löhe wahrnehmen, zu finden. Obwohl es ein reformierter Lehrer war, der ihn zu Christo wies, und obwohl durch den Rationalismus die konfessionellen Gegensätze verflacht und auch für das neu erwachende Glaubensleben noch nicht wieder in ihre Bedeutung eingetreten waren, war Löhe dennoch bereits als Student mit Bewußtsein und voller Ueberzeugung Lutheraner. So war er z. B. ein entschiedener Anhänger und Bekenner der lutherischen Lehre vom| Abendmahl. Der Gang zum Sacrament galt ihm alles Ernstes als ein Act des Bekenntnisses zu Art. X. der Augsburgischen Confession. Ein Freund hatte ihm im Jahre 1825 geschrieben: „Bist Du klar über das Abendmahl?“ Löhe erwiderte ihm: „Vom Wissen und Klarsein ist da nicht die Rede, weil das Abendmahl ein Sacrament und Geheimnis (Mysterium) ist, das nur durch den Glauben ergriffen werden kann. Man muß beim Abendmahl nicht so mit dem Verstand herum gehen wie mit einem Mikroskop. Begriffen kanns nicht werden, wie wir zugleich mit dem Brod den Leib, der wirklich am Kreuze starb, zugleich mit dem Kelch das Blut, das aus seinen heiligen Wunden floß, empfangen. Da müssen wir glauben. Denn Jesus, der das Wort ist, das Gott war und ist, der die Wahrheit selber ist, spricht: Das ist mein Leib, das ist mein Blut. Ich schicke Dir ein Büchlein von Claudius mit und Speners treffliche Katechismustabellen. Lies, was aufs Abendmahl in beiden Büchern so schön gesagt ist.“ Darauf theilte er dem Freund noch das Lutherische Lied „Jesus Christus unser Heiland“ in extenso mit.
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 Desgleichen war die Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben das Freudenlied seiner Seele im Hause seiner Wallfahrt. Die symbolischen Bücher der lutherischen Kirche waren sein tägliches Studium. Allen Artikeln des christlichen Glaubens, auch solchen, zu denen damals gar mancher sonst gläubige Christ nur schüchtern sich bekannte, wie z. B. zu der Lehre von der Existenz und der Wirksamkeit des Teufels, gab er seine volle Zustimmung. Wir finden in seinen Briefen Auseinandersetzungen über die Lehre vom Reiche des Teufels, von unmittelbar teuflischen Anfechtungen, von dämonischen Krankheiten, deren Vorkommen auch in unseren Tagen entschieden behauptet wird. Löhe schloß sich hiebei ganz an den alten Dogmatiker Hollaz an, aus dem er in einem der eben erwähnten| Briefe eine Stelle mittheilt, nämlich das Gebet, mit dem er die Lehre von den Engeln und Teufeln abschließt, und dazu bemerkt: So einen Seufzer thut dieser fromme Scholasticus nach jeder absolvierten Lehre, denkt doch post tot discrimina rerum (nach so viel Distinctionen und mit Schrift- und Vernunft-Gründen glücklich bestandenen Kämpfen mit den Gründen der Gegner) auch noch an den, dem er sein ganzes Werk und sich, ad pedes provolutus, mit den schönsten Worten lateinischer Sprache dediciert hat. –

 So entschieden hielt es Löhe mit den Alten, auch in den dem Zeitbewußtsein anstößigsten Lehren. Ein einziges Mal, pflegte er später zu erzählen[2], habe er in einer Gesellschaft, in der man mit Bezweifeln einzelner Glaubenspunkte groß that, in den gleichen Ton einstimmen zu müssen geglaubt. Am unschädlichsten habe es ihm geschienen, die Engellehre der Kirche zu bezweifeln, und so habe er denn keck das Dasein der Engel geläugnet. Das Herz habe ihm freilich schon unter dem Reden geschlagen und er habe sich bald seiner Sünde geschämt. Nun freue er sich aber, daß ihm Gott eine solche Liebe zu den heiligen Engeln ins Herz gegeben habe, daß er den Trost des Engelglaubens um alles nicht mehr missen wolle. Wer ihn später an Michaelistagen predigen hörte, hat sicher den Eindruck bekommen, daß ihm die Lehre von den Engeln eine Herzensüberzeugung war, und daß es ihm Freude machte, die trostreichen und erhebenden Momente dieser Lehre den Zuhörern recht ins Licht zu stellen.

 So gewann das christliche Leben bei Löhe sofort auch eine von dogmatischen Unbestimmtheiten freie und entschieden lutherisch gerichtete Gestalt. Zwar hatte er mit Herrenhutern in Fürth vielfach Umgang, allein allenfalls außer der Vorliebe, mit der er den| Erlöser als das Lamm bezeichnet, ist kein Zeichen Herrenhutischen Einflusses an ihm zu bemerken. Vor den Süßlichkeiten Herrenhutischen Wesens bewahrte ihn seine gut lutherische Richtung und sein gesunder geistlicher Geschmack. Einen Freund, der Neigung zu derlei geistlichen Sentimentalitäten hatte, warnte er mit folgenden Worten: „Warum nehmen wir nicht aus der großen Anzahl trefflicher alter Lieder, wenn wir etwas wollen? Süßlichkeiten kann man bei so herrlichem Vorrath nicht brauchen: Tac. Dial. c. 26. Si omisso optimo illo et perfectissimo genere eloquentiae eligenda sit forma dicendi, malim hercule C. Gracchi impetum aut L. Crassi maturitatem quam calamistros Maecenatis aut tinnitus Gallionis.[3] Du wirst auch in der Bibel dergleichen nicht finden, halte Dich in allen Stücken an die Bibel, auch in der Sprache leitet sie recht.“ Ein andermal schreibt er: „Der Glaube und die Liebe zu Ihm kann nicht immer mit Süßigkeiten verbunden sein; es giebt einen Glauben, der darbet an allem süßem Gefühl und überwindet doch die Welt, und eine Liebe, die entblößt ist von Liebesdrang und ist doch stärker denn der Tod.“
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 Bei diesem innern Standpunkt läßt es sich denken, mit welcher Freude Löhe das Wachsen des Reiches Gottes und das Erwachen eines neuen Glaubenslebens in jenen Tagen sah. „Ich kann“, schrieb er im Juli 1827 dem ehrwürdigen Brandt, damals Pfarrer in Roth, „meine Freude darüber, daß auch in meinem Vaterlande der Eifer für’s Evangelium wieder lebendig wird, so wenig bergen, daß ich, obwohl Ihnen, Hochehrwürdiger Herr,| unbekannt, und durch mein Alter zu bescheidener Stille verwiesen, Ihnen dennoch bei dieser Gelegenheit für Ihre ernstlichen Bemühungen das Reich Christi zu fördern, aufs innigste zu danken wage. Wie freue ich mich darauf und wie sehne ich mich danach, einst jeden Augenblick und alle Kraft und selbst das Leben dem Herrn Jesu Christo opfern zu dürfen.“

 Brandt stand nämlich an der Spitze einer Gesellschaft zur Verbreitung christlicher Schriften, der Löhe selbst schon als angehender Student beigetreten war; und eben im Interesse der Zwecke dieser Gesellschaft hatte er obigen Brief an Brandt geschrieben. Dieser erwiderte hierauf: „Freuen Sie sich, lieber Freund, auf die Zeit, in der Sie ins Amt treten werden. Es ist jetzt eine angenehme Zeit. Allenthalben ein heißes Verlangen nach der lauteren Milch des Evangeliums und ein schönes Feld zur Aussaat für den treuen Diener des göttlichen Wortes.

 „Oberlin ist ein köstlicher Spiegel für uns, der Herr mache uns zu so tüchtigen Werkzeugen in seiner Hand. Ihm sei unsere Kraft und unser Leben geweiht; so lang es Tag für uns ist, wollen wir freudig, und fröhlich für sein Reich wirken!“

 Wie der Brandtischen so gehörte Löhe auch der norddeutschen Gesellschaft zur Verbreitung christlicher Schriften als eifriges Mitglied an. Mit großer Freude begrüßte er auch das Erscheinen der Evangelischen Kirchenzeitung von Hengstenberg im Jahre 1827, zu deren gemeinschaftlichen Lectüre er einige seiner Mitstudenten in folgendem Aufruf ermunterte:

 „Das Eine, woraus Hilfe kommen kann, scheint unter den Leuten beinahe ganz vergessen und verloren. Dies Eine aber ist das Evangelium von der Versöhnung der Welt durch JEsum Christ, der Glaube: ,JEsus für uns und in uns!‘ – Ein Theil ist judaisierendes Volk, predigt nichts als Tugend und gute Werke: aber trotz ihrer schreienden Predigt wird kein| Mensch besser, trotz ihrer Predigt werden die Leute immer schlechter. Diese Sittenprediger sind Juden, und ihnen ist das Evangelium von Christo ein Aergerniß. Der andre Theil erwartet von der Aufklärung – und man sieht’s an ihnen selbst was ihnen Aufklärung heißt – alles Heil: das sind Heiden, und ihnen ist das Evangelium von Christo eine Thorheit.

 „Doch hat sich der Herr lassen überbleiben sieben Tausende in Israel, die ihre Kniee vor Baal nicht beugen und mit ihrem Munde den Götzen nicht küssen! Es ist dem Teufel noch zu keiner Zeit gelungen, den Ruf der Kinder Gottes zum Glauben an den Erlöser der Welt, in dem allein Rettung und Heil gegeben ist, ganz verstummen zu machen: er hat’s auch in unsrer Zeit noch nicht dahingebracht. Noch höret die Stimme der Wächter nicht auf zu rufen um Mitternacht: und trotz der grauenvollen Finsternis wird ihrer eine immer größere Schaar, welche am Widerbellen der Kinder der Welt kein Hindernis nehmen, sondern sich mit Gebet und Flehen aufmachen und dem Herrn JEsu, ihrer Seelen Bräutigam, entgegengehen, voll Sehnsucht nach dem Morgen, mit dessen Licht die Hochzeitfeier angehen wird!

 „So haben sich wieder eine Anzahl hocherleuchteter Männer, deren Namen unter den ächt christlichen Theologen des Vaterlands obenan stehen, vereinigt, in einer neuen, evangelischen Kirchenzeitung‘ das Evangelium von der Erlösung der Welt durch JEsum Christum zu verkünden. Die Männer: Neander, Tholuck, Strauß, Fr. v. Meyer etc. sind erleuchtet von oben, und wo sie sprechen, da muß man aufmerksam horchen! Liebe Herren, an die ich diese Worte richte, wollen wir nicht auch horchen? Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße der Boten, die da Frieden verkündigen, Gutes predigen, Heil verkündigen, die da sagen zu Zion: Dein Gott ist König! Deine Wächter rufen laut mit ihrer Stimme und rühmen mit einander. Denn man| wird es mit Augen sehen, wenn der Herr Zion bekehret‘ (Jes. 52. 7. 8).

 „Verehrte Herren! ich glaubte Ihnen Freude zu machen, wenn ich Sie aufforderte, Mitleser eines Blattes zu werden, welches, seines heiligen Zweckes willen, mit dem Segen Gottes gekrönt sein wird; zu dessen Herausgabe sich die größten Lichter unserer acht christlichen Theologen vereinigt haben.

 „Mögen durch dieses Blatt und durch andere christliche Schriften jene erbärmlichen belletristischen Zeitschriften immer mehr abkommen! Mögen alle Herzen sich immer mehr zu Dir, Herr JEsu Christ, bekehren, in Dir Eins und Alles finden, außer Dir keine Freude, keinen Frieden, kein Gut mehr finden!

 „Dem Herrn JEsu Christo aber, der die Seinen geliebt hat vom Anfang an und gewaschen von den Sünden mit seinem Blut; Ihm sei Ehre und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit! Gnade von ihm und Friede sei mit uns Allen. Amen!

Johann Conrad Wilhelm Löhe, 
stud. theol.“ 


 So sehr lagen Löhe’n damals schon die großen Angelegenheiten des Reiches Gottes am Herzen. Deshalb hatte er auch für seine Vaterstadt keine größere Sorge und keinen herzlicheren Wunsch, als daß ihr gläubige Prediger des lauteren Evangeliums bescheert würden. „Gott sei Dank“, schrieb er am 20. December 1827 an einen Freund, „daß wir an R. wenigstens Einen in Fürth haben, der Christum Jesum, weiter nichts predigt. Es ist auch Noth; denn der Fürther Senatus hat nun wirklich diesen L. als Vicarius in die Gottesackerkirche erwählt! –

 „Es ist mir leid um meiner Väter Grab! ich traure; denn die Leute meiner Stadt sind sehr krank; und dieser Doctor schafft sie gar hinaus! O daß doch die Eitelkeit der Welt aus L. wiche; daß Christus sich seiner erbarmte, es ist ja gar zu jämmerlich!| Lassen Sie uns beten: wir beten in Seinem Namen! Er wird seine verirrten Schafe wieder herumholen, er wird diese beschmutzten Leute noch rein waschen in Seinem Blut!

 „Ach! wir hätten genug gehabt an Einer Kirche! Als die Propheten gemordet waren, bauten sie ihnen prächtige Gräber! Nun der Glaube gewichen ist, baut man zum Andenken an seinen Tod ein Kenotaphium! Fides in pace! fuit.

 „Wenn ich mir drei eifrige Prediger an die alte Kirche denke: wie schön, wenn die zwölf Tausend an einem Orte beteten – von einer Kanzel, einem Altar aus Trost, Muth, Lehre, Seligkeit empfiengen! Wo viele Häuser sind, stehen viele leer. Schon die größere Zahl der Kirchgänger erhöht dem Menschen die Andacht, zumal dem, der noch nicht aus Erfahrung weiß, daß Christus innen ist.

 „Genug davon! In diesen Dingen find ich kein Ende; ich habe mich zu sehr hineingelebt.“




 Vielleicht erübrigt noch ein Wort über die innere Entwicklung Löhe’s zu sagen. Wir haben schon oben bemerkt, daß unter dem Einfluß Krafft’s Löhe zu geistlichem Leben erweckt wurde. Daß es dabei ohne jene geistlichen Geburtswehen, unter denen die Bekehrung sich vollzieht, nicht abgieng, läßt sich bei einer so starken Natur wie die Löhe’s war, leicht denken. Es gieng bei ihm das Werk des Geistes Gottes allmählich nur und schrittweise, nicht ohne Kämpfe und Rückfülle vorwärts. Der Kampf der Jugend, der Kampf des Geistes wider das Fleisch wurde auch ihm nicht erspart.

Wohnest Du bei Keinen
Als nur bei den Reinen,
O so mach mich rein!

ist ein unzählige Male von ihm zu Gott emporgesandter Seufzer. Er klagt über die Härte seines Herzens, das so ungerührt von| der Gnade bleibe. „Du blickst mich so freundlich an, mein Heiland, und ich bin eine Eisspitze, die nicht erwärmt wird“, sagt er einmal. Begreiflich ist auch, daß bei einer so hoch begabten und zur Führerschaft berufenen Natur Anfechtungen des Hochmuths nicht fehlten. So schreibt er, um eine Stelle aus unzähligen auszuwählen, einmal in sein Tagebuch: „Befleißige Dich den Willen eines Andern mehr denn den Deinen zu thun; erwähle allezeit eher den wenigsten denn den meisten oder größten Theil zu haben; suche allewege die unterste Stelle und Jedermann unterthänig zu sein; wünsche allezeit und bitte, daß der Wille Gottes vollkommen an Dir vollbracht werde: siehe ein solcher Mensch geht in die Grenze des Friedens und der Ruhe. Thom. a Kempis III, 25.[4]

 „Ach das ist ein Rath für Dich, mein stolzes Herz, ein Rath zur Demuth. Dein Wille geschehe, nicht der meine, o lieber HErr! Ach mein armes Herz, du bist noch ferne von der Grenze des Friedens und der Ruhe! Ach nicht nur in dieser Hinsicht, allewege wo mein Stolz und Eigenwille will Recht behalten, laß mich, o lieber Vater, in Deinem Willen ruhn.“

 Ein ander Mal preist er das Glück und die Schönheit der Demuth. „Die Demuth“, sagt er, „hat einen Reiz, daß sie den HErrn vom Himmel zwingt, der sie bewahrt, daß sie im Alter nicht runzlig vor Hochmnth werde.“

 Auch Löhe also hatte ernst mit sich zu kämpfen, aber mit welchem Ernst der Buße und welcher Tiefe der Sündenerkenntniß saß er dann auch wieder über sich selbst zu Gericht[.] Das Wort des Apostels: „Ich elender Mensch, wer wird mich| erlösen“, kommt unzählige Male und in unzähligen Variationen über seine Lippen. Doch auch das andere Wort des Apostels: „Ich danke Gott durch Jesum Christum unseren Herrn. So ist nun nichts Verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind“ lernte er mit immer größerer Freudigkeit nachsprechen. Traurigkeit der Buße und Freude im gläubigen Bewußtsein von der Gnade Gottes in Christo Jesu sind die sein Gemüth abwechselnd beherrschenden, oft mit einander sich durchdringenden Stimmungen, denen er in Tagebüchern und Briefen vielfach ergreifenden Ausdruck gegeben hat. Vielleicht sind den Lesern dieser Blätter einige Mittheilungen aus Löhe’s Selbstbekenntnissen als Bruchstücke zur Geschichte seines inneren Lebens erwünscht. Wir lassen hier eine kleine Auswahl folgen.


Erlangen, 20. December 1828.

 An K.

...„Mir selbst ist meine Theologia mein Alles! Christus heißt das Alpha und Messias das Omega meines Alphabets; wenn ein Buch nicht mit diesem A. B. C. geschrieben ist, so mag ichs nicht. – Die Genesis und die Psalmen, die Kirchengeschichte und noch mehr die heilige Geschichte in dem Neuen Testament, die lassen mich nicht von sich! – Ja statt drei Jahre sollte ich zwanzig studieren. Ich wills aber fortsetzen, so lange ich lebe. – Aber – es ist doch auch gefährlich; der Feind lauert immer; ich trauere oft tief über mein Elend! Ich bin der Elendeste unter allen Menschenkindern, um so mehr, da ichs nicht immer glauben will. – Beten Sie auch für mich! Es ist nur Eine Theologia, sie wird nur erfahren, nicht gelernt, ich habe sie noch nicht: Jesus Christus für und in uns! Ich bin wie ein schwer Erkrankter, der nicht schlafen kann, der immer fragt: ,Ach Hüter! ist denn die Nacht noch nicht um?‘ Mit mir hat der Arzt viel zu thun.

|  „Wenn aber einmal die Weihnachten kommt, da das Kindelein auch für mich, auch für mich geboren ist! dann, dann! Ich meine, es könne mir so große Gnade gar nicht geschehen! Aber ich laß doch nicht ab: ich laß ihn nicht, er segnet mich! Gesegnet sei der kommt im Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!“




 „Du lässest“, schreibt er in seinem Tagebuch vom 23. April 1828, „Deine Sonne scheinen über Gute und Böse und Deine Regentropfen träufeln über Gerechte und Ungerechte. Deine Sonne scheint draußen (jetzt) so schön am Abend, und die Wolken über meinem Haupte regnen. Siehe mein Friede mit Dir und meine Versöhnung in Hoffnung schimmern mir auch vorwärts; rückwärts liegt der Sünden Menge, begraben und unbegraben, einst erwachend in ihrer Abscheulichkeit, und über mir Sünd und Kampf und Sehnsucht vorwärts, wo die Sonne scheint.

 „Geh auf, o schöner Stern! Morgensonne geh mir auf! Gehe nicht unter, eh’ Du aufgegangen! Scheine bald freundlich über mir!

 „Licht von oben, am lichten Orte nicht, am dunkeln mußt du aufgehen oder von oben herunterstrahlen. Ich, mein ganzer Leib, ist Finsternis, dieweil mein Auge ein Schalk ist. Darum mich, der ich in Finsternis und Todesschatten sitze, laß sehen Dein großes Licht. Laß Deinem Strahle gegenüber mich wenigstens sehen, wie finstere, pechschwarze Nacht in mir ist.

 „Tag! Stunde, da mir der HErr erscheint! Pniel, wann werde ich Dich sehen.

 „Du wirst mich ja, o gekreuzigter Erlöser, zu Dir ziehen und mir eine Wohnung vergönnen überall, wo Du gewesen für Deine Kindlein, am Kreuz und in Gethsemane, im Felsengrab und unter der Versammlung derer, die Dich auf Thabor sahen| und beim Berg der Himmelfahrt und im Hause, da Du Deine Verheißungen erfüllt hast.“




Erlangen, 7. November 1829.

 An K.

...„Uebrigens ist mir hier wohl. Ich gehe durch manches dunkle Thal, aber mein schmaler Pfad führt auch hie und da auf den Berg Nebo, da ich in Canaan hinüberschauen kann. Das ,aus Gnaden selig werden‘ kommt mich oft hart an: durch Buße selig werden, wäre meinem unglückseligen Herzen schon leichter und bequemer. Aber ich danke meinem Gott, der mich in diesen Tagen gelehrt hat, was mein stolzer Kopf lange zu wissen sich einbildete, daß man muß ein Sünder sein und bleiben und aus Gnaden selig werden. ,Da kommt ein armer Sünder her, der gern fürs Lösgeld selig wär.‘

 „Es ist das größte Wunder im Himmel und auf Erden, daß man neu muß geboren werden, daß aus dem alten Schmutzloch, das Mensch heißt, ein Tempel des heiligen Geistes werden soll. Man soll’s nicht glauben, sagen die Leute, wenn man davon erzählt, und allerdings es hängt am Glauben.“




Fürth, 12. November 1829.

 An H.

 „Mein Leben hier ist äußerlich still, so lange nicht großer Jammer, mit dem wir im Hause durch meine Schwester oben und ihr Kind gesegnet sind, unterbricht. Desgleichen ist auch innerlich oft eine Stille, als eine Morgenröthe des Friedens, der über alle Vernunft. Das ist eine Gnadengabe, die wir, will sagen: ich, nie verdienen, allezeit hindern. Oft wirft mich ein Wort heraus: dann ist der Unruhe und Anfechtung ein Weg gebahnt. Wenn dann eine Zeit lang der Kampf gewährt hat,| hört er auf; ich aber hab’ ihn nicht stillen können, daran merk’ ich, daß ich nicht mein, sondern meines Gottes bin!“


Fürth, 26. März 1830.

 An K.

 „Sonst wird alle Tage die Hand des Herrn sichtbarer; die Erde und was auf ihr ist, wird uns durch Gottes Gnade erträglicher und doch entbehrlicher: unsere Flügelein davonzufliegen werden größer durch die himmlische Speise und, die Berge, dahin wir fliegen wollten, kommen näher. Der himmlische Weingärtner reinigt seine Reben: Gnade und mehr Friede machen die Seele stiller, mehr aufrichtig zu Gott, ergebener in Seinen Willen, Nichts zu wollen als Ihn, Summa: Bei uns ist Immanuel. Aber er ist nur incognito; wir dürfens nicht weit ausbreiten, dieweil wir unseren Schatz in irdischen Gefäßen tragen und diese leicht zerbrechen und unser Schatz dann entfliehen möchte. Also stille! da der Mann auf jenem Acker den Schatz fand, sagte er vom Schatze nichts, verbarg denselben und kaufte den Acker.“


„D. D. p. Trin. VI. 1830.

 An W.

 „Monet enim divus Apostolus Col. 3, 1: ,Superna quaerite, ubi Christus est ad dextram Dei sedens, superna curate, non terrestria!‘

 „At quomodo, qui nondum ales est, ad sedem Christi in coelis altissimam perveniet? Dixit nescio quis: ,Omnispiritus ales est‘; sed cujus spiritus hujus terrae mole molesta onustus est, quo modo aufugiet? Nondum ales est: nondum animus ejus sicut avis evasit de laqueo aucupum, nondum laqueus contritus est, nondum evasit: Ψ 124, 7. ,Quis dabit mihi alas sicut columbae? Avolarem et requiescerem!‘“ Ψ 55, 7.

|  „Zu deutsch: Der heilige Apostel ermahnt Col. 3, 1: ‚Trachtet nach dem das droben ist, wo Christus ist sitzend zur Rechten Gottes, trachtet nach dem das droben ist, nicht nach dem das auf Erden ist!‘ Aber wie soll einer, der noch keine Flügel hat, zu dem hohen Thron Christi gelangen? Jemand hat gesagt, der Geist ist ein Vogel, doch wie soll der entfliehen, dessen Geist von der Last dieser Erde beschwert ist? er ist noch kein Vogel, seine Seele ist noch nicht entronnen vom Strick des Voglers. Der Strick ist noch nicht zerrissen, und er noch nicht frei. Ps. 124, 7. O wer gibt mir Flügel wie einer Taube, daß ich flöge und etwa bliebe!“ Ps. 55, 7.




 Wenden wir uns von hier aus wieder zur Geschichte seines äußeren Lebensganges, so ist die wichtigste Veränderung in seinen Verhältnissen seine Uebersiedelung auf die Universität Berlin, auf welcher er das Sommersemester des Jahres 1828 zubrachte.

 Berlin war damals für viele strebsame Jünglinge auch aus Bayern ein Anziehungspunkt. Doch nicht die berühmten Namen jener academischen Lehrer, welche damals als wissenschaftliche Zierden der Universität glänzten, zogen den Jüngling nach der preußischen Königsstadt. Schleiermacher hat er zwar gehört, aber nicht als regelmäßiger Besucher seiner Vorlesungen; er hospitierte nur öfters in seinen Collegien, namentlich gegen Ende des Semesters. Zu Hegel hatte er sich nur ein einziges Mal verirrt, was er in seinem Tagebuch mit folgenden Worten anmerkt: „Heute 8. August in Hegels Logik hospitiert. Nichts verstanden oder nichts zu verstehen.“ Seinem von Jugend auf gläubig gerichteten Sinne konnte Schleiermacher nicht die „feste Speise“ geben, nach der ihn hungerte, und die Wissenschaft des „reinen Gedankens“ hatte für ihn nichts Anziehendes. Es lag wohl auch dieser Abneigung gegen die Beschäftigung mit rein| philosophischen Gegenständen ein gewisser Mangel an Gabe zu Grunde, wie er denn auch einmal an einer Stelle seines Berliner Tagebuchs bemerkt: „Ich glaube immer noch, daß Philosophie und menschliche falsch berühmte Weisheit und Kunst mir gar gefährlich wären, wenn ich mich durch größere Verstandeskraft angetrieben zu ihrer besetzten Tafel nahte.“ Wie gesagt, nicht Wissensdurst war der Beweggrund, der ihn Erlangen mit Berlin vertauschen ließ.

 „Herr, um Dich und Dein Heil zu finden, bin ich aus meines Vaters Hause, aus meiner Freundschaft und aus meinem Vaterlande gegangen“,[5] lesen wir in seinem Tagebuch. Fern von der Heimat, in einer Art freiwilliger Verbannung von derselben, glaubte er mitten im Getümmel der großen Hauptstadt die Einsamkeit der Seele und in der Einsamkeit sich selbst und seinen Herrn desto leichter finden zu können. So wurde denn in Begleitung eines Freundes H. am 7. April 1828 die Reise nach Berlin angetreten. Eine solche Reise war damals ein mühseligeres Unternehmen als heutzutage, wo das Dampfroß uns im Fluge in die Fernen trägt. Der Weg führte die beiden Wanderer über Bayreuth und Hof in die fürstl. Reußischen Lande. In Ebersdorf wurden die Brüderwohnungen, der Betsaal und der Gottesacker der dortigen Brüdergemeinde besichtigt. Ueber Gera giengs nach Leipzig, wo unter anderen Merkwürdigkeiten auch der Johanniskirchhof und Gellert’s Grab aufgesucht wurde. Ueber Bitterfeld, Treuenbriezen und Potsdam langten die Reisenden endlich am 18. April in Berlin an.

 Mit großem Eifer warf Löhe sich dort sogleich auf das Studium, der Tag vergieng dem arbeitsamen Jüngling über| dem Besuch der Vorlesungen, dem Privatstudium und der Erbauung durch Gottes Wort und Gebet. Zerstreuende Vergnügungen kannte er nicht, selbst Erholung durch Spaziergänge gönnte er sich nur in mäßigem Grade und nicht allzuhäufig. Die Kunst des „Auskaufens der Zeit“, die er später so meisterlich übte, verstand er bereits damals, Thätigkeit schien ihm schon als Jüngling „das Glück der Lebenszeit“ und angemessener Wechsel der Beschäftigung die angenehmste Erholung zu sein. Regelmäßig hörte er vier Vorlesungen: bei Hengstenberg Römerbrief und Hiob, bei Strauß Pastorale Katechetik, bei Neander Dogmatik, außerdem hospitierte er in verschiedenen Collegien. Bei der Reife und Fertigkeit seines Glaubensstandpunktes war es begreiflich, daß Hengstenberg unter den Professoren ihn am meisten anzog. Schleiermacher hat er, wie gesagt, nicht regelmäßig gehört. Einmal brachte er den berühmten Lehrer in eine gewisse Verlegenheit. Schleiermacher soll die Gewohnheit gehabt haben, beim Docieren irgend einen Gegenstand mit dem Auge fest zu halten. Eines Tages, als Schleiermacher eben in irgend einer wissenschaftlichen Deduction begriffen war, saß Löhe in seiner Nähe, den schon damals durchdringenden Blick des glänzenden Auges fest auf den Lehrer gerichtet. Da plötzlich schien dieser wie ins Stocken zu gerathen und den ruhig fortgesponnenen Faden seiner Entwicklung zu verlieren, worauf er sich rasch mit halb unwilliger Gebärde von dem ihn so unverwandt fixierenden Blick des Studenten abkehrte.
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 In seinen späteren Jahren bekannte Löhe oft, von Strauß für die Praxis des geistlichen Amtes am meisten gelernt zu haben. Er besuchte auch dessen homiletisches Seminar. In seinem Tagebuch schildert er uns die Feier einer Pfingstvigilie, welche Strauß in seinem Seminar veranstaltete. „Es wurden| zur Vorfeier von Pfingsten acht kleinere Reden gehalten. Die ersten zwei gefielen mir nicht sehr. Darauf kamen eine Reihe von vier köstlichen Reden von den verschiedenartigsten Subjecten. Eine darunter über den geistlichen Stand schilderte bei der Wichtigkeit und Schwierigkeit desselben die Kraft des Geistes von oben, die auch die Schwachheit stark macht. Darauf kam einer und wandte das Evangelium für Mariä Verkündigung Luc. 2 ganz herrlich und ausgezeichnet ohne alles Anstößige auf den innern Menschen eines jeden Christen an. Um so jämmerlicher nahm sich hierauf ein über Sonne, Mond und Sterne begeisterter Schleiermacherianer aus. Dagegen aber endete der liebe Candidat Tippelskirch, der an Himmelfahrt in Liskos Nachmittagskirche so schön gepredigt hatte, desto besser. Er hatte sich vorbereitet, vom Pfingstfest als dem Stiftungsfest der Kirche zu reden. Aber aus Demuth meinte er, er wolle den Zuhörern den bessern Eindruck seiner Vorgänger, besonders dessen, welcher über das Predigtamt geredet, nicht verderben. Er forderte hierauf zur Selbstprüfung auf, ob jeder auch schon den Geist hätte. Sehr feierlich! Rath für die Widerstrebenden, lieber nicht Prediger werden zu wollen. Gebet. – „Wie gering bin ich gegen diese von Deinem Geist, o Herr! bereits ergriffenen Menschen!“ bemerkt Löhe hiezu. – Außer den bereits genannten Lehrern hörte Löhe auch Neander. Als er die erste dogmatische Vorlesung Neanders besuchte, in welcher derselbe mit warmer Innigkeit von der Idee Gottes sprach, freute sich der Jüngling, endlich einen recht gelehrten Mann auch zugleich recht fromm zu sehen[.] Tiefergehende Anregungen hat er jedoch von Neander nicht empfangen.
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 Mehr Gewinn und geistliche Anregungen als die academischen Vorlesungen haben ihm die gottesdienstlichen Vorträge jener berühmten Prediger gebracht, an welchen Berlin damals| Reichthum hatte und welche in großer Mannigfaltigkeit der Zungen das Evangelium verkündigten. Löhe hörte sehr häufig drei bis vier Predigten des Sonntags, nach damaliger guter, jetzt freilich antiquierter Berliner Sitte. Schleiermacher, Theremin, Goßner, Conard, Strauß, Lisko – das waren die Prediger, deren Kirchen Löhe am häufigsten besuchte. Schleiermacher hat ihn im Laufe der Zeit als Prediger doch mehr angezogen, als der Eindruck der ersten Predigt, die Löhe von ihm hörte, erwarten ließ.

 „Ich gieng[6] heute (27. April) um 7 Uhr zu Schleiermacher in die Dreifaltigkeitskirche. Wurde aus dem Porst’schen Gesangbuch gar ein schönes Lied gesungen, zu dem freilich die Predigt nicht paßte. Der Text war Joh. 20. 1–11. Das Thema: Heilige Scheu vor Gottes Weisheit und der Tiefe seiner Anstalten in dem Bewußtsein eigener Schwäche, wie man das an Johannes erkenne, der nicht gleich ins Grab Christi hineintrat – und ruhige Forschung und Untersuchung auch bei göttlichen Dingen, wie selbe an Petrus zu erkennen, der auf dem Wege nach dem Grabe nicht gelaufen, sondern ruhig gegangen, aber dann auch nicht gestanden, sondern sofort hineingegangen sei: beides sei nöthig, um in der christlichen Wahrheit fest zu werden. Beides sei allerdings nichts, sondern die Gnade müsse es thun. – War viel zu widerlegen, vieles falsch, vieles aus einem Herzen, das nie ruhig und ernstlich sich selbst erforscht (z. B. redete er von unverdorbener Natur und gesundem Verstande etc.). Ich konnte also hier blos einen menschlich gescheidten Mann sehen und hören, aber erbaut habe ich mich nicht.“

 So urtheilte Löhe damals. Dem ungeachtet ist ihm diese Predigt Schleiermacher’s lebenslang unvergeßlich geblieben.| Diese Predigt, sagte er, habe ihm für eine ihm bis dahin gar nicht zum Bewußtsein gekommene Seite der heiligen Schrift den Blick geöffnet – nämlich für die Meisterschaft der heiligen Schriftsteller in der Zeichnung der Charaktere. War er als Jüngling geneigt, Theremin über Schleiermacher zu stellen, so urtheilte er als Mann anders. „Theremin“, sagte er einmal, „hatte, als ich in Berlin war, unlängst seine Frau verloren. Man merkte ihm in seinen damaligen Predigten die Bewegung und Ergriffenheit seines Gemüths ab. Wenn er predigte, so sprach er sich gewissermaßen aus. Schleiermacher aber hatte sich, wenn er predigte; er war ein größerer Mensch und darum auch ein größerer Prediger.“
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 Auch später rühmte Löhe oft die ruhige, klar verständige Predigtweise Schleiermachers, zwischen welcher und seiner eigenen manche sogar eine gewisse Aehnlichkeit entdecken wollten. Ein schweizerischer Professor sagte Löhe’n einmal in seinen späteren Jahren: seine Predigtweise habe ihn sehr an Schleiermacher erinnert. Löhe sprach einem jüngeren Freunde gegenüber seine Verwunderung über dieses Urtheil aus. „Meine Art zu discurieren“ – meinte er – „hat doch mit der ,wasserklaren‘ Art Schleiermachers nichts gemein. Doch vielleicht eine Aehnlichkeit besteht allerdings. Meine Vorbereitung beschränkt sich oft nothgedrungen darauf, daß ich mich auf mein Thema besinne; die dialektische Durcharbeitung ist dann Erzeugnis des Augenblicks und dieses laute Durchdenken meines Satzes muß eben dann für eine Predigt gelten. So war’s auch bei Schleiermacher, wenn man mir die Ehre anthun will, mich hierin mit jenem großen Geiste zu vergleichen.“ Löhe stellte allerdings an eine Gemeinde die Forderung, nicht blos dem Prediger zuzuhören, sondern mitdenkend, ja gewissermaßen vordenkend sich an der Gedankenarbeit des Predigers zu betheiligen. Doch| gehören diese Urtheile, wie gesagt, einer späteren Zeit und gereifteren Anschauung an. Als Jüngling fühlte sich Löhe von Theremin mehr angesprochen. Zum 6. Sonntag nach Trinitatis findet sich in seinem Tagebuch folgende Bemerkung: „11–3/41 schönste Predigt, die ich mich je erinnere gehört zu haben, gehalten von Theremin über den ersten Vers des heutigen Evangeliums Matth. 5, 20. Theremin sagte: er sei immer bemüht, die Summe des Christenthums seiner Gemeinde vorzulegen, nicht blos die ersten Anfänge der Lehre. So that er auch heute. Er betrachtete die Gerechtigkeit der Christen im Gegensatz zu der Gerechtigkeit der Pharisäer als bestehend in Buße, Glaube, Liebe, nach welcher Eintheilung er die Predigt meisterhaft durchführte. Er sprach der Gemeinde diese drei Stücke nicht völlig ab, aber nur sofern auch die Pharisäer, die zur Taufe Johannis kamen, mit Bußregungen kamen, glaubten, weil sie Zeichen sahen und etliche Liebe hatten. Aber das tadle er, daß wir bei dieser Stufe stehen blieben und nicht weiter giengen, nicht zur Buße drängen, die gänzlich das eigene Ich aufgibt, nicht zum Glauben, der nicht um der Buße auch nicht um des Glaubens selbst willen, sondern allein aus Gnaden um des Verdienstes Christi willen hofft selig zu werden, und nicht zur vollkommnen Liebe. Ach gerade den dritten Theil hab ich nicht so gemerkt, ich Armseliger. Und als er so die Gemeinde in solchem reinen Feuer, daß ich meinte, sein schwacher Körper müsse erliegen, erschüttert hatte, sagte er: er wisse wohl, sie könne nicht aus eigener Kraft dahin gelangen, sie müsse beten, er wolle mit ihr beten. Da beugten sich alle Häupter so gerne, nur meines nicht. Ueber der Freude zum Gebet willige Seelen zu sehen, fand ich das Gebet nicht.“

 Ebenso spricht er sich über Predigten von Goßner und Strauß sehr befriedigt und erfreut aus.

|  Indessen so reiche, geistige und geistliche Anregung ihm in Berlin geboten wurde, so fühlte sich Löhe hier doch nicht zufrieden und glücklich. Er war zu sehr ein Kind seiner Fürther Heimath, mit allen Fasern seines Herzens an ihr hängend, als daß es ihm in der fremden Welt dauernd hätte wohl werden können. Unwiderstehlich zog ihn die Sehnsucht nach der geliebten Heimath am flachen, reizlosen Strande der Pegnitz, so daß er schon in den ersten Tagen nach seiner Ankunft in Berlin „auf der Landkarte“ die Reise in die Vaterstadt im Geiste wieder antrat. „Heute“ – lesen wir in seinem Tagebuch zum 9. Mai – „ist Hiobstag, und heute habe ich angefangen, den Hiob in der Grundsprache zu lesen. Nie hat mich im Deutschen der Ausspruch Hiobs: Nackend bin ich etc., der HErr hats gegeben etc. so gerührt als im Hebräischen. Auch darin ahne ich wieder, was mir alles fehlt. Wenn mir, der ich ferne von der Heimath bin, wenn mir die Botschaft käme: Deine Mutter ist gläubig und im HErrn selig entschlafen und hat Dich mit ihrem besten Segen gesegnet – wie würde ich mich in Gottes gnädigen Willen fügen! Gewiß nicht wie Hiob, und sollte es viel besser können. Ich brauche aber gar nicht an solche Hiobsposten zu denken. Ich darf nur bei der Tagesgeschichte bleiben. Hab ich nicht den ganzen Nachmittag hindurch meinen Sinn und Herz daheim in der irdischen Heimath gehabt und mich an dem Gedanken geweidet, ich könnte vielleicht im Herbst schon wieder heimkehren! Und hat mir der Gedanke nicht noch mehr den Sinn verrückt, daß ich so schwerlich den Rückweg zur ewigen Heimath ihm weisen konnte.“
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 „Die blumigen Auen in der Heimath, wie lieblich und anziehend für mich! Die ewigen Gärten droben, wo der Baum des Lebens ewig blüht und die Bächlein lebendigen Wassers springen – die haben fast nie mein Herz gerührt. Ich denke| nicht dran, daß der Uebertritt nah sein könne. Die Gärten daheim, jetzt im Maimond, welch’ eine liebliche Erinnerung, und wie reizend, da ich so ferne davon bin; und habe doch heute früh, nach dem Frühlingsregen, da ich ausgieng, an der dufterfüllten Atmosphäre merken können, daß Gärten nahe sind, wo ich größere Schönheit als in der Heimath finden kann.

 „Aber der Garten in Gethsemane, da mein Heiland an meiner Statt Sünd und Strafe getragen hat – im nächtlichen Garten der Heilige Gottes, – auf dem Grase seine Spur, am Hügel sein Blut, von der Angst ausgepreßt wie Schweiß – die Liebe meines Erlösers, welche mir, lieblicher als Frühlingsduft, die Hoffnung des ewigen Lebens und der Kindschaft Gottes erworben hat – die hat mir Unwürdigen noch keine Thräne, kaum einen Seufzer, seine Liebe recht zu fassen, gekostet.“

 Auch in Berlin lag Löhe mit gewohntem Fleiße seinen Studien ob. Er klagt zwar, daß er wenig arbeite, dies beweist aber nur, wie hoch er die Anforderungen an sich stellte; in Wahrheit mag es wenig Studenten gegeben haben, die an Thätigkeit ihm gleich kamen. Spät suchte er sein Lager, früh erhob er sich. Selbst die Zwischenviertelstunden zwischen den Collegien wurden mit Lectüre ausgefüllt. Mehrere biblische Bücher des Alten Testamentes wurden im Grundtext gelesen. Commentare von Tholuck und Lücke, aber auch von Luther wurden studiert, die Lebensbeschreibungen berühmter kirchlicher Persönlichkeiten (Zinzendorf, Amos, Comenius etc.), kirchliche Zeitschriften (wie die Berliner neuesten Nachrichten, die Hengstenberg’sche Kirchenzeitung etc.) gelesen; zur Erbauung diente außer dem Schriftlesen die Lectüre von Kempis, Arndt, Gerhard. – Bei allem Studium Löhe’s war die Rücksicht auf Verwendbarkeit des erlernten Wissens im Dienste des Amtes herrschend.| Wenn seine Gedanken in die Zukunft schweiften, was war dann das Ziel seines jugendlichen Ehrgeizes? Dann träumte er sich als Pfarrer, umgeben von der Liebe und Verehrung einer begeistert an ihm hangenden Gemeinde. Heimlich hielt er öfter Redeübungen, wie zur Vorbereitung auf seinen künftigen Beruf – und wenn er sich dann auch wieder derartiger Versuche halber als eines unnützen Spiels der Eitelkeit strafte, so dienen seine Selbstbekenntnisse doch jedenfalls zum Beweis, in welcher bestimmten Gestalt ihm seine Zukunft vorschwebte und wie der Beruf, nach dem er sich ausstreckte, für den Jüngling bereits seiner Wünsche und Sehnsucht höchstes Ziel war.

 Ein Jahr war für den Aufenthalt in Berlin in Aussicht genommen. Auf Verlangen seiner Mutter kehrte er aber bereits nach einem halben Jahre nach Hause. Wie erwünscht ihm dieser Ruf seiner Mutter war, kann man sich bei seinem starken ihm Lebenslang eigen gebliebenen Zug zur Heimath leicht denken. Die oft auf der Landkarte zurückgelegte Reise durfte er nun wirklich antreten. „Leite, o HErr“ – bittet er – „meine Füße nun nicht blos in die irdische Heimath zurück, daß ich leiblich sei, wo meine Väter sind gewesen, sondern daß mir meiner Väter Sitz ein Bethel, ein Ebenezer werde, daß ich sehe den Himmel offen. Dank Dir und Preis für jede Stunde, die Deine Gnade mir mit Segen Leibes oder der Seele in dieser Stadt geschenkt hat. Schlafend, wachend, wohnend, reisend, lebend, sterbend – für Zeit und Ewigkeit laß mich Dein sein und bleiben. Amen.“

 So gieng Löhe von Berlin. In einem Brief an einen Freund (30. October 1828), der hier in extenso mitgetheilt werden mag, äußert er sich, indem er die Eindrücke und den geistigen Gewinn seines dortigen Aufenthalts zusammen faßt, auf folgende Weise:

|  „Ueber Berlin hat Ihnen wohl mein lieber Bruder H. schon gründliche Nachricht ertheilt. Soll ich von mir reden, so hat mir Hengstenberg unter den Professoren, unter den Predigern Theremin am besten gefallen.

 „Schleiermachern hab ich gleichfalls als Prediger und academischen Lehrer schätzen gelernt in vielen Stücken. Der erste, ein natürlich starker und geisteskräftiger Jüngling oder junger Mann, geht in rechter Demuth überwunden durch die Kraft des HErrn unter Seinem seligen Joch mit Freuden. Weil er schwach geworden ist, so ist er stark. Gott lasse ihn noch lange eine Stütze Seiner heiligen Kirche sein. – Der zweite ist in seinen Predigten als eine wohlgestimmte Harfe, darauf der Geist des HErrn den Gläubigen das Lied des neuen Bundes spielt, daß auch die harten, kalten Herzen schmelzen. Ausgezeichnete Rednergabe im Dienste des ewigen Evangeliums. – Habe vieles gehört, was schwerer und nothwendiger ist, es wieder zu vergessen, als es zu lernen. Wir sind daheim – so suchen wir draußen, was wir nicht haben, nämlich Frieden, und wenn wir draußen sind, ist es auch nicht funden, was die Seele sättigen kann. Denn es ist nicht von dieser Welt. Sind wir aber einmal Bürger der ewigen Stadt geworden, so ist uns die Herberge der irdischen Pilgerfahrt überall gut. Ich bin beides, Dein Pilgrim und Dein Bürger, wie alle meine Väter! Und so wäre denn mein ehemaliger Traum eines gelehrten Lebens dahin, wenn ich auch nicht das geringe Maß meiner geistigen Gaben erkennete, wie ich alle Tage gedrungen hin, zu sehen. Spreu, die der Wind verweht! Die Liebe Jesu Christi bleibt.

 „Es ist der schwerste, fluch- und segenvollste Beruf, der Beruf des evangelischen Seelenhirten, ein königlich priesterlich, prophetisch, mit einem Worte: himmlisches Werk, zu welchem zugelassen zu werden demüthiger Christen größte Ehre sein soll!

|  „Von dem Nicetio, Erzbischof zu Trier, meldet die Kirchengeschichte, daß, als er nunmehr auf den bischöflichen Thron erhoben war, er unter der Vorlesung einiger Texte aus der Schrift gefühlet, daß ihm etwas Schweres um das Haupt und um die Schultern fiele, und als er etliche Male mit der Hand darnach gegriffen und doch nichts gewahr werden können, was ihm diese Beschwer verursachte, habe er bald darauf einen sehr lieblich-anmuthigen Geruch empfunden und sich erinnert, daß dieses die Würde und zugleich die Last des bischöflichen Amtes und der Seelenpflege bedeuten müßte.“

 „So bringet denn nun das Predigtamt, dazu die unwissende Jugend mehrmals aus fleischlichem Absehen so sehr eilet, nicht Lust, sondern Last, nicht Ehre, sondern Beschwerde, nicht Lachen, sondern Wachen.“

 „Solches schreibt Scriver und weiß wohl, was er sagt. Diesen Beruf habe ich vor Augen – dazu liegen mir die Felder deutlich vor, weiß zur Ernte, und der Schnitter ist eine kleine Zahl, und viele schlafen am Mittag, da das Tagewerk lastet und lasten soll, unter den Bäumen im Felde, die zur Erquickung, nicht zur schrecklichen Trägheit gepflanzt sind, und viele andere treten die Ernte nieder wie unvernünftiges Vieh und sind zur Ernte bestellt....

 „Wie nöthig ist’s nun die kleine Zeit von zwei Jahren geizig anzuwenden zu ernster Vorbereitung! täglich im Wort zu forschen nach der heilsamen Lehre, damit ich selber selig werde und selbst erlöset, zum Erlöser führen könne, die unter der Sünde seufzen.“

 Von Berlin zurückgekommen, setzte Löhe sein einsames zurückgezogenes Leben fort. Man hielt ihn für einen „Sonderling, für einen harten, strengen, neidischen, feindseligen Menschen, der sich die eigene Jugend verkümmere“. In Fürth gieng eine Zeit lang sogar alles Ernstes das Gerücht, daß er „meschugah“| sei. Er aber sammelte unbeirrt von allem, was ihn stören und aufhalten konnte, sich einen Schatz von Kenntnissen und Erfahrungen, der ihm für die geistliche Thätigkeit nützlich werden sollte.

 Dazwischen einmal predigte er, nicht eben sehr häufig, sondern so viel, als ihm für seine Uebung nöthig schien. Seine erste Predigt hielt er am Sonntag nach Weihnachten 1828 über Hebräer 13, 8. in Poppenreuth unter heftigen Zahnschmerzen, doch „ohne Stocken, noch Angst bei stiller Versammlung“. Er hatte sich auf dies sein erstmaliges Auftreten gewissenhaft vorbereitet und mit dem Studium seines Textes bereits drei Wochen vorher begonnen. Vom häufigen Predigen der Studenten war er kein Freund und rieth auch andern davon ab. Desto mehr freute er sich auf die Zeit, wo ihm das Predigen nicht mehr blos Sache der Uebung oder ein seltenes Nebengeschäft, sondern sein stetiger Beruf sein würde.

 Allein eben hierin wurde seine Geduld auf eine ziemliche Probe gestellt. Löhe hatte in Nürnberg die sogenannte Lycealclasse absolviert, deren Besuch dem ersten Jahr des Universitätsstudiums gleich gerechnet wurde. Er würde somit die Universität im Herbst des Jahres 1829 verlassen haben. Da er jedoch die praktischen Seminarien bis dahin noch nicht besucht hatte, so weigerte sich der Prorector ihm das Universitätsabsolutorium auszustellen. Löhe blieb nun nichts übrig, als von Fürth aus, wo er seit dem 29. October 1829 seinen ständigen Aufenthalt nahm, wöchentlich einige Stunden zum Besuch der Seminarien sich nach Erlangen zu begeben. Das Examen schob sich allerdings unter diesen Umständen für ihn um ein ganzes Jahr hinaus, doch benützte er die so gewonnene Muße aufs eifrigste zur Vorbereitung für dasselbe.





  1. „Quibus rebus“, schrieb in einem Brief vom 1. April 1827 Rector Roth an L., „alatur animus ac firmetur, etiam puer admodum invenisti et ante togam mentem virilem induisti. Tales hoc tempus juvenes desiderat, talibus viris res publica gaudebit. Nec mediocre mihi solatium tuae literae attulerunt. Non enim poenitebit, odio multis esse, si bonis et paucis probabor, nec desertus esse mihi videbor, si vel unus se meo exemplo recte vixisse profitebitur. Vale meque ama.“
     Zu deutsch: Schon in frühem Knabenalter haben Sie erkannt, was die Nahrung und Stärkung des Geistes ist, und noch im Knabenkleid bereits Mannessinn angezogen. Solche Jünglinge braucht man in unserer Zeit, an solchen Männern wird das Vaterland Freude erleben. Ihr Brief hat mir nicht geringen Trost bereitet. Ich kann es verschmerzen, Vielen ein Gegenstand des Hasses zu sein, wenn ich den Beifall der wenigen Guten finde, und ich werde mir nicht einsam vorkommen, wenn auch nur einer bekennt, durch mein Beispiel den rechten Lebensweg gefunden zu haben. Leben Sie wohl und behalten Sie mich lieb.“
  2. S. die kurze Andeutung in Löhe’s Selbstbiographie.
  3. Zu deutsch: Soll man mit Absehen von jener besten und vollkommensten Form der Rede eine andere Diction sich erwählen, so wünschte ich wahrhaftig lieber die stürmische Beredsamkeit des C. Gracchus oder den reifen Ernst des L. Crassus als die affectierte Art des Maecenas oder das Phrasengeklingel der Gallio.
  4. Das Büchlein des Thomas a Kempis von der Nachfolge Jesu las Löhe in seinem ersten Studentenjahr zu seinem großen Segen. Er pflegte oft zu sagen: „Da ich ein Christ werden sollte, gab mir Gott den Thomas a Kempis, und da ich ein Lutheraner werden sollte, den Hollaz in die Hand.“
  5. Er nannte sich einen Pilgrim nicht nach Berlin, sondern nach Patmos, einer göttlichen Offenbarung für das elende Herz zu warten.
  6. Aus Löhe’s Tagebuch.


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