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ADB:Geß, Wolfgang Friedrich

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Artikel „Geß, Wolfgang Friedrich“ von Christian Tischhauser in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 49 (1904), S. 322–334, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Ge%C3%9F,_Wolfgang_Friedrich&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 18:55 Uhr UTC)
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Geselschap, Friedrich
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Geß: Wolfgang Friedrich G., ein württembergischer Theologe aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, trägt das Gepräge einer biblischen Theologenrichtung an sich, die ihre geistigen Väter in den beiden württembergischen Prälaten des 18. Jahrhunderts Joh. Albrecht Bengel und Christoph Friedrich Oetinger verehrt. Bengel ist der Gründer jener biblisch-pietistischen Richtung, welcher seit anderthalb Jahrhunderten die tüchtigsten Geistlichen der württembergischen Kirche angehört haben, und Oetinger, sein Zeitgenosse, kann als der geniale biblische Theosoph angesehen werden, der in die religiösen Kreise des gesegneten Schwabenstammes ein speculatives Agens hineingebracht hat.

Beide Männer verbindet eine strenge realistische Biblicität, die sich bei Bengel in der Auslegung der heiligen Schrift, in der Hoffnung der Vollendung des Gottesreiches auf Erden, bei Oetinger in der Annahme, daß hinter „jeder groben Materialität ein reales Sein“ stecke, daß Leiblichkeit das Ende aller Wege Gottes sei, offenbart. Zu den letzten Ausläufern dieser Bengel-Oetingerschen Schule gehören die drei bedeutenden Kirchenlehrer Johann Tobias Beck, Isaak August Dorner und Wolfgang Friedrich Geß. Beck vertritt den reinen Biblicismus, Dorner die Speculation auf christlich-ethischer Grundlage, Geß einen von empirischen Voraussetzungen ausgehenden Biblicismus: alle drei aber waren Männer, die tiefe Spuren ihres Wirkens hinterlassen haben.

Wolfgang Friedrich G. ist als das dritte Kind einer württembergischen frommen Pfarrerfamilie am 27. Juli 1819 in Kirchheim u. T. geboren. Krankheiten und Todesfälle gaben frühe dem zartfühlenden, religiös gerichteten Knaben tiefe „Eindrücke von dem Ernst der Ewigkeit und der Zubereitung auf sie“. Was er bei seinem Vater, der nacheinander Pfarrer, Decan und Prälat wurde, sah und hörte, bestimmte ihn von früh auf, an keinen anderen Beruf zu denken, als Pfarrer zu werden. In Kirchheim begann er sich auf das Landexamen vorzubereiten. In Backnang, wo sein Vater seit 1831 Decan war, begann er Hebräisch und wagte sich sogar ans Arabische. Mit 14 Jahren (1833) rückte er in die Klosterschule in Blaubeuren ein, wo er mit dem späteren Professor Karl Reinhold Köstlin die Stube theilte und durch seine ausgezeichnete Begabung und wissenschaftliche Tüchtigkeit, nicht weniger durch seine musterhafte sittliche Reinheit und den tief religiösen Grundzug seines Wesens hervorragte. Den Anfängen des philosophischen Studiums (Plato’s Dialoge, Logik und Psychologie) brachte er unter der Leitung des Repetenten G. V. Lechler, des späteren Professors in Leipzig, ein helles Verständniß entgegen.

[323] Um diese Zeit des Blaubeurer Studiums erschien das „Leben Jesu“ von Dav. Fr. Strauß (1835), das in vielen Kreisen der gebildeten Welt Deutschlands tiefe Aufregung hervorrief. Es trug dazu bei, auch in G. das religiöse Sehnen zu stärken und das Verlangen in ihm nach Lösung so mancher religiösen Fragen zu mehren.

Im Spätjahr 1837 trat G. in das Tübinger Stift ein, um die akademischen Studien zu beginnen. Er hoffte auf der Universität Klarheit und Gewißheit über jene Fragen, die seinen Geist so sehr beschäftigten, zu bekommen. Indeß hier trat ihm statt einer lebenswarmen Theologie eine neue Philosophie, diejenige Hegel’s, zunächst als eine ihn umwerbende Geistesmacht, die seine Zweifel auf befriedigende Weise zu lösen im Stande wäre, entgegen, und der Gedanke, daß die Philosophie Hegel’s eine wissenschaftliche Auslegung mit dem recht verstandenen Geist des Christenthums anbahne, bannte ihn eine Zeit lang in deren Kreise. Strauß hatte wenige Jahre zuvor dieser Philosophie hier eine Siegesbahn eröffnet. Ganze Promotionen bekannten damals in den schriftlichen Examenarbeiten ihr Hegel’sches Credo; kam es doch vor, daß 1834 mit Ausnahme von drei Candidaten die ganze Promotion einmüthig die Unsterblichkeit der Seele leugnete. G. hatte jedoch zu tiefe Eindrücke von der Hoheit des Evangeliums empfangen, als daß ihn bei näherem Studium Hegel’s nicht ein inneres Befremden hätte ergreifen müssen; immerhin war ihm der Baarvorrath an positiver, christlicher Glaubenssubstanz aufs äußerste zusammengeschmolzen, sein Gebetsleben zu einem glimmenden Docht geworden. Sein zartes Gewissen, sein Bedürfniß nach einem lebendigen Gott siegte indeß in diesem Kampf. Er machte die für ihn höchst wichtige Erfahrung der Selbstbezeugung Gottes in seinem Innern und zwar im Anschluß an das Evangelium Jesu Christi: „Meine Erfahrung der Unentbehrlichkeit des lebendigen Gottes für die menschliche Seele, der Unentbehrlichkeit eines Heilandes für das Gewissen war die Quelle meiner Gewißheit geworden“. Aber nun die Ueberbrückung von Wissenschaft und Erfahrung, wie sollte sie hergestellt werden für seinen nach innerer Einheit ringenden Geist? Dazu mußte ihm ein Hegelschüler wesentliche Dienste thun, es war Ferdinand Christian Baur, der seit 1835 an der theologischen Facultät ein Lehramt übernommen hatte.

Baur war ursprünglich unter dem Einfluß Schleiermacher’s gestanden, war dann aber, von dessen Subjectivismus abgestoßen, zu Hegel übergegangen und hatte sich namentlich die Hegel’sche Geschichtsauffassung angeeignet. Das Auseinandergehen der sich bekämpfenden Gegensätze in der Geschichte und die diese Gegensätze ausgleichende höhere Entwicklung in Versöhnung und Einheit boten ihm willkommene Grundgedanken oder Kategorieen für seine Geschichtsauffassung. Nach der württembergischen theologischen Studienordnung pflegte man damals mit dem vierten Semester von den philosophischen Studien zu Schleiermacher’s Glaubenslehre überzugehen. Diese aber wollte, wie G. selbst sich ausspricht, nichts anderes als die Beschreibung der inneren Erlebnisse wiedergeborener Christen sein, die innere Erfahrung also zu ihrem Fundament machen. Auf diesem Boden aber stand bereits G. kraft seiner eigenen inneren Erlebnisse; diese hatten ihm die Gewißheit gegeben, daß das Evangelium, das vielumstrittene, die ewige Wahrheit sei. Und eben durch Baur ward er in die Erfahrungstheologie eingeführt. G. erkannte klar, daß der Hegel’schen Philosophie nichts ferner lag, als auf die Erfahrung zu achten. Nur was man deducirt hatte, konnte anständigerweise angenommen werden. Nun war G. eine innerliche, tief- und feinfühlende, von Haus aus eher melancholische Natur, eine Johannesseele, die, im Grunde receptiv, doch alles wieder in ihrer Weise selbständig innerlich verarbeitete, deren tiefste Bedürfnisse aber [324] immer wieder religiöse waren. So schloß er sich denn, nachdem er frohe Gewißheit in seinem Glaubensleben erhalten hatte, einer christlichen Studentenverbindung an, die ausgesprochenermaßen gemeinsame Erbauung pflegte. Männer wie J. Josenhans, später Missionsinspector in Basel, der nachmalige Prälat Kapff in Stuttgart, der im folgenden Jahrzehnt einflußreiche Prediger und Stadtpfarrer W. Hofacker in Stuttgart, der als Pfarrer von Lohn bei Schaffhausen weit bekannte Schweizer Alex. Beck, der durch seine alttestamentliche Theologie berühmt gewordene G. F. Oehler u. a. hatten diesem Verein angehört, und G. bezeugt, oftmals kräftige Erfrischung aus dessen sonntäglichen „Stunden“ empfangen zu haben.

Doch auch Professor Christ. Friedr. Schmid, der den apostolisch-kirchlichen Glauben mit großer Wärme der Ueberzeugung, die er auch in seinen Vorträgen geltend zu machen wußte, vertrat, wirkte wie auf viele Studirende, so auch auf G. mächtig ein.

Nach seinem ersten theologischen Examen im J. 1841 und nach einem Vicariat bei seinem Vater in Heilbronn, trat er, religiös bis auf einen gewissen Grad gefestigt, im Sommer 1843 von der Regierung mit einem ausreichenden Stipendium ausgerüstet, die übliche Candidatenreise an und besuchte Heidelberg (Rich. Rothe), Bonn (Karl Imm. Nitzsch), Kiel (Klaus Harms), Lübeck (Imman. Geibel), Berlin (Stuhr, Stahl, Neander), Wittenberg (Schmieder) und Halle (Jul. Müller und Tholuck), von wo er wegen schwerer Erkrankung seines Vaters heimgerufen wurde, denselben aber nicht mehr am Leben traf.

Nachdem er einige Monate in Stuttgart vicarirt hatte, übernahm er eine Pfarrverweserstelle in Maulbronn, absolvirte sein zweites theologisches Examen und trat nach zweijähriger Wirksamkeit im geistlichen Amte im J. 1846 eine Repetentenstelle in Tübingen an. Hier waren 1841 Max. Albr. Landerer, 1843 Johann Tobias Beck, beide auf dem Boden der biblischen Offenbarung stehend, von welchen besonderes letzterer bald einen weitreichenden Einfluß gewinnen sollte, in die theologische Facultät eingetreten. G. sagt von Beck („Lebensabriß für seine Kinder“): „Zwar lag es in der Eigenthümlichkeit seiner Ueberzeugungen, daß er, den Mißbrauch der freien Gnade fürchtend, mit der Predigt derselben zurückhielt, so daß die Belebung der erschrockenen Gewissen fehlte; um so gewaltiger war sein Bezeugen der göttlichen Majestät, und wie nur in der Lebendigkeit des lebendigen Gottes der hinsterbende Mensch das Leben zu finden vermöge“.

Doch nur ein Jahr dauerte sein Repetentenamt. Im August 1847 führte er als designirter Pfarrer von Großaspach Emma Eytel, eine Pfarrerstochter aus Neuhausen a. Erms heim, die ihm 44 Jahre eine gleich ideal gerichtete, innig verständnißvolle Lebensgefährtin geworden ist. Nicht lange blieb er im Pfarramt: schon nach drei Jahren erging an ihn der Ruf, das theologische Lehramt an der Missionsanstalt in Basel zu übernehmen. Das Comité der evangelischen Missionsgesellschaft in Basel hatte in dieser Zeit unter dem Inspector Josenhans eine Reorganisation des Missionsbetriebes in Indien und der Missionsschule in Basel begonnen. Der bisherige Missionsinspector Hoffmann hatte seine ganze Kraft an Weckung und Ausbreitung, sagen wir an Verkirchlichung, der Mission gesetzt, weniger dagegen dem inneren Ausbau der Mission seine Aufmerksamkeit geschenkt. Der Unterricht an der Missionsschule lag in den Händen einiger Candidaten und des Inspectors; es fehlte aber an Einheitlichkeit im Unterrichtsplan, wie an Gründlichkeit der theologischen Ausbildung überhaupt. Eine centralere, gleichmäßigere, mehr fachmäßig betriebene Studienleitung that dringend noth. Das erkannte man im Comité als unabweisbare Forderung. Mit großer Umsicht und Sorgfalt wurde die [325] Einrichtung einer eigentlich theologischen Lehrerstelle am Basler Missionshause betrieben, erörtert und näher bestimmt. Die theologischen Fächer sollten von den sprachlichen und realistischen Fächern abgetrennt und einem gründlich geschulten, orthodox natürlich unverdächtigen Theologen übergeben werden, der zugleich nöthigenfalls den Inspector vertreten, vielfach in der Arbeit dessen Gehilfe sein, somit auch an der Missionsleitung in etwas theilnehmen sollte.

Die Wahl fiel auf den Großaspacher Pfarrer, nachdem derselbe auch von Professor Beck empfohlen worden war. G. folgte im J. 1850 dem Rufe mit Freuden; war doch ein theologisches Lehramt schon lange sein Ideal gewesen. Mit seinem Eintritt in sein neues Lehramt wurden dann die nöthig erachteten Schulplanveränderungen vorgenommen. Josenhans übernahm nun Predigtübung, Katechese und als neues Fach Missionswissenschaft, G. dagegen Dogmatik, Exegese, biblische Einleitung und Symbolik, zu Zeiten auch Kirchen- und Re1igionsgeschichte. Es wurde die Einrichtung getroffen, daß die drei obersten Classen in den meisten theologischen Fächern zu einem Auditorium vereinigt wurden, wodurch ein Disciplinen-Turnus von drei Jahren festgesetzt werden konnte; eine heute noch bestehende Ordnung. Der Unterricht aber in Latein, Griechisch und Hebräisch nebst den Realien in den drei untersten Classen sollte in Zukunft den jüngeren, meist nur vorübergehend angestellten Candidaten zufallen.

G. trat mit Hingebung seinen neuen Beruf an, wie er denn in allem, was er that und unternahm, als ganzen Mann sich erwies. Vierzehn Jahre der gesegnetsten Wirksamkeit waren ihm hier beschieden. G. befolgte im Unterricht eine eigenartige Methode, er dictirte, fragte ab oder beantwortete Fragen und Einwürfe. Manche der Zöglinge waren durch ein Schullehrerseminar, etliche durch ein Gymnasium gegangen, die meisten waren früher Handwerker, „bei allen aber“, sagt G., „war lebendiger Eifer des Lernens, bei den meisten inneres Erlebniß des Heils, dessen Bezeugung den Kern der Bibel bildet“. Da in diesen 14 Jahren mehrere hundert Missionare für die verschiedensten Länder, außerdem eine große Zahl nach Nord- und Südamerika, nach Rußland und Australien ausgesandter Pastoren ihre theologische Schulung größtentheils von G. erhalten haben, so dürfte damit eine eingehendere Darstellung seiner Basler Wirksamkeit gerechtfertigt sein.

G. war freilich ein Bibeltheologe, aber nicht im Sinne der Verbalinspiration. Er sagt von sich, daß er auf der Universität betreffs der biblischen Kritik sehr weitherzig gewesen und auch in diesem Stück in den Spuren Schleiermacher’s gegangen sei. Je gründlicher er aber als theologischer Lehrer mit den heiligen Büchern bekannt geworden sei, desto bedeutungsloser seien ihm eine Menge von Einwürfen gegen ihre Echtheit und Glaubwürdigkeit geworden.

G. war für die Missionszöglinge ein Lehrer von Gottes Gnaden, sie saßen ihm ausnahmslos mit dankbarster und wärmster Verehrung zu Füßen; sein Unterricht war wissenschaftlich klar, umsichtig und sicher, betreffs des Inhalts getragen von einer warmen lebendigen Ueberzeugung, die auf die innerlich gerichteten Schüler überaus belebend und befestigend wirkte. Der Grundbegriff, der überall in seiner Theologie hervortrat, war der des Lebens, des Lebens im geistlichen Sinne. Der heil. Geist ist ihm Princip des göttlichen Lebens, die Erlösung des Menschen seine Neubelebung, dem Leibe wie der Seele zugedacht. Erst wenn des Leibes Erlösung da ist, ist die Kindschaft im Vollsein da. In seiner Dogmatik gibt er eine „Geschichte des neuen Lebens“, redet von der Geburt der Gemeinde als von einem Hineingestelltwerden in das neue Leben aus Christus. Das Abendmahl ist auch und vornehmlich eine [326] „Feier des Lebens Christi und seines Kommens in uns als lebendig machender Geist“. Zu dem Wort Pauli (1. Cor. 15, 21): durch einen Menschen der Tod, so auch durch einen Menschen Auferstehung von den Todten u. s. w. sagt er: „es handelt sich nicht bloß um einen Allmachtsruf, die Todten zu erwecken aus ihrem Tod, sondern um eine Heilung derselben von innen heraus. Die leibliche Erweckung soll die Vollendung der inneren Erneuerung sein“ (Bibelstunden über den Brief an die Römer 2, S. 160). Das Evangelium Johannis war ihm wie Luther das rechte Hauptevangelium. In ihm tritt ja „das Leben“ in jedem Zeugniß Jesu hervor. Gewiß ist er darauf durch seine oben angegebene Erfahrung, in seiner theologischen Forschung aber auch wol von jenem großen genialen Theosophen Oetinger geführt worden, der einst das Wort ausgesprochen: „Ich will die Leibnitzische Philosophie passieren lassen, wenn ich ihr den Kopf abgehauen und die Idee vom Leben aufgesetzt habe“.

Richard Rothe’s Ethik, die bekanntlich in einigen Anschauungen von Oetinger beeinflußt ist, sah G. als eine der wichtigsten und bedeutungsvollsten Erscheinungen auf dem Gebiet der Theologie an. Aber G. hat die Consequenzen Rothe’s nicht gezogen, hat den Weltwiedergeburtsproceß im Rothe’schen Sinne nicht angenommen, viel weniger wäre es ihm möglich gewesen, kirchlich eine derjenigen Rothe’s ähnliche Stellung einzunehmen. Seine biblische Anschauung wie seine kirchliche Erziehung hielten ihn davon ab. Kühn neue Bahnen zu betreten, vorab auf dem Wege der Speculation, war überhaupt nicht seine Sache; er fühlte sich an Bibel und Erfahrung gebunden und trug eine heilige Scheu in sich, hier aus Speculationssucht zu weit ins Ungewisse sich vorzuwagen. Aber an Hand der Bibel ist er doch oft genug eigene Wege gegangen: das war in der Christologie, in der Eschatologie und merkwürdiger Weise in der Stellung zur Schrift selbst der Fall.

Seine dogmatische Stellung kennzeichnet G. selbst in der den Missionszöglingen dictirten Dogmatik in folgenden Worten: „Die biblische Glaubenslehre, um welche es uns hier zu thun ist, schöpft nicht aus symbolischen Büchern irgend einer Kirche, sondern unmittelbar aus den Offenbarungsurkunden selbst. Aus ihnen will sie darstellen den Organismus der göttlichen Wahrheit. Sie setzt voraus, daß der Darstellende wirklich seinen Ausgangspunkt nehme nicht von seinen eigenen Gedanken, sondern von den Gedanken des Geistes, aus welchem die Schrift entsprungen ist, und daß er den Grundgedanken, aus welchem alle Schriftgedanken erwachsen sind, wirklich erfasse und nicht fremde Anschauungen hineintrage“.

Die Basler Mission ist ein Unionswerk. Sie ist eine Vereinigung von Missionskreisen, die der reformirten und lutherischen Kirche angehören. Sie hat auch von jeher eine ausgesprochen confessionelle Stellung nach der einen oder andern Seite hin abgelehnt. Aber hochinteressant ist hier Geß’ Fassung der Vorbedingungen für seine Darstellung der Dogmatik; der Schwerpunkt liegt ihm in der Erfassung des Grundgedankens, welchem alle Schriftgedanken entsprungen sind. Wer leitet zu diesem Grundgedanken so, daß er thatsächlich erfaßt, begriffen werde? Es ist jedenfalls die an der Schrift und an den dort bezeugten Heilsthatsachen gemachte innere Erfahrung. Dies Zwiefache, das Göttliche in der Schrift und das an ihr entzündete subjective Leben des Glaubens ist der Sehwinkel, unter welchem das richtige Verständniß des Grundgedankens der Schrift erfaßt werden soll. Die innere Heilserfahrung wurde ihm dann nach und nach so wichtig, daß er ihr auch der Schrift gegenüber eine ziemlich weitgehende Freiheit einräumte. Die Orientirung durch [327] den Begriff des Reiches Gottes ist auf die Seite geschoben, und darum ist der Subjectivismus in seiner Theologie hie und da einseitig hervorgetreten.

In der Christologie ist G. nun, wenn nicht neue, so doch eigene, und doch in gewisser Hinsicht wieder neue Wege gegangen. Daß das ewige Wort Fleisch geworden, stand G. fest, aber er betonte in seinen dogmatischen Vorlesungen mit aller Energie die wahre Menschheit Christi und deducirte dann aus einigen Stellen die Selbstentäußerung (Kenosis) des ewigen Worts. Cardinalstellen waren ihm: „Ich bin ausgegangen vom Vater und gekommen in die Welt, wiederum verlasse ich die Welt und gehe zum Vater“, dann eine Wiederherstellung und damit eine Veränderung ausdrückende Stelle Joh. 14, 28 f. und endlich das paulinische Wort in Phil. 2, 6. 7, welches die kenotische Auffassung begründe. Der Raum gestattet nicht, auf das theologische Problem hier einzugehen. Aber für die künftigen Missionare und Pastoren war diese Auffassung darum von großer Bedeutung, weil darin mit der wahren Menschheit Christi Ernst gemacht, die wahrhaft menschlich-natürliche Entwicklung Christi Recht bekam und damit alle gnostisirende Wesensauffassung Christi, wie sie gerade in pietistischen Kreisen bewußt oder unbewußt beliebt ist, abgewiesen wurde.

Damit war noch ein Zweites verbunden, was wir Schüler von G. als eine Bereicherung unserer christlichen Erkenntniß empfanden, nämlich die auf Grund von Stellen wie Johannes 5, 19. 30 gewonnene Darstellung der Abhängigkeit Jesu vom Vater und des innigen Verhältnisses des Sohnes zum Vater, der Realität der Versuchung Jesu und des dabei geführten thatsächlichen Kampfes, der Willensentäußerung Jesu im Kampfe in Gethsemane und des Verzichtes zu Gunsten des himmlischen Vaterwillens. In allen diesen und anderen Vorgängen vollzog sich die tiefinnerliche sittliche Arbeit der Selbstheiligung Jesu, die erst mit dem Sterben vollendet war. Es eröffnete sich uns auf einmal ein Reichthum von wahrhaft menschlichen Vorgängen und Entwicklungen und zugleich von hohen sittlichen Momenten, die uns die Person Jesu viel näher brachten, als alle Beschreibungen von der göttlichen Herrlichkeit und der wunderbaren Uebermenschlichkeit Jesu Christi, wie sie die bisherige Dogmatik darzustellen beliebte. – Auch das Sühneleiden wurde hier nicht im quantitativen Sinne gefaßt. Nach G. hat Christus den Tod erlitten „im Bewußtsein, daß er der Sold der Sünde ist; er hat ihn erlitten mit heiliger, Gott preisender Beugung unter die Ordnung der göttlichen Gerechtigkeit; das ist der Grund, warum seinem Tode die Kraft innewohnt, unsre Sünde zu sühnen. Freiwillig hat er das Gericht Gottes über die Sünde an sich erlebt. Nicht in dem Aeußern des Leidens und in den Wunden, in dem Blute als solchem, sondern in der heiligen Arbeit seines Geistes; liegt die sühnende Kraft seines Leidens. Es ist dies die innerlichste, die gewaltigste, die freieste Geistesthat, die je in der Menschheit geschehen ist.“ Diese Auffassung eröffnet eine hohe und tiefe Gedankenreihe über das Hohepriesterthum Christi und stellt seine Solidarität mit der Menschheit in das hellste Licht.

Im eschatologischen Theil seiner Dogmatik trat eine eigenthümliche Anschauung von G. darin hervor, daß er eine endliche Vernichtung derer, die in ihrer Bosheit gegen Gott im Diesseits und Jenseits verharren, also der völlig Verstockten annahm. Dabei galt es ihm als selbstverständlich, daß eine weitgehende Möglichkeit nicht nur der Weiterentwicklung der im Jenseits weilenden Seelen, sondern auch eine Veranstaltung zu erneuter Möglichkeit, das Heil zu ergreifen, gegeben sei. Gegen die lutherisch-orthodoxe Auffassung, daß das Erdenleben auf ewig das Loos der Verstorbenen entscheide, macht er im III. Band seines Werkes „Das Dogma von Christi Person und Werk“ entschieden [328] Front und weist auf Lucas 13, 25 ff. hin, indem er den Herrn hier als denjenigen deutet, der auf diejenigen wartet, welche in der Frist der Langmuth (im Todtenreich) durch die enge Pforte den Eingang in sein überirdisches Haus suchen.

Seine Stellung zur Schrift endlich, so lange er in der Missionsanstalt lehrte, war insofern eine freiere, als er die Verbalinspiration verwarf und in gewissen Grenzen eine kritische Auffassung zuließ. Was sein Werk „Die Helden der heil. Schrift“ betrifft, so ist darüber weiter unten zu berichten, aber es ist wohl sicher anzunehmen, daß die Ansätze zu den in diesem Werk niedergelegten Gedanken hier in Basel schon vorhanden waren. Hier schrieb er sein Werk betitelt: „Entwicklungsgeschichte der Lehre von der Person Christi nach dem Reformationszeitalter bis zur Gegenwart“, 1856, ferner in die Jahrbücher für deutsche Theologie 1858 die Abhandlung „Zur Lehre von der Versühnung“ und für den Jahrgang 1859 „Die Nothwendigkeit des Sühnens Christi“.

Aber G. nahm bald auch thätigen Antheil an dem in der deutschen Schweiz entbrannten theologischen und kirchlichen Kampfe. Der Hegelianismus und die Baur’sche oder Tübinger Schule hatten auch in der Schweiz zahlreiche Anhänger und Vertreter gefunden. Zwei Männer waren die unbestrittenen Führer der neuen „Reformpartei“, Aloys Emanuel Biedermann, Professor in Zürich und Pfarrer Heinrich Lang ebenda. In Zeitschriften, Büchern und tractatähnlichen Schriften suchten sie auf das Volk Einfluß zu gewinnen und die rechtlich verbindliche Bekenntnißgrundlage, soweit sie noch vorhanden war, zu erschüttern und zu beseitigen. Man begann grundlegende Artikel des christlichen Glaubens bald mit wissenschaftlicher Schärfe, bald auch mit frivoler Dreistigkeit zu bestreiten und immer stürmischer Abänderung der Liturgie, Abschaffung des bisherigen Ordinationsgelübdes und für die Schulen Religionsunterricht im Einklang mit den Resultaten der modernen Wissenschaft zu verlangen.

In Basel waren durch Vorkämpfer dieser Partei die Gemüther in tiefgehende Bewegung gesetzt worden, und die Kirche sah sich durch die Angriffe der beiden Candidaten Rumpf und Hörler auf den altprotestantischen Glauben in heftige Parteikämpfe hineingetrieben. Die stille, ehrenfeste, pietistische, hie und da auch etwas herrnhutisch angehauchte Frömmigkeit des alten Basel war zu ernstlicher Abwehr im eigenen, sonst scheinbar so sicher gestellten Hause genöthigt, und die Erregung darüber war um so größer, als die neue Partei allmählich Boden gewann. Von der aggressiven Art des Kampfes kann man sich eine Vorstellung machen, wenn man bedenkt, daß allein in Basel in den Jahren 1854–60 fünf zum Theil umfangreiche Bände gegen den bestehenden Kirchenglauben erschienen sind, danebenher noch mehrere populär geschriebene Broschüren.

Einer der Führer der Reformpartei, der genannte Cand. theol. Rumpf hatte schon im J. 1860 zu wiederholten Malen öffentliche Disputationen mit den Herren Pfr. Ernst Stähelin und Karl Aug. Auberlen, Prof. an der theol. Facultät in Basel, als seinen Opponenten, abgehalten. Jetzt aber schien es an der Zeit, öffentliche, apologetische Vorträge zu halten, die den Zweck haben sollten, der Basler gebildeten Männerwelt den guten Grund des altevangelischen Glaubens zu erweisen. Eine Reihe von hervorragenden Basler Theologen: Prof. J. J. Riggenbach, Geß, E. Stähelin, Prof. Auberlen, J. Stockmeyer und Sam. Preiswerk hielt vor zahlreicher Zuhörerschaft im Winter 1860/61 einen Cyklus solcher Vorträge.

Als ausgezeichnet wurden die zwei Vorträge von G. allgemein anerkannt, [329] der eine über „Natur oder Gott?“, der andere über „Christi Versühnen der menschlichen Sünde“. Der Name Geß war damals in Basel in aller Mund; man konnte in gebildeten Kreisen die ungetheilte Anerkennung seiner Gelehrsamkeit und seines christlichen Charakters wahrnehmen. Der ganze Cyklus der apologetischen Vorträge ist unter dem Titel „Zur Verantwortung des christlichen Glaubens“ in Bahnmaier’s Verlag im Druck erschienen und mußte schon nach Jahresfrist neu aufgelegt werden; sie haben in Basel damals eine bedeutende Wirkung erzielt.

Ein Kreis von Damen aus den höheren Ständen Basels verlangte in jener religiös bewegten Zeit nach gründlicherer Erkenntniß in den evangelischen Schriftwahrheiten und ersuchte im Herbst 1860 G., ihnen Vorträge über biblische Materien zu halten. So kam G. dazu, mehrere Winter hindurch einen Cyklus von Bibelstunden zu halten, die 1871–94 in 3 Bänden, einzelne in 3.–5. Auflage unter dem Titel „Bibelstunden“ im Druck erschienen sind und eine weite Verbreitung gefunden haben. Vielleicht sind diese Bibelstunden unter den litterarischen Erzeugnissen von G. die bekanntesten und gesegnetsten gewesen. G. zeigt sich in ihnen als feinsinnigen Exegeten, der mit scharfer Auffassung und durchsichtiger Klarheit ein tief religiöses Verständniß verbindet. Seine Bibelstunden haben in der That bleibenden Werth.

Was die Stellung von G. als Lehrer im Missionshaus und als Mitglied des die Mission leitenden Comités betrifft, so war er für seine Zöglinge recht eigentlich der Theologe, dem sie folgten, den sie verehrten, im Missionscomité war er seinem Schwager, dem Inspector Josenhans gegenüber, das mildernde Element. Dem idealistischen Feuereifer des willensstarken Inspectors, der nicht selten über dem Erwünschten die Grenze des Erreichbaren aus dem Auge verlor, wußte G. mit nüchterner Sachkunde zu widerstehen und die Missionsleitung vor verderblichen Mißgriffen zu bewahren. Das geschah z. B. als der Inspector die Christen gewordenen Neger der Goldküste zu sofortiger Entlassung ihrer Sklaven nöthigen und für das Katechetenseminar zu Akropong den Unterricht in den drei alten Sprachen einführen wollte. Aber solche Differenzen waren vorübergehend und trübten im Grunde die Einigkeit im Geiste nicht. G. spricht es auch in seinem selbstverfertigten Lebensabriß aus, daß solche Spannungen seine bewundernde Achtung für Josenhans’ unermüdliches Arbeiten, für die Hingebung seiner ganzen Seele an die heilige Sache, sowie für den Scharfsinn, mit welchem er immer neue Wege zur Förderung des Werkes suchte, nicht hätten beeinträchtigen können. G. bekennt auch ebenda, daß die Basler Mission in den 30 Jahren unter dem Inspectorat von Josenhans vor allem innerlich gewonnen habe, indem der äußere und innere Stand der Stationen so solide wie möglich ausgestaltet wurde. Für den innersten Stand aber der Mission, der seine Wurzeln in einem frischen, kräftigen Glaubensleben der Missionare hat, haben beide Männer, und G. wahrlich nicht zum wenigsten, mitgewirkt.

In den letzten fünf Jahren seines Basler Aufenthalts stand G. auf der Höhe seiner Wirksamkeit. Wie tief er hier eingewurzelt war, sprach sich in seinem Abschiedswort aus. Er hatte nämlich im Frühling 1864 einen Ruf als ordentlicher Professor für systematische Theologie an die theologische Facultät in Göttingen erhalten und angenommen. Die theologische Facultät in Basel hatte ihn noch zuvor zum D. theol. ernannt. Nun schien das Ideal seiner Jugend, als Lebensberuf eine akademische theologische Thätigkeit zu bekommen, erfüllt. Eine ähnliche Arbeit hatte er freilich bisher schon geleistet. Aber an einer Universität auf eine Schar von jungen humanistisch gut vorbereiteten Theologen zum Besten der Kirche lehrend wirken zu können, erschien [330] ihm als eine besonders hohe, heilige Aufgabe; sie mochte gerade ihm, der fest auf dem Offenbarungsboden der heil. Schrift stand, um so wichtiger erscheinen, als Albrecht Ritschl in Göttingen in epochemachender Weise auf die ganze bisherige Orthodoxie reformirend, bis in ihre Grundlagen erweichend, einwirkte. Nur nach Ueberwindung ernster Bedenken reifte in G. der Entschluß, dem Rufe zu folgen.

Die theologische Facultät in Göttingen bestand damals aus den Professoren Albrecht Ritschl, F. Aug. Ed. Ehrenfeuchter, Ludwig Schöberlein, Joh. Tob. Aug. Wiesinger, Jul. Wagenmann, Männern, welche größtentheils ihrer Theologie das Gepräge einer vermittelnden, den strengen Confessionalismus ablehnenden Haltung gaben. Die Geistlichkeit des hannoverschen Landes war indeß unter Führung von Pastor Adolf Petri im letzten Jahrzehnt mehr und mehr von einer confessionell lutherischen Strömung ergriffen worden und verlor damit einigermaßen das Interesse für eine rein biblische, von den Symbolen unabhängige Theologie.

Es ist einleuchtend, der Boden, den G. in Göttingen betrat, war seiner biblicistisch pietistischen Theologie wenig günstig. „Unbefangene Versenkung in die Schrift, um auch das Bekenntniß nach der Schrift zu reinigen und zu vertiefen, galt dort als ein Bestreben, das Mißtrauen erweckt“ (Geß, Aufzeichnungen für seine Kinder). Seinem Lehrauftrag entsprechend las G. Dogmatik und Ethik, erwirkte sich aber das Recht, auch noch Exegese zu lesen. Bei einer Frequenz von etwa 150 Theologie Studirenden hatte er zwischen 14 und 25 Zuhörer; es waren solchen, „welche in die Gedanken der heil. Schrift eingeführt sein wollten“.

In die Göttinger Zeit fallen drei Vorträge, die G. auf der Versammlung der evangel. Allianz in Amsterdam im J. 1867 über „Mission und Nationalität“, sodann auf der allgemeinen Missionsconferenz in Bremen 1866 „Ueber die Ausbildung der Missionszöglinge“, endlich auf der Barmer Pastoralconferenz 1869 über „Stufengang Jesu in der Unterweisung seiner Jünger“ hielt.

Inzwischen war das schon im J. 1856 im Druck erschienene Werk „Lehre von der Person Christi“ vergriffen und der Verleger wünschte eine 2. Auflage. G faßte nun aber den Plan, „das Werk Christi mit Christi Person zu verbinden und dabei zugleich in der exegetischen Grundlegung so zu verfahren, daß die organische Entfaltung von den Selbstzeugnissen Christi bis zur Höhe der johanneischen Logoslehre ins Licht trete und hiemit den Einwürfen der negativen Kritik ihre Widerlegung werde“. Gegen Ende des Jahres 1869 erschien als I. Abtheilung des so umgestalteten Werkes „Christi Selbstzeugniß“ (Basel 1870). In den Jahren 1878–1879 folgte in zwei separaten Hälften die II. Abtheilung: „Das apostolische Zeugniß von Christi Person und Werk nach seiner geschichtlichen Entwickelung“. Die III. Abtheilung „Dogmatische Verarbeitung des Zeugnisses Christi und der apostolischen Zeugnisse“ auch unter dem Titel „Das Dogma von Christi Person und Werk entwickelt aus Christi Selbstzeugniß und den Zeugnissen der Apostel“ erschien Basel 1887.

Während dieser tiefgehenden theologischen Studien hatte G. zwei Jahrzehnte eines sehr bewegten Lebens durchgemacht. In Göttingen die beiden Kriegsstürme des Jahres 1866 und 70, dann im J. 1871 seine Versetzung nach Breslau, an dessen Hochschule er neben systematischer auch praktische Theologie zu lehren hatte. Außerdem las er hier auch ein Exegeticum über das Evangelium Johannis und den Römerbrief. Aber G. sollte nun auch als Mitglied des Consistoriums Antheil an der Leitung der Schlesischen Kirche bekommen, an den theologischen Prüfungen als Decan, als Abgeordneter des Oberkirchenrathes an den Sitzungen der Provinzialsynode Posen, auch an den [331] Ordinationen der Candidaten, so arbeitete er sich je länger desto mehr in die inneren Angelegenheiten der Kirche ein. Seit 1876 gehörte er auch dem Vorstand des Diakonissenhauses Bethanien in Berlin an und predigte öfter an dessen Jahresfesten. In seinen Breslauer Aufenthalt fallen zwei Vorträge, die er in Liegnitz (1872) und Barmen (1879) gehalten, erstern über „Gottes Volk, ein Königreich von Priestern“, letztern über „Die Souveränität des Herrn Jesu gegenüber den Propheten“.

Seine Schüler an beiden Universitäten rühmen seinen wahrhaft christlichen Charakter, seinen den tiefsten theologischen Problemen sinnend zugewandten Geist, seine Biblicität und die durch feinsinnige Auslegung anregende und den Unterricht belebende exegetische Ausbeutung der heil. Schrift. Ein heute wohlbekannter Universitätslehrer schreibt: „er war immer dieselbe gesammelte, ernste, weihevolle Persönlichkeit, biblisch tief gegründet, aber weltabgewandt, in heiliger Einsamkeit sinnend. Die gelehrte Theologie lag ihm fern. Ich habe ihn stets sehr hoch gehalten, er war ein ganzer Mann, ein fester Charakter“.

Im J. 1879 erhielt G. die Ernennung zum Generalsuperintendenten der Provinz Posen und trat dort sein neues Amt im April 1880 an. Seine neue Stellung brachte es mit sich, einen häufigen directen Verkehr mit den Geistlichen der Provinz zu pflegen, den die Pfarrer, wie zahlreiche Zeugnisse beweisen, als sehr fördernd zu schätzen wußten. Besondere Anregung brachte er einem Kreis von Geistlichen in der Stadt Posen selbst durch Bibelbesprechungen unter seiner Leitung. Alle drei Wochen predigte er in der St. Paulikirche, die stets bis auf den letzten Platz gefüllt war.

Während seines Posener Aufenthaltes erschienen in der „Kirchlichen Monatsschrift“ zwei Vorträge: „Ueber das Bibelstudium der Geistlichen“ und über den „Prometheus des Aeschylos“. Ferner in der „Neuen Christoterpe“ vier Aufsätze: 1. „Jesus Christus vor Gericht“, 2. „Neutestamentliche Blicke in die Gegenwart und Zukunft des Volkes Israel“, 3. „Jeremias der Prophet und Jesus der Sohn“, 4. „Der irdische und himmlische Beruf“. Auch am dritten Band seines Hauptwerkes „Christi Person und Werk“ arbeitete er weiter.

Vier glückliche Jahre waren in Posen vergangen, während welcher sein Beruf ihn mit großer Freudigkeit des Schaffens erfüllte, als er im Frühjahr 1884 an einem Herzleiden erkrankte, das ihn nöthigte, Ostern 1885 um Enthebung aus seinem ihm so liebgewordenen Amte einzukommen.

Er zog nach Wernigerode i. Harz und beschäftigte sich, da das Leiden sich besserte, litterarisch, indem er den ersten und zweiten Band seiner Bibelstunden (1885–88), für die Christoterpe: 1887 „Von der Einfalt“, 1888 „Ob ein Christ seines Heils gewiß werden könne“ und 1894 (aus den hinterlassenen Papieren) „Das Geheimniß Gottes und seine Offenbarung“ schrieb. Hier vollendete er sein „Person und Werk Christi“. Schon allein um dieses Werkes willen hat G. einen bleibenden Namen in der deutschen evangelischen Theologie verdient. Von der Ueberzeugung einer Harmonie des Inhaltes der synoptischen Evangelien und des johanneischen ausgehend und so auch sie gleichmäßig als Quelle benützend, durchforscht er die Zeugnisse Christi von seiner Person und seinem Werk. Er hofft, „daß die Darlegung des geschichtlichen Entwicklungsganges dieser Zeugnisse Jesu ein Beitrag werde zur Förderung derjenigen wissenschaftlichen Erkenntniß, welche für die Kirche unserer Zeit das Hauptbedürfniß ist, der geschichtlichen Erkenntniß des Lebensgangs unseres Herrn“.

G. kam zur Ueberzeugung, daß Jesus schon beim Antritt seines Amtes sich als Träger des Gottesreiches, das ihm nicht nur für die Juden, sondern für die ganze Menschheit bestimmt galt, wußte, und ebenso, daß er von Anfang [332] an gewußt, daß sein jetziges Wirken im Erleiden gewaltsamer Tötung ende und ihm ein zweites Kommen zum Richten der Welt und Retten der Seinen beschieden sei.

Und doch war der Vorgang bei Caesarea Philippi (Marc. 8, 27 f. und Parall.) in Jesu Zeugniß epochemachend; denn hatte er vorher nur in andeutenden Worten von seiner Messianität, in räthselhaften von seiner Tötung geredet, so besiegelt er dort in Caesarea das Bekenntniß des Petrus, das ihn den Messias nennt, und redet von nun an, da die Jünger innerlich, von seiner heiligen Macht überwunden, ihn als König erkennen, deutlich von seinem Sterben und seinem Wiederkommen.

Im zweiten Band behandelte G. das apostolische Zeugniß von Jesu Person und Werk, im dritten Band das Dogma von Christi Person und Werk, und zwar beginnt er mit Christi Werk, wobei er unterscheidet sein Wirken in den Fleischestagen, zwischen Tod und Auferstehung, zwischen Auferstehung und Himmelfahrt und Wiederkunft, bei dieser selbst und endlich sein Wirken in der Fülle der Zeiten.

Von besonderem Interesse in diesem Theil ist der Abschnitt von Jesu Wirken auf sich selbst, wobei seine wahlfreie Stellung zu gut und böse, sein Posse non peccare und demgemäß auch die Möglichkeit des Sündigens hervorgehoben wird. „Das Unvermögen zum Sündigen bei dem Manne in Gethsemane hat sich also auf seiner langen Stufenfolge vorheriger Freiheitsentscheidungen auferbaut.“ Beachtenswerth ist was er sagt über die Fürbitte Christi als sein Wirken zwischen Himmelfahrt und Wiederkunft. Es gründet sich auf Röm. 8. 34; Joh. 14. 16; Hebräer 7. 25; I. Joh. 2. 1 ff. Nun sind die Menschen nicht mehr Schafe, die seinen Hirten haben, die Zeit, über welche Jesaias in 53. 6 klagte, ist vorbei, der Hirte und Bischof der Seelen ist vorhanden. Die Reihenfolge der Evangelisirung der Völker wird im Himmel festgesetzt. Der Welttag hat seine Stunden (Matth. 20. 1 ff.). Ihre Zutheilung an die Völker wird zum Gegenstand der Fürbitte Jesu gehören, ebenso die Ordnung der zahllosen äußeren Umstände, welche ineinander greifen müssen, damit die Boten und das Volk bereit seien, wenn die Stunde gekommen ist.

Und wie für die Völker, so für die einzelnen Seelen gibt es ein Fürbitten Jesu. Der ganzen Entwicklung unseres inneren Lebenes bis zum erreichten Ziele folgt sein Blick und Herz. Das geht hinaus über unsere Fassungskraft. Für große Epochen könnten wir es noch verstehen. Vor Gottes Augen ist eben nicht immer groß, was vor Menschen groß erscheint. Das Unbeachtete erweist sich oft als das Wirkungsreichste in der Geschichte. Luther’s Anfechtungen, Gebete, Sorgen, Siege haben Größeres gewirkt, als alles Gepränge, womit Papst Julius II., Leo X., Kaiser Karl und König Franz sich wichtig machten. Bedeutend und aus Erfahrung geschöpft ist, was G. im zweiten Theil des dritten Bandes über das Herz und Wesen Gottes und den Satz, daß dieses nur aus Christi Wirken und nicht aus unserem Kopfe kennen zu lernen sei, ausspricht. Ja, so sei es; aber Christi Wirken lernen wir nur aus Christus selbst in seinem Wort. Dieser spricht: Geist ist Gott – und: so Jemand mich liebet, wird er mein Wort halten und mein Vater wird ihn lieben und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen. Was ist Lieben? Menschliches Lieben ist beides: ein Ergriffensein des Herzens und eine Action des Willens. Thatlos bleibendes Ergriffensein von des Nächsten Noth ist keine Liebe, ebensowenig kaltes Helfen. Wie mag es bei dem göttlichen Lieben sein? Kann Gott bewegt werden? Gibt es ein Pathos in ihm? Oder ist sein Lieben nur Sache des Willens und der That? Die Sprache der Propheten und Apostel lautet anders. „Mein Herz klopfet über Ephraim, ich erbarme [333] mich sein, spricht Jehovah.“ „Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über die, so ihn fürchten.“

Die Frage ist im Grunde, ob Gott, weil er der Geist sei, nur Verstand und Wille sei, oder ob auch Gemüth? Ob also der Mensch nur sofern er Verstand und Wille ist, gottebenbildlich sei, oder auch sofern er Gemüth? Kein im Leben Erfahrener wird leugnen, daß des Menschen individueller Werth in seinem Gemüthe ruht. Wäre Gott nur Verstand und Wille, nicht aber Gemüth, so wäre gerade das, was den Menschen zu einem werthvollen G1iede der Menschheit macht, und ihm die Herzen der Menschen zuwendet, nicht mitgehörig zu seiner Gottebenbildlichkeit. Hätten wir den Vater unbewegt zu denken, nicht mit den Elenden leidend, so würde Christus nicht sagen können: „wer mich siehet, der siehet den Vater“; denn Christus blieb nicht unbewegt, sein Herz wallte auf in Freude, Erbarmen, Entrüstung. All dieses Bewegtsein Christi, dies Ergreifendste, müßte man sich erst wegdenken, um in Christus den Vater zu sehen. Sind aber in dem Vater analoge Bewegungen, so fällt ein neues Licht auf Christi Wort. Die Folge dieser Gedankenreihe erstreckt sich auf das Wesen Christi, wie Gottes und vor allem auch auf Christi Versühnen. Dabei sei noch erwähnt, daß G. die Identität des Ich Jesu im irdischen Leben, und des Ich, welches zuvor in der Herrlichkeit bei dem Vater gewesen ist, aufs stärkste betont und lehrt.

In Wernigerode schrieb er nochmals „Zur Lehre von der Versühnung mit Bezug auf Herrn Professor D. Häring“ (Stud. u. Krit. 1889, S. 559 ff.). Das letzte Werk seines Lebens war „Die Inspiration der Helden der Bibel“, es ist nach seinem ausdrücklich auf seinem Sterbebette ausgesprochenen Wunsch noch nach seinem Tode dem Druck übergeben worden. Daß Vieles in diesem Buche bei manchen Christen Anstoß erregen werde, war ihm völlig klar, er sprach dies auch in seiner Leidenszeit aus, fügte aber hinzu: „aber ich kann nicht gegen die Wahrheit“. Noch mit der Correctur der Druckbogen beschäftigt, überfiel ihn im Mai 1891 seine letzte Krankheit, die ihm Stunden peinvollster Athemnoth und Herzbeklemmung brachte. Aber auch in diesen Nöthen bewährte sich sein Glaube. Oefters rief er aus: „Nur keinen Schein, nur keine Phrasen, nur keine Sentimentalität!“ „Nur Gottes Worte halten Stich.“ „Jetzt ist Alles dunkel; aber Jesus ist licht, Er allein ist ganz licht.“ „O, es ist unaussprechlich, den Gottes und Menschensohn zu haben.“ Sein letztes Wort war: „Meine Seele wird ja ganz anders“. Mit weitgeöffneten, staunenden Augen sah er sich dabei halb aufgerichtet ringsum, als sähe er etwas vollkommen Neues. Dann schlossen sich seine Augen für immer. Er war, wie er es gewünscht hatte, bei vollem Bewußtsein hinübergegangen, am 1. Juni 1891. So hoch G. stand in den Kreisen der Gläubigen, so verlegen und theilweise verblüfft war man in denselben, als nach seinem Tode das Werk „Die Inspiration der Helden der Bibel“ (Basel, Reich, vorm. Detloff’s Buchhandlung, 1892) erschien. Um das theilweise peinliche Aufsehen in den Kreisen der Gemeinde, das dies Buch erregte, zu verstehen, haben wir uns zu vergegenwärtigen, daß die orthodoxe Lehre in der Verbalinspiration der heiligen Schrift von zahlreichen Pfarrern als ein Noli me tangere der Gemeinde gegenüber behandelt wurde und behandelt wird. Von der wissenschaftlichen Unhaltbarkeit der Lehre ist man mehr oder weniger überzeugt, allein man tastet die ererbte Vorstellung in der Gemeinde nicht an, weil man die scharfe Luft der Wahrheit für die Schwachen, den Mißbrauch der Wahrheit bei denen, die sich für stark halten, befürchtet. Dem gegenüber spricht sich G. schon im Vorwort mit wünschenswerther Deutlichkeit aus. Warum redet der Titel in erster Linie von der Inspiration der Helden der Bibel und erst in zweiter [334] von der Inspiration der Bücher der Bibel? Um von vornherein dem so gewöhnlichen und so verderblichen Irrthum entgegenzutreten, als wäre die Inspiration wo sie irgend geschehen, zum Zweck des Schreibens der biblischen Bücher geschehen. Elias und der Täufer haben nie ein Buch verfaßt und sind doch hochinspirirte Menschen gewesen. Der Mittler des neuen Bundes hat gar Nichts in Schrift gefaßt. Soll ferner eine Erzählung, die jeder Zeit- und Ortsgenosse von einiger Gottesfurcht im Stande war zu schreiben, gleicher Weise wie Jesaia 53 geschrieben sein? Soll es da orthodox sein, mit Calov zu rufen: Dictat des heiligen Geistes dort, Dictat des heiligen Geistes hier?

Die Meinung: die Bibel müsse entweder Wort für Wort vom Geiste Gottes eingegeben sein, oder sie sei keine zuverlässige Urkunde für Gottes Gedanken und Thaten zu unserm Heil, bezeichnet er als der Wirklichkeit der Bibel nicht entsprechend. Er lehrt, daß reichlich Gotteswort im Bibelwort enthalten sei. „Die lebendigen Christen, die die Wahrheit erkannt haben (S. 427), haben das Vermögen, zu erleben, welche Bibelworte Gottesworte seien, welche nicht, oder sollen die Worte ‚Ihr habt die Salbung und wisset alles‘, ‚Der Geistesmensch beurtheilt alles‘, 1. Joh. 2, 20 und 1. Cor. 2, 15 von den heutigen Christen nicht mehr gelten?“

G., der gründliche pietätvolle Bibelforscher, hat damit vielen einen reellen Dienst gethan und sie zu gleicher Geistesfreiheit geführt, in der Gebundenheit ihres Glaubens an Christus, und in der inneren Zucht des Geistes; denn unter dieser, aber auch nur unter dieser Bedingung, hat er rückhaltlos der Bibelkritik ihr Recht eingeräumt.

Professor D. Ehrenfeuchter, sein College an der Universität Göttingen, hat G. den größten Schrifttheologen „unserer“ Tage genannt. Er dürfte dies neben J. Chr. K. v. Hofmann und Friedr. Louis Godet in der That gewesen sein. Waren letztere zwei dies als Exegeten, so war es G. als Systematiker, und wie seine zahlreichen Schriften beweisen, im directen Dienst für die reifere Gemeinde. Bei seiner Versenkung in die Schrift kam er zu theologischen Resultaten, die ihm gewiß waren, was seinem Geiste und Charakter ein freies, klares und festes Gepräge gab, ein freies gegen rechts oder links, gegen den Pietismus (Inspiration der Helden der Schrift) oder die Orthodoxie (Kliefoth) wie gegen Ritschl, Weizsäcker und Häring (III. Bd. Dogma von Christi Person und Werk), ein klares in der Wiedergabe dessen, was hell durch seine Seele leuchtete, in edler Sprache, in knapper, heller Form, oft Thesen den Vorzug gebend, ein festes, wie man an seinem letzten Lebenswerk, an der „Inspiration der Helden der heiligen Schrift“ erkennt: „ich kann nicht wider die Wahrheit“. Mochte es bei vielen Frommen Anstoß erregen oder nicht, er stand zu seiner Ueberzeugung, die ihm wichtig genug war, sie zum Besten und zur Förderung der Gemeinde Christi auszusprechen; diese Festigkeit bewährte er auch ansehnlichen Gegnern gegenüber, wenn nach seiner Meinung wichtige evangelische Positionen von links her bedroht waren, wobei er dann oft eine scharfe Klinge führen konnte, jedoch immer sachlich, nie persönlich. Aber bei aller Freiheit, Klarheit und Festigkeit seiner theologischen Ueberzeugung war G. gegen Personen milde und weitherzig; hat er doch verstanden, in schwierigen Verhältnissen und Umgebungen Frieden zu bewahren und sich auch die Achtung von Gegnern zu erwerben. Sein Hauptwerk über die Person Christi wird noch lange eine reiche Schatzkammer für ernstforschende Theologen bleiben und wird durch den Hauch heiliger Ergriffenheit des Verfassers und die Klarheit der Gedanken fort und fort vertiefend und belebend auf sie einwirken.