ADB:Hengstenberg, Wilhelm
Sam. Endemann (Dogmatik), Albert Joh. Arnoldi (Orientalia), Johann. Bering (Philosophie) Theologie studirt; auch im Hause Jung-Stilling’s verkehrt. Wie die meisten seiner Vorväter seit der Reformationszeit, hatte Karl H. sich dem geistlichen Stande zugewandt. 1799 ward er reformirter Pastor an dem adelichen freiweltlichen Fräuleinstift in Fröndenberg, [738] seit 1808 Pfarrer in Freiheit Wetter an der Ruhr. Karl H. gehörte dem gemäßigten Rationalismus in seiner mehr christlich-gemüthlichen Richtung an. Von gediegener klassischer Bildung, hatte er sich als Erzieher heranwachsender Knaben aus vornehmen Familien einen Ruf als ausgezeichneter Pädagog zu verschaffen verstanden. Noch in Fröndenberg waren ihm die Söhne des brandenburgischen Edelmanns Baron von Senft-Pilsach zur Erziehung anvertraut (der spätere Oberpräsident von Pommern und das noch lebende Mitglied des preuß. Herrenhauses). Außer seiner Vorliebe für die lateinischen und griechischen Klassiker trieb er gern geschichtliche und geographische Studien. Auch der Poesie befleißigte er sich. Außer vielen patriotischen Liedern erschien von ihm: „Jesus Christus oder die welterlösende Liebe und Treue“, 3 Gesänge nach den Evangelien; sowie „Psalterion oder Trost und Erhebung in heiligen Gesängen“. Aus vereinter Liebe zur Poesie und Geographie aber entstand die geographisch-poetische Schilderung sämmtlicher deutschen Lande, welche anfangs für seine Söhne und Zöglinge niedergeschrieben, später 1819 in Essen herauskam, „ein origineller Versuch selbst Gebieten, die man sonst nicht für poetisch hält, eine poetische Gestalt zu geben“ (Kahnis). Diesem Vater verdankt Ernst Wilhelm H. seine gründliche classische Durchbildung. Ein Gymnasium hat H. nie besucht. Der Vater unterrichtete den Sohn selbst. H. begann in seinem 11. Jahre Französisch, im 12. Jahre Latein, im 13. Jahre Griechisch, im 15. Jahre Hebräisch zu lernen. Wiewol in seinen Studien vom Vater stets mit weiser Umsicht berathen, war H. zumal in den späteren Jahren doch zum größten Theil, als Autodidact, auf sich selbst und seinen eisernen Fleiß angewiesen. In die Studien der lateinischen und griechischen Classiker vertiefte er sich mit besonderem Eifer. Hier findet sich denn auch der erste Versuch einer eigenen literarischen Production. Einer Frankfurter Buchhandlung, in welcher damals die Uebersetzungen römischer Classiker erschienen, übersandte H. die Uebersetzung eines lateinischen Autors (Aurelius Victor). Ohne weiteres ward das Manuscript von der Buchhandlung acceptirt, welche wol schwerlich ahnen mochte, daß es von einem kaum dem Knabenalter entwachsenen, noch nicht 16jährigen Jüngling herrührte. – Im Herbst 1819 bezog H., nicht ganz 17 Jahr alt, die neugegründete Universität Bonn. Nachdem er hier zuerst das Maturitätsexamen mit Glanz bestanden, ließ er sich, wiewol von Anfang an zum Studium der Theologie fest entschlossen, dennoch in die philosophische Fakultät inscribiren. Und wenn er auch während der Studienjahre die theologischen Fächer nicht ganz vernachlässigte, er hörte u. a. Kirchengeschichte bei Gieseler, so waren es doch vor allem philosophische und philologische Studien, welche H. an Bonn fesselten. H. spricht sich in seinem Curriculum vitae zu seiner Promotionsschrift darüber selbst aus: „At intelligens, theologiae studium, si recte instituatur, niti studiis philologiae et philosophiae his disciplinis ante omnia me tradendum statui“. Insbesondere aber, „weil ohne Kenntniß der orientalischen Sprachen der Zugang zu der ersten und letzten Quelle, der hl. Schrift nicht gewonnen werden kann“, trieb H. unter Prof. Freytag’s Anleitung nicht nur das Studium des Hebräischen, sondern auch des Chaldäischen, Syrischen und vor allem des Arabischen mit so gutem Erfolge, daß ihn Freytag zu seinen ausgezeichnetsten Schülern zählen konnte. Eine bestimmte Richtung erhielten diese Studien durch die am 3. Aug. 1821 gestellte Preisaufgabe der philosophischen Fakultät, welche die Bearbeitung des ersten und gefeiertsten der 7 unter dem Namen der Moallakath gekannten altarabischen Gedichte, der Moallaka des Amru l’Kais forderte. Diese sollte nach Pariser Handschriften unter Hinzufügung der Scholien des Grammatiker Suseni und mit genauer Erörterung der kritischen, metrischen und grammatischen Fragen veranstaltet werden. Hengstenberg’s Fleiß ward gekrönt. Am 3. Aug. [739] 1822 erhielt er den Preis; sein katholischer Mitbewerber das Accessit. Da H. die Erstattung der Druckkosten seitens der Behörde in Aussicht gestellt wurde, so konnte er die Schrift, wiewol mit größter Mühe und ohne die gewünschte Correctheit zu erreichen, durch den Druck veröffentlichen („Amrulkeisi Moallah cum scholiis Zuzenii e codicibus Parisiensibus edidit latine vertit et illustravit Ern. Guil. Hengstenberg, Bonnae typis regiis in officina Thormanniana 1823, gr. 4.). Mit großer Anerkennung wurde diese Schrift des jungen Gelehrten nicht nur in der Leipziger Literatur-Zeitung, 1823, Nr. 105, in den Göttinger Gelehrten Anzeigen, 1824, S. 1126 ff., in der Hallischen Literatur-Zeitung, 1823, Ergänzung, S. 119, 120, besprochen, sondern auch der große Pariser Orientalist Silvester de Sacy spendete der Arbeit im Journal des Savants (Mars 1823 p. 179–183) das ehrendste Lob: „Ce travail dans toutes ses parties promet à la literature arabe un ecrivain solidement instruit, qui lui fera faire de nouveau progrès et qui honorera l’Université de Bonn“. Mit dieser Arbeit wurde denn auch H. zur Doctorprüfung in der philosophischen Fakultät zugelassen. Nach einem glänzenden Examen promovirte H. am 18. Jan. 1823, „nachdem er sich mit 6 Opponenten 4 Stunden lang tapfer herumgestritten“ (aus dem Brief Hengstenberg’s an einen Freund). Besonders hatte eine These, welche für Hengstenberg’s damaligen theologischen Standpunkt charakteristisch ist: „Theologica Veteris Testamenti interpretatio nihili est“, Anstoß bei der theologischen Fakultät erregt. – Außer den arabischen Studien hatte H. sich mit besonderem Eifer, zumal unter Brandis’ Anleitung, mit aristotelischer Philosophie beschäftigt. Diesen Studien entsprang eine deutsche Uebersetzung von Aristoteles’ Metaphysik, welche 1824, von Brandis selbst durchgesehen, beim Buchhändler Weber in Bonn herausgekommen. Der Titel lautet: „Aristoteles’ Metaphysik, übersetzt von E. W. H. Mit Anmerkungen und Abhandlungen von C. A. Brandis.“ Bonn, Weber, 1824, gr. 8. Wenn somit H. die Universitätszeit mit den ernstesten Studien ausgefüllt, so hatte H. sich doch zumal in den ersten Semestern mit ganzer Seele an dem studentischen Treiben der Universität betheiligt. Er hatte sich der „Burschenschaft“ angeschlossen, welche nicht nur gesellige Fröhlichkeit, sondern höhere sittliche und nationale Ziele verfolgte. Hatte H. die Burschenschaft, als „Sprecher“ mit an ihrer Spitze stehend, nach innen und außen mannhaft mit Wort und Wehr vertreten und vertheidigen können, so konnte er, nachdem das Ministerium in Berlin mit Maßregelungen aller Art gegen die Burschenschaften vorging, mitwirken, daß dieselbe sich in Bonn selbst auflöste, ehe sie aufgelöst wurde. „Es thut uns zwar Allen weh, unsere gute Absicht so verkannt zu sehen; doch wir sind uns bewußt, nicht aus Begierde nach äußerem Glanz, sondern aus Ueberzeugung gewirkt zu haben, und sehen getrost die Form zertrümmern, da die Liebe uns noch immerfort bindet.“ – Treu seinem Entschluß, die Theologie zum Hauptziele seiner Bestrebungen zu machen, lehnte H. den ehrenvollen Antrag des preußischen Ministeriums ab, auf zwei Jahre auf Staatskosten nach Paris zu gehen, um sich dort für die orientalischen Sprachwissenschaften auszubilden. Ein anderer Antrag des Ministers (Altenstein) dem Dr. H. zu seiner Ausbildung in den theologischen Wissenschaften auf der Berliner Universität auf ein Jahr 400 Thaler zu bewilligen, fand nicht die Zustimmung des Königs. Wohin sollte sich nun H. wenden? Da erhielt er ganz unerwartet eine Aufforderung, nach Basel zu kommen. Der damalige Predigtamtscandidat, nachmalige Professor der Theologie, Johann Jacob Stähelin, hatte den Wunsch, sich in den orientalischen Sprachen zu vervollkommnen. Die sehr wohlhabenden Eltern, welche durch den Tod von zwei erwachsenen Kindern soeben aufs Tiefste gebeugt waren, wollten den Sohn nicht auf Reisen gehen lassen. Stähelin suchte deshalb einen jungen Orientalisten, der ihn zumal im Arabischen [740] fördern könnte. Durch Freytag’s Vermittelung wurde H. diese Stellung unter sehr glänzenden äußeren Bedingungen angetragen. Nachdem das Ministerium in Berlin gegen diese Absicht Hengstenberg’s nach Basel zu gehen, nichts zu erinnern gefunden, trat H. die Reise dorthin im September 1823 an. Für Hengstenberg’s weitere Entwickelung sollte der fast einjährige Aufenthalt in Basel von tief einschneidendster Bedeutung sein. Seinen Schüler Stähelin hatte H. täglich höchstens 1½ Stunden im Hebräischen und Arabischen zu unterrichten. So behielt H. freie Zeit genug für sich und seine Studien. Mit rastloser Energie warf sich H. in die bisher versäumten theologischen Fachstudien. Er dachte daran, eine dogmengeschichtliche Arbeit über Origenes zu veröffentlichen. Auch den Zöglingen des Baseler Missionshauses hat H. einige Monate hindurch arabischen Unterricht ertheilt. Wenn auch nicht plötzlich und räthselhaft, wie oft behauptet ist, so vollzieht sich hier in Basel der völlige Umschwung in Hengstenberg’s religiöser Ueberzeugung. Vorbereitet war derselbe bereits während der Bonner Studienjahre durch Hengstenberg’s Berührungen mit der Brüdergemeinde in Neuwied. Auch sind es nicht äußere Umstände und Beweggründe, welche bei H. diesen Gesinnungswechsel erklären. Wol mag sein geselliger Verkehr in Basel, die mancherlei Anregungen, welche er im Missionshaus erhielt, die Nachricht von dem plötzlichen Tode der geliebten Mutter, sowie eigene mit Gemüthsanfechtungen verbundene Leiden hier mitgewirkt haben; wir dürfen aber diese Factoren bei einem Manne, wie H., nicht überschätzen. Es entspricht ganz und gar seinem Charakter und der sich selbstbestimmenden Sinnesweise Hengstenberg’s, wenn er später in der Ev. Kirchen-Zeitung, 1831, S. 397, von sich aussagt: „Der Herausgeber ist sich bewußt auf die freieste und selbständigste Weise aus Schrift und Erfahrung ohne irgend eine menschliche Autorität, die er in Glaubenssachen verabscheut, zu seinem Glauben gekommen zu sein“. H. ist eben auch hierin völlig Autodidact. – Unterm 21. August hatte die philosophische Fakultät der Berliner Friedrich Wilbelm’s-Universität Hengstenberg’s Zulassung zur Habilitation als Privatdocent für die orientalischen Sprachen beschlossen. Als daher H. im October 1824 nach Berlin kam, fand er keine weiteren Schwierigkeiten zu überwinden. Auch der Regierungscommissar, Geh. Rath Beckedorf, hatte sich in seinem Schreiben an die Fakultät sehr günstig über H. ausgesprochen: „Ich kann es nur für einen Gewinn ansehen, daß ein mir bereits früher so vortheilhaft und rühmlich bekannter junger Gelehrter der hiesigen Universität seine Wirksamkeit zuwendet.“ Hengstenberg’s Habilitationsschrift handelte: „De populorum Semiticorum intima cognatione quoad sermonem, ingenium, religionem et poesin“. Am 22. October ging dann die öffentliche Habilitation Hengstenberg’s in der philosophischen Fakultät rite vor sich. Tags darauf kündigte H. seine Vorlesungen an. Zum Arabischen meldeten sich 2, zum Syrischen 3 Zuhörer. Auf Geh. Rath Schulze’s Rath ließ H. die bereits begonnenen Vorlesungen über die kleinen Propheten wieder fallen, um sich im Laufe des Winters mit ganzer Energie seinen theologischen Studien zu widmen. Schon im Frühjahr 1825 konnte er sich daher bei der theologischen Fakultät um den Licentiaten der Theologie und um Zulassung als Privatdocent in dieser Fakultät bewerben. Der z. Decan Strauß beantragte, H. das sonst übliche Examen zu erlassen. Diesen Antrag befürwortete Neander sehr warm: „da mir Dr. Hengstenberg’s theologisch-wissenschaftliche Thätigkeit durchaus bekannt ist und ich unserer Fakultät zu dessen Anschließung nur gratuliren kann.“ Auch Schleiermacher und Marheineke stimmten diesem Antrage bei. Doch fand derselbe nicht die Genehmigung des Ministeriums. H. mußte sich daher auch diesem Examen unterziehen. Am 16. April 1825 fand der feierliche Promotionsakt statt. H. vertheidigte bei dieser Gelegenheit 20 von ihm aufgestellte Thesen. Diese Thesen sind um so [741] bezeichnender für H., als sie nicht nur den damaligen Glaubensstandpunkt Hengstenberg’s in rücksichtsloser aggressiver Weise bezeichnen, sondern bereits die Stellung angeben, welche H. später in wissenschaftlicher, kirchlicher und christlicher Hinsicht eingenommen hat. These 12 u. 13, welche den Widerspruch des Vaters fanden, machen die Grundgedanken von Hengstenberg’s theologischer Anschauungsweise überhaupt aus: „Ratio humana coeca est in rebus divinis. Is tantum ad eam, quae homini concessa est, Dei cognitionem pervenit, qui Christi crucem tollit eumque sequitur.“ Von diesen Thesen aus gewinnen auch die Thesen, welche sich auf das alte Testament beziehen, ihre ganze Kraft und Bedeutung: „Ad V. T. intelligendum non sufficit philologia, requiritur animus, cui Christi gloria illuxit“. – „Unus tantum est V. T. sensus … Verbis vim inferunt, qui C. LIII. Jesaiae de Messia agere nolunt!“ Charakteristisch für H. widersprachen einige Thesen geradezu den Bonner Thesen von 1823. So gestalten sich diese Thesen gewissermaßen zu einem Programm für die ganze spätere Wirksamkeit Hengstenberg’s. Trat H. somit in bewußten Gegensatz zu der damals auf der Universität, wie im Ministerium allein maßgebenden Hegel’schen Schule, so verband er sich auf der anderen Seite mit all’ den Kreisen Berlins, in welchen nach den Befreiungskriegen christlicher Glaube und christliches Leben in positiver Weise Gestalt gewonnen hatten.
Hengstenberg: Ernst Wilhelm H., geb. den 20. Oct. 1802 zu Fröndenberg in der Grafschaft Mark. Sein Vater, Karl H., geb. den 3. Sept. 1770, hatte in Marburg unterEs kann nicht unsere Aufgabe sein, eine Darstellung dieser religiösen Bewegung hier zu geben. Als charakteristisch für dieselbe muß ein Dreifaches hervorgehoben werden. Es geht diese Bewegung nicht zunächst aus den Kreisen der Geistlichen hervor; vielmehr sind es angeregte Laienkreise der verschiedensten Gesellschaftsklassen, welche diese religiöse Begeisterung theilen; Männer der höchsten Aristokratie, einfache Bürgersleute, schlichte Handarbeiter haben sich in brüderlicher Liebe verbunden. Sodann abstrahirt diese Bewegung zunächst von aller Kirchen- oder kirchliche Partei-bildenden Gemeinschaft. Die Unterschiede der Confessionen treten so völlig zurück, daß nicht nur Lutheraner und Reformirte, sondern Römisch-Katholiken, Methodisten im engsten und vertrautesten Verkehr stehen, ohne sich der Unterschiede der eigenen Confession bewußt zu sein. Separatistische Gelüste, wie dieser Bewegung so oft vorgeworfen, haben die Kreise um so weniger gehabt, als ihnen der Begriff „der Kirche“ überhaupt nicht nahe getreten. Endlich ließ sich diese Berliner religiöse Bewegung, wiewol gewiß pietistischer Art, keineswegs genügen „im Schwelgen subjectiven Gefühlslebens“; sie gibt vielmehr den kräftigsten Anstoß zu den Gesellschaften, welche sich zur Beförderung des Christenthums in mannichfaltiger Weise in dem ersten Jahrzehnt nach den Befreiungskriegen in Berlin bilden. Schon 1814 war die preußische Hauptbibelgesellschaft (nach dem Muster der englischen) in Berlin ins Leben gerufen; zu gleicher Zeit die Gesellschaft zur Verbreitung christlicher Erbauungsschriften. 1824 tritt unter dem Vorsitz des Geh. Oberbergrath v. Laroche die Gesellschaft zur Beförderung der evangelischen Missionen unter den Heiden zusammen. 1825 bildet sich die Gesellschaft zur Beförderung des Christenthums unter den Juden. Hier tritt General v. Witzleben, der spätere Kriegsminister, an die Spitze. Mit offenen Armen wird H. von diesen Kreisen in Berlin willkommen geheißen. Auch nimmt er in denselben bald eine prädominirende Stellung ein, wiewol H. selten das Wort nimmt; nur bisweilen greift er meist zur Ernüchterung der etwas hochgehenden Pläne und Gedanken mit schlagendem Wort ein. Von Kaufmann Elsner, in dessen Hause H. freundschaftlich verkehrte, aufgefordert, hatte H. 1825 es übernommen, das übliche Einladungsprogramm für die preußische Hauptbibelgesellschaft zu schreiben. In ausführlicherer Weise entwickelt H. hier („Einige Worte über die Nothwendigkeit der Ueberordnung des äußeren Wortes über das innere nebst Stellen aus Luther’s Schriften“, Berlin 1825, 24 Seiten, 4°) die [742] religiösen Ueberzeugungen, welchen er bereits in seinen Licentiatenthesen kurzen Ausdruck gegeben. Die kleine Broschüre schließt mit den bezeichnenden Worten: Was Gott verbunden hat, soll der Mensch nicht trennen. Schrift und Geist, äußeres und inneres Wort, sie sollen in jedem Christen durcheinander klingen, wie die Saiten im Psalter … Dann, wenn wir nicht mehr am Menschenwort hangen, sondern einzig an dem Wort des lebendigen Gottes wird die Zeit herannahen, wo nur ein Hirt sein wird und nur Eine Heerde.
Diese entschiedene Stellungnahme Hengstenberg’s für den positiven Christenglauben konnte freilich bei denen, von welchen Hengstenberg’s Fortkommen auf der akademischen Laufbahn abhing, keineswegs ungetheilten Anklang finden; besonders wurde Marheineke, der zugleich Decan war, gegen H. erbittert: Hengstenberg’s Talente würden durch die Richtung, die er genommen, ganz unnütz verbraucht. Er würde nie Theologe, höchstens „ein gemeiner Christ“ werden. Seine Schrift sei unwissenschaftlich, da „der Begriff“ einzig den Theologen mache. Für die Naivität der damaligen Zustände spricht vielmehr, daß trotzdem H. seinen theologischen Standpunkt auch dem Ministerium gegenüber wiederholt offen dargelegt (so heißt es z. B. in einem Bewerbungsschreiben Hengstenberg’s um eine Professur in Halle: Zu dem möchte es bei der Richtung, welche die Theologie in Halle genommen, vielleicht als wünschenswerth erscheinen, daß ein Docent fest überzeugt von der Wahrheit der entgegengesetzten theologischen Ansicht und ihre Vertheidigung entschieden ergreifend, in Halle eben durch diesen Gegensatz nützlich werde), H. durch Ministerialrescript vom 21. Januar 1826 zum Professor extraordinarus ernannt wurde. Das hielt H. nicht zurück, gleich darauf dem Ministerium Altenstein polemisch und apologetisch zugleich gegenüber zu treten. Unterm 24. October 1825 hatte sich der Minister in einem Ministerialerlaß an das Oberpräsidium in Königsberg in Preußen dahin ausgesprochen, daß die religiöse Richtung der Zeit sich hie und da auf mancherlei zum Theil gefährliche Abwege verirrt habe oder sich zu verirren drohe. Zu diesen Abwegen zählt die Verfügung die mystische, die pietistische und die separatistische Richtung. War diese Ministerialverfügung von der anderen Seite mit hellem Jubel begrüßt worden, als sei es die Absicht des Ministeriums, wider das positive Christenthum aggressiv vorzugehen, so sah sich H. auf das Drängen seiner Freunde veranlaßt, eine kleine Schrift herauszugeben: „Die königl. Ministerialverfügung über Mysticismus, Pietismus, Separatismus“, Berlin 1826. Indem H. die Ministerialverfügung ihrem Wortlaut nach abdruckt, zeigt er, daß es unmöglich die Absicht des Ministeriums gewesen sein könne, damit das lebendige Christenthum anzugreifen, vielmehr widerspreche der sogenannte Mysticismus, der falsche Pietismus und jeglicher Separatismus dem lebendigen Christenthum gerade ebenso, wie der seichte Rationalismus. Für H. sollte diese kleine Broschüre, welche bereits in dem scharfen Ton seiner späteren Zeugnisse verfaßt ist, noch eine unerwartete Bedeutung haben.
Schon seit längerer Zeit hatte sich für Deutschland das Bedürfniß einer Zeitschrift zur Bezeugung und Vertheidigung des kirchlichen Glaubens geltend gemacht. Wiederholt war dieser Gedanke in Hamburg (Senator Hudtwalker), in Barmen-Elberfeld (Krummacher, Gräber, Sander) und in anderen Orten aufgetaucht. Auch in den christlichen Berliner Kreisen hatten die Gebrüder v. Gerlach (Ludwig, damals Landgerichtsrath in Naumburg, und Otto, der Theologe) diesen Gedanken mit ihrem Freunde, dem frühvollendeten († 1829) Assessor Adolph le Coq oft erwogen. Dieser hatte einen förmlichen Plan ausgearbeitet für eine größere, die ganze evangelische Kirche Deutschlands und über Deutschland hinaus umfassende Monatsschrift von entschieden gläubiger Richtung. Zum Redacteur hatte man zuerst an Tholuck gedacht; doch wies die Broschüre [743] über den Mysticismus die Freunde auf H. Konnte dieser sich auch anfangs zur Uebernahme der Redaction nicht entschließen – Ludw. v. Gerlach mußte ihn zur Herausgabe eines solchen Blattes, als einer Gewissenspflicht der gläubigen Theologen, erst bestimmen – so ist mit der Uebernahme der Redaction der Evangelischen Kirchen-Zeitung H. seine eigentliche Hauptwirksamkeit zugewiesen, in welcher er mehr als von seinem Katheder aus und mehr als durch seine wissenschaftlich-theologischen Schriften für die Entwickelung der kirchlichen Lehre und des kirchlichen Lebens zumal in der preußischen Landeskirche gewirkt und seine tiefeingreifende Bedeutung erlangt hat – eine Bedeutung, welche selbst Nippold in seinem „Handbuch der neuesten Kirchengeschichte“, 2. Aufl., Elberfeld 1868, ihrem Umfang nach wenigstens anerkennen muß: „für die Entwickelung der Kirche hat H. einen bedeutend höheren Einfluß erlangt, als ein Schleiermacher und Baur“. – Hatte H. nicht ohne die größten Schwierigkeiten die Erlaubniß zur Herausgabe der Evangelischen Kirchen-Zeitung seitens des Ministeriums erlangt, so konnte die völlig rücksichtslose Sprache, die weder Freunde, noch Feinde schonende Furchtlosigkeit, welche in jeder Nummer der Evangelischen Kirchen-Zeitung hervortrat, sein persönliches Verhältniß zum Minister und dessen Räthen nicht gerade erfreulicher gestalten. Minister v. Altenstein selbst, der Hengstenberg’s Talenten und seiner wissenschaftlichen Bedeutung stets volle Anerkennung zollte, bemühte sich wiederholt, den jungen Gelehrten den Berliner Einflüssen zu entziehen, welche ihn „einer bestimmten Richtung“ dienstbar zu machen wünschten. Schon 1826 hatte er H. nach Königsberg in Preußen versetzen wollen; 1827 tauchte der Gedanke auf, H. nach Bonn zu verpflanzen. Dafür interessirten sich die alten Freunde Hengstenberg’s in Bonn, zumal Brandis hätte H. gern in Bonn gesehen; auch der Vater wünschte lebhaft seinen Sohn in der Nähe zu haben; aber H. war bereits zu sehr an Berlin gebunden, als daß er sich leicht hätte losmachen können. Doch noch einmal schien es, 1828, als sei der Wirksamkeit Hengstenberg’s für Berlin eine schnelles Ziel gesteckt. Durch den ihm eng befreundeten Friedrich Strauß (Hofprediger und Professor) wurde H. der ehrenvolle Ruf des Grafen von Schönburg zu Theil als schönburgischer Consistorialassessor, Superintendent und Oberpfarrer nach Glauchau zu kommen. Wiewol sämmtliche Freunde in Berlin (namentlich August Neander) sehr abriethen, glaubte H., zumal nachdem er auf einer Reise nach Karlsbad Glauchau besucht hatte, dem Ruf folgen zu sollen. Auch das Ministerium schien nicht abgeneigt, den ihm nicht bequemen jungen Gelehrten außer Landes gehen zu lassen. Da ist es dem Einfluß des Kronprinzen (späteren König Friedrich Wilhelm IV.) zuzuschreiben, daß Altenstein die Beförderung Hengstenberg’s beim König beantragte, welcher denn auch H. unter dem 20. October 1828 zum Professor ordinarius ernannte. Nun hatte H. erreicht, „was er in diesem Leben nur immer wünschen konnte“. Bis an sein Lebensende ist er der einfache Professor der Theologie geblieben. Nach Glauchau ging, nachdem Otto v. Gerlach gleichfalls abgelehnt, auf Hengstenberg’s Vorschlag Rudelbach. – Nach drei Seiten müssen wir nun Hengstenberg’s Wirksamkeit sorgfältiger in Erwägung ziehen. Was hat H. als Docent, als theologischer Schriftsteller und als Herausgeber der Evangelischen Kirchenseitung geleistes – Seit dem Wintersemester 1824/25 hat H. ohne Unterbrechungen erheblicher Art bis zum Schluß des Wintersemesters 1868/69 – also volle 44 Jahr an der Berliner Universität Vorlesungen vor stets sehr zahlreicher Zuhörerschaft gehalten. Schon 1828 berichtet H., daß er nunmehr den Cyclus von 9 Hauptvorlesungen vollständig ausgearbeitet habe: Es sind die Vorlesungen über die Genesis, Jesaja, Psalmen, Hiob; Einleitung ins Alte Testament, Geschichte des Reiches Gottes im Alten Bunde, Encyklopädie, Matthäus und Römerbrief gemeint, denen sich dann noch einige öffentliche Vorlesungen [744] z. B. über die Leidensgeschichte anschlossen. Hengstenberg’s Vorlesungen zeichneten sich nicht durch rhetorischen Schmuck, noch weniger durch glänzenden Vortrag, wol aber durch die Gediegenheit und gründliche Gelehrsamkeit dessen aus, was er seinen Zuhörern darbot. Daß H. auch in seinen Vorlesungen jene oft mehr denn scharfe Polemik gegen theologische Gegner vorbrachte, ist ihm viel verdacht worden und hat nicht Wenige zurückgeschreckt. Von größerem Einfluß auf die theologischen Studien waren H. alttestamentliche Uebungen im theologischen Seminar. Eine größere Zahl hervorragender Männer haben hier den Anstoß für ihre späteren alttestamentlichen Studien empfangen. Wir nennen Hävernick, Steiger, Küper, Keil, Joh. Bachmann. Gründer einer eigentlichen theologischen Schule ist H. nicht gewesen; wies er doch seine Schüler von sich hinweg – auf die Schrift selbst. Auch liegt sein Verdienst für das A. T. nicht sowol in einer besonderen Auslegungsmethode – H. kam es darauf an, die Authentie der Bücher des A. T. in kritischer Weise zu vertheidigen und wider alle Angriffe einer berechtigten oder unberechtigten Kritik sicher zu stellen. Wir dürfen hinzufügen, H. war viel zu sehr selbst Autodidact, um eine Schule gründen zu wollen. Vielleicht am Segensreichsten sind die persönlichen Beziehungen gewesen, welche H. mit seinen Studenten zu unterhalten pflegte. Vielen Studenten ist H. ein treuer Warner, ein freundlicher Berather, ein väterlicher Freund geworden. D. Schmieder in Wittenberg rühmt dies in seinem Nekrolog (Evang. Kirchen-Ztg., 1869, S. 737 ff.) besonders. Einen besonderen Theil seiner Bibliothek hatte H. zum Ausleihen an die Studenten bestimmt. In der persönlichen Hingabe an die Studirenden von Keinem, außer etwa Tholuck in Halle, übertroffen; ohne etwa nur hervorragende Talente, die künftig besonderes versprachen, vorzuziehen. Nicht ganz mit Unrecht ist dann aber auch auf die Kehrseite dieser Beziehungen zu einzelnen Studenten hingewiesen. H. scheint nicht immer der Gefahr entgangen zu sein, auf Grund von Mittheilungen aus Studentenmund sich einseitige und schiefe Urtheile über Professoren anderer Universitäten zu bilden. – Sehr umfangreich sind die wissenschaftlich-theologischen Werke, welche H. zum Verfasser haben. Schon vor seiner Ernennung zum Ordinarius hatte H. den ersten Theil seiner „Christologie des A. T.“ dem Ministerium einreichen können. Hiermit erledigt sich der auch sonst ganz ungerechtfertigte Vorwurf von K. Schwarz in seiner „Geschichte der neuesten Theologie“, 3. Aufl., Leipzig 1864: H. sei ohne ein größeres Werk verfaßt zu haben, lediglich um seiner theologischen Richtung willen zum Professor ordinarius ernannt worden. Wie bei diesem ersten größeren Werke, so gelten Hengstenberg’s Arbeiten zumeist dem A. T. Als H. auftrat, lagen nun aber diese Studien ganz in den Händen des Rationalismus. H. sah es als seine Lebensaufgabe an, die unbedingte Authentie sämmtlicher Bücher des A. T. zu erweisen. So beurtheilt Franz Delitzsch in der schon 1845 erschienenen Schrift: „Die biblische prophetische Theologie durch Ch. A. Crusius und ihre neueste Entwickelung seit der Christologie Hengstenberg’s“, das H. eigenthümliche Verdienst für das A. T. Delitzsch schreibt: „Diese (etc. Crusius) Grundanschauungen der Schrift besonders ihres prophetischen Theiles finden wir mannigfaltig bereichert bereits in Hengstenberg’s Werken wieder, der über die durch den entgeistenden Rationalismus und die zerstörungssüchtige Kritik zerstückelten Glieder des A. T. zuerst wieder in einer wahrhaft heldenmüthigen Plerophorie des Glaubens das Wort des Herrn gesprochen und die alttestamentliche Schriftauslegung ohne den unter göttlicher Gnadenleitung möglich gewordenen Fortbau zu verleugnen, auf den Grund der Kirche zurückgeführt hat. Diese Vermittelung der kirchlichen Gegenwart und Vergangenheit, diese Anknüpfung des Fortschrittes jener an die unveräußerlichen Errungenschaften dieser, war der große Beruf [745] Hengstenberg’s und in der treuen Ausrichtung desselben besteht sein unsterbliches Verdienst“. Dieser Beurtheilung des Verdienstes Hengstenberg’s für die alttestamentliche Schriftauslegung schließt sich Kahnis an: „Es ist unter allen Sachkennern nur eine Stimme, daß H. in diesem großartigen Unternehmen eine bewundernswürdige Gelehrsamkeit und einen eminenten Scharfsinn bewiesen; über eine Menge schwierigster Punkte neues Licht verbreitet und fast überall der Untersuchung neue Impulse gegeben hat“. „Was H. gethan hat, die Offenbarung Christi im A. T. im Kampf gegen den Rationalismus zu rechtfertigen, kann nie vergessen werden.“ Doch hat sich H. auch schriftstellerisch auf das A. T. nicht beschränkt. Seine Commentare zum Evangelium, wie zur Offenbarung Johannis werden zumal um ihres praktisch-erbaulichen Elementes willen für die praktischen Geistlichen ihre Bedeutung behalten. Wir stellen Hengstenberg’s Werke und kleine Schriften hier vollständig zusammen: „Christologie des A. T.“, 2 Bände, 1. Ausgabe 1829–35, 2. Ausgabe 1854–57; „Beiträge zur Einleitung ins Alte Testament“, 3 Bände, 1831–39 ; „De rebus Tyriorum commentatio acad.“ (1832); „Die Bücher Mosis und Aegypten“ (1841); „Die Geschichte Bileam’s und seine Weißsagungen“ (1842); „Commentar über die Psalmen“, 4 Bände, 1. Aufl. 1842–47, 2. Aufl. 1861 und 62; „Die Opfer der h. Schrift. Die Juden und die christliche Kirche“ (1. Ausgabe 1852; 2. Ausgabe 1859); „Ueber den Tag des Herrn“ (1852); „Das Hohelied Salomonis“ (1853); „Die Freimaurerei und das Ev. Pfarramt“ (3 Theile, 1854 und 55); „Ueber das Buch Hiob. Ein Vortrag“ (1856); Das Duell und die christliche Kirche“ (1856); „Der Prediger Salomonis, ein Vortrag“ (1858); „Der Prediger Salomonis ausgelegt“ (1859); „Ueber die Entlassung des Prof. Dr. Baumgarten“ (1859); „Ueber den Eingang des Evang. St. Johannis“ (1859); „Das Evang. des h. Johannes erläutert“ (3 Bände, 1. Aufl. 1861 u. 62, 2. Aufl. 1. Band 1867); „Die Weissagungen des Propheten Ezechiel“, 2 Theile, 1867–68; „Die Offenbarungen des Johannes“ (2 Bände, 1. Ausgabe 1849–51, 2. Ausgabe 1861 u. 62). Nach seinem Tode sind herausgekommen die von ihm gehaltenen Vorlesungen: „Die Geschichte des Reiches Gottes im Alten Testament“ (2 Bände, 1869 bis 1871); die „Vorlesungen über die Leidensgeschichte“ (Leipzig 1875); „Das Buch Hiob“ (Leipzig 1870–75, 2 Bände). Doch weder in Hengstenberg’s Wirksamkeit als Docent noch in seinen theologischen Schriften dürfen wir den Grund suchen, weshalb die sogenannte öffentliche Meinung in den Namen „Hengstenberg“ alles gelegt, was sie in der Rückkehr zum Glauben der Väter Widriges findet: „Pietismus, todte Orthodoxie, Obscurantismus, Fanatismus, Jesuitismus, Bund mit allen Mächten des Rückschritts und wie sie weiter heißen mögen alle die Nachtgeister, welche der Fortschritt zuerst erfindet, dann fürchtet und endlich bekämpft“ (Kahnis). Das Alles und noch viel mehr mußte H. als Herausgeber der Ev. K. Ztg. über sich ergehen lassen. Es ist dem Schreiber dieses von glaubwürdiger Seite berichtet worden, daß H. im Anfang der dreißiger Jahre die öffentlichen Postkutschen nicht gut benutzen konnte, ohne sich persönlichen Beleidigungen ausgesetzt zu sehen. Doch bestärkten solche Erfahrungen einen Mann wie H. nur auf dem eingeschlagenen Wege furchtlos weiter zu gehen. Und wenn es ihm auch nicht gleichgültig sein konnte, sondern ihn tief bekümmerte, wenn Männer, mit denen er einst ganz besonders eng verbunden, sich von ihm lossagten und öffentlich von der Mitarbeit an der Evangelischen Kirchenzeitung zurücktraten – wie das z. B. August Neander und später Tholuck gethan – so nahm H. dieses als eine schwere Demüthigung seines Gottes hin; ließ sich aber auch hierdurch von dem einmal betretenen Wege, den er für den Gottgewollten bezeichnete, nicht wieder abbringen. Es würde nun heißen, eine [746] Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts schreiben, wollten wir hier auf alle die einzelnen Kämpfe, welche H. in seiner Ev. K. Z. geführt hat, des Näheren eingehen. Wird die weder Fürsten noch Gewaltige, weder Freunde noch Feinde schonende Furchtlosigkeit, die alle falsche Verquickung von Gott und Welt zersetzende Entschiedenheit, der Alles daran setzende Eifer für die Wahrheit des göttlichen Wortes, welche wir bei H. finden, selbst bei seinen Gegnern Anerkennung finden können, so wird die Art seiner Polemik im Einzelnen doch nicht immer zu billigen sein. Ein Abweichen eines Gegners in irgend einer kritischen oder theologischen Frage suchte H. nicht selten aus einer Schwäche desselben im christlichen Glauben, ja in seinem christlichen Wandel zu erklären. Das hat ihm dann viel Anfeindung auch von sonst positiven Theologen eingebracht (z. B. Zeugniß von den Grundwahrheiten des Protestantismus gegen Dr. Hengstenberg von Karl Fr. Aug. Kahnis, Leipzig 1862). Vor Allem sind es die von H. selbst verfaßten Vorworte der Ev. K. Zeitung am Anfang jedes neuen Jahres gewesen, mit welchen er immer neue Kämpfe eröffnete. Doch führt H. hier nicht die Sprache eines Kämpfers, sondern eines Siegers und Richters. Man hat H. es zum Vorwurf machen wollen, daß er in einzelnen Fragen, z. B. zur Union im Laufe der Zeit eine verschiedene Stellung eingenommen hat. Ich glaube doch sehr mit Unrecht. H. blieb in seinen Grundanschauungen bei seinen Thesen, welche er bei seiner Promotion zum Licentiaten aufgestellt, stehen; doch konnten die Zeit und die theologischen Kämpfe nicht ohne Einfluß auf seine Entwickelung im Einzelnen bleiben. Wer jetzt Hengstenberg’s Vorworte liest, wird nur den stetigen, von allen äußeren Einflüssen unabhängigen in seiner Consequenz bewunderungswürdigen Fortschritt auf der für ihn völlig festen und gesicherten Grundlage des göttlichen Wortes anerkennen müssen. Was namentlich Hengstenberg’s Stellung zur Union betrifft, so konnte er in den 30er–40er Jahren den schlesischen Lutheranern in ihrem Kampf gegen die Union trotz aller Anerkennung und Liebe im Einzelnen nicht beistehen. Ist es ihm doch vor Allem um Erhaltung der Landeskirche zu thun gewesen; wie ihm denn die innigste Verbindung von Kirche und Staat auf alttestamentliche Grundanschauungen zurückgehend, besonders am Herzen gelegen. Daß er später für das lutherische Bekenntniß eintrat, widerspricht dieser Grundanschauung um so weniger, als er niemals die Hand zur Zerreißung der Landeskirche geboten haben würde.
„Man hält mich für eine Art Hercules, hat H. zu seinem Bruder gesagt, dem Kampf und Streit das Element ist, in dem er sich nur wohl fühlt.“ – Wie kennt man mich doch so wenig! Aber es war meine Bestimmung, dem schwächlichen Wesen dieser Zeit gegenüber!“ Und gewiß H. ist sein ganzes Leben hindurch Kampfestheologe gewesen. Freilich ist H. nicht ein leidenschaftlicher Fanatiker gewesen, wie er oft dargestellt wird; seiner Natur nach war er vielmehr leidenschaftslos, ruhig, besonnen. Mit Charakterstärke verfolgte H. seine religiösen Ziele. Wie aber H. in seiner äußeren Erscheinung ganz den Eindruck eines Mannes aus der Bildungswelt der Gegenwart hinterließ, so kannte er auch alle Ansprüche des laufenden Lebens, begleitete mit großem Interesse alle Bewegungen der städtischen, socialen und politischen Welt; er besaß eine große Kenntniß von Personen und Zuständen aller Orten und beurtheilte die Verhältnisse vom Standpunkt eines praktischen Realismus. Mit Therese von Quast seit 20. April 1829 in glücklicher Ehe verbunden, ist H. auch in der Ehe Trübsal nicht erspart geblieben. Seine Ehefrau und seine sämmtlichen 5 Kinder, zum Theil erwachsen, mußte er vor sich sterben sehen. Vor Allem mußte es den Vater tief betrüben, seinen ihm gleichgesinnten erstgeborenen Sohn Immanuel, zuletzt Pastor in Jüterbogk, 38 Jahre alt (1863) durch den Tod zu verlieren. Derselbe hatte sich in der liturgischen Litteratur durch ein Büchelchen über Vespergottesdienste wohl bekannt gemacht. – Schon [747] selbst auf seinem Sterbebette liegend, mußte H. seinen zweiten Sohn Johannes, Gerichtsassessor, in Frieden sterben sehen; ja wenige Tage vor dem eigenen Sterben wurde ihm auch der jüngstgeborene einzige Enkelsohn durch den Tod genommen. Nach bald dreimonatlichen schweren Leiden (Brustfellentzündung) und großer Schwachheit ist H., bis zuletzt völlig klar und seines Glaubens gewiß am 28. Mai 1869 heimgegangen. Seine irdische Hülle ruht in Radensleben bei Herzberg in der Mark.
- Joh. Bachmann, E. W. Hengstenberg nach seinem Leben und Wirken, Band I und II, Gütersloh 1876 und 1879. Herzog’s Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, Band V. Artikel Hengstenberg von Joh. Bachmann. Schmieder, Hengstenberg Ev. K. Z. 1869. S. 737 ff. Kahnis, Nekrolog E. W. Hengstenberg’s, Allg. Ev. K. Z. 1869, Nr. 25. S. 417 ff. Kahnis, Der innere Gang des deutschen Protestantismus, Leipzig 1872, Thl. 2. S. 208 ff. Eine reiche polemische Literatur wider Hengstenberg: David Schulz, Das Wesen und Treiben der Berliner Ev. K. Z., Breslau 1839. Hanne, Anti-Hengstenberg, Elberfeld 1866. Adolph Mueller, Hengstenberg und die Ev. K. Z., Berlin 1857. Dr. I. A. Dorner, Abwehr ungerechter Angriffe des Herrn Dr. H. Göttingen 1854. Kahnis, Zeugniß von den Grundwahrheiten des Protestantismus gegen Dr. Hengstenberg, Leipzig 1862.