ADB:Jung-Stilling, Johann Heinrich
Jung-Stilling: Johann Heinrich J., genannt Stilling, wurde am 12. Septbr. 1740 im Dorfe Grund, damaligen Fürstenthums Nassau-Siegen, geboren. Wie der Geburtsort, im tiefen Waldthale, umkränzt von hohen, an geschichtlichen Erinnerungen reichen Bergen, auf das weiche Gemüth des Knaben großen Einfluß übte und für ihn ein Stimmungsbild wurde, so gab ihm ganz besonders das ernst-christliche Leben seiner Familie eine Richtschnur für sein Erdenwallen. Dieses ist so hochinteressant, daß ein Ausheben der für ihn wichtigsten Momente auch heute noch und an dieser Stelle nicht unwillkommen sein dürfte. Um J.-St. ganz zu verstehen, muß er im Zusammenhange mit seiner Familie betrachtet werden. Als Haubergs- und Landwirthe, als Köhler und Bergleute suchten die Jung’schen Familienglieder im Schweiße ihres Angesichts ehrlich ihr Brod zu verdienen. Mehrere derselben hatten sich dabei aber doch als praktische Männer hervorgethan und eine Bedeutung erlangt, die sie weit über ihre Dorfgenossen stellte. Einer von ihnen, der am 22. Febr. 1711 geborene J. H. Jung, war ein mathematischer Kopf. Anfangs Dorfschulmeister, beschäftigte er sich zugleich mit Anfertigung mechanischer und astronomischer Instrumente. Schon als Jüngling wußte er aus einem hölzernen Teller ein Astrolabium, aus einer buchenen Butterdose einen Compaß herzustellen. Auf seinem weiteren Lebensgange zeichnete er sich im Betriebe des berühmten Müsener Stahlbergs so aus, daß er später die ansehnliche Stelle eines Land- und Oberbergmeisters erhielt. Sein gleichnamiger Sohn, Altersgenosse unseres J.-St., wurde ebenfalls Oberbergmeister und Mitglied der fürstlichen Berg- und Hüttencommission in Dillenburg. Ein anderes Familienglied, J. H. Helmes, „der brave Hirte“, hatte zu jener Zeit in einer nahe an der nordöstlichen Grenze des Siegerlandes gelegenen, waldigen Gegend die Ahornlöffelschnitzerei eingeführt und war hierdurch ein Wohlthäter seiner armen Heimath geworden.
So hatte in der Familie Jung schon eine Erhebung und ein Aufleuchten des Volksgeistes stattgefunden, als J.-St. sich heranbildete. Dieses geschah unter [698] den Augen seines Großvaters Eberhard, eines markigen Mannes, der mit patriarchalischem Ansehen die Geschicke seines Hauses und Dorfes leitete. Nicht so bedeutend wie dessen erwähnter ältester Sohn, der Oberbergmeister, war sein anderer Sohn Wilhelm, ein verwachsener, schwächlicher Mann, der als Schulmeister, Schneider, zeitweise auch als geschickter Feldmesser sein Brod verdiente und in Dorothea (Dortchen) Fischer, der zarten, gottinnigen Tochter eines vertriebenen Predigers, seine erste Gattin fand. Diesem Ehepaare wurde nun am 12. Septbr. 1740 unser schon genannter J. H. J., genannt Stilling, geboren. Seine Kinderjahre verlebte er im Elternhause und erregte hier schon als kleiner, sehr eigenartiger Knabe die Aufmerksamkeit seiner Umgebung. Wenn er in seiner späteren Erscheinung „als eine weiche, träumerische, von zarten Farben überhauchte Menschenblüthe“ aufgefaßt wird, so dürfte dieses auch das Bild seiner Mutter sein, die ihr „Heimweh“ nach dem Himmel schon der Erde entrückte, als ihr Heinrich erst zwei Jahre alt war. Unter der Ruthe des hypochondrischen Vaters wuchs der Knabe, nicht ohne Unarten heran. Diese suchte er aber durch eifriges Beten zu bekämpfen und zu besiegen. Je weniger dem empfindsamen Knaben die Wirklichkeit zusagte, desto mehr flüchtete er sich in eine übersinnliche Welt, wohin ihn überall das Bild seiner verklärten Mutter begleitete. In seiner Umgebung fand das poetische, phantasiereiche Gemüth des jungen J.-St. reiche Nahrung. Insbesondere zog ihn die Beschäftigung seines Großvaters als Kohlenbrenner in dem an romantischen Partien so reichen Forstrevier Lützel an. In der Waldeinsamkeit fühlte er sich am wohlsten. Die sagenumwobenen Ruinen des Schlosses Ginsberg und die Stelle einer längst zerfallenen, dem h. Antonius geweihten Wald- und Wallfahrtskirche erfüllten, neben dem Lesen der schönen Melusine[WS 1], der asiatischen Banise[WS 2], der vier Haimonskinder[WS 3] und ähnlicher Schriften, seine Seele mit phantastischen Gebilden. Doch war ihm schon damals die heilige Schrift, das Buch der Bücher, sein größtes Heiligthum.
Was er zu Hause nicht erhaschen konnte, bot ihm die kleine Bibliothek des Rectors der lateinischen Schule zu Hilchenbach, des „lateinischen Schulmeisters“, dem er im zehnten Jahre zur weiteren Ausbildung übergeben worden war. Durch angestrengten Fleiß brachte es nun der junge J.-St. in wenigen Jahren dahin, daß er, neben den üblichen mathematischen und geschichtlichen Studien, „lateinische Historien lesen und verstehen, ja sogar lateinisch schreiben und reden konnte.“ Dieses imponirte gleich sehr der Familie Jung, wie dem Pastor Seelbach, der deshalb dem, auch als bibelfest erprobten Knaben schon zu Ostern 1755, also im 15. Jahre die Schulmeisterstelle auf der Lützel übertrug. Hier kam er mit einem alten Förster in nähere Beziehungen. Dieser war Separatist und hatte unter seinen Büchern auch eine Uebersetzung Homer’s; sie fiel unserem Schulmeister in die Hände und nahm ihn so ein, daß er darüber alles Andere vergaß. Wie er in seinen späteren Erinnerungen meint, „ist wol die Ilias seit der Zeit, daß sie existirt, niemals mit mehr Entzücken und Empfindung gelesen worden.“ – Aber auch des Paracelsus, Jacob Böhme’s und andere mystische Schriften wurden von ihm gierig gelesen. Dabei vernachlässigte er keineswegs seine Schule; er wußte sie vielmehr so zu heben, daß er die größeren Knaben in den Elementen der Geometrie unterrichten konnte. Dem Pastor aber gefiel sein Umgang und seine Richtung so schlecht, daß er seine Stelle verlassen und zu seinem Vater zurückkehren mußte, dem er nun schneidern half. Als dieser aber mit einer jungen Wittwe in Kredenbach zur zweiten Ehe geschritten war, suchte J.-St. ein anderes Unterkommen. Er fand ein solches bei einem so reichen als rohen Stahlfabrikanten in Plettenberg. Wegen erlittener Mißhandlungen verließ er auch diese Stelle und kehrte ins elterliche Haus zurück. Trostlos arbeitete er hier in der Landwirthschaft; Tag und Nacht flehte er in brünstigem [699] Gebet um Aenderung seines Zustandes. Er sah es denn auch als eine Gebetserhörung an, als er 1757 von einem Verwandten mütterlicher Seits, dem Pastor Göbel in Netfen, als Capellenschullehrer nach Dreisbach berufen wurde. Hier studirte er fleißig Wolf’s Anfangsgründe der Mathematik und andere Bücher verwandten Inhalts. Seine mystische Richtung und eigenthümliche Lehrmethode mißfielen indessen der Gemeinde so, daß er auf des Pastors Rath seiner Stelle freiwillig entsagte. Sein Vater empfing ihn mit bitteren Vorwürfen; er aber erwiderte traurig: „es wäre doch entsetzlich, wenn mir Gott Triebe und Neigungen in die Seele gelegt hätte und seine Vorsehung verweigerte mir, so lange ich lebe, ihre Befriedigung.“ Aber das nothgedrungen wieder ergriffene Schneiderhandwerk sah er als eine Hölle an. Mitten in die Nacht seiner Trauer kam nun der freudig begrüßte Ruf an die Capellenschule zu Klafeld. Doch auch hier war nicht lange Weilens; der geistliche Inspector zu Siegen, als Scholarch, brachte ihn durch eine tragikomische Procedur um seine Stelle. Dieses Mal von seinem Vater freundlich empfangen, bestieg er wieder den Nähtisch und schaffte daneben in der Landwirthschaft. Derartige Arbeiten, besonders das Dreschen, fielen ihm indessen so schwer, daß er den Erwartungen seiner Eltern nicht genügte. So entstanden Mißhelligkeiten zwischen Vater und Sohn, und diesem graute zuletzt so vor seines Vaters Haus, daß er, ein recht geschickter Geselle, bei anderen Meistern Arbeit suchte.
Zuletzt kam es zwischen Vater und Sohn zum Bruche und es entstand eine Scene, die uns J.-St. selbst so erzählt: „Einstmals kam Stilling nach Hause. Er hatte auf einem benachbarten Dorfe gearbeitet und wollte etwas holen; er dachte an nichts widriges, deshalb ging er in die Stube. Sein Vater sprang auf, sobald er ihn sah, griff ihn und wollte ihn zu Boden werfen. Stilling aber ergriff seinen Vater, hielt ihn so, daß er sich nicht regen konnte und sah ihm mit einer Miene ins Gesicht, die einen Felsen hätte spalten können. Und warlich, wenn er je die Macht der Leiden in all’ ihrer Kraft auf sein Herz hat stürmen sehen, so war es in diesem Zeitpunkte. Wilhelm konnte diesen Blick nicht ertragen, er suchte sich loszureißen, allein er konnte sich nicht regen; die Arme seines Sohnes waren fest wie Stahl und konvulsivisch geschlossen. „Vater“, sagte er sanftmüthig und durchdringend, „Euer Blut fließt in meinen Adern und das Blut – das Blut eines seligen Engels, – reizt mich nicht zur Wuth! Ich liebe, ich verehre euch, aber“ –, hier ließ er seinen Vater los, sprang gegen das Fenster und rief: „ich möchte schreien, daß die Erdkugel in ihrer Achse bebte und die Sterne zitterten!“ Nun trat er seinem Vater näher und sprach mit sanfter Stimme: „Vater, was hab’ ich gethan, das strafwürdig ist?“ Wilhelm hielt sich beide Hände vors Gesicht, schluchzte und weinte, Heinrich aber ging in einen Winkel des Hauses und schrie laut.“ Nun war seines Bleibens nicht mehr im Elternhause; er begab sich als Geselle nach Hilchenbach, besuchte noch einmal seine heimathlichen Berge, empfing die Wünsche seiner wackeren blinden Großmutter Margarethe und den Segen seines Vaters, mit dem er sich inzwischen ausgesöhnt hatte. Am 12. April 1762 wanderte er als Schneidergeselle mit vier Thalern Geldes, drei Hemden, einem Paar alter Strümpfe, mit Schere und Fingerhut aus Hilchenbach über Siegen und Freudenberg nach Elberfeld. Nach kurzem Aufenthalt in dieser Stadt kam er nach Solingen. Hier fand er bei einem braven Schneidermeister Arbeit und in dem Kreise der Anhänger Spener’s und Terstegen’s Beziehungen, die dem Bedürfnisse seines Herzens nach religiöser Vertiefung genügten. Eine merkwürdige Vision führte zu einem Bunde mit Gott, dessen gnadenvolle Führung er schon in mancherlei Noth und Herzeleid so vielfach und wunderbar erfahren hatte. Er bekam nun die Stelle eines Hauslehrers bei einem reichen Kaufmann; sie wurde jedoch für ihn eine Quelle großer Trübsale, [700] die ihn fast bis zum Wahnsinn brachten. Ruhiger geworden, sah er diese Leiden als Prüfungen und als ein Läuterungsfeuer an, wodurch sein Gottvertrauen mehr und mehr befestigt werden sollte. Da zog es ihn zu einem christlichen Schneidermeister nach Rade vorm Walde und hier erhielt sein weiterer Lebensgang die bestimmende Richtung.
Er kam nämlich durch Vermittlung seines Meisters in den Dienst eines, aus dem Siegerlande stammenden, reichen Gutsbesitzers und Kaufmanns, Namens Flender. Derselbe machte ihn mit Handel und Gewerbe, besonders auch mit der rationellen Landwirthschaft vertraut und gab ihm Muße, sich litterarisch weiter auszubilden. J.-St. fand Lehrer und Lehrmittel zur Erlernung der griechischen, hebräischen und französischen Sprache, wobei er sein Latein nicht vergaß; er bekundete hierbei sein eminentes Talent zur Erlernung fremder Sprachen. Dann trieb er Logik und Metaphysik und studirte die Werke von Wolf und Leibnitz. Von seinem Prinzipal auf die Medizin als diejenige Wissenschaft aufmerksam gemacht, welche für ihn am geeignetsten sei, erblickte er hierin einen Wink Gottes und machte nun sogleich mit der ihm eigenen Lebhaftigkeit medicinische Vorstudien. Auf einem Besuche in seiner Heimath lernte er den seiner Familie befreundeten katholischen Pastor Molitor in Attendorn, einen in der Augenheilkunde rühmlichst bekannten Mann ebenfalls kennen. Dieser vermachte ihm seine Heilmittel und schenkte ihm sogleich seine Arcana mit den Segensworten: „der Herr, der Heilige, überall allgegenwärtige, bereite Sie durch seinen heiligen Geist zum besten Menschen, zum besten Christen und zum besten Arzte!“ In Rade vorm Wald begann J.-St. nach Molitor’s Recepten sogleich seine Augenkuren und rüstete sich dann zum Abgange auf die Universität Straßburg (1770). Vorher aber verlobte er sich noch mit Christine Heyder, einem kränklichen Mädchen, wie er glaubte, in Folge höherer Eingebung. Seine ganz unzulänglichen Reisemittel waren schon in Frankfurt zur Neige. Doch kam unerwartet Hülfe und mit ihr aufs Neue das feste Vertrauen auf Gottes durchhelfende Liebe. Diese hatte er auch in Straßburg zu preisen, wo er ungeahnt Geldunterstützung fand und die Freundschaft Goethe’s, wie den näheren Umgang Herder’s genoß. Von diesem sagte er: „Herder hat nur einen Gedanken und dieser ist eine ganze Welt“. Goethe schildert seine Bekanntschaft mit J.-St. im 9. Buche von „Dichtung und Wahrheit“ ausführlich. Hier möge ein Auszug genügen: „Stilling’s Gestalt, ungeachtet einer veralteten Kleidungsart, hatte, bei einer gewissen Derbheit, etwas Zartes. Seine Stimme war sanft, ohne weich und schwach zu sein; ja sie wurde wohltönend, sobald er in Eifer gerieth, welches sehr leicht geschah. Wenn man ihn näher kennen lernte, so fand man in ihm einen gesunden Menschenverstand, der auf dem Gemüth ruhte und sich deswegen von Neigungen und Leidenschaften beherrschen ließ und aus eben diesem Gemüth entsprang ein Enthusiasmus für das Gute, Wahre, Rechte in möglichster Reinheit. Das Element seiner Energie war ein unverwüstlicher Glaube an Gott und an eine unmittelbare von daher fließende Hülfe, die sich in einer ununterbrochenen Vorsorge und in einer unfehlbaren Rettung aus aller Noth, von jedem Uebel augenscheinlich bestätigte. Jung hat dergleichen Erfahrungen in seinem Leben viele gemacht. – Er erzählte seine Lebensgeschichte auf das anmuthigste. Ich trieb ihn, solche aufzuschreiben, und er versprachs. – Sein Glaube duldete keinen Zweifel und seine Ueberzeugung keinen Spott etc.“
J.-St. bewältigte mit emsigem Fleiße die medicinischen Disciplinen und gewann zugleich an allgemeiner Bildung. Es hatten sich ihm namentlich die Schätze der englischen Litteratur erschlossen. Zum Doctor promovirt, ging er 1772 nach Elberfeld in die ärztliche Praxis, gründete seinen Hausstand und trat in freundschaftliche Beziehungen zu den Brüdern Jacobi, Lavater, Hasenkamp [701] und Collenbusch. F. H. Jacobi’s Richtung war auch die seinige; denn wie dieser stritt er für das Recht des Gefühls und des Glaubens als einer inneren Offenbarung.
Große Freude machte ihm ein Besuch Goethe’s (22. Juli 1774). Dieser nahm das eben beendete Manuscript „Stilling’s Jugendjahre“ an sich und ließ es ohne des Verfassers Wissen drucken. Der Beiname „Stilling“ erklärt sich aus der intimen Verbindung mit den „Stillen im Lande“, pietistischen Gesellschaften, denen Wilhelm Jung und sein Sohn Heinrich anhingen. Als J.-St. später in größter Noth und nahe daran war, obdachlos zu werden und als die jungen Eheleute zu Gott um Hülfe in ihrer Trübsal wieder und wieder gebetet hatten, da trat gerade in der Exmissionsstunde „um zehn Uhr der Postbote zur Thüre herein, in einer Hand das Quittungsbüchlein, in der anderen einen schweren Brief. Es war Goethe’s Hand und seitwärts stand: mit 150 Rthlrn. in Golde. Es war das Honorar für das Manuscript. Sie waren gerettet.“ „Heinrich Stilling’s Jugend“ fand in allen Gesellschaftskreisen ungetheilten Beifall. Welchen Eindruck diese Perle volksthümlicher Poesie auf Ferdinand Freiligrath gemacht, hat er in seinem Gedichte an Berthold Auerbach: „Die erste Dorfgeschichte“ geschildert:Als Knabe schon von Berg- und Hüttenmännern
Hab ich entzückt ein kleines Buch gelesen,
Es führte mich zu frommen Kohlenbrennern
Und ist ein herzig’s kleines Buch gewesen,
Ein rechter Spiegel alter Bauerntugend,
Mit Namen hieß es: Heinrich Stillings Jugend.
Das war die erste deutsche Dorfgeschichte!
Die hat mit Lied, mit Mährchen und mit Sage,
Die hat in Einfalt und in eitler Schlichte,
Das Gold im Volke treu geschürft zu Tage,
Die ließ mich schau’n durch ihrer Meiler Schwelen
Im festen Umriß starke muth’ge Seelen.
Jung-Stilling’s Aufenthalt in Elberfeld war nicht von Dauer. Brodneid, Mißtrauen seiner früheren pietistischen Freunde und ungestüme Gläubiger verbitterten ihm das Leben. Sogar die Freundschaft Goethe’s ward ihm zum Nachtheile angerechnet. Tag und Nacht rief das junge Paar nach göttlicher Hülfe; „das Wasser ging ihm an die Seele“. Da fiel wieder mitten in ihre Nacht ein heller Hoffnungstrahl. Der Rath Eisenhart aus Mannheim hatte in Kaiserslautern eine staatswirthschaftliche Gesellschaft gegründet, welche im Laufe der Zeit zu einer Cameral-Akademie erweitert wurde. J.-St. zum Mitarbeiter berufen und zum auswärtigen Mitgliede der Gesellschaft ernannt, hatte sich bereits in Straßburg durch eine Abhandlung „Ueber die forstwirthschaftliche Benutzung der Gemeindewaldungen im Fürstenthum Nassau-Siegen“ auf diesem Gebiete vortheilhaft bekannt gemacht; er erhielt durch die Bemühungen Eisenhart’s einen Ruf an die Akademie als Professor der Oekonomie und der Cameralwissenschaften. Sein „Versuch einer Grundlehre sämmtlicher Cameralwissenschaften“ bekundete das ernste Streben, dieses ausgedehnte Feld zu beherrschen; seine später erschienenen „Staatswirthschaftliche Ideen“ aber zeigten, wie sehr ihm jenes Streben schon gelungen sei. Offenbar hatten die bahnbrechenden Lehren Adam Smith’s zur Förderung Jung-Stilling’s wesentlichst beigetragen. Doch sah er auch in diesen Dingen stets das unmittelbare Walten Gottes.
In Kaiserslautern aber kamen sehr bald neue Drangsale. Seine Gattin kränkelte und starb; die Schulden hatten sich vermehrt; seine zwei kleinen Kinder entbehrten ausreichender Pflege. Da entschloß sich unser Dulder zu einer zweiten [702] Heirath. Frau Sophie von Laroche führte ihm die geist- und gemüthvolle Selma von Florentin als Gattin zu, und diese brachte durch consequente Sparsamkeit Ordnung in die zerrütteten Verhältnisse Jung-Stilling’s. Als 1784 die Akademie nach Heidelberg verlegt wurde, kam J.-St. mit dem Titel eines kurfürstlichen Hofrathes an die Ruperto-Carolina; er folgte aber schon nach drei Jahren einer Berufung des Landgrafen von Hessen-Cassel an die Universität Marburg. Die Tage in dem ihn anheimelnden Lahnstädtchen waren heitere, er konnte seinen alten, kränklichen Vater Wilhelm zu sich nehmen, und war, an der Seite seiner trefflichen Frau, geachtet und geliebt. Sein verbreiteter Ruf führte ihm viele Studenten aus vornehmen Familien zu, u. a. auch den später rühmlichst bekannten westfälischen Oberpräsidenten von Vincke, welcher in Jung-Stilling’s Familie Aufnahme fand. Doch schon nach zwei Jahren ungetrübten Glückes brachte ihm der Tod seiner Selma neuen Seelenschmerz. Dazu kam noch ein Friedensstörer. Durch das Studium der Leibnitz-Wolf’schen Philosophie „in die schwere Gefangenschaft des Determinismus gerathen“ und in seinen religiösen Anschauungen wankend geworden, konnte er, der sonst so kindlich-gläubige Vater, dieses Mal so recht nicht Trost und Beruhigung finden. Da half ihm Kant’s „Kritik der reinen Vernunft“, aus welcher er die Ueberzeugung gewann, daß die menschliche Vernunft nur das innerhalb ihrer eigenen Sphäre Befindliche begreifen könne, daß sie dagegen in übersinnlichen Dingen, so oft sie aus ihren eigenen Principien urtheile, auf Widersprüche stoße, oder mit dem Worte des Apostels Paulus der natürliche Mensch vernimmt nichts von den Dingen, die des Geistes Gottes sind; sie sind ihm eine Thorheit etc. Um ganz wieder in das rechte Geleise zu kommen, schrieb J.-St. an den großen Philosophen in Königsberg und erhielt von diesem die beruhigende Antwort: „Auch darin thun Sie wohl, daß Sie Ihre einzige Beruhigung im Evangelio suchen; denn es ist die unversiegbare Quelle aller Wahrheiten, die, wenn die Vernunft ihr ganzes Feld ausgemessen nirgend anders zu finden sind.“ Im Uebrigen aber betonte J.-St., „es sei eine ewige und gewisse Wahrheit, daß jeder Heischesatz der ganzen Moral eine unmittelbare Offenbarung Gottes sei.“
Die vielen Reisen, welche J.-St. als Prorector der Universität, als Augenarzt und besonders als weitberühmter Staar-Operateur zu machen hatte, die Sorge um die Erziehung seiner fünf Kinder, wie der Mangel an genügender Aufsicht in seinem großen, 15 Personen umfassenden Hauswesen, veranlaßten ihn zu einer dritten Heirath. Er führte in seinem 51. Jahre die ihm von seiner Selma noch auf dem Sterbebette empfohlene Elise Coing als Gattin in sein Haus und fand in ihr eine „Krone der Frauen, seine Seelenfreundin, seine Lebens- und Sterbensgefährtin.“
J.-St., der berühmte Augenoperateur und geachtete National-Oekonom, erkannte nun endlich darin seinen wahren Beruf, daß er ausschließlich in den Dienst seines Herrn und Heilandes trete. Seine mystische Schriftstellerei fand auch Anstoß, sowol in Cassel bei Hofe, als zu Marburg in Universitätskreisen. Er aber ließ sich nicht beirren, sondern trat mit seinem Werke auf diesem sehr heiklen Gebiete hervor, den „Scenen aus dem Geisterreiche“. Dieser Schrift legte er seine eigenthümliche Anschauung von dem Zustande der Seele nach dem Tode zu Grunde, indem er sich die Seelen der Abgeschiedenen im raumlosen Geisterreiche dachte, worin sie ihrer letzten Entscheidung entgegenreiften. Einen Versuch zur Begründung dieser Anschauung machte er in seiner, von der wissenschaftlichen Kritik beanstandeten „Geisterkunde“. Dann folgte sein „Heimweh“. Vorbild zu dieser Arbeit war „Joh. Bunyan’s Pilgerreise nach der himmlischen Stadt“, die ihn schon als Knabe entzückt hatte. Ein Beifall ohne Gleichen folgte [703] dem „Heimweh“, vom Königsschlosse bis zur Hütte des Armen. Uebersetzungen in fast alle europäischen Sprachen und die Bildung von „Stillingsgemeinden“, selbst in Asien, bewiesen, wie sehr die Gedanken des frommen Verfassers gezündet hatten. Auch in Romanen und Erzählungen suchte J.-St. das sittlich-religiöse Leben zu fördern. Seine „Geschichte des Herrn von Morgenthau“ und des Florentin von Fahlendorn, „Das Schatzkästlein“ und andere Schriften werden in christlichen Familien noch heute gerne gelesen.
Um J.-St. richtig zu erfassen, muß man sich die politischen Ereignisse seiner Zeit, die Gräuel der französischen Revolution und die Gewaltherrschaft des ersten Napoleon vergegenwärtigen. Die Freunde der menschlichen Gesellschaft stellten die ernste Frage, wo und wie sollen wir Rettung aus der sittlichen Verkommenheit finden, in welche die Welt versunken ist? Zuletzt fand sich immer die eine Antwort: durch religiöse Vertiefung und durch Verbreitung des Reiches Gottes auf Erden!
Was nun die schale Gegenwart nicht bot, Stille des Gemüths, Leben und Ruhen in Gott, gewährte den Friedensuchenden das „Heimweh“. Die Zeitschrift „Der graue Mann“, dann die nach Vorarbeiten des gelehrten württembergischen Theologen Joh. Alb. Bengel entworfene „Siegesgeschichte der christlichen Religion“, eine Erklärung der Offenbarung Johannis, sollten jene Ziele erreichen helfen. J.-St. war nun durch sein begeistertes Auftreten in christlichen Familien des In- und Auslandes als ein Herold Christi bekannt geworden. Auch der Kurfürst Karl Friedrich von Baden hatte ihn lieb gewonnen. Als J.-St. einst von einer augenärztlichen Reise aus der Schweiz zurück- und nach Karlsruhe kam, bildete sich ein näheres Verhältniß zwischen diesen wahlverwandten Männern, und J.-St. trat im Herbste 1803 in die Dienste seines fürstlichen Freundes. „Er wurde von allen irdischen Verbindlichkeiten entbunden und beauftragt, durch seinen weitausgedehnten Briefwechsel und seine Schriftstellerei Religion und praktisches Christenthum, an des Kurfürsten Stelle, zu befördern.“ Von 1803 bis 1817 hat er dieser Mission treulich genügt. Christliche Freunde aus allen Bekenntnissen standen mit ihm in Verbindung. Eine Begegnung mit dem Kaiser Alexander von Rußland machte auch diesen zu einem Stillingsfreunde und Wohlthäter. In Jung-Stilling’s Kreis fand sich zuletzt auch die bekannte Baronin von Krüdener gebannt. J.-St. glaubte: „die Feuerprobe der großen Versuchungsstunde sei das einzig bewährte Mittel, die Einigkeit der Lehre, des Glaubens und des Geistes zu Stande zu bringen und zu vollenden. Dann werde keiner mehr fragen, zu welcher Partei er gehöre, ob er katholisch, lutherisch, reformirt, Herrnhuter, Mennonit sei, sondern die Liebe werde alle ins Band der Vollkommenheit binden und die brünstige Liebe zum Herrn werde, wie eine himmlische Gluth, Alle in ein ewiges Eins verschmelzen. Dann werde eine philadelphische Gemeinde sein.“ Als der Kaiser Alexander ihn frug, welche Religion er für die rechte halte, soll J.-St. die biblische Antwort ertheilt haben: „unter allen Religionsparteien diejenigen, die Gott im Geist und in der Wahrheit anbeten.“
Alle ihm, dem geheimen Hofrathe, Professor und Dr. der Medicin und der Philosophie, dem berühmten Augenarzt und Schriftsteller reichlich zugefallenen Ehrenerweisungen konnten seinen treuen, schlichten Sinn nicht entwegen. In einer hübschen Erzählung: „Der brave Hirte“, sagt er: „O du holde Erinnerung an jene blühenden Maitage meiner, übrigens so ernsten Lebensjahre! Wie heimwehartig würdest du mein beladenes Herz drücken, wenn mir nicht der treue Führer durch dieses Erdenleben, der Engel Religion, in einem nie verblühenden Mai das frohe Wiedersehen zusicherte. Du sollst mich stündlich antreiben, so zu leben und zu handeln, daß meine verklärten Ahnen sich meiner nicht zu schämen brauchen, wenn ich dereinst plötzlich in ihrer Mitte erscheine, sowie ich mich hier [704] auch ihrer nicht geschämt habe. Jene Kohlenbrenner, Hirten, Löffelmacher, Schneider, Bergleute und Krämer geben mir zwar hienieden keinen stiftsmäßigen Adel; aber ich hoffe, einst bei der großen Ahnenprobe um so besser bestehen zu können, und das Bürgerrecht, welches ich dadurch erhalte, stört ferner kein Entschädigungssystem.“
Mit irdischen Glücksgütern war J.-St. nicht versehen. Wie wäre dieses auch möglich gewesen, da sein Hausstand von 15 Personen das ganze Diensteinkommen absorbirte und er seine augenärztliche Kunst an Tausenden von Staarblinden meist unentgeltlich ausübte, seine christliche Correspondenz auch jährliche Geldopfer, allein an Porto über 1000 Gulden, forderte. J.-St. lebte zuletzt meist in einer übersinnlichen Welt; ihm war der alte Glaube des Hereinragens einer Geisterwelt in die unsrige, gleichsam von selbst überkommen. Sein fast angeborener Pietismus hatte ihn zum Mysticismus und dieser zum Spiritualismus (nicht zum Spiritismus) geführt. Aber auch er hat nur bewiesen, daß die höchsten Probleme des Menschenlebens hienieden nicht zu lösen sind. Sein Wahlspruch war: „Jehovah jireh“, der Herr wirds versehen, und warlich, sein Gottvertrauen hatte die Feuerprobe bestanden.
Ruhig und im Frieden Gottes, umgeben von seinen Kindern und Enkeln, sah der 77jährige Greis seinem Heimgange entgegen. Im März 1817 starb seine Elise, und schon am 2. April folgte er ihr nach in die Heimath der Seligen, wonach er sich gesehnt hatte. Sein Schwiegersohn, der Geh. Kirchenrath Dr. Schwarz bezeugte: „Christus hatte in ihm eine Gestalt gewonnen!“ Ein einfaches Grabmal auf dem Kirchhofe zu Karlsruhe bezeichnet das Grab dieses wahrhaft frommen Mannes; zu Hilchenbach, seinem Florenburg, ist ihm ein Denkmal, nahe der Kirche, errichtet worden. Max von Schenkendorf, der treue Stillingsfreund und langjährige Hausgenosse Jung-Stilling’s, sang zu dessen 76. Geburtstage:
Ich kann es nimmermehr vergessen,
Wie Alles hier so freundlich war,
Wie ich an diesem Tisch gesessen,
So manchen Tag und manches Jahr,
Wie Vater Stillings Augen glänzten
Beim fröhlich christlichen Gespräch,
Und wie die Töchter uns kredenzten,
Als ob das Brod ein Andrer bräch!
O du von reinen Himmelsblüthen,
Von ew’gen Kränzen schön umlaubt,
Dem sechs und siebzig Sommer glühten,
Du theures, vielgeprüftes Haupt;
Du darfst noch lange dich nicht neigen
Der Aehre gleich, vom Segen schwer,
Mußt vielen noch die Wege zeigen,
Zum Throne Gottes licht und hehr.
Fahr wohl! Zwar fernhin muß ich ziehen,
Doch bleibt mein Gastrecht unversehrt,
Noch lange soll die Flamme glühen
Auf diesem Patriarchenherd.
Die Engel kamen zu den Alten,
Zum Abraham, zum frommen Lot;
Mir ist, als fühlt’ ich hier sie walten,
Fahr wohl! und Alle grüß’ euch Gott!
- Jung-Stilling’s Werke, 12 Bde. Aufl. 1841/42. Lebensgeschichte Jung-Stilling’s mit einer einleitenden Vorrede des Prälaten von Kapff, 1857, dann in einer Bearbeitung für die Jugend von F. W. Sommerlad 1858. Vgl. dazu Grenzboten, 1858, Nr. 26. J. H. Jung, gen. Stilling. Vortrag von Frommel. Karlsruhe 1871. Leben v. Vincke’s von E. v. Bodelschwingh, 1853. Taschenbuch für die Gegenden des Niederrheins, von Aschenberg, 1806, S. 152 ff., 270 ff. Goethe, Dichtung und Wahrheit, vgl. das Namensverzeichn. und die Loeper’schen Anmerkungen im 20. bis 23. Theil der Hempel’schen Ausgabe. Ein für Jung-Stilling’s Wirksamkeit als Augenarzt wichtiger Brief von ihm von 1807 ist mitgetheilt in Stricker’s Beiträgen zur ärztlichen Culturgeschichte, Frankfurt 1865, S. 117 ff. Ueber Jung-Stilling’s Stellung in der Nat.-Oekonomie vgl. Roscher, Gesch. d. Nationalökonomik S. 552 ff.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Melusine, mythische Sagengestalt des Mittelalters
- ↑ Asiatische Banise, Roman des Schriftstellers Heinrich Anselm von Ziegler und Kliphausen
- ↑ Haimonskinder sind die vier Söhne des Grafen Haimon (Aymon) von Dordogne