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ADB:Lenz, Jakob

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Artikel „Lenz, Jacob“ von Erich Schmidt in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 18 (1883), S. 272–276, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Lenz,_Jakob&oldid=- (Version vom 6. Dezember 2024, 00:55 Uhr UTC)
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Band 18 (1883), S. 272–276 (Quelle).
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Lenz: Jacob Michael Reinhold L., Dichter, geb. am 12. Januar 1751 zu Seßwegen in Livland, Sohn des späteren Generalsuperintendenten, damaligen Pastors David L. (s. o.) und der Frau Dorothea, geb. Neoknapp, übersiedelte im Februar 1759 mit seinen Eltern nach Dorpat und debütirte früh als Dichter, denn 1766 erschien die Klopstockisirende Ode „Versöhnungstod Jesu Christi“. Der Dorpater Brand 1763 und eine Wassersnoth regten die sehr unreifen „Landplagen“ in üblen Hexametern 1769 an. Er besang das „Begräbniß Christi“, dichtete aus dem Pietismus des Vaterhauses heraus geistliche Lieder, zur Igelstroem-Lauw’schen Hochzeit[WS 1] 1766 lieferte er aber, Erlebnisse behandelnd, ein auffallend gewandtes Gelegenheitsstück „Der verwundete Bräutigam“ (ed. Blum, 1845). Andere Dramen, ein Trauerspiel „Diana“ z. B., sind verloren; ob die 1774 veröffentlichte Uebersetzung von Love’s labours lost „Amor vincit omnia“ (Verg. Ecl. 10, 69) großentheils identisch ist mit der Jugendarbeit [273] „Die Liebe besiegt alles“, darf bezweifelt werden, doch steht frühe Vertrautheit mit Shakespeare fest. Auch den Tasso kannte er schon in der Heimath. L. bezog 1768 als stud. theol. die Universität Königsberg. Wir besitzen eine steife Ode an Kant von ihm (Reicke[WS 2], Altpreuß. Monatsschrift 1867, S. 650). J. F. Reichardt verkehrte mit L. (vgl. Maltzahn[WS 3], Bl. f. litt. Unterhaltung 1848, S. 945 ff.). Heitere und drückende Erfahrungen dieser Zeit spiegeln sich im „Hofmeister“. Mit zwei kurländischen Junkern v. Kleist[WS 4] reiste er über Berlin, wo er Nicolai eine Alexandrinerübersetzung des Essay on criticism schüchtern anbot, und Leipzig nach Straßburg. Sie trafen Ende April 1771 daselbst ein. Die Kleist traten auf einige Zeit in die französische Armee. L., ein hübsches gewinnendes Persönchen, näherte sich dem Salzmann’schen Kreise, ward mit Goethe aber erst brieflich, – persönlich 1775 – intimer. Mit dem jüngeren Kleist auf Fort Louis, besuchte er Sesenheim fleißig und verliebte sich in Friederike[WS 5], schrieb überspannte Briefe an „Socrates“ Salzmann, ein verzweifeltes Stammbuchblatt und das fälschlich Goethen zugewiesene Gedicht „Ach du bist fort“ für die Tochter des „Pfarrers von Wakefield“[WS 6], feierte aber später ernüchtert ihre Treue für Goethe in schönen Versen („Die Liebe auf dem Lande“, nicht vor 1775; erste Fassung Archiv f. Litteraturgesch. 8, 166 ff.). Von Fort Louis ging es nach Landau. Im Spätjahr 1772 kehrte er zu dem älteren Kleist nach Straßburg zurück, wurde jedoch 1773–74 seltsam in die Liebeswirren dieses und eines später zugereisten dritten Kleist verwickelt[WS 7] – „Die Soldaten“ deuten darauf hin – und löste sein Verhältniß, ohne einen guten Hofmeisterposten zu finden. Den seltsamen Handel im Bürgerhaus am Kleberplatz hat er erst englisch, später für Goethe deutsch dargestellt (vgl. Dichtung und Wahrheit, Urlichs „Etwas von Lenz“, Deutsche Rundschau 1877, Mai). Am 3. September 1774 immatriculirt, lebte er kümmerlich von englischen Stunden, während sein Dichterruhm stieg und seine Verbindungen sich ausbreiteten: Goethe, Lavater, Zimmermann, Herder, Merck, La Roche (s. Anhang zu „Briefe Goethe’s an Sophie von la Roche“ ed. Loeper) etc. Pfingsten 1775 besuchte ihn Goethe; sie tauschten herzliche Verse. L. liebte Henriette v. Waldner[WS 8], die im Frühjahr 1776 den Baron Siegfried von Oberkirch[WS 9] heirathete. In ihren Mémoires (Paris 1853) steht nichts über den ihr wol ganz unbekannten L. Am 2. November 1775 wurde die Salzmann’sche Gesellschaft auf neuen Grundlagen eröffnet; L. war Secretär, Germanisator, das führende thätigste Mitglied (s. das Protocoll „Alsatia“ 1862 ff., S. 173 ff.). Aber er strebte fort, nach Weimar, vgl. an Knebel, 6. III. 76, und traf dort, nachdem er in Mannheim, Darmstadt und Frankfurt Station gemacht, am 1. April 1776 ein, freundlichst aufgenommen, vom Herzog bis zum 27. Juni im Gasthof freigehalten. Dann ging das „kranke Kind“ auf zwei Monate nach Berka und kehrte später von Weimar aus wiederholt in Kochberg ein, um mit Frau v. Stein Englisch zu treiben. Zwar hatte er Karl August, Anna Amalia, Wieland u. a. gewonnen, aber sein krankhaftes, halb verstiegenes, halb bescheidenes, zu Eseleien und Affenstreichen neigendes Wesen zog ihm außer Aerger und Mitleid auch empfindliche Demüthigungen zu, bis er zweifelsohne wegen unüberlegter beleidigender Worte (vom 25. oder 26. November) über Goethe und die Stein – vgl. meine Uebersicht „Anzeiger für deutsches Alterthum“, 1, 174 f. – ausgewiesen wurde. Am 1. December 1776 schied er. Schlosser’s[WS 10] nahmen ihn in Emmendingen auf. Im Januar verbrachte er acht Tage in Colmar (Pfeffel an Sarasin, 24, I. 77) und schien weniger zerrüttet als in Weimar. Wir finden ihn in Basel bei Sarasin (vgl. Hagenbach, J. J. Sarasin und seine Freunde, 1850); im August „lenzelt“ er noch bei Lavater, tief verschuldet. Er bereiste im Juni mit dem Enthusiasten Kayser die Alpen. Die Collectivschnurre „Jupiter und Schinznach“, [274] 1777, 28 S., zeigt ihn noch als alten Virtuosen in Quibbles. Die Nachricht vom Tode der verehrten Cornelie Schlosser traf ihn tief. Seine Geisteskrankheit ward immer deutlicher. Die italienische Reise mit dem Grafen Hohenthal mußte hinter Sitten abgebrochen werden. In Marschlins bei Salis, dann in Winterthur bei Kaufmann (November 1777) hatte er einen „Anfall“. Wahnsinnig traf[WS 11] er am 20. Januar 1778 in Waldbach, wohin der Kraftapostel ihn gewiesen, bei Oberlin ein, in dessen Hause er mehrere Selbstmordversuche machte. Er wurde im Februar über Straßburg nach Emmendingen gebracht, wo Schlosser sich für den bald wortlos verzagten, bald tobsüchtigen aufopferte (Hagenbach, S. 95 f.); dann beim Schuster Süß, nachher bei einem Chirurgen auf Karl Augusts Kosten in Pflege. Man sammelte für ihn. Seine Familie regte sich nicht. Der Vater ward 1779 nach Riga versetzt; der älteste Sohn rückte in seine Dorpater Stelle. Dieser holte endlich im Juni 1779 Jacob heim. In Riga schien er hergestellt. Er hoffte dort Rector zu werden. Das Gerücht, er sei Professor in Dorpat geworden, erregte Gelächter in Deutschland, die falsche Nachricht seines Todes 1780 kaum irgend welches Aufsehen. Diese russische Zeit liegt vor der Hand trotz kleinen Mittheilungen sehr im Argen. L. taucht in Petersburg bei Nicolay auf. Ein Adelicher bei Moskau gewährte ihm Obdach. Er starb in der Nacht vom 23. auf den 24. Mai 1792. Seine äußere Erscheinung hat Goethe geschildert; es stimmt dazu eine Zeichnung in Falck’s Besitz (vgl. Lenz und Klinger, S. 7).

L. ist – longo sed proximus intervallo – der genialste Dramatiker des Sturms und Drangs nach Goethe, dem z. B. der „Hofmeister“ von vielen zugeschrieben wurde. Auch L. heißt der „deutsche Shakespeare“. Er schwingt sich in der kecken litterarischen Farce Pandaemonium germanicum (ed. zuerst Dumpf 1819, dann Tieck) neben Goethe, schreibt „Unsere Ehe“ (verloren) und „Briefe über die Moralität des jungen Werther’s“ (verloren; vgl. H. L. Wagner, 2. A., S. 161 f.) und überbietet Gerstenberg’s, Herder’s, Goethe’s Shakespearecultus durch die 1774 erschienenen, früher verfaßten „Anmerkungen übers Theater“, der wirrsten Historienform das Wort redend. Er hatte mehr Begabung zur Farce, Komödie, bürgerlichen Tragikomödie, als zur Tragödie. Seine frei modernisirten „Lustspiele nach dem Plautus“ sind sehr drastisch, Holbergisch. Amor vincit omnia bietet die graciösen Scenen des Urtextes gekürzt und vergröbert, vortrefflich aber die krausen Scherze, die Narrheit, den Schwulst. Sein „Coriolan“ (am 21. III. 76 von Röderer in Straßburg vorgelesen, hsl. in Weimar, „Seiner Durchlaucht, dem Herzoge, unterthänigst gewiedmet von Lenzen“) ist ein rascher Prosaauszug, bestimmt vor allem die Scenen der Hauptperson wiederzugeben, abgerissen, manches verstärkt, Volksscenen entfallen mehrfach, kurze verbindende Anmerkungen dazwischen, Resumés in indirecter Rede. Verdienstlos sind die Stücke aus Ossian in Jacobi’s Iris. Er hatte viel Verständniß und Talent für die Satire. Er drängte Goethe zum Druck von „Götter, Helden und Wieland“ (vgl. sein rührendes spätes Geständniß an Wieland, Morgenblatt 1855, S. 782), schrieb gegen Wieland die „Wolken“ (beide Fassungen verloren) und ließ die „Vertheidigung“ (v. Maltzahn) folgen, später die anschmiegende „Epistel eines Einsiedlers an Wieland“, nachdem er besonders den neuen Amadis in „Menalk und Mopsus“ und im „Eloge de feu Mr. Wieland“ (vgl. meine Auszüge, Archiv f. Litt., 9, 179 ff.) scharf angegriffen. All das voll von Großmannsucht. Als Erzähler ist L. trocken im „Zerbin“ und mehr noch im „Landprediger“, zu zerflossen und unplastisch in dem, gleich dem lyrischen „Petrarch“ auf Henriette, aber auch auf Goethe zielenden, in Berka verfaßten Torso „Der Waldbruder“ (zuerst in den „Horen“, wiederholt bei Dorer, mit Einleitung ed. von Waldberg 1882). Seine Lyrik ist [275] „Ausfluß des Herzens“, vieltönig, bald schlicht, bald leidenschaftlich und dithyrambisch (Der verlorene Augenblick, An Seraphine, Auf eine Papillote), aber ohne Feile und zu nebelhaft. Klärung war dem kranken Dichter versagt. Philister der Kritik haben ihn deshalb und wegen der sich wichtig dünkenden Neugier und Intriguensucht seines Erdewallens oft geschulmeistert. Am gerechtesten ward ihm Wieland.

Als Dramatiker suchte L., der zugleich den segenbringenden Weltreformator und Pädagogen spielen wollte, Diderot und Shakespeare zu vereinigen. „Der Hofmeister“ – von Schröder 1778 ohne Erfolg für die Bühne eingerichtet, vgl. dazu Litteratur- und Theaterzeitung, Berlin, 1, 394 f. und Rheinische Beiträge, Mannheim 1781, 1, 67 ff.; Recensionen z. B. Schubart, D. Chronik, 1. Beylage, August 1774 – schildert die Nachtheile der Privaterziehung mit einer zuchtlosen Technik und einem Gemisch von trockener Lehrhaftigkeit und versöhnlichster Unsittlichkeit, aber genial in der Komik des Schulmeisters, dem englischen Humor einer Väterrolle und der Naivetät eines Landmädchens. „Die Soldaten“ – eine Bearbeitung Bauernfeld’s „Das Soldatenliebchen“, machte im Burgtheater Fiasco – auf Grund der Straßburger Erlebnisse verfaßt (vgl. die Briefe „Aus Herder’s Nachlaß“; die erste Fassung des 5. Acts besitzt Maltzahn) und ängstlich Klingern zugeschoben (vgl. jetzt v. Beaulieu-Marconnay, Archiv f. L., 2, 245 ff. und Buchner, „Aus dem Verkehr einer deutschen Buchhandlung“, S. 59 ff., auch Rieger’s „Klinger“, I.), brandmarken die verderbliche Ehelosigkeit der jungen Offiziere. Gute bürgerliche Scenen voll frischen Lebens, viel Fratze und absurdes Dociren, die Composition außer Rand und Band. Die übrigen Stücke sind schwer genießbar, außer in Einzelheiten. Nach Straßburg fallen noch „Der neue Menoza“, angeregt durch Pontoppidan und Rousseau, carikirt und übers Knie gebrochen in der Handlung und einigen Hauptfiguren, bewundert von Schlosser: „Prinz Tandi an den Verfasser des neuen Menoza“, 1775 (wieder abgedruckt Kl. Schr. 1779, 2, 261 ff.; vgl. Frankf. gel. Anz., 1775, S. 595 ff.), sonst abgelehnt. Ferner außer der dramatisirten Zeitungsanecdote „Die beiden Alten“, welcher Schiller ein Motiv für die „Räuber“ entnahm, noch „Die Freunde machen den Philosophen“, ein wirres Stück mit Ausblicken auf Erlebtes und einer seltsamen Triple-Ehe zum Schluß. Nach Weimar weisen: „Tantalus“ (September 1776), Leiden bei Hofe, Huldigungen für Herzogin Luise, und die verrückte „Phantasey“ „Der Engländer“. Wir haben Fragmente eines Lustspiels in Alexandrinern von 1777 (Dorer-Egloff, S. 210 ff.), doch nur die Titel von: Die Algierer (=Captivi), Catharina von Siena (scheint handschriftlich erhalten) etc. Was er in Rußland späterhin noch geschaffen, außer Uebersetzungen, hat höchstens pathologisches Interesse.

Aus der weitschichtigen Litteratur ist außer dem im Text verzeichneten hervorzuheben: Goethe, Dichtung und Wahrheit, Buch 11 u. „Lenz“, Hempel, 27, 297 f. Tieck hat das Verdienst, Lenzens Werke in einer freilich mangelhaften Ausgabe 3 Bde., vorgelegt zu haben, Berlin 1828. Ergänzungen lieferte Dorer-Egloff, auch viele Briefe beisteuernd, 1857; mehrere Datirungen besserte Düntzer, Morgenblatt, 1858, Nr. 37 f. Briefe an Salzmann: Stoeber, Der Dichter Lenz und Friederike v. Sesenheim, 1842. An Merck, an Herder, an Boie, an Röderer (Stöber, J. G. Röderer, 1874), an Frau v. Stein (Deutsches Museum, 1861, S. 820). Aufsätze und Lyrisches (auch bei Gruppe): Zöppritz, Aus Jacobi’s Nachlaß, 1869, Bd. II, Erich Schmidt, H. L. Wagner², 1879, J. v. Sivers’ Baltische Monatschrift, 1879. Für die Jugend Lenzens ist überhaupt zu vergleichen P. Th. Falck, Der Dichter Lenz in Livland, Winterthur 1878. Ganz unkritisch: Gruppe, Reinhold Lenz, 1861. Held der Novelle bei G. Büchner (und Bennecke). – Erich Schmidt, [276] Lenz und Klinger, Berlin 1878. – Hss. im Besitze von Maltzahn und Falck. Die Lenziana (Dramatisches u. s. w.) aus Sivers’ Nachlaß wird Weinhold herausgeben.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Baron Reinhold Johann von Igelström heiratete Helena von Lauw am 25. August 1766. Der Baron, Sohn eines Taufpaten von J. M. R. Lenz, war aufgrund eines kurz vorher, am 16. Juni, durch einen Kammerdiener auf ihn verübten Mordanschlags verwundet.
  2. Rudolf Reicke (1825–1905), Bibliothekar in Königsberg.
  3. Wendelin von Maltzahn (1815–1889), Literaturhistoriker in Berlin.
  4. Die Brüder Friedrich Georg (1751–1800) und Ernst Nikolaus von Kleist (1752–1787).
  5. Friederike Brion (1752–1813), vormalige Geliebte Goethes.
  6. Jacob Brion (1717–1787), Dorfpfarrer in Sesenheim, Friederikes Vater.
  7. Friedrich Georg von Kleist hatte seit 1771 eine Affäre mit der Goldschmiedstochter Cleophe Fibich (1754–1820). Nachdem er im Oktober 1773 ein notariell beglaubigtes Eheversprechen unterzeichnet hatte, reiste er in die kurländische Heimat und tauchte nicht mehr in Straßburg auf. Nach Kleists Abreise verliebte sich Lenz unerwidert in Cleophe. Der dritte war Friedrich Georgs jüngster Bruder Christoph von Kleist.
  8. Henriette Louise von Waldner-Freundstein (1754–1803).
  9. Charles-Sigfried d’Oberkirch (1735–1797), Gutsbesitzer im Elsaß.
  10. Johann Georg Schlosser, Oberamtmann der Markgrafschaft Hochberg, und seine Frau Cornelia (1750–1777), die Schwester Goethes.
  11. Vorlage: trat