Zum Inhalt springen

ADB:Sprickmann, Anton Matthias

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Sprickmann, Anton Matthias“ von Erich Schmidt in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 35 (1893), S. 305–313, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Sprickmann,_Anton_Matthias&oldid=- (Version vom 23. November 2024, 12:24 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Sprenger, Placidus
Band 35 (1893), S. 305–313 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Anton Matthias Sprickmann in der Wikipedia
Anton Matthias Sprickmann in Wikidata
GND-Nummer 118798316
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|35|305|313|Sprickmann, Anton Matthias|Erich Schmidt|ADB:Sprickmann, Anton Matthias}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=118798316}}    

Sprickmann: Anton Matthias S., Dichter, Jurist und Historiker, wurde am 7. November 1749 zu Münster in Westfalen geboren. Von seinem während des siebenjährigen Krieges verstorbenen Vater ist uns nichts bekannt; die Mutter hat bis in ihr neunzigstes Jahr neben dem Sohne, der sie innig liebte, in dem alten großväterlichen Hause gelebt und alle stürmischen Wirren, aber auch die geklärteren männlichen Zeiten ihres Anton und endlich die schwere politische Heimsuchung des Münsterlandes mit angesehen. Daß das erste Jammergefühl des Lebens der Tod seiner einzigen älteren Schwester Dina war, erzählt S. aus später treuer und überströmender Erinnerung. Ein Bruder wurde Canonicus und brachte im Todesjahr der Mutter durch unpraktische Führung der Geschäfte des Domcapitels unseren S. als Bürgen in die gefährlichste Nothlage. Die Familie war streng katholisch. S. vereinigte früh mit poetischer Neigung die Liebe zur Musik, die er selbst bis 1772 künstlerisch ausübte, und eine bei diesem Strudelkopf verwunderliche Leidenschaft für die Mathematik, deren strenge Gesetzmäßigkeit immer wieder eine beruhigende Contrastwirkung übte; er erfuhr noch von Gall, „daß er im Grunde ein großer Mathematiker sei“. Nach einem Bonner Aufenthalt studirte S. 1766–1768 in Göttingen die Rechte und wurde 1769 zum Dr. jur. promovirt, worauf er daheim in die von seinem Gönner, dem ausgezeichneten Minister v. Fürstenberg, reformirte Verwaltung eintrat und 1774 Regierungsrath wurde. Da der Grundbesitz der Mutter allmählich mit Schulden belastet worden war, hatte S., einer Liebe entsagend, schon 1773 eine sogenannte Vernunftheirath gethan und stand doch erst auf der Schwelle langjähriger Herzenskämpfe, die ihn zu einer so interessanten Erscheinung in der Pathologie der Geniezeit machen. Denn während die jungen Göttinger sich zumeist rasch abkühlten, haben die Freunde S. und Bürger Gluth und Sturm als Ehemänner durchgelitten, untergehend der eine, sich trotzalledem aufraffend der andere. Das Jahr 1776 brachte eine wichtige Wendung: da Fürstenberg ihn für eine Professur an der neuen Universität ausersehen hatte, begab sich S. zu Bibliothekstudien wieder nach Göttingen (und Benniehausen), wo der „Bund“ freilich zerstoben, aber Boie noch zur Stelle und Bürger nicht weit war. Mit ehemaligen Haingenossen wie Voß, Hölty, Leisewitz stand S. schon in Briefwechsel. Nun lernte er Closen, den sanften Nachzügler Overbeck kennen, sprach bei Einems, den Mündener Bundesfreunden, vor, huldigte Lotten Kestner in Hannover, Klopstock in Hamburg, trat damals wol der Loge bei, begrüßte Voß und Claudius in Wandsbeck und reiste mit dem nach Darmstadt berufenen „Boten“ ab. In Gotha sah er Ekhof; in Weimar flüchtig den abgöttisch verehrten Goethe, dem er aber auch 1785 als Begleiter der Fürstin Galyczin so wenig wie bei Goethe’s Campagnebesuch persönlich näher kam. „Eine treue deutsche Biederseele“ nennt ihn 1785 Caroline Herder mit vager Charakteristik. 1777 machte er rasch erwarmend die Bekanntschaft F. H. Jacobi’s und der La Roche. – Wieder in Münster nach so angeregter Zeit gewöhnte sich S. 1776 sehr schwer ein. Freiheit, sei’s drüben in Amerika, gilt ihm nun als einziges Gut, alles andere für Quark und Plunder; dicke, beängstigende Luft quält seine Nerven; „die schmählichen Ketten von Verhältnissen, Subordination und jämmerlichem Wohlstand“ schneiden ihm ins Fleisch; er fühlt sich angeschmiedet „wie Prometheus an seinem Felsen – ja wohl, wie Prometheus, auch mit dem Geier, der mir das immer wieder wachsende Herz zerfrißt, das er nicht abfressen kann“; alles Gefühl der Menschheit scheint überschwänglich auf ihn zusammengedrängt; [306] er liebt zärtlich sein Töchterchen Therese, aber die Gattin giebt dieser ungeheuren Sehnsucht so wenig, und Hypochondrie untergräbt vollends seine schon früh angegriffene Gesundheit; in Liebesleidenschaft strebt er sich an- und abzuspannen wieder und wieder, Jahre lang … Wertherisch verlangt er im Frühling auch für sich Erfüllung, und keineswegs bloß sinnliche Lust zu büßen ist sein Drang, sondern zugleich Erguß des übervollen Herzens – sonst, peinvoll in sich zurückgestoßen, wäre er ein „Abbadona der Menschheit“. So zwischen Zagen und Wagen im Leben, und unter überspannten Rhapsodien der Dichtung erringt er die innere Festigung nicht, hätschelt das rastlose Herz und sagt doch: „mein Herz taugt nicht viel“. In einem Rückblick (an Frau v. Voigts 1790) heißt es: „ich hatte Sinne, sehr heiße, lüsterne, ungestüme Sinne, aber dennoch begann da, wo ich verführt ward, meine Verführung selten in diesen Sinnen“, vielmehr sei es die Sehnsucht nach menschlicher Vollendung des Mannes durch das Weib gewesen. So brodeln heftiges Begehren und platonische Erosphilosophie durch einander. Wie tief Goethe’s „Schauspiel für Liebende“ ins Leben griff, lehrt am beredtesten ein von S. an Bürger, den unseligen neuen Gleichen, geschriebenes Urtheil (8. Juli 1777): „Es sind Zufälle über mich gekommen, Zufälle, über die ich keiner Seele in der Welt beichten kann, als der Eurigen; seht nur, das Ding, das wie Wind im Meer ist, hat mich angeweht, ach angebraust im Sturm. Bürger, was ist das? und wohin wird’s nun fahren? das drängt, das wälzt sich in mir wie Wogen in wilder Empörung; ich fühle mich, wie ich mich kaum geahndet hätte; mir schwindelt vor mir selbst, wenn ich das so fühle, was ich kann: – Stellas sind keine Träume; aber weiß Gott, auch Fernandos nicht!“ Ihn hatte die „Hexe Liebe“ zu einer Dame Münsters gerissen, von der er auch durch novellistische Spiegelung seiner Leiden das Ja oder Nein ertrotzen wollte … und „die égarements seines Geistes und Herzens“ brausten zügellos weiter. Dabei empfahl sich dieser westfälische Sonderling doch immer durch besonnene Amtsthätigkeit und durfte sagen: Arbeit sei ihm von frühester Kindheit an die Lieblingsfreude gewesen. Im Spätjahr 1777 durch Fürstenberg’s Vertrauen nach Wetzlar entsendet, um einen Proceß für den Kurfürsten von Köln zu führen, zeigte er seine zwei Seiten: der besonnene Jurist gewann diesen Rechtshandel; der unbesonnene Schwärmer phantasirte in seinem Gartenasyl, ging in den Freistunden enthusiastisch allen Spuren Werther’s nach, sogar an der Seite der echten Lotte, die auf Besuch gekommen war, feierte Gedenkfeste und wühlte in seinen Wunden. Zwar schloß er zu Gießen intime Freundschaft, bald auch Gevatterschaft mit Professor Höpfner, aber er hantirte da auch mit anderen Kraftknaben recht Stolbergisch unter der Väter Rüstungen und schmauchte bei Höpfner in wahrer Reliquienandacht aus einer zuerst von Klopstock, dann von Goethe (?) und Claudius geweihten Pfeife. Von Regensburg, wohin ihn ernste Geschäfte gerufen, eilte er Anfang November 1778 jählings und eigenmächtig fort, über Gießen, Münden, Wöllmershausen und wieder Münden, um wieder in unseligen Liebesstrudeln unterzutauchen. Von 1778 an war es die Mündener Lotte v. Einem, das vielumworbene „kleine Entzücken“ der Göttinger Dichter, Miller’s zumal, die ihn fesselte und auch von flüchtiger Neigung zu Johanna Gatterer wieder abzog. Ob er an Scheidung gedacht hat? „Ich habe die Lection mit schwerem Lehrgelde bezahlt“ sagt ein späterer Brief, doch freundschaftlich empfiehlt er zuletzt der 1785 an den Erfurter Emminghaus Verheiratheten seinen reisenden Sohn Bernd. 1780 hatte er seiner schwer erkrankten vielgeprüften Gattin Generalbeichte abgelegt. Die Zeit der gedämpften Affecte war auch für ihn endlich gekommen, wenn auch die Narben noch oft brannten und ein exaltirter Ton der Empfindsamkeit langhin nachhallt.

[307] Er entsagte dem dichterischen Schaffen, das, mit harmloser Gelegenheitspoesie eröffnet und seit der neuen Münsterer Theatercampagne 1774 im Stile der Zeit manchmal kleinen Bühnenereignissen zugewandt, allmählich immer hyperbolischer, ja toller ins Geniewiesen hineingerathen und festgefahren war. Die Leipziger, Göttinger, Vossischen Musenalmanache und das Deutsche Museum, um nur die verbreiteten Organe zu nennen, brachten Proben von einer Lyrik, die S. selbst 1777 auf hundert Nummern anschlägt. Aber er ist in Briefen, wenn er „alle Saiten meines Gefühls tanzend im Taumeltanz der Odenharfe“ zeigt, lyrischer als in den theils strophisch abgefaßten, theils freidithyrambisch hingewühlten Gedichten, wo außer eigenthümlichen Stilunarten deutliche Anklänge an fremde Muster stören: göttingisch preisend wendet er sich „An Klopstock. Den 12. März 1776“: „Heil mir, ich hab’ ihn gesehn“, so daß Bürger schalt, er brauche sich doch nicht vor dem großen Mann zum Sch … dreck zu machen; an Hölty mahnen „Dora“ und viel mehr „Lina“; „Versagte Herberge“ hat Vossischen Polterton und schuf dem Dichter durch den Hohn „Geh weiter, Phrynchen! Geh zu Pfaffen, Zu Fürsten und zu ihren Affen“ Ungelegenheiten im frommen adeligen Münster; „Trudchen“ kann das Vorbild Bürger’s, dem es denn auch „über die Maßen“ gefiel, nicht verläugnen: „In nächtlicher Stille, wie lag ich so warm Dem Mädel am Busen, dem Mädel im Arm“. Da ging Voß, der 1775 den Freund vergebens zu „westfälischen Provinzialliedern“ angespornt hatte, nicht mit: die Sprache sei „so geniemäßig. Was gewinnt ihr Leute damit, daß ihr eure Mädchen so ungewaschen und ungekämmt darstellt?“ Boie dagegen fand nichts von S. vollkommener, schöner, correcter, während er sonst Nachlässigkeiten nicht aufmutzen, sondern reifender Selbsterkenntniß überlassen wollte. Es kam noch viel schlimmer als in diesem ganz leidlichen Stücklein. Der Dithyrambus „Liebe“ zeigt einen sanften, Stolbergisch gesinnten Jüngling vom coup de foudre getroffen: „Ein Dringen, ein Ringen, ein Schmelzen, ein Wälzen, Wie Fluth, voll Gluth, im kochenden Blut“; er schlürft mit dem Engel Gottes Lina den Lustkelch, in Eifersuchtsqualen stößt der Abgemergelte den Schlußruf „Liebe! Liebe! Liebe! O Natur, Natur!“ aus, wie der von Klopstockisch-göttingischer Phraseologie volle, die Worte häufende vorausgegangene Dithyrambus „Lina“ (ohne Zweifel jene Münsterer Dame) emphatisch ein „Ewigkeit! Ewigkeit!“ wiederholt. Die Göttinger Balladendichtung fand ihr Zerrbild in der ebenso holperigen wie craß überladenen „Ida“: ein damals epidemischer Stoff, Kindesmord einer Verlassenen, ist in die „Ritterzeiten“ verlegt, ein Monolog wahnsinnig zerhackt; Höllenketten klirren, Geister heulen, Bürgerscher Klingklang erschallt im „Sa su se sa“; der Säugling wird vor dem entsetzten Humfried zerschmettert und Ida leckt Blut und Hirn auf, Luitberga mit dem Rabenhaar findet endlich den Gemahl: „Sein Kind aufs Herz, sein Weib an der Lippe, so liegt er entstellt, ein faules Gerippe“. So scheußlichen Verirrungen öffnete der kluge Boie sein Deutsches Museum, während der Mitredacteur Dohm als nüchterner Aufklärer überhaupt nichts von S. wissen wollte, in diesem Fall aber auch Bürger, der die „Lina“ bewunderte, das „Sprachverhunzen“ scharf rügte.

Zum Beweis dafür, wie sehr sich Sprickmann’s schlafende Kräfte 1776 entwickelt, verwies Boie auf die Erzählungen, die er als frappant rühmte; ja er erwartete von diesem großen, weitumfassenden philosophischen Geiste eine Umwälzung auch der Geschichtschreibung. „Der Erzähler wird den Dichter bald verdunkeln.“ Dann schrie Bürger in dem rüden Ton, der S. beim Commersiren und Correspondiren nicht unangesteckt ließ, dem Novellisten zu: „Stampfet eure Markknochen nur fein öfter aus. Boie schmiert das Mark auf geröstete Semmel und schmatzt, daß ihm das Maul schäumt.“ Die Erzählungen sind im Deutschen [308] Museum 1776–78 erschienen (über die anonymen Beiträge vgl. Boie’s Erklärung im Juniheft 1778 S. 562 f.). Ebenda (Nov. 1776, Sz. unterzeichnet) auch sein Aufsatz „Etwas über das Nachahmen allgemein, und über das Göthisiren insbesondere“: das Ideal der Dichtkunst ist der leidenschaftliche Mensch, der Würger Othello ästhetisch vollkommener als der ganze göttliche Grandison, Kraft und Leidenschaft die Schönheit der Seele, Goethe, der Meister Werther’s und Stella’s, ein Naturliebling und höchster Wegweisender Urgenius. Die Novellen von S. zeigen manche Spur der Wertherbegeisterung, am stärksten ein langer Brief Willbert’s in „Untreu aus Zärtlichkeit“, und schöpfen zum Theil unverkennbar aus dem eigenen Herzensleben des Dichters, aber verrathen in dem Hindrängen auf Eine heftige Situation der Krisis mit obligater Nachholung der Vorgeschichte eine Manier, die Bürger’s Lob „gut angelegt, gut dargestellt“ viel weniger verdient als seinen Tadel „unangemessener“ Ausdrücke. Am ausgeführtesten ist „Die Untreu aus Zärtlichkeit. Eine Conversation und ein Brief“ (Jan. 77), worin nach flüchtigem Klatsch der Held selbst seine schwärmerischen oder wilden Irrgänge durch Geldnöthe, Coulissenwelt, Ehe, Landleben, Verhältniß zur Frau eines Beamten, Klostersehnsucht bis zur glücklichen Vereinigung mit der ersten, nun auch verwittweten Geliebten schildert. S. selbst gesteht da den „Hang zur Schwermuth“: „Alles Traurige war mir willkommen; ich liebte schon als Kind das Oede, das Einsame, das Schaudernde selbst mehr als den frohen Lärm meiner Gespielen, und die traurigsten Erzählungen waren mir des Winters beim Feuer die liebsten … Diese Empfindsamkeit, der ich freilich mein Bestes, aber auch das Traurigste meines Lebens anrechnen muß.“ Herrscht hier eine üble ethische Laxheit, so gehen die „Nachrichten aus Amerika“ (Nov. 76) von breiter, zum Theil auf Jugendeindrücken ruhender Exposition zu wilden Scenen fort: ein Liebender sieht heimkehrend die Mutter seiner Braut, einer Magd, wegen Brotdiebstahls an den Pranger gezerrt und seine eigene Mutter roh gegen das unglückliche Mädchen – er gewinnt reines Glück dadrüben, wohin sich S. selbst sehnte. „Das Intelligenzblatt“ treibt eine bedenkliche Liebessituation mittelst eines großen Sprungs zu einer stürmisch glücklichen Lösung; „Das Wort zur rechten Zeit“ (Nov. 77), knapp, doch rhapsodisch im Ausdruck, rafft gleichfalls möglichst viel Zündstoff auf einen Fleck zusammen, aber zu tragischer, an Fernando mahnender Explosion, und auch hier werden, uns unklar, eigene Conflicte des Dichters verarbeitet oder vielmehr skizzirt sein. Denn S. gibt Skizzen, rasche Untermalung. Den großen autobiographischen Roman hat er uns vorenthalten. Im December 1778 meldet Bürger an Boie von Sprickmann’s tiefen égarements: „Er will einen Roman, einen wahren Roman schreiben und der Stoff soll – sein eigenes Leben sein. Was wird doch da herauskommen?“ Noch spät ist von der „Lebensgeschichte“ und einem Briefroman „Mornach“ die Rede (Sept. 1790, Mai 1797 an Frau v. Voigts) und daß dem fertigen „Knochengebäude“ doch die innere Entwicklung fehle: es „wird nun wohl ein Fragment bleiben, wie mein Ich“. Unfähig ein Kunstwerk episch zu runden, hatte S. die Noth zum Princip gemacht und im Zeitalter der Monodramen, von Leisewitzens schroffen Werkchen aus dem Almanach für 1775, der „Pfandung“ und dem „Besuch um Mitternacht“ eingestandener Maßen lebhaft angesprochen, die Novellette ins halbschürige Dramolet hinübergezogen. Auf „Das Neujahrsgeschenk. Eine Klosteranekdote“, die das Motiv unglücklicher Liebe elegisch erzählend behandelt (Sept. 76), war „Das Strumpfband, eine Klosterscene“ (Dec. 76) gefolgt als katastrophisch zugespitzter herber Beitrag zu der durch Voltaire, Diderot, La Harpe (Mélanie, dann von Gotter bearbeitet), durch Jacobi’s Reisebilder, Leisewitzens „Julius“, Miller’s eine sehr alte Gattung weichlich aufnehmende Nonnenlieder, satirisch oder sentimentalisch vertretenen Klosterpoesie. Anna hat im Augenblick des Professes einen Schuß [309] gehört: da glitt ihr ein Strumpfband ab, das Geschenk ihres Wilhelm, und als der harte Vater zu der Mutter vors Gegitter kommt, erhenkt sich Anna nach der Frage „Sind das nicht hübsche Strumpfbänder“? Ein gesuchter Lessing’scher Ton, dem das Geschwirr abgerissener Worte im Geniestil nachgeschickt wird: Vater „Hülfe! Hülfe! Feuer! Mord! – Gott! – Leute! Leute! Nonnen! Menscher! Nonnen! – o Gott!“ – Nonnen „Heilige Mutter Scholastika!“ – Pater „Kein Leben mehr“. – Eine Nonne „Geben Sie ihr doch die letzte Absolution“. Es folgte das düstre Monodrama „Mariens Reden bei ihrer Trauung“ (Sept. 78): „das Schauderhafteste was ich von S. kenne“ sagte Boie und entschloß sich bedenklich zur Aufnahme. Dagegen bietet „Das Mißverständniß“ (Juni 78), in nuce zwar und mit der beliebten Zusammenpressung in eine kritische Situation, einen großen Liebesschauspielstoff skizzirt dar: wie ein „Sir Fäteston“ seine Fanny Trulove treulos wiederzufinden wähnt, da sie doch keine Wittwe, sondern nur die Erbin eines guten alten Lords ist. Motive des früheren bürgerlichen Dramas (auch die Figur eines biederen Dieners), Lenzens, Klinger’s sind verschlungen und der Stil hat etwas Athemloses; Fanny sollte offenbar mit Stella ringen, Fäteston mit „Sturm und Drang“. Das Stückchen – Seylers spielten es 1778 in Frankfurt – machte Bürger „die Augen wässern“ (2, 248). Auf kleinen Umfang war wol auch das Monstrum berechnet, dessen letzte Scene ein Brief an Boie als meisterlich und neu verkündigt (3. Dec. 78): „Ein Mädchen, das Mutter von einem Kinde von sechs Wochen ist, und ihr Geliebter, der Vater des Kindes, der schon an eine Andere verheirathet ist, sind allein auf der Bühne. Sie ist vergiftet. Auf die Nachricht lauft alles fort. Sie ergreift ihr Kind, hängt sich ihrem Geliebten, der in Ohnmacht da liegt, um den Hals. Das Gift wirkt, sie kann sich nicht mehr halten, liegt da, stirbt. Ihr Geliebter erwacht, siehts, ersticht sich. Dann fällt das Kind aus ihrem Schoße, jetzt das einzige lebende Geschöpf; noch ein Geschrei dieses Kindes in der Einsamkeit! darauf fällt die Gardine. Das müßte doch erschüttern, dünkt mich.“ So spottet S. seiner selbst und weiß nicht wie. Dagegen ist der „Ugolino“ ein Kinderspiel, und die Gustchen und Evchen des Genietheaters verschwinden vor dieser wahnschaffenen Schwester der Balladen-Ida. Daß derlei craß, ja lächerlich, keineswegs aber erschütternd sei, sah S. noch nicht.

Von Sprickmann’s größeren Dramen ist Vieles verloren gegangen, von manchen selbst die Titel. Gleich sein Erstling „Der neue Menschenfeind. Lustspiel in zwei Aufzügen“, seit dem October 1773 oft gespielt, wurde im Münsterer Theater vertrödelt. Ein dreiactiges Lustspiel „Die Genies“ verschwand wahrscheinlich im Nachlaß Cl. Schücking’s, den Verbleib des einactigen „Avancements“ kannte der Dichter selbst nicht, das gleichfalls einactige „Intelligenzblatt“ arbeitete er zu jener Erzählung um, die fünfactigen Lustspiele „Der Lehnserbe“ und „Das Monument“ büßte 1778 er auf der übereilten Rückreise von Regensburg ein; eine Komödie mit „sechs ausstechenden ausgezeichneten Charakteren“: einem „Murx“, einer Kokette, einem Rousseauisten und anderen Originalen skizzirt sein Osterbrief 1780 an Boie; das letzte, „Die Ehebrecherin, Lustspiel in fünf Aufzügen, ist von meiner schwesterlichen Freundin Jenny Voigts, Möser’s Tochter, verbrannt“ (nach deren Tod auch zwei ihr zugeschickte Bändchen des Lebensromans nicht wieder zu den beiden unvollendeten anderen zurückkamen). Litterarhistorisch unbedeutend sind die zunächst für Münster verfaßten Singspiele, im Gefolge der Weiße und Schiebeler, Hiller und Neefe: „Die Wilddiebe. Operette in einem Aufzug“ 1774 („mit meinem Freunde – damals Advocat zu Osnabrück, nachher Richter zu Melle – Stühle gemeinschaftlich verfertigt, nach einer Musik von Nikolai, Concertmeister zu Münster; der Dialog und das [310] erste Lied sind von mir, die übrigen Gesänge von Stühle“); oft gespielt wurde auch „Der Geburtstag. Operette in drei Aufzügen“ (Nikolai’s Musik im Haag gestochen) und „Der Brauttag. Operette in drei Aufzügen“ (Musik vom Domsänger Waldeck, 1775).

Die drei großen Dramen Sprickmann’s zeigen eine rasche, aber keine erfreuliche Entwicklung: sie führen von schmiegsamer Nachahmung veraltender Weise zur Caricatur neuer epochemachender Gebilde, vom Rührseligen der Sarazeit zu kraftgenialen Fratzen nach der „Emilia“ und senken sich wieder ins Familienstück herab. „Die natürliche Tochter, ein rührendes Lustspiel in fünf Aufzügen“ (1774) weist schon mit dem Titel in Diderot’s Sphäre und behandelt weinerlich, doch mit halbkomischen Einschlägen ein dankbares, über Kotzebue hinweg bis zu Dumas wirksames Thema. Es erinnert noch an die larmoyante Graffigny’sche Cenie und an Lessing’s Sara, auch durch manche inhaltsleere doch um so wortreichere Scene; aber auch „Minna von Barnhelm“ übt ihren Einfluß: daher stammt der neugierige, geschwätzige Wirth; daher der französelnde Abbé v. Tscherming, ein dreister Roué, und der Dialog ‚Mais Mademoiselle! pourquoi ne parlons-nous pas françois?‘ ‚Verzeihen Sie – in Deutschland –‘ bietet wörtlichen Anklang; daher der kriegerische Hintergrund und der ehrliebende verwundete Officier v. Tscherming, der freilich mit Tiraden vom Tod für König und Vaterland, vom Werth der Tugend und Unwerth des Wappenadels mehr Ifflandisch als Lessingisch wirkt. Die Verwickelungen sind ungeschickt und an Mißverständnisse und falsche Spannung gebunden. Die larmoyante Mad. Detiers, ihre schwermüthige Tochter Sophie, ihr munterer Pflegling Lottchen werden allmählich oder sprunghaft in einen tragischen Stil hinaufgeschraubt, der die Geniesprache vor der Thür anmeldet, blutige Träume sind eingemengt und nicht mehr im Sarastil gehalten, und der Rittmeister muß phantasiren: „dann zertrete dieses Herz, und frohlocke, daß du es zertratest! und dann mit dem blutigen Fuß an den Altar – da – da – da –“. Aber obwol die natürliche Tochter fast wahnsinnig schreit: „du Mann mit der gräßlichen Stimme, und dem blitzenden Dolch“, liegt sie doch zuletzt bräutlich an der Brust des Geliebten und sieht die Mutter mit dem reuigen reichen Edelmann vereinigt. Es ist halbes Werk. – Theatralisch viel bedeutender ist „Der Schmuck. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen“, 1779 in Wien preisgekrönt, aber mit einer willkürlichen Aenderung gedruckt, deshalb von Sprickmann’s Münsterer Verleger Perrenon als „Originalausgabe“ wiederholt (die mir nicht zur Hand ist). Es steht auf der Bahn zwischen Diderot-Lessing und Gemmingen, Schröder, Iffland und ist hier vorwegzunehmen. Der Verfasser ahmt die Zerfahrenheit des „Hofmeisters“ nicht nach, macht sich aber Lenzens Obersten v. Berg für seinen Hauptmann zu Nutze und übt wie Lenz eine gar zu weitherzige Versöhnlichkeit. Das Stück spielt theils in einem schlechten Wirthshaus, wo ein kupplerisches Ehepaar Wippler und Ursul – nach Cumberland’s „Westindier“? – walten, theils in den Räumen des edlen Präsidenten v. Rebenthal. In das Wirthshaus ist die von dem „lüstigen“ Fritz v. Feldern um guten Ruf und Sparpfennig betrogene Luise v. Wegfort geflüchtet und dahin kommt ihr Vater, ihr lüsterner Galan, sein ehrenhafter vermittelnder Bruder Karl. Im Präsidentenhaus verkauft Wegfort den Familienschmuck, der dann nach dem Recept der „Minna“ zu Verwicklung und Lösung führt, denn Fritz erhält ihn zunächst von der albernen Präsidentin, die ihm, dem Courmacher, nicht Karl, dem schwermüthigen Musterbeamten ihre Julie zuspricht, obwol der Präsident ernsten Einspruch thut und eine sinnige Schwiegertochter Francisca die beredte Advocatin Bruder Karl’s macht. Nach einer stürmischen Scene Wegfort’s wird Alles geklärt und Fritz im Handumdrehen gebessert: zum theatralischen Knalleffect muß [311] die Präsidentin, die eine Entführung Juliens durch Fritz wünschte, im Ballkostüm als Venus herbeikommen. Karl hat heimlich für Wegfort einen großen Geldproceß gewonnen: Iffland vor Iffland. Aber Karl nennt auch sein Herz ein „krankes Kind“ wie Werther und schwärmt elegisch, und Wegfort – eine berühmte Lieblingsrolle Schröder’s – arbeitet stark in den gemischten Empfindungen der auf Odoardo Galotti folgenden „Väter“ des Geniedramas. Seine rauhe Tugend ist äußerst barsch und formlos. Die unvermeidliche Narbe zeigt, daß er nicht mit sich spaßen läßt. Dem Feind geht er an die Gurgel. Einen Gefühlssturm sucht er durch hastiges Champagnertrinken zu beschwichtigen oder sich noch mehr zu erregen. Wie Lenzens Berg in einem Augenblick Gustchen „Canaille“ schimpft und ans Herz drückt, so spricht Wegfort mit thränender Wuth von seinem „Mädel“, der „Fräulein Bestie“, der „Wetterhexe“, will sie erst umhalsen und dann den „Nickel satt karbatschen“, liebkost sein „Herzenskind“ und heißt wieder mit rohen Worten die „Regiments–“ sich packen. Man sieht: S. geht nicht so weit wie die Wagner, aber weiter als die abschwächenden Nachfolger des Sturms und Drangs, in dessen Revier er 1776 persönlich getreten war. Er hielt Klinger „nach Goethe für unseren besten dramatischen Dichter“ und schleppte, ärger als Klinger, die scharf umrissenen Gestalten der „Emilia Galotti“ vor den Hohlspiegel einer falschen Genialität, die Großes zu schaffen wähnte, wo sie ungeheuerlich nachäffte: „Eulalia. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen“ (Leipzig, Weygand, 1777). Die alte, von Gellert nacherzählte, von Martini einst in „Rhynsolt und Saphira“ dramatisirte Spectatorgeschichte Rhynsolt’s und Lucia’s spickte S. mit Motiven aus der „Emilia“ und wies im Stück auf seine erste Vorlage hin, wie Lessing auf den Virginius; viel plumper natürlich. Ein schwacher Herzog, in äußerlicher Ehe lebend, stößt seine an einen elenden französischen Marquis verheirathete Maitresse von sich, um mit Hülfe des Marquis die edle junge Gräfin Eulalia Brünov, seines Kanzlers Tochter, zu genießen. Er ist ein Ettore Gonzaga, ohne dessen Geist. Der Marquis übertrumpft den Marinelli: ein ausgemergelter Lüstling und Kuppler, als Franzos im Stück die Zielscheibe antiwelscher Geniesatire, maßlos verrucht, ein teuflischer Intrigant und wie Marinelli mit Vollmacht für mehrere Eventualitäten gerüstet, auch von feiger Rachsucht gegen Brünov persönlich gehetzt. Brünov spielt Appiani- und Odoardoscenen. „Der Kanzler“ hat wenigstens seinen Stand von Grimaldi, ist übrigens ein farbloser greiser Biedermann. Eulalia, ganz keusche Liebe, bis zur Dummheit unbefangen, der Emilia innerlich nicht verwandt, sondern auf „Elise von Valberg“ vordeutend, erfüllt anfangs die Aufgabe, dem Herzog nachts im Park schwärmerische Tugendreden zu halten und ihn zu der entrüstet fliehenden Gemahlin zurückführen zu wollen. Die Marquise ist das Zerrbild der Orsina und nimmt in der Toilettenscene eingangs auch ein Restchen Marwood mit. Schon im ersten Auftritt werden alle Register des Bombasts und der Hyperbel gezogen; der witzig-tragische Stil Lessing’s erscheint mit den Ungezogenheiten einer sich überschreienden genialseinsollenden Kraftsprache aufgeblasen. Zu den „Männchen“, „Närrchen“ kommt: Wurm, Kerl, Hure, geil, Buhlbett, Windhund, Bestie, Kröte … Der Cynismus des Marquis kennt keine Schranke. Der Redeweise entspricht die vorgezeichnete Mimik, z. B. „sieht ihn starr an mit verzerrtem Gesicht, weit offenen funkelnden Augen, den Kopf weit vorausgestreckt, und knirscht“. Allerdings verdient diese Marquisin den Titel einer wahnwitzigen Furie; kein Zug der Orsina, der nicht carikirt wäre, außer der tiefsinnig bohrenden Philosophie. Die kleinsten Wendungen wie „lachen Sie doch“ kehren wieder. Schon im 1. Act gibt sie dem Herzog eine Aussicht aufs jüngste Gericht, und im 4. wird sie noch deutlicher: „Das soll, das soll! das soll dir ein Tanz werden um’s Lager bei [312] deinen Gräfinnen! das soll! ich will noch so ein paar verdammte Geister, die du hinabstürztest, aus der Hölle mit heraufschleppen, und dann wollen wir dir die Brautlieder dazu singen, und dann zusehen, ob du dich recht freuest! Sieh, so!“ „Das soll! das soll!“ erklingt aus anderem Munde wieder; und nochmals gegen Ende: „Meinen Dolch! meinen Dolch! Hu! – Hu! (brüllt vor Wuth.) Teufel! Teufel! das sollt euch ein Fest werden“ … Dies nur als Stichpröbchen aus der Masse, worin auch das „Todesurtheil“ Rotas und der beredte Hinweis auf das todte Opfer nicht fehlen. Der Orsinadolch soll auch hier in die Hand des Mannes wandern. Die Intrigue und Katastrophe ist verworren und endlich doch trotz allen Explosionen schwach. Der wegen Hochverraths eingekerkerte Graf soll sterben, oder die Gräfin sich hingeben. Er hat eine Othelloscene mit ihr. Sie aber stirbt, als der Herzog sie umfangen will, den „heiligen Selbstmord“ durch Gift. Der Herzog verflucht den Marquis. Eulalia betet für die Marquise als für ein Opfer des Fürsten und wünscht Herzog und Herzogin, aber auch Herzog und Brünov versöhnt zu sehen! So inconsequent ist diese überheizte Dramatik. Im Januar 1777, als Weygand das Stück herausgab, ärgerte sich S., weil er an Veränderungen gedacht hatte: eine zweite Favoritin gar sollte hineingebracht werden und der Titel heißen „Die Maitresse“. In Bürger’s Werken steht ein begeisterter Prolog zu einer Eulalienaufführung.

Derselbe Mann, der sich dichterisch so verirrt und im Liebesleben so wenig „mannlich an dem Steuer steht“, kann sich doch in derselben Zeit als hülfsbereiter Geschäftsführer Bürger’s praktisch und besonnen zeigen und in Münster Fürstenberg’s gewiß nicht auf bloße Nachsicht gegründete Huld festhalten, wie denn auch im Deutschen Museum ruhig und würdig der Jurist S. zu Worte kommt. Er erzwingt sich die „Consistenz“. Die Briefwechsel werden kurz abgebrochen: mit Bürger u. a., dann mit Boie, selbst mit Höpfner, der ihn doch nicht zur Poesie verführte. S. hatte 1772 plötzlich die Musik aufgegeben – nun, um 1779, verschwindet er vom litterarischen Schauplatz und macht die Vernunft zur „harten Aufseherin“ seiner „klösterlich eingeschlossenen“ Phantasie, wie er noch spät in Briefen Dialoge zwischen Kopf und Herz führt. Der empfindliche Widerstreit sollte im Stillen bleiben. Selbst die leidenschaftliche Bewunderung für Mad. Abbt trieb ihn nicht wieder auf die Bretter. Er kündigt dem Freunde Boie ausdrücklich ein zehnjähriges Verschwinden aus der Litteratur an, um dann mit einem ausgereiften nicht belletristischen, sondern historischen Werk Deutschland erbauen zu können.

Im Winter 1778/79 wurde S. zum Professor der deutschen Reichsgeschichte und des deutschen Staats- und Lehnsrechts befördert und nahm es trotz verächtlichen Ausrufen ernst mit seinem Amte. Er wollte die Geschichte philosophischer fassen und sie künstlerischer gestalten. Fürstenberg gab den Anstoß zu öffentlichen Vorträgen, denen namentlich der Adel seine Theilnahme schenkte. „Ueber die deutsche Geschichte und ihren Vortrag in öffentlichen Vorlesungen“ ist Sprickmann’s Programm von 1781 betitelt. Kein Zweifel, daß auch Möser ihn anregte. Er hat die große deutsche Geschichte nie vollendet, aber in seinem Nachlaß liegen weit gediehene Vorarbeiten und historische Darstellungen. Curator und Studenten waren mit S. höchlich zufrieden, der später seinen Sohn erster Ehe Bernd als Collegen an der Universität neben sich sah. Eine zweite Ehe scheint ihn friedlich beglückt zu haben; er spricht gern und warm von seiner Marie. Seit 1779 genoß er den langersehnten Segen einer ungetrübten geschwisterlichen Freundschaft mit Möser’s so kluger wie gefühlvoller Tochter Jenny v. Voigts, und seine nach heutiger Anschauung noch recht sehr überspannten Briefe wanderten von der Seelenschwester auch zur sentimentalen Fürstin [313] Luise von Dessau, mit der er am Eltersteine Milch getrunken hatte und die ihm nachmals außer Moosrosen vom Luisium auch gewichtigere Hülfe zuwandte. Er trat der Fürstin Galyczin und ihrem Kreise nahe, erst nur andächtig emporblickend, dann vertraut und trotz Pausen des Verkehrs ein eng zugehöriger Freund, wenn er auch Stolbergs nicht näher kam. S. war nie mit der Aufklärung gegangen und hatte 1779 den „Nathan“ völlig verworfen; aber er war doch von Hemsterhuys zu Kant’s Kritik bedächtig vorgeschritten, im Streben nur noch die „Wahrheit“ als Braut zu lieben. Er fand einen Weg, auf dem sich Philosophie und Katholicismus vereinigten. Eine ernste Schrift „Ueber die geistige Wiedergeburt“ ist 1834 aus seinem Nachlaß gedruckt worden und zeigt ihn den Overberg und Genossen verwandt, wie er denn mit dem strenggläubigen Adel auf gutem Fuße blieb. S. lebte meist zurückgezogen, der furchtbaren Hypochondrie jener Kampfjahre wol ledig, doch immer Erschütterungen des Körpers und Gemüths ausgesetzt, die sich im Hausgarten am besten stillten. 1791 wurde er Hofrath und Lehnscommissar, 1803 preußischer Regierungsrath beim Oberappellationssenat, 1811 in der Fremdherrschaft Tribunalsrichter. Die Noth der schweren Zeit hat auch sein Haus sattsam geprüft und ihn, der lang bei kargem Gehalt vom Vermögen hatte zehren müssen, trotz der ansehnlichen preußischen Zulage mit Bankerott bedroht. Er beurtheilte die politische Entwicklung mit Ruhe und ward im Gegensatze zu seinen Münsterländern ein entschiedener Preuße, so daß die Knabenbegeisterung für Friedrich den Großen nun in eine männliche Thätigkeit im Dienste Preußens ausmündet.

Weit hinter ihm lag der dichterische Sturm und Drang, wenn er auch noch 1803 bei dem plötzlichen Besuche Schönborn’s wie ein Jüngling aufflammte und solchen Genuß eine Paradiesesinsel im Ocean seines Lebens nannte. Wie S. einst überschätzte Knaben gleich Bucholz in die Litteratur eingeführt hatte, so nahm er sich wieder überschätzend des jungen Franz v. Sonnenberg an, suchte ihn zu bilden, eroberte des Donatoadichters ganze, auch lyrisch ausströmende Begeisterung (vgl. Morgenblatt 1807, Nr. 224), ohne dem jungen Brausekopf, der durch jähen Selbstmord endete, künstlerischen und menschlichen Halt leihen zu können; vergleicht er sich doch selbst 1807 einem gefangenen Tiger. Das schönste und verheißungsreichste Mentorverhältniß gewann er, der Freund der Haxthausens, zu deren Nichte Annette v. Droste-Hülshoff. Wir wissen nicht, mit welchem Interesse und Urtheil S. der classischen und romantischen Dichtung gefolgt ist aber fest steht aus ihren Briefen, daß Annette dem „lieben Vater“ S. sich geistig und gemüthlich tief verpflichtet fühlte und dem Entfernten sehnsüchtig nachschaute. S. folgte nämlich 1814 in vorgerücktem Alter einem schon 1812 ergangenen Rufe nach Breslau auf den ersten Lehrstuhl der Jurisprudenz und siedelte 1817, auf Staatsrath Schmedding’s Betrieb, als Eichhorn’s Nachfolger an die Berliner Universität über, wo er immer noch Lehrerfolg hatte und die in Breslau begonnene deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte vollendete (Hsl., 8 Bde.). Erst 1829 auf seinen Wunsch mit vollem Gehalt pensionirt, zog er wieder nach Münster, und ist in der alten Heimath am 22. Nov. 1833 gestorben. Die Familie blüht noch in Westfalen und hütet pietätvoll den Nachlaß.

Weinhold, Boie; Herbst, Voß; Strodtmann, Bürgerbriefe I. II.; Hosäus, Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Alterthumskunde, Münster 1882, Bd. 40 S. 3–49 (Briefe an Jenny v. Voigts); Liesching, Gallitzin S. 117 ff.; Hüffer, Annette v. Droste-Hülshoff 1887 (Deutsche Rundschau 1881, Bd. 26 S. 208 ff.). – Weinhold, Zeitschrift für deutsche Culturgeschichte. N. F. 1872 Bd. 1 S. 261 ff. – Notizen von Dr. Julius Wahle, der seit langem eine Monographie über S. vorbereitet und das Emmericher Familienarchiv hat benutzen dürfen.