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Die Gartenlaube (1860)/Heft 41

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1860
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 41. 1860.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Mary Kreuzer.

Aus dem deutsch-amerikanischen Leben.
Von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)

Es war ein eigenthümliches Leben, was sich von da ab auf der Farm herausbildete. Mary hatte sich schon am dritten Tage in alle kleinen Hausgeschäfte gefunden, und schien instinctmäßig die einzelnen Eigenheiten der Frau zu errathen. Sie hatte jeden kleinen Ausputz von ihrer Kleidung entfernt; um die Mahlzeiten durfte sich die Frau bald kaum mehr bekümmern, und der Eßtisch schien unter den Händen des Mädchens ein ganz neues behaglicheres Aussehen zu gewinnen, wenn es auch schwer gewesen wäre, zu sagen, worin der eigentliche Unterschied zwischen sonst und jetzt bestand. Die Frau hätte wohl mit ihrer neuen Tochter zufrieden sein müssen, die immer freundlich und jedes ihrer Worte gewärtig neben ihr waltete, und doch lag eine stille Kluft zwischen Beiden, die mit jedem Tage sich immer fühlbarer befestigte.

„Sie hat etwas an sich, für das ich kein Wort weiß, wenn ich’s nicht „vornehm“ nennen soll, das mir die rechte Freude an dem Mädchen nimmt!“ äußerte sich die Alte, als sie eine Woche nach Mary’s Ankunft sich Abends neben ihren Mann zur Ruhe legte. „Sie thut ihre Arbeit ordentlich und recht, aber dabei hat sie eine Art, als geschähe das Alles nur zum Zeitvertreib und sie dürfe sich kaum die Hände damit schmutzig machen. Sie ist freundlich und willig, aber zwischendurch sieht immer etwas Fremdes, daß man nie weiß, wie man mit ihr daran ist. Und rede ich ein lautes Wort zu ihr, wie es im Aerger wohl einmal kommt, so sieht sie mich still mit ihren großen Augen an, als hätte ich kaum das Recht, ihr etwas Unschönes zu sagen, so daß es mir oft ist, als gehöre sie eher irgendwo anders hin, als auf eine Farm im Busche!“

Kreuzer hatte sich langsam mit der Hand über das Gesicht gestrichen. „Ich denke, Jeder kann froh sein, der nicht mehr über seine Kinder zu klagen hat,“ sagte er; „mache, daß sie Zutrauen bekommt – Du hast wohl noch nicht ein einziges herzliches Wort zu ihr geredet, seit sie in’s Haus getreten ist - und sie wird auch anders werden!“

Aber es blieb, wie es gewesen, und Mutter und Tochter gingen neben einander her, die Erstere kalt und wortlos das Mädchen gewähren lassend, als wolle sie sich dadurch ein Gegengewicht für Mary’s eigenthümliche Haltung schaffen – die Letztere immer still und emsig, bis die Abendmahlzeit vorüber war; dann aber schweifte sie hinaus in’s Freie, meist von Kreuzer’s Jüngstem, dem kleinen George, begleitet, der sich vom ersten Tage an traulich an sie geschlossen hatte, und hier schien bei dem Mädchen oft im lustigen Tollen der den Tag über unterdrückte Kindersinn zum Durchbruch zu kommen. George war es auch, mit dem sie nach und nach englisch plaudern lernte, und der ihr auf diesen Wanderungen erzählte, da drüben im Walde wohne ein amerikanischer Major mit zwei Söhnen, von welchen der Eine „Advocat“ studire, und der Andere „amerikanischen Officier“ lerne.

Fast noch sonderbarer, als zwischen Mutter und Tochter hatte sich das Verhältniß zwischen der Letzteren und dem ältesten Sohne des Hauses gestaltet. Ihr eigenthümliches Wesen bei ihrem Auftreten hatte dem Burschen imponirt, und er konnte das Gefühl nicht wieder loswerden, so sehr sich auch sein Selbstbewußtsein, das noch niemals in seiner Umgebung etwas über sich anerkannt, dagegen sträubte. Er spottete über des Mädchens Eigenthümlichkeit, erst innerlich, dann mit Blicken und Mienen, und zuletzt laut. Mary hatte wohl im Anfange das Auge nach ihm gewandt, als wolle sie fragen, was sie ihm zu Leid gethan; bald indessen schien sie kein Ohr mehr für seine hingeworfenen höhnischen Worte zu haben – wenn sie aber dann oft an ihm vorüberging, als sei er gar nicht in der Welt, dann zuckte es sonderbar in seinem Gesichte, und seine Augen folgten ihr, als könne er sie von der schlanken Gestalt nicht losreißen.

Es war eines Abends, und Mary hatte sich allein nach dem Walde gewandt, als Heinrich ihr mit einem Arm voll Maiskornstengeln für die Kühe entgegenkam. Sie hatte nur einen Blick nach ihm geworfen, glaubte aber den gewöhnlichen Hohn schon um seinen Mund spielen zu sehen, und wollte eine Seitenrichtung einschlagen, um ihm nicht zu begegnen. Kaum schien er aber ihre Absicht errathen zu haben, als auch seine Last auf der Erde lag und das Mädchen sich an beiden Armen gehalten fühlte. „Darfst Du mir nicht einmal guten Abend sagen, daß Du mir aus dem Wege gehst?“ sagte er, und Mary sah in ein Paar seltsam erregter Augen. „Jetzt gib nur einen Kuß dafür, wie sich das für eine Schwester gehört!“

Mary stand einige Secunden, als wolle sie sich von der Ueberraschung erholen. „Du wirst meine Arme loslassen, Heinrich,“ sagte sie dann, während sich ein Beben in ihrer Stimme geltend machte, als unterdrücke sie mit Macht ihre innere Bewegung.

„Nicht eher, als bis Du thust, was ich will!“ erwiderte er mit einem Lachen der Befriedigung, während seine Augen im dunkeln Feuer auf des Mädchens Gesichte ruhten.

Mary wurde bleich, um ihren Mund legte sich ein Zug unbeschreiblicher Verachtung. „Ein schwaches Mädchen verhöhnen und sich an ihr vergreifen, weil sie sich nicht wehren kann, das sind Deine Heldenthaten, pfui! Zwinge mich doch,“ fuhr sie, den Kopf [642] höher haltend, fort, „und ich werde morgen so gewiß von der Farm gehen, als es für eine Waise, die arbeiten will, wohl noch einen andern Schutz geben wird!“

Er sah ihr einen Augenblick ungewiß in das blitzende Auge und ließ dann langsam seine Hände von ihren Armen gleiten.

„Ich habe Dir nichts zu Leide thun wollen, Mary,“ sagte er sichtlich herabgestimmt, „wenn Du aber meine Schwester sein willst, warum thust Du so stolz, daß es mich böse macht, und warum gehst Du mir aus dem Wege oder thust, als sähest Du mich nicht?“

Sie hielt den Blick wie im stillen Forschen auf sein Gesicht geheftet. „Soll ich Dir etwa noch freundlich für Dein höhnisches Gebahren danken?“ erwiderte sie nach einer kurzen Pause. „Was habe ich armes Mädchen Dir gethan, daß Du mir so begegnest?“

„Mary,“ sagte er eifrig, „warst Du es nicht zuerst, die mich von oben herab behandelt hat? Bist Du nicht überall mir aus dem Wege gegangen, als wäre ich für Dich nicht da – ich, Dein Bruder?“

„Du hast mich wie ein Bruder behandelt, Heinrich? Hast Du mich nicht stets verfolgt mit harten, höhnischen Worten, als ich zu Euch kam als Wildfremde – wenige Tage darauf, nachdem ich meinen armen Vater begraben und meine Seele noch wund und zerrissen war von meinem unsäglichen Unglück? Sollte ich da auf Alles das eingehen, was Du einen Spaß nennst?“ sagte sie, und mit jedem Worte klang es mehr, als mache sich eine lang unterdrückte Stimmung Luft. „Du kannst Dir wohl gar nicht denken, wie so einer Waise zu Muthe ist, und wie sie behutsam angefaßt sein will, wenn ihr nicht Alles weh thun soll, und wie sie sich verschließt, wenn sie keine Liebe findet, und jedem schlimmen Worte ängstlich aus dem Wege geht –“

„Aber ich habe Dich lieb – weiß Gott, ich habe Dich lieb!“ unterbrach sie der Bursche, auf’s Neue ihre Arme fassend. „Ich habe mich geärgert über Dein stolzes Behaben – jetzt aber mußt Du mich wieder lieb haben, Mary!“

Sie wand leicht ihre Arme aus seinen Händen. „Sei Du nur nicht böse und herzlos,“ sagte sie, als suche sie ihre eben ausgebrochene Bewegung zu unterdrücken, „und ich werde auch noch lernen, anders zu sein!“

Sie drehte sich weg und schritt dem Walde zu. Heinrich folgte ihr mit den Augen, zog dann die Stirn kraus und schlug mit der rechten Faust in die linke Hand. „Sie wird doch nicht anders, ich weiß es schon!“ sagte er und wandte sich langsam dem hingeworfenen Kühfutter wieder zu.

Von da ab stellte sich indessen zwischen Beiden ein anderes Verhältniß als bisher heraus. Blieb auch Mary ihrem Wesen im Allgemeinen treu, so schien sie doch immer einen freundlichen Blick für Heinrich zu haben, der, als könne er sich ihrem Einflusse nicht entziehen, sich ein Geschäft in ihrer Nähe machte, sobald er nur das Haus betrat, oft aber auch finster ihr nachschaute, wenn ein Zufall sie hinderte, ihn zu bemerken. Gesprochen ward wenig zwischen Beiden.

So gingen Spätsommer und Herbst mit ihren Arbeiten hin. Der alte Kreuzer, dessen Blicke oft mit großer Theilnahme auf dem Mädchen ruhten, fühlte sich unwillkürlich zu ihr hingezogen und zeigte dies ganz offen dadurch, daß er sie stets auf seinen Ausflügen nach dem benachbarten Marktflecken mitnahm und sie den dort eingetroffenen Nachbarfamilien vorstellte. Mit dem Englischen war Mary in den sechs Monaten, welche sie bereits auf der Farm verbracht, eben so wunderbar schnell vertraut geworden, als sich unter der steten Arbeit und Bewegung ihr Körper überraschend entwickelt hatte. Ihre feinen magern Glieder begannen an Fülle zu gewinnen, ihre zerbrechliche Gestalt hatte eine kräftige Elasticität angenommen und ihr Gesicht sich zu einem blühenden feinen Oval gerundet. Und sah man ihren Händen auch wohl an, daß sie die Arbeit kannten, so hatte doch selbst diese deren Zierlichkeit nur wenig Eintrag thun können.

Die erste wehe Rückerinnerung, die Mary trotz aller errungenen Selbstcontrole nicht zu überwinden vermochte, kam ihr, als schon längst der Schnee die Felder deckte und der Weihnachtsabend niederdämmerte. Seit der eingetretenen Kälte waren die sämmtlichen Hausbewohner einen großen Theil des Tages und den vollen Abend auf das Familienzimmer angewiesen, und das Mädchen hatte schwer ihre gewohnten Streifereien in’s Freie vermißt, die ihr sonst immer das rechte Gleichgewicht mit sich selbst wiedergegeben. Sie hatte Wolle spinnen lernen, hatte ihre ganze Geschicklichkeit im Nähen zusammengesucht, um der Frau bei Instandsetzung der Leih- und Hauswäsche behülflich zu sein; trotz der emsigen Arbeit aber lag es an manchem Abende wie ein Alp auf ihr, wenn der alte Kreuzer, langsam die Tabakswolken von sich blasend, schweigend im Schaukelstuhle saß und stundenlang vor sich Hinblicken konnte, ohne sich kaum einmal zu rühren; wenn Heinrich, die Stuhllehne gegen die Wand gelehnt, in lauten Tönen schnarchte, die Magd neben dem großen Kamin nickte und das trübe brennende, von der Frau selbst gegossene Talglicht die geräuschlose Arbeit in ihren und der Hausmutter Händen beleuchtete. Und als nun der Weihnachtsabend kam, ohne daß die gewohnte Ordnung sich in einer andern Weise zu ändern schien, als daß die Magd einen wilden „Turkey“ (Truthahn), den Heinrich geschossen, zu rupfen bekam und Kreuzer sich mit der Bemerkung in den Schaukelstuhl setzte, daß er morgen, um auch einmal Christmeß zu feiern, bei Zeiten in die Stadt gehen werde, und wer mit wolle, seine Festtagskleider heute noch zurechtlegen solle, da tauchten in Mary’s Seele alle frühern Bilder selig verbrachter Weihnachtsabende auf – ihres Vaters Gesicht, als er sich niedergebogen und das beschenkte Kind geküßt, trat vor sie, und auf ihr Herz begann es sich immer schwerer wie ein drückendes Gewicht zu legen, daß sie endlich meinte, ersticken zu müssen, wenn sie sich nicht ausweinen dürfe. Geräuschlos erhob sie sich und verließ das Zimmer. Neben der Kammer der Magd, im hintern Giebel des Hauses, war ihr eine kleine Stube eingeräumt worden. So lange das Haus stand, war freilich noch nie hier geheizt worden, und auch jetzt herrschte eine eisige Luft darin, welche durch den klaren hereinfallenden Mondschein fast noch kälter zu werden schien. Mary aber, die dorthin geeilt war, schien nicht darauf zu achten, setzte sich auf ihr Bett und legte das Gesicht in beide Hände. Den Kopf in das Kissen gedrückt weinte sie heftig und lange.

Als sie sich endlich wieder erhoben hatte, ging sie nach ihrem Koffer, kniete dort nieder und nahm zwischen ihrer Wäsche die wohlverwahrte Uhr ihres Vaters und dessen Handschuhe, welche er bis zum Tage seiner Krankheit getragen, heraus und drückte Beides an ihre Lippen. „Mein Vater – mein lieber Vater!“ schluchzte sie laut. Dann barg sie die Erinnerungszeichen an ihren frühern Ort, schloß den Koffer, trocknete sorgfältig ihr Gesicht und ging so lautlos, als sie gekommen, nach dem untern Zimmer zurück, wo ihre Abwesenheit kaum bemerkt worden war. Nur des alten Farmers Blick haftete lange auf ihr, als sie das verweinte Gesicht tief auf ihre Näherei bog.

Als später Mary mit einem „gute Nacht, Mutter!“ der Frau die Hand gereicht und zu dem Farmer trat, hielt dieser ihre Finger einen Augenblick fest. „Es wird morgen wenigstens eine Abwechselung geben,“ sagte er, ihr aufmunternd in die verweinten Augen sehend, „im Uebrigen soll man sich aber nicht so viel Gedanken um verlorene Dinge machen, es nimmt den Muth, Kind, und wenn man auch noch so ein tapferes Herz hat.“ Sie zwang sich ein Lächeln ab, und er legte mit einem befriedigten Kopfnicken die Hand auf ihr Haar. „Jetzt geh und verdirb Dir in der Nacht nicht den Spaß für morgen!“

Es war am Abend darauf, als Kreuzer’s Schlitten, der kaum mehr war, als ein viereckiger Kasten auf rohe, selbstgezimmerte Kufen gesetzt, aus der Stadt zurückkehrte. Konnte auch Mary, die in eine wollene Pferdedecke gehüllt neben dem Farmer saß, von großem Vergnügen, welches sie gehabt, nicht reden, so hatte doch das Neue einer amerikanischen Weihnachtsfeier, das Schießen und Tollen der Jugend auf der Straße, das Treiben der umherwohnenden Landbevölkerung, welche sich eingefunden, die zahllosen komischen Scenen, welche whiskeyselige Menschen dargestellt, sie aus dem Ueberrest ihrer trüben Stimmung gerissen.

Anders war es mit Heinrich, welcher den Vordersitz eingenommen hatte und die Pferde lenkte. Er hatte nicht allein Staat mit seiner schönen, städtisch geputzten Schwester gemacht, er hatte auch zum ersten Male den erwachsenen Burschen gespielt und öfter im Glase Bescheid gethan, als es für sein rasches Blut gut sein mochte. So ließ er denn die beiden Pferde nach Herzenslust laufen, jauchzte auf, wenn bei einer raschen Biegung der aufgerissene Schnee den Schlitten überschüttete, und erwiderte die einzelnen Worte des Alten, der ebenfalls in bester Laune zu sein schien, mit derben Witzen.

So lange die Straße zwischen freien Feldern hinführte, ging Alles vortrefflich. Der rasche Flug gewährte selbst dem Mädchen ein eigenthümliches Vergnügen; als aber der Weg nach der Farm abbog und sich nach dem Wald hinüberwand, begann erst der Schlitten [643] einzelne derbe Erschütterungen zu erhalten, wofür sich Heinrich an den Pferden rächen zu müssen glaubte. Aber kaum fünf Minuten darauf flog das Gefährt gegen einen Baumstumpf, daß die getroffene Kufe wie ein Rohr in Stücke barst und Mary es nur der breiten Basis des Farmers, gegen welchen sie fiel, zu danken hatte, daß sie nicht in den Schnee hinaus flog. Mit einem Satze war sie aus ihrer Decke heraus und auf den Boden gelangt; Heinrich folgte langsam. „Jetzt, Vater, schimpfe nicht,“ sagte der letztere gelassen, „es ist nur einmal Christmeß im Jahre, und an dem Rumpelkasten hier ist auch nichts gelegen!“

Der Alte brummte ein paar unverständliche Worte, schien aber die Richtigkeit des aufgestellten Satzes anzuerkennen, drückte dem Burschen die Zügel in die Hand und begann den angerichteten Schaden zu untersuchen. „Hier ist nichts zu machen,“ sagte er nach einer kurzen Pause, „als ein paar junge Bäume zu holen und den Kasten darauf heimzuschleppen, so gut es geht. Gib die Pferde her und lauf nach dem Walde.“

Heinrich warf einen Blick nach der abgebrochenen Kufe und ging durch den Schnee davon. Kreuzer aber beruhigte die noch immer aufgeregten Thiere und sah dann nach dem Mädchen, die mit ihren dünnen Festtags-Schuhen den Schnee stampfte, um sich zu erwärmen. „Steig wieder in das Stroh hinein, bis der Heinrich zurückkommt!“ rief er ihr zu; seine nächste Aufmerksamkeit aber ward durch einen in ihrem Rücken rasch herankommenden eleganten Schlitten in Anspruch genommen, dessen Führer, kaum daß er den Unfall wahrgenommen haben konnte, das Pferd anhielt.

„Halloh, Mr. Kreuzer!“ klang es in englischer Sprache, „Schaden gelitten?“

„Nichts Besonderes, nur ein Christmeß-Zufall!“ erwiderte der Angerufene mit einer eigenen Kürze, nachdem er den Frager erkannt zu haben schien.

„Soll ich Ihnen helfen?“ rief der Andere und machte Anstalt aus dem Schlitten zu steigen.

„Ist nirgends nothwendig, Sir!“ sagte Kreuzer in derselben kurzen Weise, wie sie ihm sonst nie eigen war; „aber warten Sie!“ unterbrach er sich in einer plötzlichen Aenderung des Tons, „wenn Sie die junge Lady hier nach meinem Hause mitnehmen wollen, so wird es gut sein; ich weiß sonst nicht, wie lange sie hier wird im Schnee stehen müssen!“

Mary hatte bei dem ersten Klänge der jugendlichen Stimme den Kopf nach dem Fremden gehoben, und es ward ihr plötzlich, als ginge ein stilles, klares Licht in ihr auf. Trotz des weiten Rockes, welcher den Herangekommenen umhüllte, und dessen großer Mütze aus feinem Pelze hatte sie den jungen Amerikaner wiedererkannt, welcher ihr den ersten Morgengruß nach ihrer Ankunft geboten. Ohne sich Zeit zu einem Worte zu nehmen, war er jetzt von seinem Sitze gesprungen, und ein Lächeln angenehmer Ueberraschung glänzte in seinem Gesichte auf, als er herantretend die Züge des Mädchens zu unterscheiden vermochte.

„Sage der Mutter, was hier los ist, und daß uns beim Heimkommen ein heißer Kaffee gut thun würde!“ rief Kreuzer deutsch, als der junge Mensch seine Hand an Mary’s Arm legte, um sie in den Schlitten zu heben; diese aber hatte bei des letzteren Lächeln an ihre beiderseitige frühere Sprachverlegenheit denken müssen und rief jetzt englisch zurück: „Laß doch lieber den Schlitten bis morgen liegen, Vater, und reite mit Heinrich nach Hause!“

„Wird auch wohl so werden, da wir Dich jetzt los sind!“ antwortete der Alte in wiedergewonnener Laune; das Mädchen war mit einem kurzen Schwunge auf dem ihr bestimmten Platze, und in der nächsten Minute glitt das leichte Gefährt, sichtlich von kundiger Hand geleitet, davon.

Mary fühlte ein elastisches Sitzkissen unter sich, ihre Füße standen auf weichen Buffalofellen, und eine mit Pelz gefütterte Schlittendecke zog sich warm über ihre Kniee herauf – ein Gefühl von Behaglichkeit fing an sie zu durchrieseln, das sie an frühere Zeiten mahnte, als ihre Mutter noch lebte und ihr Vater noch der reichbesoldete Staatsbeamte war, und doch scheute sie sich jetzt fast, sich der wohlthuenden Empfindung hinzugeben.

„Sprachen Sie wirklich noch kein Englisch, Miß, als ich Sie zum ersten Mal sah?“ begann ihr Begleiter, sobald das Pferd einen ruhigen Trab angenommen hatte, und warf einen Blick in ihr Gesicht, das angehaucht von der kalten Luft wie eine Mairose aus dem dunkeln kleinen Sammthute hervorsah.

Sie sah ihn mit ihrem Lächeln an, das von so wunderbarer Helle sein konnte. „Ich war ja erst am Tage zuvor von Deutschland hier angekommen,“ sagte sie, „ich verstand wohl ein klein wenig französisch, habe aber nie vorher an das Englische gedacht!“

Ein Stoß, welchen der Schlitten erhielt, zwang ihn, seine Aufmerksamkeit auf den Weg zu lenken, und erst nach einer Weile wandte er den Kopf wieder nach ihr. „Es war eine ganz merkwürdige Ueberraschung, als ich Sie damals so unerwartet sah,“ begann er, „– aber wollen wir uns nicht selbst miteinander bekannt machen?“ fuhr er mit einem Lachen fort, als wolle er sich damit von einer inneren Befangenheit befreien. „Ich heiße James Osborne!“

„Und ich heiße Mary Kreuzer!“ lachte das Mädchen. „Kannten Sie diesen Namen in der That noch nicht?“

„Ich wußte ihn nicht, Miß,“ erwiderte er, die Augen wieder dem Pferde zuwendend. „Ich bin wohl an den drei Morgen nach unserm ersten Begegnen, die ich noch im elterlichen Hause vollbrachte, wieder Eichhörnchenschießen gewesen, bekam aber nichts von Ihnen zu sehen – und so bin ich erst gestern wieder nach Hause gekommen, um die Weihnachtstage hier zu verbringen. Sie sind eine Tochter oder eine Verwandte von Mister Kreuzer?“ fuhr er fort, den Blick von Neuem auf ihr Gesicht heftend.

Sie schüttelte leise den Kopf. „Ich bin nur angenommenes Kind,“ sagte sie, „meine Eltern führten einen andern Namen, sie sind aber Beide todt.“

„Aber wenn Sie mit Kreuzer nicht verwandt sind, wie kommen Sie zu uns in den Hinterwald?“ fragte er angeregt, „ich sah doch auf den ersten Blick, daß Sie nicht unter die Leute gehören, zwischen denen Sie leben; – ich meine damit nicht,“ setzte er, wie sich besinnend, hinzu, „daß Mr. Kreuzer und seine Frau nicht so brav wären, als sich nur erwarten läßt –“

„Ich weiß schon, was Sie sagen wollen,“ unterbrach sie ihn, „aber ich denke nicht, daß ich etwas verliere, wenn ich tüchtig wirthschaften lerne. Was ich vielleicht sonst noch weiß, behalte ich doch, und dazu muß ich es ja als ein großes Glück betrachten, als Tochter des Hauses gehalten zu werden, für das ich nicht genug danken kann!“ Und damit begann sie zu erzählen, wie sie mit ihrem Vater nach New-York gekommen, von seiner Krankheit und seinem Tode; es war ihr nicht, als säße sie neben einem fremden Menschen, sondern als müßten sie Beide sich schon längst gekannt haben; erzählte dann, wie sie in Kreuzers Haus gekommen, ging aber über alle Kämpfe, welche sie im Anfange zu bestehen gehabt, hinweg und sprach nur von der Freundlichkeit des alten Farmers; – und der junge Mann warf hier und da eine Frage über ihre früheren Verhältnisse in Deutschland dazwischen, ließ oft lange den Blick in ihrem Auge ruhen und schien nur an das, was sie sprach, zu denken, bis ein Stoß des unebenen Wegs ihn wieder an seine Lenkerpflicht mahnte. Die Farm lag endlich vor Beiden, ehe Mary nur recht daran glauben wollte, und als ihr Begleiter sie an dem Thore der Einzäunung aus dem Schlitten hob und die Hoffnung aussprach, sie noch einmal zu sehen, ehe er die Farm seiner Eltern wieder verlasse, reichte sie ihm mit einer Vertraulichkeit die Hand, als könne das nach der gehabten Unterhaltung kaum anders sein.

Die Frau saß, als Mary in die Stube trat, mit George am Tische und blätterte in dessen Schulbüchern, während der Knabe ihr eifrig die einzelnen Bilder darin erklärte. Sie hörte ruhig den Bericht des Mädchens an, sah aber groß auf, als diese den Namen ihres Begleiters nannte. „Und Vater hat selbst gesagt, er soll Dich nach Hause bringen?“ fragte sie.

„Wie soll ich denn sonst dazu gekommen sein, Mutter?“ war die Antwort, bei welcher aber Mary das Blut in ihr Gesicht steigen fühlte, ohne daß sie sich doch eine Ursache dafür angeben konnte.

Mit einem kurzen Kopfschütteln wandte die Frau den Blick wieder nach ihrer früheren Beschäftigung.

Mary eilte nach ihrem Zimmer, entledigte sich ihrer Umhüllungen und war bald am Küchenofen beschäftigt; sie fühlte sich so leicht wie noch nie, seit sie sich auf der Farm befand, und war, froh, mit sich allein sein zu können. Es war das trübste Weihnachtsfest, das sie bis jetzt erlebt; dennoch leuchtete es in ihrer Seele wie heller, beglückender Weihnachtsschimmer, und sie gab sich der wohlthuenden Stimmung hin, ohne zu fragen, woher sie ihr gekommen.

Sie hatte kaum den Blechkessel mit dem dampfenden Kaffee vom Ofen gehoben, als sie auch die beiden Zurückgebliebenen mit den Pferden ankommen hörte. Eilig ordnete sie das nothwendige Geschirr und machte sich damit auf den Weg nach dem Vorderzimmer, [644] damit den Ankommenden gleich beim Eintritt der wärmende Trank entgegendufte; der alte Farmer war ihr aber bereits zuvorgekommen, und hart hinter ihr trat Heinrich ein. Keiner von Beiden schien sich in guter Laune zu befinden, denn mit einern einsylbigen Gruß legte Kreuzer seinen Hut bei Seite, während der Bursche einen trotzigen Blick über das Mädchen laufen ließ und sich dann wortlos auf einen Stuhl warf.

Die Frau schien die Unfreundlichkeit Beider kaum zu bemerken und hob erst eine Weile nach deren Eintritt in ihrer kalten Weise den Kopf. „Ist es wirklich so, Kreuzer, daß Du das Mädchen mit einem von den Osborne’s heimgeschickt hast?“ fragte sie.

„Das ist so, Mutter!“ erwiderte der Sohn an Stelle des Vaters, „und ich habe schon auf dem Wege gesagt, was ich davon halte. Wenn die Mary zur Familie gehört, so soll sie kein Wort mit den Osborne’s reden; mit James, dem hochmüthigen, dummen Jungen, aber am allerwenigsten!“

„Wie ist das, Kreuzer?“ fragte die Frau, streng zu dem Alten aufsehend.

„Das ist gerade so, wie es ist!“ erwiderte der Farmer, ruhig seine Pfeife vom Kaminsimse nehmend, „und wenn Jungen erst ihren Vater meistern wollen und wenn sie darin von ihrer Mutter unterstützt werden, anstatt eins auf die Zähne zu bekommen, so thut unsereins am Besten, schreien zu lassen, was schreit, und seinen Weg allein zu gehen!“

Die Frau warf einen forschenden Blick in das Gesicht des Alten, der, ohne eine Erregung kund zu geben, sich seine Pfeife anbrannte. „Ich habe meinethalber gefragt,“ sagte sie dann, „und kaum gehört, was der Heinrich gesprochen!“

„Dann war es jetzt am allerwenigsten die Zeit zu fragen,“ erwiderte Kreuzer. „Weil es aber einmal so weit ist, so will ich ein paar Worte sagen, damit wenigstens das Mädchen weiß, woran es ist, und nicht noch meint, sie habe selber ein Verbrechen begangen. Gib mir eine Tasse Kaffee her, Mary, er riecht ganz gut!“

Mary hatte dem kurzen Gespräche mit einer Art heimlicher Angst zugehört, der ganze Weihnachtsschimmer in ihr war davor erloschen, und auch die letzten Worte des Farmers vermochten nicht, ein Gefühl von Druck, das plötzlich über sie gekommen, von ihr zu nehmen. Kreuzer hielt ihre Hand fest, als sie ihm den Kaffee brachte, „’s ist da eine alte Geschichte zwischen uns und den Osborne’s, die Du jetzt erfahren sollst,“ sagte er; „aber wenn ich auch dem Major nicht vergessen kann und darf, was er gegen mich gethan, so wäre es doch vielleicht für eine Frau und die jungen Leute besser gehandelt, wenn sie hülfen, daß unter ihnen begraben würde, was einmal geschehen ist, als daß die Feindschaft immer von Neuem frisch gemacht und weiter fortgepflanzt wird.“

„Sie haben erst zu uns zu kommen, wenn von Vergessen geredet werden soll!“ warf die Frau mit finster zusammengezogenen Augen ein.

„Du weißt noch nicht viel von den Amerikanern, Mädchen,“ fuhr der Alte fort, als habe er den Einwurf nicht gehört, „darum muß ich Dir sagen, daß ein Theil davon umgänglichere Leute sind, als wir Deutschen es gegen Fremde vielleicht jemals werden können, daß aber auch ein anderer Theil, in denen das alte englische Adelsblut steckt, den eingewanderten Bauer und Arbeiter wie einen ganz andern, geringeren Menschenschlag ansieht, dem sie am liebsten das wenigste Recht in diesem Lande gäben und mit dem sie nirgends etwas zu thun haben wollen. Und zu dieser Sorte gehörte – ’s ist nun schon ein Jahrer zehn oder länger her – der Major Osborne. Aber er bekam doch mit dem Michel Kreuzer, der gerade eingewandert war und sein gekauftes Land baar bezahlt hatte, zu thun, und er hat hart daran beißen müssen. Die Landvermessungen hier herum waren alle längst gemacht, aber es mußte ein gutes Theil Unordnung darin herrschen, denn der Major behauptete, der größte Theil von dem wilden Lande, das ich gekauft, gehöre zu seiner Farm, und als ich mein erstes Blockhaus aufrichten wollte, kam er mit seinen Knechten und drohte mich niederzuschießen wie einen tollen Hund, wenn ich nicht mache, daß ich fortkomme. Es waren noch zwei Deutsche und ein Amerikaner aus der Nachbarschaft bei mir, die mir helfen wollten, das Haus aufzurichten; sie redeten mir Alle ab, mich mit Gewalt zu widersetzen; der Major habe Anhänger rings herum, und ich könne nicht gegen ihn aufkommen, ich solle mein Recht vor Gericht suchen. Der Amerikaner brachte mich auch zu einem Advocaten, der sein Geschäft wohl verstehen mochte, aber aus der Sache auch die besten Pfeifen für sich selber schnitt. Ein Jahr nach unserer Ankunft hier lagen wir allesammt noch immer in der „Tavern“ am „Point“; das Land war uns endlich zugesprochen, aber unser Geld war aufgezehrt und zumeist für Advocaten-Gebühr darauf gegangen, wir kamen in Noth, und keins von uns wußte, was werden solle. Da drängte uns der Advocat zu einer Entschädigungsklage gegen den Major, wofür er nichts haben wolle, bis wir selbst unsere Entschädigung hätten. Die Sache ging los, und es mußte wohl ordentliches Feuer dahinter gemacht worden sein, denn drei Wochen darauf ließ mir der Major sagen, ich solle zu ihm kommen, er wolle sich mit mir vergleichen. Ich ließ ihm melden, er habe gerade so weit zu mir, als ich zu ihm; im Uebrigen aber überlasse ich die Sache meinem Advocaten. Es dauerte noch zwei Monate, da hatte ich mein früheres Geld wieder und auch den Advocaten bezahlt; der Major aber ließ mir wissen, wenn sich Eins von uns auf seinem Lande blicken ließe, werde er ihm mit einer Kugel den Weg weisen. Das war freilich kein Gruß, um gute Nachbarschaft zu beginnen, und zudem konnte uns kein Geld die Sorgen und die schlaflosen Nächte, die wir ausgehalten, bezahlen. Ich hatte bis dahin noch nicht gewußt, was es heißt, Jemand von Herzensgrunde hassen – damals aber lernte ich es.

„Wir fingen unsere Arbeiten hier an, und wenn es sich zufällig traf, daß ich dem Major auf der Straße begegnete und er mit einem so kalten Gesichte gerade aussah, als habe er mich mit keinem Blicke bemerkt, hätte ich ihm oft die Fäuste unter die Nase halten mögen; da das aber zu nichts helfen konnte, als dem Manne das Recht zu einer Klage gegen mich zu geben, vielleicht die größte Freude, die ich ihm hätte machen können, so ließ ich es unterwegs. Desto tiefer aber grub sich der Groll in mir ein, und Mutter hier, die dem Heinrich jeden Tag erzählte, weshalb er niemals ein Wort mit dem Jungen des Majors reden dürfe, war auch nicht faul, mir das Herz immer noch bitterer zu machen – sie hatte während des langen Jahres voll Sorgen vielleicht auch noch mehr gelitten, als ich selber.

„Das ist aber, wie gesagt, länger als zehn Jahre her. Währenddem siedelten sich mehr Deutsche hier herum an, und die Amerikaner fingen an zu merken, daß wir ihnen über den Kopf wuchsen. Ich hatte den Rest von meinem Vermögen aus Deutschland bekommen und konnte bald ordentlich in’s Zeug gehen, so daß ich mit der Zeit so viel unter den Deutschen galt, als der Major unter seinen Amerikanern, und wenn einmal eine Wahl vor der Thür stand, kam mancher von dessen Freunden zu mir und meinte, ich solle meinen Groll nicht andern Leuten entgelten lassen, die, wenn sie auch Amerikaner wären, ihn nicht verdient hätten. Ich wußte, daß jetzt der Major noch bitterer gestraft wurde, als damals, wo er Proceßkosten und Entschädigung hatte zahlen müssen – und wenn ich ihm auch keinen Finger aus Gefälligkeit hätte hinhalten mögen, so kam mir doch oft genug der Gedanke, daß es unrecht sei, die Feindschaft der Eltern auch auf die Kinder zu übertragen, von denen noch keins weiß, wie es einmal das andere brauchen kann – kam mir besonders, wenn ich die Jungen vom Major thun sah, als wüßten sie von dem alten Streite kein Wort –“

„Du magst thun, wie Du willst, Vater, und ich werde es auch thun!“ unterbrach Heinrich den Sprechenden. „Mir soll Keins von den Osborne’s guten Tag zu bieten haben, und meine Meinung ist, wer sich von den Jungen einen Gefallen thun läßt, der hat auch schon dem Alten die Hand geboten!“

Kreuzer legte langsam die Pfeife weg, erhob sich und schritt auf den Burschen los. „Und wenn ich nun dem Alten die Hand bieten wollte,“ sagte er mit gerunzelter Stirn, Heinrichs Arm fassend, „willst Du Kieck in die Welt, der sich noch mit Kornmehl-Papp füttern ließ, als Deine Eltern ihr Leiden durchmachten, mir etwa sagen, was ich zu thun habe? Gefällt Dir das nicht, was Dein Vater für recht findet, so magst Du zusehen, ob es Dir bei andern Leuten besser behagt, es steht Dir frei –“

„Kreuzer, jetzt habe ich auch ein Wort darein zu sprechen!“ erhob sich die Frau.

„Ich sage, Frau, es wird jetzt nichts mehr über die Sache geredet!“ erwiderte Kreuzer, sich langsam herumdrehend. „Was die Eltern mit einander haben, mögen sie unter sich abthun, aber nicht vor den Kindern, und so lange ich noch hier im Hause lebe, sollen meine Jungen mir keine Vorschriften machen, und wäre auch die Mutter wirklich so unverständig, daß sie sich mit ihnen gegen den Vater verbündete!“ Es war ein ungewöhnlich heller Ton, welcher in des Alten letzten Worten klang, und die Bedeutung desselben schien der Mutter wie dem Sohne hinlänglich bekannt; keine Sylbe [645]

Ludwig Uhland.


folgte als Erwiderung; Kreuzer aber schritt ruhig nach dem Tische zurück, trank seinen Kaffee aus und brannte dann seine Pfeife wieder an. „Ich denke, es ist Zeit, zu Bette zu gehen,“ sagte er nach der kurzen Pause, „und was ich noch sagen wollte,“ wandte er sich an Mary, „wenn es auch nicht nothwendig ist, daß Du Dich groß um die Osborne’s bekümmerst, Kind, so hast doch Du die wenigste Ursache, ihnen aus dem Wege zu gehen, wo Du sie etwa treffen solltest!“

Heinrich ließ eine Art brummenden Laut hören, erhob sich von seinem Stuhle und ging geräuschvoll nach der Thür, die Frau wandte sich in dem Tone unterdrückten Aergers nach dem kleinen George und befahl ihm, seinem Bruder zu folgen, und als Mary an Sie herantrat, um zu fragen, ob noch etwas für sie zu besorgen sei, traf das Mädchen nur auf ein unbewegliches Gesicht, ohne daß ihr eine Antwort wurde. Leise stellte sie das Kaffeegeschirr zusammen und verließ damit das Zimmer, um ebenfalls ihr Bett zu suchen. Lange aber lag sie hier mit offenen Augen im trüben Sinnen, was die Zukunft in diesem Hause wohl für sie bringen könne. Als sie endlich mit einem Lächeln, das nichts mehr von Trübsal erzählte, einschlief, waren es die letzten Worte des Farmers, die sie in ihre Träume begleiteten: „Du hast die wenigste Ursache, den Osborne’s aus dem Wege zu gehen, wo Du sie etwa treffen solltest!“

(Fortsetzung folgt.)
[646]
Ein deutscher Sänger.
(Mit Abbildung.)

     „Singe, wem Gesang gegeben
In dem deutschen Dichterwald!
Das ist Freude, das ist Leben,
Wenn’s von allen Zweigen schallt.“       Uhland.

Sei gegrüßt, Württemberg, du freundliches Hügelland, reich an Naturschönheiten und herrlichen fruchtbaren Thälern! Wie lieblich lächeln uns deine reichen Fluren, deine üppigen Weingärten entgegen! Wie winken uns traulich die herrlichen Wälder, die deine Berge krönen; wie anziehend flüstern deine Burgen von alten gewaltigen Zeiten, während deine großen und reinlichen Dörfer und deine vielen gewerbreichen Städte und Städtchen von der biedern Einfachheit und dem Fleiße deiner Bewohner erzählen! Du bist so recht ein Land der Romantik und der Poesie, und kein Wunder ist es, wenn einer deiner wackersten Sänger uns so recht aus vollem Herzen zuruft:

„Singe, wem Gesang gegeben
In dem deutschen Dichterwald!
Das ist Freude, das ist Leben,
Wenn’s von allen Zweigen schallt!“

Und wahrlich! in Schwaben ist schon manch’ herrlich Lied angeschlagen worden und hat hinausgeklungen über alle deutsche Gauen und sein freudiges Echo gefunden in allen deutschen Herzen! Standen hier doch die Wiegen eines Wieland, Schiller, Uhland, Schwab, Kerner, Hauff, Pfizer, Mörike. Schenkten diese prächtigen Gauen dem deutschen Vaterlande doch schon so viele bedeutende Männer wie: Spittler, Moser, Paulus, Strauß, Schelling, Hegel, Danneker etc. In der That erhob sich denn auch hier eine ganze Dichterschule, die „Schwäbische Dichterschule“ genannt, auf die wir mit gerechtem Stolze blicken dürfen.

Was den Inhalt dieser schwäbischen Poesie betrifft, so waren es zunächst die landschaftliche Natur, die sich ja im schönen Schwabenlande so reizend und so reich entfaltet, und die Gemüthsstimmungen, welche durch die Einwirkungen der Naturschönheit hervorgerufen worden, die in musikalisch innigen Liederklängen ausathmeten. Das einfache kindliche Gemüth dieser schwäbischen Sänger vermied jedes herausfordernde Virtuosenthum der Empfindung, alle kühnen Griffe und schwindelnden Probleme des Gedankens; es war ganz Hingabe, Sinnigkeit, Innigkeit und Naturandacht. So ward – wie Justinus Kerner selbst sagt – die Natur die Meisterin der schwäbischen Dichterschule. Aber die schwäbischen Dichter unterscheiden sich nicht allein durch die Reinheit ihrer Naturauschauung von den Romantikern, sondern auch durch die schlichte und klare Auffassung des Mittelalters, das sie in ihren Romanzen und Balladen verherrlichen. Sie rufen hier meist schöne und doch naturwüchsige Gestalten herauf; es sind nicht Fouqué’s sentimentale Raufbolde, nicht Brentano’s schwarzbärtige Zauberer, nicht Tieck’s ironische Purzelmännchen im Harnische, es sind Menschen mit edler, warmer Empfindung, gültig für alle Zeiten und allen Zeiten verständlich. Auch sucht diese Poesie nicht ängstlich jede Berührung mit der Gegenwart zu vermeiden, sondern proclamirt in energischer Form den frischen, kräftigen Freiheitssinn der Zeit.

An der Spitze dieser „schwäbischen Dichterschule“ steht nun der wackere Ludwig Uhland, Deutschland längst bekannt durch seine trefflichen Poesien, wie durch seine politische Gesinnungstüchtigkeit. Johann Ludwig Uhland, dessen nach einer wohlgelungenen Photographie gefertigtes Portrait wir hier geben, wurde am 26. April 1783 zu Tübingen geboren. Schon sein Großvater, Ludwig Joseph, ein vielseitig gebildeter Mann und einer der ausgezeichnetsten damaligen Theologen, war hier ansässig gewesen und bekleidete seit 1777 das Amt eines Professors der Geschichte an der dortigen Universität, während Uhland’s Vater im Laufe der Zeit die Stelle eines Universitäts-Secretair einnahm.

Schlicht und einfach, wie des Kindes Statur und Wesen, war auch die Erziehung, die es im elterlichen Hause genoß; aber es fehlte hier wie dort nicht an jener stillen Gediegenheit, die Uhland für sein ganzes Leben auszeichnete. Uhland bildete sich auf der gelehrten Schule und Universität seiner Vaterstadt, wo mit ihm zugleich und in freundschaftlichen Verhältnissen Justinus Kerner und – in dem Winter 1808 – auch Varnhagen von Ense studirten. Varnhagen erinnert sich noch in seinem Alter mit Freuden an dies, wenn auch nur kurze, Zusammenleben. „Es waren zwei liebe, herrliche Menschen,“ sagt er von Uhland und Kerner, „echte ursprüngliche Seelen, reich begabt mit innerem Leben und äußerem Talent.“

Uhland, damals noch wenig bekannt, hatte im Stillen schon manch hübsches Gedicht in tief bewegter Seele empfangen und Einzelnes auch in den Musenalmanachen von Leo von Seckendorf veröffentlicht. Kerner brachte dem gemeinsamen Freunde Varnhagen ein ganzes Päckchen derselben. Da war es Varnhagen, als tauche seine Seele in frische Dichtungsfluth! Er fand Uhland’s Lieder „Goetheisch“, d. h. nicht Goethen nachgeahmt, sondern in gleichem Werthe mit dessen Liedern: eben so wahr und so rein, so frisch und lieb! Besonders gefiel ihm, daß sich Uhland nie mit Worten und Redensarten befaßte, sondern nur das Gefühl und die Anschauung sprechen ließ. Natürlich war dadurch der Ausdruck immer echt. Die Natur, die ihn umgab – und die ja namentlich um Tübingen herum so schön und lieblich ist –, die Vorzeit, deren Sagen er in seinem dichterischen Gemüthe leise verhallen hörte, bezeichneten schon damals den Kreis seiner Dichtungen. Dennoch wurzelte schon der Jüngling mit kräftigem Geiste in seiner Zeit, umfaßte die ganze Bildung derselben, und war somit, der Auffassung und Wirkung nach, durchaus modern. Vaterlands- und Freiheitsliebe durchströmten ihn und machten ihn somit Varnhagen doppelt lieb und werth.

Aus jener Zeit klingt uns „des Knaben Berglied“ herüber:

„Und wann die Sturmglock’ einst erschallt,
Manch Feuer auf den Bergen wallt,
Dann steig’ ich nieder, tret’ in’s Glied,
Und schwing’ mein Schwert, und sing’ mein Lied:
Ich bin der Knab’ vom Berge!“

Auch „die drei Lieder“ stammen aus jener Zeit und manch ander wackeres Gedicht.

Merkwürdiger Weise entsprach aber, selbst in jenen schönen Jünglingstagen, das Wesen Uhland’s und sein Aeußeres keineswegs dem so bedeutenden Inneren. Die äußere Erscheinung kann nicht anders, als eine in der That gewöhnliche genannt werden, und dabei war Uhland unzugänglich und blieb es für sein Leben. Eine dem Dichter sehr nahestehende liebe Dame hat ihn sehr richtig mit den Worten portraitirt: „Uhland ist wie eine Nachtigall, man muß ihn nur singen hören, aber nicht sehen.“ „Umgang,“ sagt Varnhagen von Ense, „hab’ ich nicht viel mit ihm, und nur durch Kerner’s Vermittlung, denn er ist der entschlossenste, hartnäckigste Schweiger, der mir noch vorgekommen! Keine Verlegenheit, keine Angst wirkt auf ihn, er wartet es ab, was daraus werden möge, und schweigt. Redet er aber einmal, so ist, was er sagt, gediegen, klar, zweckmäßig und möglichst kurz; ohne alle Absicht und Ziererei ist es so, aus freier Natur heraus. Ist das nicht schön? Und so ist der ganze Mensch! Seine Redlichkeit, Hochherzigkeit und Treue preist Jeder, der ihn kennt, als unerschütterlich und probehaltig. Er wird nächstens die Universität verlassen und eine Reise nach Paris unternehmen. Er ist im Ganzen nicht rauh und herb, aber die Franzosen werden ihn doch nicht glätten und noch weniger gesprächig machen.“

So urtheilte 1808 Varnhagen über Uhland, und Uhland’s ganzes Leben hat dies Urtheil bestätigt.

Noch in demselben Jahre wurde Uhland Advocat und bald darauf Doctor der Rechte. Jetzt führte er auch die Reise nach Paris aus, woselbst er auf der königlichen Bibliothek die vorhandenen Manuskripte des Mittelalters fleißig studirte. Früchte dieser mühevollen, aber mit erstaunlicher Gründlichkeit betriebenen Arbeit bot Uhland der Welt in Uebersetzungen altfranzösischer Gedichte. Sie finden sich in der zweiten Auflage seiner Gedichtsammlung. Aber in Paris war seines Bleibens nicht. Uhland kehrte schon 1812 nach Stuttgart zurück, wo er eine Zeit lang im Bureau des Justizministeriums arbeitete. Da kamen die welterschütternden Jahre 1813 bis 1815 mit ihren Stürmen und Wettern heran; wie hätten sie an einem so durchaus deutschen, edlen und freisinnigen Manne, wie Uhland, ohne den tiefsten, gewaltigsten Eindruck vorüber gehen können? Wie ein Riese richtete sich sein Geist empor, die Lieder der Liebe, die Huldigungen der Natur verstummten, und wie einen kecken Trompetenruf schmetterte er sein „Vorwärts!“ [647] hinaus. Uhland schloß sich jetzt in seinen patriotischen Gedichten den Sängern der Befreiungskriege an.

Hiermit aber war auch die Saite angeschlagen, die den Grundton seines Lebens austönen sollte: Uhland trat als einer der beharrlichsten Kämpfer für „das alte, gute Recht“ auf, unmittelbar an die kurzen, schlaghaften Kampfeshymnen reihte sich die Forderung der „Volksrechte“, die mit majestätischem Orgelklange im Octobergesange einherbraust:

„Wenn heut ein Geist herniederstiege,
Zugleich ein Sänger und ein Held,
Ein solcher, der im heil’gen Kriege
Gefallen auf dem Siegesfeld:
Der sänge wohl auf deutscher Erde
Ein scharfes Lied, wie Schwerterstreich,
Nicht so, wie ich es künden werde,
Nein, himmelskräftig, donnergleich.“

Gewaltig hallten diese Klänge durch ganz Deutschland wieder, und wahrlich, sie sind in den Herzen der Deutschen noch nicht verklungen! An Uhland’s Gedichten hob und entflammte sich der Patriotismus des Volkes, kräftigte sich der gute Sinn der Volksvertreter. Ruft diesen doch der Dichter zu:

„Tadeln euch die Ueberweisen,
Die um eigne Sonnen kreisen,
Haltet fester nur am Echten,
Alterprobten, einfach Rechten.“
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„Und wie man aus versunknen Städten
Erhab’ne Götterbilder gräbt,
So ist manch’ heilig Recht zu retten,
Das unter wüsten Trümmern lebt.“

Daß Uhland’s Begriff vom „alten, guten Recht“ ein für unsere Zeit etwas sehr eingeengter war, ist nicht zu leugnen. „Dies alte Recht“, sagt der schon genannte Literarhistoriker in Beziehung auf Uhland, „soll Öffentlichkeit der Gerichte, mäßige Steuern, Schutz der Wissenschaft, allgemeine Wehrberechtigung der Freien und Freizügigkeit wiederbringen. Diese etwas schwerwuchtigen politischen Begriffe hat Uhland in ein sehr graziöses poetisches Flügelkleid gehüllt, so daß man sie kaum wiedererkennt. In Wahrheit ist aber diese Begeisterung für das gute alte Recht, dies Zurückgehen auf frühere Zustände, nur lyrische Politik … eine Politik des Gemüthes. Die Vernunft würde solche Ansprüche nicht auf früheren Bestand, sondern auf ihre innere Berechtigung gründen. Das gute alte Recht in Bausch und Bogen würde auch Uhland nicht zurückwünschen können.“

Wie dem aber auch sein mag, die edle Absicht des Mannes darf so wenig verkannt werden, wie sein bedeutendes Wirken in den Kammern. Als nämlich König Friedrich von Württemberg 1815 die Stände zusammenrief, um dem Lande eine constitutionelle Verfassung zu geben, trat auch Uhland in die Reihe der Vertheidiger der Rechte und Freiheiten des Vaterlandes. In Folge dessen ward er 1819 von dem Oberamte Tübingen und 1820 von seiner Vaterstadt zum Mitglied der Ständeversammlung gewählt. Uhland gab sich diesem Amte mit ganzer voller Seele hin; ja der Gedanke einer würdigen und thatkräftigen Vertretung des Volkes durchdrang ihn so gewaltig, nahm ihn so vollständig in Anspruch, daß er – nachdem er 1829 außerordentlicher Professor der deutschen Sprache an der Universität Tübingen geworden war – bald darauf diese Stelle wieder niederlegte, um seinen Pflichten als Abgeordneter ganz leben zu können.

Hier nun entfaltete sich denn auch die Hauptthätigkeit seines Lebens. Besonders hervorragend war sein Wirken auf dem Landtage von 1821 bei der Aufhebung des unseligen „Schreiberinstitutes“ in Württemberg. Uhland vor Anderen erzielte die Beschlüsse, daß die Verwaltungsgeschäfte der Gemeinden und Oberamtsdistricte von den Rechtsgeschäften getrennt und beide nicht mehr durch eine Person besorgt, daß die Justizbeamten auf fixe Gehalte gesetzt und daß die Verwaltungsangelegenheiten der Gemeinden für eine durch Vertrag bestimmte Belohnung besorgt werden sollten.

Diese Beschlüsse gaben nicht nur der Willkür der bisherigen Stadt- und Amtsschreiberei, sondern auch dem ganzen unseligen „Schreiberinstitute“ überhaupt den Todesstoß, … einem Institute, das noch aus Deutschlands rohem Zeitalter stammte, das den Württembergern zu allen Zeiten laute Seufzer und Klagen in Masse erpreßte, das den trägen Gang aller in die Staatshaushaltung und das Privatleben eingreifenden Geschäfte verewigte und zugleich das ganze Rechnungswesen in einen wahrhaft gordischen Knoten verwickelte.

Lebhafte Debatten erregte auf demselben Landtage der Antrag auf völlig freien Handelsverkehr, Aufhebung aller inneren Zölle und Verbot des schändlichen Büchernachdruckes. Auch hier war es vor allen Dingen Uhland, der, zumal gegen das Rechtswidrige und Unmoralische des Nachdruckes, mit aller ihm zu Gebote stehenden Kraft und Energie auftrat. Weber, Abel, Keßler, Schott, Schmidt, Cotta schlossen sich ihm mit gleicher Entschiedenheit an. Ueberhaupt gehörte Uhland von Anfang an zu jener gesinnungstüchtigen Opposition in der württembergischen Kammer, die mit überwiegender Geisteskraft der freien, gesetzlichen Entwickelung des Volkes Bahn brach.

So kamen auf dem Landtage von 1833 die Verhältnisse zum deutschen Bunde zur Sprache, und mit ihnen die großen Fragen in Bezug auf Preß- und Wahlfreiheit. Die Opposition bewährte dabei glänzende Talente. Die Regierung war aufgebracht und verlangte, daß Pfizer’s Motion über die Bundestagsbeschlüsse vom 28. Juni 1832 mit „verdientem Unwillen“ verworfen werde; da trat Uhland, als Berichterstatter der staatsrechtlichen Commission, auf und verlas eine von ihm verfaßte Adresse, in welcher sich die Kammer gegen solche Anträge der Regierung mit Würde und Entschiedenheit verwahrte. Diese Adresse ging am 11. März 1833 mit großer Stimmenmehrheit durch, hatte aber zur Folge, daß die Kammer wenige Tage später aufgelöst wurde.

Uhland wurde von Stuttgart, Pfizer von Tübingen wiedergewählt. Im Jahre 1836 war Uhland unter den neunzehn Oppositionsmitgliedern, welche bei Gelegenheit der Abstimmung über das Finanzgesetz das Budget aus staatsrechtlichen Gründen verweigerten. Mit Uhland gingen damals namentlich Pfizer, Klett, Raidt, Schott, Nefflen, Pfaff, Walz, Römer, Murschel, Pflanz, Menzel, Pfäfflin, Baumann und Düvernoy. So wirkte Uhland mit Muth und Kraft in der Württembergischen Kammer, wie er in den Sturmjahren 1848 und 1849 seine volksfreundlichen und echtdeutschen Gesinnungen im Parlamente zu Frankfurt a. M. und im Rumpfparlamente zu Stuttgart bewies.

Trotz der Erfüllung all dieser vaterländischen Pflichten schlief aber Uhland’s Dichtertalent nicht ein. Fand sich doch manche Gelegenheit, es zu üben. 1833 erschienen seine Gedichte in sechster Auflage. Sie hatten einen schönen und großen Zuwachs durch seine patriotischen Lieder gefunden, in welchen er das begeisternde Wort als die ihm verliehene Waffe für des Vaterlandes Wohl schallen läßt. So in seinem herrlichen Octoberlied:

„Ihr Völker, die ihr viel gelitten,
Vergaßt auch ihr den schwülen Tag?
Das Herrlichste, was ihr erstritten,
Wie kommt’s, daß es nicht frommen mag?
Zermalmt habt ihr die fremden Horden,
Doch innen hat sich nichts erhellt,
Und Freie seid ihr nicht geworden,
Wenn ihr das Recht nicht festgestellt.“

Uhland’s lyrische Gedichte sind sämmtlich Ergießungen eines tiefen, zarten, für alle Saiten der Natur und des Lebenn empfänglichen Gemüthes, aber sie sind dabei nicht kränkelnd, sondern im Gegentheil kerngesund. Gerade durch diese Züge echter Gesundheit aber, wie durch die künstlerische Klarheit und Vollendung der Form reihen sie sich an die gleichartigen Schöpfungen Goethe’s würdig an. Besonders gelungen sind Uhland auch seine Balladen und Romanzen, die bei Anschaulichkeit, Lebendigkeit und scharfer Zeichnung ein echt deutsches Gepräge tragen und ganz den rechten Ton des Volksliedes treffen. Hier kam ihm sein tieferes Verständniß und sein gründliches Studium der Poesien des Mittelalters sehr zu statten. Zu den trefflichsten dieser Romanzen und Balladen gehören: des Sängers Fluch, Klein Roland, König Karls Meerfahrt, die Bidassoabrücke, Sängerliebe, der Schenk von Limburg und Eberhard der Rauschebart. Auch im Drama hat sich Uhland versucht und außer dem Fragment „Konradin“ die Dramen „Herzog Ernst von Schwaben“ und „Ludwig der Baier“ geschrieben, jedoch mit weniger Glück, obgleich die Composition correct und folgerichtig, die Sprache einfach und edel gehalten ist. Auch als Literarhistoriker über fremde und einheimische Poesie hat sich Uhland Verdienste erworben und eben so reiche Kenntnisse als Gründlichkeit dabei gezeigt. Es beweisen dies seine Abhandlung über die nordfranzösische Poesie, die Bearbeitung „Walter’s von der Vogelweide[648] und sein neueres Werk über die alten hoch- und niederdeutschen Volkslieder. Endlich gehört Uhland zu den tüchtigsten Mitarbeitern des grossen Grimm’schen Sprachwerkes.

So darf Deutschland mit Stolz von Uhland sagen, daß er einer seiner edelsten Söhne sei, ein echter „deutscher Sänger“ – ein biederer, ehrenfester Charakter, ein Mann von Muth und hohem Sinn. Er lebt noch jetzt still thätig in Tübingen. Möge er dem deutschen Vaterlande noch lange erhalten bleiben!
H. N.




Ein seltenes Naturspiel.

Es gibt Gegenden der Erde, wo die Sonne, von einem bestimmten Punkte aus gesehen, mehrmals während ihres Laufes hinter Bergen verschwindet und dann wieder zum Vorschein kommt, wo sie also, wie man sich ausdrücken könnte, mehrmals auf- und untergeht. Dies findet unter andern in besonders bemerkenswerther Weise den 13. und 14. Januar jeden Jahres bei dem Bosruck, einem Berge in Oberösterreich statt, wenn man von dem eine Meile entfernten Spital am Pyhrn aus beobachtet, wie kürzlich ein gewisser Herr Riedler durch eine Zeichnung, deren Copie wir mittheilen, bekannt gemacht hat. Der östliche Abhang des Bosruck fällt hiernach nahe mit der Linie zusammen, welche die Sonne an jenen beiden Tagen von ihrem Aufgange an beschreibt, und da dieser Bergrücken sehr zerklüftet ist, so ereignet es sich, daß sie während des Vormittags acht Mal zum Vorschein kommt, sieben Mal wieder verschwindet. Die Punkte, wo dies geschieht, sind in unserer Zeichnung durch 1. 2. 3. etc. kenntlich gemacht, und die Sonne wird sich an diesen Punkten resp. um 9 Uhr 45 M., 10 Uhr, 10 Uhr 10 M., 10 Uhr 15 M., 10 Uhr 25 M., 10 Uhr 35 M., 10 Uhr 45 M. und 11 Uhr 20 Minuten befinden. Die Höhe der Sonne über dem Horizont beträgt zu eben diesen Zeilen der Reihe nach 151/6, 171/2, 181/3, 191/6, 20, 205/6, 22 und 24 Grad. Doch ist dabei zu bemerken, daß diese Zahlenangaben nur als rohe Näherungswerthe gelten können, da uns die geographische Breite des Ortes und alle sonstigen Angaben nur sehr oberflächlich bekannt sind.

Bemerkenswerth ist bei der Mittheilung des Herrn Riedler noch, daß er nichts davon erwähnt, daß dieselbe Erscheinung auch den 28. und 29. November jeden Jahres stattfinden muß, weil an diesen beiden Tagen die Sonne sehr nahe dieselbe Declination hat, als am 13. und 14. Januar. Ist dies seiner Beobachtung entgangen?




Eine Sitzung der Spiritualisten in London.

Nachdem in Deutschland das Zeitalter der tanzenden und klopfenden Tische so ziemlich vorüber ist, treibt in Amerika und England der sogenannte Spiritualismus die üppigsten Blüthen und findet gerade in den Gesellschaftsclassen, die man als die gebildeten zu bezeichnen pflegt, seine eifrigsten Anhänger. Mr. Home, ein junger Amerikaner und bevorzugter Liebling der Klopfgeister, machte kürzlich eine „Kunstreise“ durch Italien, Frankreich und England, die ihm einen nicht zu verachtenden baaren Gewinn eintrug, ihm Aufnahme in den Salons der vornehmen Welt und in Paris sogar die Ehre verschaffte, seine Künste vor dem kaiserlichen Paare in den Tuilerien zu produciren. Sonst scheint Mr. Home weder unter dem blauen Himmel Italiens, noch bei den Franzosen den erwarteten günstigen Boden gefunden zu haben. In dem „nüchternen, aufgeklärten“ England hingegen zeigten sich die Gemüther nur um so empfänglicher, und wir können uns nicht versagen, den Lesern der Gartenlaube einige Einzelnheiten aus dem Berichte eines Augenzeugen über eine „Sitzung“ der englischen Spiritualisten mitzutheilen.

Zum bessern Verständnisse des Nachfolgenden geben wir eine flüchtige Schilderung des Schauplatzes. Das Zimmer, in welchem sich die Jünger Home’s eines Abends gegen neun Uhr versammelten, war ein gewöhnlicher, dreifenstriger Privatsalon und unterschied sich in seiner Einrichtung durch nichts von einem andern englischen Drawing room. Das Meublement bestand aus mehreren Divans, Sesseln und Stühlen. In der Mitte des hohen, geräumigen Zimmers stand ein großer, runder Tisch; die Fenster waren mit dunkeln, wollenen Gardinen und Rouleaux versehen. In den beiden Fenstern rechts und links hatte man Blumenstöcke aufgestellt; das Mittelfenster hingegen war leer. Die Gesellschaft bestand aus acht Personen, Frauen und Männern. Unter ihnen befand sich Mr. Home, ein kaum dem Jünglingsalter entwachsener, junger, blasser Mann, dessen ziemlich unbedeutende Erscheinung nicht im Mindesten den Vorstellungen entspricht, die man sich von ihm zu machen geneigt ist. Mr. Home verwahrt sich selbst eifrig dagegen, irgend welche Gewalt über die Geister zu besitzen. Er erklärt sich nicht nur für unfähig, Geister zu citiren, sondern würde es sogar für sündlich halten. Ueberhaupt ist er ein sehr frommer, demüthiger Mann von fast schüchternem Wesen. Ueber Dinge, die über das Grab hinaus ragen, vermag er ebenso wenig Auskunft zu geben, wie ein anderer Sterblicher. Er ist mit einem Worte nicht [649] der Beherrscher der Klopfgeister – dazu ist er viel zu fromm und bescheiden – sondern ihr willenloser Spielball, ein Geständniß, welches indessen das Interesse an seiner mysteriösen Persönlichkeit durchaus nicht zu schwächen vermag.

Aber kehren wir zu unserer „Sitzung“ zurück. Wir übergehen die gewöhnlichen, unerläßlichen Präliminarien, um sogleich auf die Hauptereignisse des Abends zu kommen. Der Tisch gab, nachdem sich die Versammlung ringsum gesetzt und ihn mit ihren Händen berührt hatte, durch Klopfen den Wunsch zu erkennen, man möge ihn so nahe als möglich an das Mittelfenster rücken. Dies geschah. Dann legte man mehrere Blätter weißes Papier, einige Bleistifte, ein Accordion, eine Klingel und einige Blumen auf den Tisch, und die Anwesenden placirten sich so, daß die tiefe Fensternische leer blieb, in welcher – wie sie aus einem mir unbekannten Grunde vermutheten – die Erscheinungen stattfinden sollten. Endlich erließ der Tisch in seiner gewöhnlichen Sprache den Befehl, alle Lichter auszulöschen.

Die Gesellschaft befand sich nun in einer Dunkelheit, die vollständig gewesen sein würde, wäre nicht ein blasser Schimmer des grauen Nachthimmels durch das Fenster hereingefallen und hätte nicht das am entgegengesetzten Ende des Zimmers verglimmende Kaminfeuer dann und wann einen flackernden Schein auf die Gesichter der Versammelten geworfen. Sie sahen ihre Hände wie einen hellen Kranz auf dem Tische liegen, aber sie konnten ihre Form nicht unterscheiden. Das Accordion war nur als schwarze Masse sichtbar, während die weißen Papierblätter sich ungleich deutlicher gegen den dunkeln Grund abzeichneten. Es herrschte eine so tiefe Stille, daß man selbst das Picken der Taschenuhren wahrnahm.

Plötzlich bemerkten einige der Anwesenden, wie das Rouleau des Mittelfensters in Bewegung gerieth. Es begann sich langsam und, wie es schien, nicht ohne Schwierigkeit zu senken. Die Kraft, welche es in Bewegung setzte, war offenbar ungenügend und unsicher, aber es gelang ihr endlich doch, das Rouleau gänzlich herabzulassen, und die Versammlung befand sich nun in noch tieferer Dunkelheit. Nachdem sich die Augen daran gewöhnt hatten, wurde es indessen wieder möglich, nähere Gegenstände, wenn auch nur undeutlich, zu erkennen.

Plötzlich ging ein Flüstern um den Tisch. Man wollte Hände gesehen haben – dann fühlten sich einige Anwesende, darunter unser Gewährsmann, von einer kleinen Hand, welche die eines Knaben zu sein schien, auf die Kniee geklopft, wie im Scherze. Gleich darauf hatten die übrigen Umsitzenden dieselbe Empfindung, und die Schnelligkeit, mit der sich die bald klopfende, bald kneifende oder stoßende Hand bald rechts, bald links, bald hier, bald dort fühlbar machte, erregte allgemeines Erstaunen. „Dann bemerkte ich,“ so fährt unser Berichterstatter fort, „wie sich dicht vor mir eine größere Hand zwischen den Tisch und die darauf liegende Decke drängte und letztere emporhob. Hastig faßte ich zu, um mich von der Beschaffenheit dieser Hand zu überzeugen – aber sie zerfloß unter meinem Drucke in Nichts. Dennoch hatte ich deutlich gefühlt, daß es eine warme, lebendige, weiche Hand gewesen war, die ich einen Moment in der meinigen gehalten.“ Nun wurde vorgeschlagen, daß einer der Anwesenden die Klingel unter den Tisch halten sollte. Kaum war dies geschehen, als der Betreffende fühlte, wie ihm die Schelle aus der Hand gezogen wurde. Man hörte dann ihren Klang an verschiedenen Punkten des Zimmers, und darauf schob sie sich einem andern Mitgliede der Gesellschaft wie von selbst unter dem Tische in die Hand.

In dieser kindlichen – um nicht zu sagen kindischen – Weise beschäftigten die Geister noch lange ihr gläubiges Auditorium. Unter andern nahmen sie die Papierblätter vom Tische, man hörte dieselben auf dem Boden durch das Zimmer rascheln, dann wurden sie wieder auf den Tisch gelegt, ohne daß sich, wie man gehofft hatte, eine Geisterschrift darauf zeigte. Dann erschienen lange, weiße Hände, welche indessen nicht Allen sichtbar waren, über dem Tische und verschwanden wieder, nachdem sie sich der dort niedergelegten Blumen bemächtigt hatten, die sie unter die Anwesenden vertheilten. Auch von den Blumenstöcken in den Fenstern hörte man Blüthen abbrechen und sah sie vertheilen. Endlich verschwand das Accordion mit einem leisen Klange vom Tische, und bald darauf hörte man es auf dem Fußboden, wohin es versetzt war, in den wunderbarsten Accorden erklingen. „Wir horchten mit angehaltenem Athem,“ fährt der Berichterstatter fort. „Die Weise war wild und zugleich unaussprechtich lieblich und voll der eigenthümlichsten Uebergänge. Zuweilen rollten die Töne in mächtigen, fast betäubenden Schwingungen durch den Raum, zuweilen verloren sie sich gleichsam in geisterhaftem Geflüster, das alle Anwesenden zu Thränen rührte. Die letzten Töne verhallten wie in weiter Ferne, und Niemand hätte den eigentlichen Moment des Aufhörens zu bezeichnen vermocht.“ Der sich jedem Unbefangenen aufdrängenden Vermuthung, daß bei dieser in einem dunkeln Raume und noch dazu unter dem Tische executirten Musik ganz gewöhnliche Menschenhände im Spiele gewesen sein könnten, sucht unser Berichterstatter im Voraus zu begegnen, indem er versichert, daß sich das Phänomen auch späterhin bei hellem Kerzenlicht wiederholte. Mitten im Zimmer stehend, hielt er selbst das Accordion in seinen Händen, und alsbald ließen sich jene wunderbaren Töne vernehmen. Bei stürmischen Passagen, so versichert der Erzähler, war die Kraft, welche die Musik hervorbrachte, so stark, daß es ihm schwer wurde, das Instrument festzuhalten.

Aber das Alles waren nur Vorbereitungen auf die bei weitem wichtigeren und wundersameren Erscheinungen, welche noch folgen sollten. Wir lassen unsern Augenzeugen selbst erzählen.

„Mr. Home saß am Fenster mir gegenüber. Sein bleiches Gesicht zeichnete sich trotz der Finsterniß auf dem Hintergrunde der dunkeln Gardine deutlich ab. Seine Hände lagen, wenigstens in ihren Umrissen sichtbar, vor ihm auf der Tischdecke. Plötzlich sagte er mit ruhiger Stimme: „„Mein Stuhl fängt an, sich in Bewegung zu setzen – ich fühle mich vom Boden erhoben, aber ich bitte die Anwesenden, nicht auf mich zu achten, sondern von etwas Anderem zu sprechen.““ Es war wirklich schwierig, diesem Wunsche nachzukommen und die Neugier zu unterdrücken, welche seine Worte hervorrufen mußten, dennoch versuchten die Anwesenden ihre Aufmerksamkeit einem andern Gegenstande zuzuwenden. Mir meinestheils wollte das nicht gelingen. Ich hielt meine Augen fest auf Mr. Home gerichtet und sah, wie seine Hände vom Tische verschwanden und sein Kopf in dem tiefen Schatten hinter ihm unsichtbar wurde. Als er einen Augenblick später zu uns sprach, klang es bereits wie über unsern Köpfen. Dann stieg er höher und theilte uns von Zeit zu Zeit mit, in welcher Situation er sich befand. Anfänglich schwebte er in perpendicularer Stellung durch das Zimmer, dann fühlte er sich plötzlich durch eine unsichtbare Macht umgedreht und in eine horizontale Lage gebracht. Einen Augenblick später sagte er uns, daß er die Richtung nach dem Fenster nehmen würde, vor dessen hellerer Fläche wir ihn vielleicht vorüber schweben sehen könnten. Wir beobachteten nun das Fenster im tiefsten Schweigen und sahen in der That, wie er mit horizontal in der Luft schwebenden Füßen vorüberschwebte. Er redete dabei zu uns, versprach seinen Rückweg auf dieselbe Weise zu bewerkstelligen, und wenige Minuten später hatten wir noch einmal Gelegenheit, das Phänomen zu beobachten. Die vollkommene Ruhe, die Mr. Home in seiner ungewöhnlichen und nichts weniger als gefahrlosen Situation bewahrte, ermuthigte nach und nach auch die übrigen Anwesenden, aber dennoch konnte sich selbst der Unerschrockenste eines Gefühls von Furcht und Schrecken bei diesen Erscheinungen nicht erwehren. Mr. Home flog einige Minuten im Kreise im Zimmer umher und dann über unsern Köpfen hin, diesmal in perpendicularer Stellung. Dann hörte ich plötzlich seine Stimme über mir, fühlte, wie etwas mein Haar streifte, drehte mich schnell um und faßte seinen Fuß, der auf der Lehne meines Stuhles zu ruhen schien. Er entzog mir denselben mit einem Schmerzensschrei und entfernte sich schnell wie ein Vogel von einer Stuhllehne zur andern hüpfend. Einmal streifte er in der entgegengesetzten Ecke des Zimmers an der Decke hin und ließ dort ein kleines Merkmal zurück, das wir später in Augenschein nahmen. Bald darauf kehrte er auf den Fußboden und zu unserem Tische zurück. Während dieser Luftreise hörten wir das Accordion in der fernsten Ecke des Zimmers hoch oben in der Luft spielen.“

„Ich gebe mit Absicht die trockenste und einfachste Erzählung der Thatsachen, die ich beobachtete, um mich nicht der Uebertreibung oder phantastischer Ausschmückung beschuldigt zu sehen,“ schließt der Erzähler seinen wunderbaren Bericht. „Ich schweige von allen andern Erscheinungen, von den leisen Geistertritten, die wir über den Boden huschen hörten, von dem unheimlichen Flüstern, welches durch den Raum ging. Ich beschreibe weder die Dampfsäulen, die aus der uns umgebenden Finsterniß aufzusteigen schienen, noch [650] den farbigen Schimmer, der sich um die Anwesenden ausbreitete wie eine Glorie. Ich schildere das Alles nicht, weil ich keinen Beweis zu führen vermag, daß diese Erscheinungen nicht das Resultat unserer erregten Phantasie waren; ich gebe nur das Factum, über das wir uns nicht zu täuschen vermochten, obwohl wir es nur in einem dunkeln Raume beobachteten.“

Daß die Geister, welche mit Mr. Home in finstern Zimmern spielen, wie mit einer Puppe, einen unüberwindlichen Widerwillen gegen helle, erleuchtete Räume zu haben scheinen, könnte sie leicht in Mißcredit bringen, und wir fügen zur Ehrenrettung jener unsichtbaren, klopfenden, zupfenden, schlagenden, stoßenden, musicirenden und tischrückenden Mächte einige nicht weniger wunderbare, bei hellem Tageslicht erlebte Thatsachen bei, die unser Berichterstatter als Augenzeuge verbürgt.

Daß sich Möbel aus freien Stücken, ohne von Menschenhänden berührt zu werden, in Bewegung setzen, daß schwere Sophas ihre Plätze verlassen, um im Zimmer umher zu spazieren, daß sich tanzende Tische auf die Seite legen, ohne daß die darauf befindlichen Gegenstände, wie Blumenvasen, Bücher etc., herunterfallen, sind nach seiner Versicherung Dinge, die in England Jedermann täglich beobachten kann. Merkwürdiger erscheint ein Fall, wo sich ein großer schwerer Säulentisch mehrere Fuß über den Boden erhebt und einige Minuten in dieser Stellung bleibt, bis er sich endlich sanft wieder auf den Teppich niederläßt, und noch erstaunlicher ist ein anderer umständlich mitgetheilter Fall.

Unser Mann hatte sich bei zwei Damen seiner Bekanntschaft Morgens gegen 11 Uhr zum Tischrücken eingefunden. Die Klopfgeister schienen sehr gut aufgelegt, denn der Tisch beantwortete alle Fragen zur Zufriedenheit durch ein sanftes, fast schüchternes Klopfen bald mit dem einen, bald mit dem andern Fuße. „Plötzlich,“ so fährt der Erzähler fort, „nahmen seine Bewegungen einen andern Charakter an. Die Füße schlugen mit Heftigkeit gegen den Boden, die Platte entschlüpfte in ungestümen Schwenkungen nach rechts und links unsern Händen – es schien, als hätte sich eine wilde, fast möchte ich sagen thierische, Fröhlichkeit des Tisches bemächtigt. Endlich legte er sich auf die Seite, warf sich trotz unserer Bemühungen, ihn zu halten, zu Boden und rollte in dieser Stellung einem Sopha zu, das am andern Ende des Zimmers stand. Wir vermochten bei der Schnelligkeit, mit der dies geschah, nicht, unsere Hände mit dem Tische in Berührung zu bringen, dessenohngeachtet aber setzte er seinen Weg fort, bis er den Fuß eines größern vor dem Sopha stehenden Tisches erreichte. Allem Anschein nach hatte er sich diesen zur Stütze bei seinem Vorhaben, das Sopha zu besteigen, ausersehen. Vorsichtig stemmte er einen seiner Füße gegen die Säule des größern Collegen und drehte sich dann ein wenig, um mit dem andern Fuße das Polster des Sophas zu erreichen. Der erste Versuch schlug fehl – der kleine Tisch rutschte wieder herunter; dennoch wiederholte er die Procedur und glich dabei genau einem Kinde, das sich bemüht, einen hohen Gegenstand zu ersteigen. Endlich krönte der Erfolg seine Bemühungen. Er erreichte den Sitz der Ottomane, stand einige Minuten aufrecht und gelangte dann auf die Weise, wie er hinaufgekommen war, auch wieder hinab auf den Boden. Das Alles natürlich ohne die mindeste Unterstützung von unserer Seite.“

Das schreibt im neunzehnten Jahrhundert ein vernünftiger Mensch, und tausend Andere acceptiren diesen Blödsinn als wahr. Der Erzähler selbst bezweifelt allerdings in gerechter Selbstkritik, daß Leute, die dergleichen nicht mit eigenen Augen gesehen haben, seinem Berichte Glauben schenken werden, aber er meint, daß Dinge, die man bisher schlechthin für unmöglich gehalten, dennoch passiren könnten, und nach diesem Grundsätze bleibt uns freilich nichts übrig, als es zu glauben, wenn uns nächstens Jemand erzählt, er sei unterwegs von einem Eichbaume angeredet worden. Die Thatsache wäre um nichts wunderbarer und unmöglicher, als daß Tische aus eignem Antriebe und ohne Anwendung anderer Kräfte, als ihrer eigenen, auf Ottomanen steigen.




Johann Peter Hebel und der Hebel-Schoppen.
Von Berthold Auerbach.
(Schluß.)

In Hebel’s Dichtungen drängt und treibt die Sehnsucht nach einem bestimmt faßbaren Dasein, das in seiner eigenen Jugend lag; in Burns drängt es gewaltig und klagend nach einem Zustande der Befreiung, der vor ihm liegt und, wie alles Zukünftige, nicht so bestimmt faßbar ist. Burns ließ sich hineinziehen in die Kreise der sogenannten vornehmen Welt, die eine Zeit lang Gefallen finden mochte an dem Wildwuchs eines Naturells, das einen Athem der Berge in die geschlossenen Räume brachte und einen vollen Brustton, wie ihn das Leben unter freiem Himmel erheischt und duldet. Aber Burns verlor dabei das natürliche Selbstgenügen und den innern Halt; er wollte und konnte eine gewisse Geltung in der großen Welt und ihre Genüsse nicht mehr entbehren. Und wie er nun bei längerem Verweilen seine Urnatur in die gewohnte Ordnung einfügen sollte, wie er es erfuhr, daß die geistigen Genießlinge die Schmerzensthräne und das Herzblut des Dichters nur als Schaustücke betrachten – da fühlte er sich verstimmt und erbittert zurückgestoßen, und doch immer wieder angezogen, wo bei einfacher Betrachtnahme nichts als Enttäuschungen ihm werden konnten.

Hebel dagegen ließ sich aus seinem stillen, gelassenen Selbstgenügen nicht herausführen. Selbst die Gunstbezeigungen des Hofes – und war es auch ein kleiner Hof, es war doch der Hof seines Landes – nahm er mit Lächeln hin, mit jener Ruhe, in der man sich morgen, wenn die Gunst ausbleibt, als derselbe weiß, der man gestern war, bevor sie eintraf. Hebel war politisch viel zaghafter und unterwürfiger als Burns, aber menschlich war er freier. Er ließ sich seine Unabhängigkeit in menschlicher Selbstschätzung, seinen innern Halt, nicht rauben, so daß Lob und Huldbezeigungen ihm nicht zum Bedürfniß werden, ja nur etwas zu seiner Geltung vor sich beitragen konnten. In Hebel war auch nicht der entfernteste Hang zur Gefallsucht, und das gibt auch seinen Dichtungen den so reinen und im Gedankenfortgange so rhythmischen Verlauf. Wie in seinen kleinen Erzählungen keine sprichwörtlichen Wahrheiten eingesetzt sind, so sind keine Schönheiten in seinen Dichtungen angebracht, nur die Schönheit, die das Ganze mit sich bringt, kommt zum natürlichen Ausdruck. Für Burns ward seine hohe Dichterkraft Qual und Untergang, für Hebel war sie eine Quelle innersten Segens und stiller Befriedigung. Die Friedsamkeit, die auf den Hebel’schen Dichtungen liegt, ist nicht in den idyllischen Stoffen an sich gegeben; rein in der Seele des Dichters lag diese idyllische Friedsamkeit, und sie ging auf seine Stoffe über. Hebel hat nie nach dem ersten Ausgang seiner staatlichen Lebensbahn seinem Dasein selbstwillig eine neue Wendung und Gestalt gegeben. Er war keine kämpfende Natur, er war ein treuer Vollführer der übernommenen Staatspflichten, aber im eigentlichen Kern seines Wesens war er der wohlwollende und wohlthätige Privatmensch, wie ihn nur Deutschlands Boden trägt.

Hebel glaubt an die Güte der Menschen, trotzdem er Falschheit und Lüge oft vor sich gesehen hat. Er hegt die unverwüstliche Freude des Herzens, trotzdem Elend und Ungemach weit verbreitet in der Welt sind; und weil er an Güte glaubt und die Freude erkennt, erweckt er sie beide, wohin sein Blick dringt und wohin sein Wort tönt. Die vornehmthuerischen Menschenverächter, die ewig Klagenden, die traurige Verkommenheit der Welt Bejammernden, die dann ihre Lässigkeit und Lasterhaftigkeit damit bemänteln, daß die Welt doch ewig nichts nutz bleibe, und es sich nicht der Mühe verlohne, irgend Etwas zu thun und zu hoffen – alle diese sind in der Regel in geschützten, sorglosen und wohlbehüteten Verhältnissen erwachsen. Wer aber in seiner Jugend barfuß den rauhen Boden betrat, wer die Güte und Wohlthätigkeit der Mitmenschen in Armuth und Bedrängniß erfahren hat, der kennt das hülfreiche und wohlwollende Herz der Menschen – der sogenannten Niederen wie der Höheren – und vergißt es nie. Hebel hat eine Jugend voll Armuth und Verlassenheit durchgelebt, und er blieb ein Menschenfreund bis an sein Lebensende.

[651] Hebel’s Lebensgeschichte ist kurz und einfach. Von arbeitsamen Eltern geboren, früh verwaist, von der Wohlthätigkeit der Menschen gefördert, blieb er während seines ganzen Daseins im engen Kreise seines Heimathlandes, fand darin die ganze Welt, alle Tiefen und Höhen des Erdendaseins und wußte sein inneres Leben und das seiner Heimath zu reinen, edeln und unvergänglichen Bildern auszuprägen. Johann Peter Hebel wurde geboren zu Basel am 10. Mai 1760. Obgleich er in einem Briefe vom 16. Januar 1825 an seine Freundin Gustave das Haus genau bezeichnete und es sich einst zum ruhigen Leben ankaufen oder wenigstens miethen wollte, hat man es doch bei der hundertjährigen Geburtsfeier nicht ausfindig machen können. Die Eltern Hebel’s wohnten in dem Dorfe Hausen im badischen Oberland, der Vater arbeitete im Winter an seinem Webstuhl, im Sommer arbeiteten die beiden Eheleute wiederum in Basel im Iselin’schen Hause, wo sie vordem treue Dienstboten gewesen waren. Schon ein Jahr nach der Geburt Peters starb der Vater, und der kleine Knabe machte schon früh das Leben armer Verwaisten durch, sammelte Holz im Walde und half die Steine zum Schmelzofen in Hausen zerschellen.

Dabei war er allezeit ein aufgeweckter, zu Schalkstreichen aufgelegter Knabe. In dieser Kindheit aber drang der frische Thau des Naturlebens in seine Seele, um später zu Blüthen und Früchten zu reifen. Bald auch verlor er die Mutter, und nun wurde er, da er schon früh besondere Begabung zeigte, von Wohlthätern gefördert. Er bezog die Universität Erlangen, und nach seiner Rückkehr in die Heimath wurde er zuerst Lehrer in Hertingen, einem Dorfe zwischen Basel und Schopfheim. Er wurde hier „umgeäzt“, d. h. er aß wechselweise an dem Tisch der Familien, deren Kinder er unterrichtete. Er bekam hier aber noch eine Nahrung, an die Niemand dachte; denn in seine Seele drang immer mehr die tiefe Kenntniß des Menschenlebens, besonders des Volkes seiner Heimath, und dies, in Verbindung mit den Kindheits-Erinnerungen, sollte später zum dichterisch so lieblichen Bilde werden. Nachdem er die Ordination erlangt und eine Zeit lang Pfarrgehülfe gewesen, wurde er Präceptoratsvicarius am Pädagogium zu Lörrach und blieb daselbst 11 Jahre lang. Das kümmerliche äußere Leben wurde erhöht durch herzliche Pflege der Freundschaft, in der man eine Art Tafelrunde bildete und sich alterthümliche und phantastische Namen gab. Auch die Liebe zog bei ihm ein: Gustave Fecht, eine feinsinnige und wohlgebildete Pfarrerstochter, gewann und erwiderte die Neigung des Dichters. Hebel wurde 1791 als Subdiaconus an das Gymnasium nach Karlsruhe berufen, wo er die alten Sprachen und die Naturwissenschaften lehrte und zugleich auch in der Kirche zu predigen hatte. Seine Schüler bewahren ihm noch ein freudiges Angedenken, und besonders hat Friedrich Giehne ein schönes Erinnerungsbild mit mancherlei anmuthigen Charakterzügen in der deutschen Vierteljahrsschrift (Jahrgang 1858) aufgestellt.

Hebel stieg von Stufe zu Stufe bis zu den höchsten kirchlichen Ehrenstellen und starb am 22. September 1826. Inmitten seiner ihn oft sehr belastenden Lehr- und Kanzleigeschäfte bewegte ihn stets eine Sehnsucht nach seiner Heimath, dem Oberlande, und aus dieser Sehnsucht, verbunden mit einem tiefpoetischen Sinne und einem durch die classischen Muster erfüllten Geiste, entstanden die allemannischen Gedichte (zuerst anonym erschienen 1802), die eine ganz neue Wendung in Auffassung und Erkenntniß des Volkslebens bezeichnen. Er war nicht so schlimm daran, wie Burns, für den (nach Macaulay’s Ausdruck) „die Welt kein schicklicheres Geschäft zu finden wußte, als daß er sich mit Schmugglern und Gaunern herumzanken, Accise berechnen und Bierfässer visitiren mußte, und ein solcher Geist in solchem Geschäft vergeudet wurde.“ Hebel war durch Wissenschaft so reich ausgestattet, daß er in Kirche und Schule große Dienste leisten konnte, aber das hätten auch Andere gekonnt, und er mußte die Feder führen zu Acten, die in Kanzleien vermodern.

Aus einem innern Drange schuf sich daher Hebel einen außerhalb des Staatsmechanismus stehenden Beruf, dem er freilich nur die Abfälle seiner Zeit widmen konnte. Es war eine naturgemäße Folge seiner Erkenntniß des Volks und seiner Liebe zu ihm, daß Hebel sich auch unmittelbar lehrend und unterweisend an das Volk selbst wendete. So gab er schon vom Jahre 1803 an einzelne Geschichten in den badischen Landeskalender. Vom Jahre 1807–1814 erschien er ganz allein von ihm. In diesem Jahre zog er sich zurück, da die geistliche Censur die bekannte Geschichte „Der fromme Rath“ gestrichen hatte.

Es ist nicht nöthig, Hebel’s unübertroffene, ja unerreichte Eigenthümlichkeit hier nochmals zu schildern, auch nicht den einzigen dunklen Fleck hervorzuheben, wie er sich in einer gefügigen Weise dazu verleiten ließ, die opfermuthige That Andreas Hofer’s zu verspotten. Hebel war der Hausfreund des Volks, ein wohlwollender, treuer, heiterer und schlichter Freund des Hauses; zur Durchdringung des großen Weltlebens, zur richtigen Erkenntniß einer Alles einsetzenden Volkskraft war er bei seinem fügsamen Naturell und noch mehr bei seiner Stellung im Staate nicht geeignet.

In der katholischen Kirche ist es Gesetz, daß erst nach hundert Jahren eine Heiligsprechung vorgenommen werden darf. Bei den heilbringenden Geistern der sogenannten profanen Welt zeigt sich an ihrem hundertjährigem Geburtstage, wie weit ihr Leben und ihr Wirken aufgegangen und gewahrt ist im Leben ihrer Nation, im Leben der Menschheit. Die Jahrhundertfeier Schiller’s hat dies in glänzendster Weise auf der ganzen bewohnten Erde gezeigt. Der hundertjährige Geburtstag Hebel’s wurde seiner bescheidenen, begrenzten Stellung gemäß in bescheidenen und begrenzten Bezirken gefeiert, aber hier nicht minder mit inniger Wärme.

Dabei sind aus dem inneren Leben Hebel’s viele Zeugnisse zu Tage gebracht worden, die das Bild des herzlich Verehrten neu kennen lehren. Es sind dies besonders zwei Schiften:

„Aus Hebel’s Briefwechsel zur Erinnerung an den 10. Mai 1860“ (Freiburg im Breisgau) und „J. P. Hebel, Festgabe zu seinem Geburtstage. Briefe Hebel’s an Freunde und Freundinnen etc., herausgegeben von Friedrich Becker.“ (Basel 1860.) Bisher waren nur dürftige Auszüge aus Hebel’s Briefen bekannt gewesen, nun haben wir gewissermaßen eine actenmäßige Einsicht in sein inneres Leben.

In dem erstgenannten Buche sind besonders die Briefe an die Familie Hausse in Straßburg anziehend. Das innere Leben der Allemannen und seines besten Vertreters hat Straßburg nicht vom deutschen Reiche getrennt. Hebel ist darin heimisch als in einer grunddeutschen Stadt, und die Briefe gehen damals noch durch die Bötin. In diesen Briefen ist ein jean-paulisirender Ton. Es wird nämlich in ein Gefühl noch eine Unterart von Gefühl hineingepfropft oder davon abgezweigt, während Hebel doch sonst so einfach und gradaus ist. Hebel spottet selbst darüber, daß er in diese Manier verfalle, „aber es geht mir auch so, wenn ich Hexameter gelesen oder selbst gemacht habe. Gewöhnlich denke ich noch eine Zeit lang sechsfüßig fort.“ Indem er auf die politischen Verhältnisse zu sprechen kommt, schreibt er den Straßburgern: „Was braucht ihr zu wissen, wo uns arme Barfüßige der Schuh drückt?“ Aus seinem innern Frieden heraus schreibt er doch, daß seine Vorstellung über theologische Dinge „dahinauslaufe, daß wir nicht viel von der Sache wissen und das Ende abwarten müssen. Wie wenn wir zum ersten Male ein Haus bauen, oder einem Schuhmacher ein Paar Stiefel zuschneiden sehen, zumal wenn wir vorher noch keinen Fuß gesehen hätten.“

„Mein Leben stiehlt sich mir unter unangenehmen Geschäften, unwillkommenen Zerstreuungen,“ schreibt er noch ein Jahr vor seinem Tode.

Von umfassenderer Bedeutung ist das zweitgenannte Buch, aber der Herausgeber hätte nicht so ängstlich sein sollen in Ausmerzung des charakteristisch Persönlichen, denn dies gehört zur vollen Farbe eines Zeitbildes. Im Jahre 1791 schreibt Hebel an Gustave: „Am Sonntag habe ich meine erste Predigt gehalten. Hören und Sehen verging mir, als ich mich so von einem Meer von Hauben und Frisuren umfluthet sah. Die Leute sehen alle so kennerisch aus unter den Hauben und Frisuren.“

Er versetzt sich in diesen Briefen immer ganz leibhaftig in’s Oberland, und mitten in einem Gewitter schreibt er an die Freundin: „Während ich mich mit einer so lieben frommen Seele beschäftige, wird doch der Himmel hoffentlich keinen Unwillen an mir ausüben.“ „Wo es Etwas zu arbeiten gibt, muß ich dazu und ärgere mich darüber,“ schreibt er ein ander Mal; dann erzählt er wieder ganz einfach, wie er dem Markgrafen und den Hofleuten die allemannischen Gedichte vorlesen mußte. Er will immer auf eine Pfarrstelle im Oberlande, und als man ihn in Karlsruhe zurückhält, schreibt er: „Es ist mir sehr lieb, daß mich der Großherzog nicht fortlassen wollte, damit es mich nicht reuen kann, daß ich nicht ging.“

[652] Ueber Jean Paul schreibt er: „Seine Schriften sind wie Ananas, auswendig lauter Dornen und Disteln, bis man in das süße innere Leben hineingedrungen ist.“ Höchst charakteristisch ist: „Ich fühle noch immer ein einziges Uebel, das recht liebenswürdig wäre, wenn ich nur eine eigene Rente von zweitausend Gulden dazu hätte, nämlich die beständige Lust zu schlafen. Ich habe mir ein bescheidenes Einkommen gewünscht, denn zum Schlafen braucht man nicht viel.“

Obgleich er noch im Todesjahre unterzeichnet „mit Liebe unwandelbar Ihr Freund Hebel“, hat er sich auch bei auskömmlichem Gehalt doch nicht dazu entschlossen, die Jugendgeliebte zu heirathen, und das gehört zu den unerklärlichen Räthseln seines Lebens. Bei seinem ausschließlich häuslichen Sinne blieb er doch einer der wenigen unverheiratheten deutschen Dichter.

Noch bedeutsamer ist der Briefwechsel mit Pfarrer Hitzig, gen. Zenoides, während Hebel sich Parmenides nannte; es kommen darin mancherlei tiefere Einblicke in das eigene Leben, wie in das Leben der Zeit vor.

Einen Vorsatz, ganz seinem Charakter und seiner heiter wohlthätigen Weise gemäß, wollte Hebel ausführen. Er wollte in seinem letzten Willen bestimmen, daß von seiner Hinterlassenschaft den Greisen in Hausen, seinem Heimathsdorfe, an jedem Sonntag ein Schoppen Wein verabreicht werden sollte. Heiterkeit, Freude, Wohlbehagen zu verbreiten, das war sein innerster Herzenswunsch noch über das Leben hinaus.

Er starb, ohne ein Testament zu hinterlassen.

Nun aber haben Basler Freunde an seinem hundertjährigen Geburtstage eine Summe zusammengebracht, aus deren Ertrag, wie die Zeitungen im Allgemeinen berichten, alljährlich an Hebel’s Geburtstag der Hebel-Schoppen verabreicht werden soll. Das ist gewiß eine Art, das Andenken Hebel’s zu feiern und zu erneuern, die seinem ganzen Wesen am meisten entspricht. Wir sehen es vor uns, wie die alten Heimathsgenossen Hebel’s beisammen sitzen, sich von seinen Geschichten erzählen und die Erinnerung an ihn auffrischen. Das Anne Meili und Vreneli hören auch gern zu; sie haben nicht mehr die volle Tracht, wie sie Hebel in der „Wiese“ schildert, es gibt immer mehr Fabriken im Wiesenthal, aber noch ist hier ein kernhafter Volksstamm, der sich von keinen Kirchengemeinderäthen sein Lied wird rauben lassen; sie halten’s mit Hebel und singen dazwischen das Lied:

Ne G’sang in Ehre,
wer will’s verwehre?
Singt ’s Thierli nit in Hurst und Nast,
der Engel nit im Sterne-Glast?
E freie frohe Mueth,
e g’sund und fröhlich Bluet
goht über Geld und Guet.

Ne Trunk in Ehre,
wer will’s verwehre?
Trinkt ’s Blüemli nit si Morgenthau?
Trinkt nit der Vogt si Schöppli au?
Und wer am Werchtig schafft,
dem bringt der Rebesaft
am Suntig neui Chraft.

Und wenn sich das Herz erfreut und erfrischt hat, dann ziehen sie wohl heim und singen wiederum Hebel’s Wort und Gedanken:

Jetzt schwingen wir den Hut.
Der Wein, der Wein war gut.
Der Kaiser trinkt Burgunder Wein,
Sein schönster Junker schenkt ihm ein,
Und schmeckt ihm doch nicht besser,
  Nicht besser.

Der Wirth, der ist bezahlt,
Und keine Kreide malt
Den Namen an die Kammerthür
Und hintendran die Schuldgebühr.
Der Gast darf wiederkommen,
  Ja kommen.

Und wer sein Gläslein trinkt,
Ein lustig Liedlein singt
Im Frieden und mit Sittsamkeit,
Und geht nach Haus zu rechter Zeit,
Der Gast darf wiederkehren,
  Mit Ehren.

Des Wirths fein Töchterlein
Ist züchtig, schlank und fein,
Die Mutter hält’s in treuer Hut,
Und hat sie keins, das ist nicht gut,
Muß eins in Straßburg kaufen,
  Ja kaufen.

Jetzt, Brüder, gute Nacht!
Der Mond am Himmel wacht;
Und wacht er nicht, so schläft er noch.
Wir finden Weg und Hausthür doch
Und schlafen aus in Frieden,
  Ja Frieden.

Der Hebel-Schoppen ist eins der schönsten Denkmäler im ganzen Vaterlande, und es ist nur zu wünschen, daß sich noch viele Geschlechter bis in undenkbare Zeiten hinaus daran in Freude und Freiheit erquicken.




Die neapolitanischen Gefängnisse.
Von Carl Binz in Neapel.

Nicht mit Unrecht hat man die Behauptung aufgestellt, daß öffentliche Wohlthätigkeitspflege und Criminaljustiz die besten Gradmesser seien für die Höhe, worauf sich die Freiheit und Humanität irgend eines staatlichen Zustandes befänden. Je edler und großartiger ein Staat für seine Kranken und Verlassenen sorgt, um so mehr beweist er, daß sein innerstes Wesen durchdrungen ist von seinem eigentlichen Zwecke, dem Geiste der Liebe und Fürsorge für alle seine Mitglieder – je milder und menschlicher er in seiner Schattensphäre, der Strafe des Verbrechens, wirkt, um so klarer ist es ihm geworden, daß seinen Strafmethoden nicht mehr das Princip der thierischen Rache, sondern das der sittlichen Besserung und nothwendigen Gegenwehr zu Grunde liegt.

Legen wir jenen Maßstab an Neapel und seine Verwaltung an, wie wir sie vor den Ereignissen dieses Sommers lange und vielfach zu beobachten Gelegenheit hatten, so treffen wir auch hier wieder auf dieselben traurigen Resultate, wie wir sie überall finden, wo die Dynastien vor allem Andern daran dachten, ein starres System offener oder halbconstitutioneller Alleinherrschaft rücksichtslos durchzuführen, nur um den süßen Besitz von Thron und Großvaterstuhl durch kein Wünschen und Wollen seitens der getreuen Völker gestört und verbittert zu sehen. Die Wohlthätigkeitsanstalten Neapels befanden sich beim Sturze des früheren Systems genau auf der nämlichen Stufe, wie der ganze Staat. Auf demselben Punkte der Ausbildung und Entwickelung zurückgeblieben, wohin ihre Stifter sie mit vollen und freigebigen Händen gestellt hatten, waren auch sie der allgemeinen Stagnation anheimgefallen, und ihre Einrichtungen stachen von denen anderer Länder ebenso ab, wie umgekehrt der heitere Himmel Italiens von der grauen und nebeligen Atmosphäre des Nordens. Auch an ihnen nagte die Corruption und die Unterschlagung wie ein ewig fressendes Geschwür, und ihre Beamten verwalteten um kein Haar besser, als eben in allen Zweigen der Staatswirthschaft verwaltet wurde.

Trauriger noch und erschreckender ist das Bild, das wir von der Criminaljustiz des Königreiches beider Sicilien zu entwerfen haben. Man hat bei Gelegenheit der Eroberung Siciliens durch Garibaldi viel über die früher unter den Bourbonen dort angewandten Folterinstrumente gesprochen und geschrieben. Hoffen wir zur Ehre unsers Jahrhunderts, daß das Meiste davon übertrieben sei. Wir wissen es nicht. Neapel selbst hat uns nichts der Art aufgewiesen. Nur in einem Falle scheint es uns nach höchst glaubwürdigen Ohrenzeugen, welche das Jammergeschrei des Unglücklichen aus seinem Gefängnisse während der Nacht vor seiner Hinrichtung vernahmen, als ob auch selbst die Justiz der Hauptstadt nicht freigeblieben sei von dem Schandflecke der Tortur behufs der Erpressung passender Geständnisse. Es war dies bei Gelegenheit des Processes gegen den Calabresen Milano, der vor einigen Jahren den König Ferdinand aus politischer Privatrache zu tödten suchte. Man wollte ihn zwingen, seine Mitschuldigen zu nennen – bekanntlich wittert das böse Gewissen der Despoten deren ja immer und allenthalben – er leugnete standhaft jede [653] Mitwissenschaft irgend eines Andern, und bei dieser Gelegenheit war es, wo uns ein ganz in der Nähe des Gefängnisses wohnender Deutscher versicherte, daß nach den Schmerzenstönen, die der am andern Tage mit einem so außerordentlichen Muthe in den Tod gegangene Unglückliche in der Nacht vorher ausgestoßen, er an der Anwendung von Folterwerkzeugen durchaus nicht zweifeln könne.

Aber leider haben wir, um die neapolitanische Justiz und ihre Vertreter und Herren zu richten, weder Daumenschrauben noch Stirnbänder nöthig. Die Enthüllungen, welche uns die Tage nach dem 25. Juni brachten, beweisen zur Genüge, wie scheußlich und elend es damit unter der Dynastie bestellt war, um deren Untergang heute so viele fromme und legitime Seelen selbst im lieben Deutschland noch weinen und wehklagen. Als sich in jenen Tagen die zahlreichen Gefängnisse Neapels öffneten, um „politischen Verbrechern“ aus allen Ständen und von jedem Alter Licht und Lebensluft wiederzugeben, zog man aus einem derselben ein bis zur Unkenntlichkeit entstelltes menschliches Wesen hervor. Mit lang und unordentlich herabfallendem Bart- und Haupthaar, von Ungeziefer und Lumpen bedeckt, stumpf und gleichgültig gegen das, was mit ihm vorging, so fand man ihn, ein würdiges Zeugniß, das die Justiz und Polizei Neapels sich in Lebensgröße ausgestellt zum Beweis dafür, daß sie reif war zur Ernte. Man wußte nicht, wie er hieß, wer er sei und weshalb man ihn hierhin gebracht. Er selbst verweigerte für einstweilen jede Auskunft. In den Polizeiacten fand sich nur, daß er von den römischen Behörden nach Neapel geschickt worden war, weil man ihn in Rom nicht sicher genug glaubte. Man zog ihn an’s Tageslicht, mitleidige Menschen pflegten und kleideten ihn, und spätere Aufklärungen ergaben, daß er ein Genosse und Freund Mazzini’s war und als solcher von den Herrschern der Halbinsel unschädlich gemacht werden mußte. Da keine directen Beweise gegen ihn vorzuliegen schienen, so hatte man es am einfachsten gefunden, ihn in einen probaten Kerker Neapels zu werfen und dort bis auf Weiteres verfaulen zu lassen.

Ein Gefängniß der Polizeipräfectur in Neapel.
Nach der Natur gezeichnet von C. Grob.

Am 10. Juli erließ der liberale Minister Romano eine Bekanntmachung, worin die Abschaffung aller jener Kerkerlöcher angezeigt wurde. Es war nun wohl schon das zehnte Mal, daß diese sogenannten criminali oder segreti abgeschafft und demolirt werden sollten. Schon ein Decret vom 8. April spricht davon, „in Erwägung, daß die Gefängnisse nicht zur Qual, sondern nur zur Haft der Gefangenen dienen sollen.“ Ferdinand II. erließ 1848 eine ähnliche Verfügung, nachdem er schon bei seiner Thronbesteigung durch Rescript vom 11. Juni 1831 befohlen hatte, daß diese „Gräber der Lebendigen, diese Todeshöhlen“, wie gli annali civili del regno di Napoli sie bezeichnen, für immer zugemauert werden sollten. Wie so manches Andere, was die Zeit und ihr Fortschritt so dringend erheischte, so unterblieb auch die Ausführung jener von einem bessern Geiste dictirten Verordnungen, oder wenn man wirklich in dem einen Criminal-Gebäude das alte Uebel hob, so entstand an seiner Stelle dasselbe Uebel in vermehrter und verbesserter Form an einem andern Orte. Die Mittel und Wege, womit die Regierung Neapels und Siciliens ihren Unterthanen die einzig richtigen Begriffe von Staatsrecht und Unterthanenpflicht beizubringen suchte, waren des ganzen Systems würdig, und heute, wo jenes System gestürzt ist und trotz Bomben und Bajonneten in elenden Trümmern der Geschichte zu Füßen liegt, die seine wüsten Züge bereits in ihr unvergängliches Buch eingetragen, heute sehen wir jene Gefängnisse geöffnet vor uns, um Zeugniß abzulegen für das oft und viel angetastete Recht der Selbsthülfe. Dieses Recht steht weder in den Büchern der Sibylle, noch in den Institutionen des Justinian, noch in den Satzungen der Concilien begründet und niedergeschrieben – aber seine ehernen Schriftzüge leuchten uns allenthalben dort entgegen, wo die Nationen von dem Despotismus gelitten haben und noch leiden, und nirgends haben wir sie deutlicher gesehen, als in den politischen Gefängnissen Neapels.

Es macht einen eigenthümlichen Eindruck auf Sinne und Gemüth, wenn man unter diesem schönen, blauen Himmel mit seiner weichen, durchsichtigen Luft auf einmal eintritt in den Hof der Polizeipräfectur von Neapel und in die unmittelbar daran stoßenden Gemächer. Unheimlich, schmutzig und stinkend wie all’ diese Räume sind, so ist auch unheimlich, trüb und erschreckend der Eindruck, den sie auf das Gemüth des Besuchers ausüben. Nur der Eindruck der Gefährlichkeit ist verschwunden mit den Ajossa’s und Campagna’s, die dort herrschten und von dort aus hausten, und wir betreten heute jene Räume, ohne uns fürchten zu müssen, daß auch unser Name bereits dort in den Büchern der allmächtigen Hermandad verzeichnet sei und daß auch uns vielleicht recht bald eines jener Gemächer berge, deren schwere Eisengitter so finster zu uns herüberlugen. Diese Gitter umgeben rundum den Hof, worin sich Polizeisoldaten, Beamte aller Grade, Lazzaroni und Galantuomini von jeder Sorte bunt durcheinander bewegen. Man macht uns ehrerbietig Platz, denn der forestiere (Fremde) gilt in Neapel immer noch sehr viel, und einer der Schließer wendet sich mit devoter Dienstmiene an den uns begleitenden jungen Regierungsbeamten und fragt nach seinem Begehr. Bei der kurz hingeworfenen Bemerkung „i criminali“ überfliegt ein bedeutsames Lächeln sein Gesicht. Er scheint sich darüber zu freuen, Jemanden dorthin führen zu können, wo auch er – so erzählt er wenigstens – als Märtyrer einer trüben Zeit gelitten. Er zündet eine alte Oellampe an, ergreift von der Wand ein mächtiges Bund Schlüssel, es knarrt die erste eiserne Thüre – und wir folgen ihm.

Zuerst in einen langen, luftigen Corridor eintretend, war ich [654] höchst erstaunt, mich auf einmal zwischen einer Menge Menschen jeden Alters und Geschlechts zu sehen. Theilweise umherstehend, theilweise auf einer langen an der Wand hingezogenen Pritsche liegend, geriethen sie alle mit einander in unruhige Bewegung, als sie den unerwarteten Besuch erblickten. Unser Begleiter wurde sofort von ihnen in seiner Eigenschaft als Neapolitaner und Beamter der neuen Regierung wiedererkannt, sie umringten ihn, faßten seine Hände, seine Rockzipfel, und wo sie seiner irgend habhaft werden konnten, und begannen mit aller Lebhaftigkeit des Südländers ihre Bitten, Klagen und Wünsche herzujammern, gleich als ob der am meisten erhört würde, der am meisten und am kläglichsten sich gebehrdete. Es kostete einige Mühe, uns durch diesen wüsten Menschenknäuel durchzuwinden. Wir gelangten an das Ende des Corridors, wo eine andere Thüre geöffnet wurde, die uns bald von jenem unbehaglichen Ungestüm erlöste und es mir möglich machte, unsern Begleiter nach Ursprung und Wesen dieser seltsamen, wie die Heringe groß und klein, männlich und weiblich auf einander gepackten, Gefangenen zu fragen.

„Das sind die Unterbeamten der alten Polizei und ihre Familien, die wir hier untergebracht haben, hinter Schloß und Riegel, um sie vor der wilden Wuth und Rache der Bevölkerung zu schützen,“ antwortete unser Neapolitaner. „Leider haben wir nicht früh genug zu dieser Gewaltmaßregel gegriffen, und so hat man denn schon eine gute Anzahl davon getödtet oder doch zu tödten versucht.“ Eine erbauliche Einleitung zu dem, was nun weiterkam! Der Schließer bat uns, Acht zu haben, leuchtete mit seiner trüben Lampe auf einige schmutzige, schlüpfrige Stufen, öffnete eine dritte Thüre, trat sich bückend in dieselbe ein und hieß uns ihm folgen. Ein feuchter, stinkender Modergeruch quoll uns entgegen. Wir thaten noch zwei Schritte und befanden uns mitten in einem niedrigen, dreieckigen Gemache. Seine Wände waren ziemlich frisch mit Kalk beworfen, an vielen Stellen jedoch zerbröckelt und mit allerlei Namen und Jahreszahlen neuern Datums beschrieben, der Boden mit schlechten Steinplatten gepflastert, die ganz und gar das Ansehen hatten, als ob Mancher darauf herumgewandelt sei, und in der einen Ecke befand sich eine bettartige Erhöhung von schlichten Mauersteinen, deren steinernes Kopfkissen und glatt abgerutschte Oberfläche ebenso deutlich ihre Bestimmung, wie ihre unzweifelhafte Anwendung erkennen ließ. Ein Gefäß von Thonerde, dessen Form und Ansehen seinen Zweck zu deutlich verrieth, stand neben dem Lager. Ich kehrte mich nach allen Richtungen um, hoffend in einem der dunkeln Winkel des dreieckigen Raumes irgend ein anderes Möbel zu finden, da ich mir doch nicht von vornherein vorstellen konnte, daß man einem Menschen in seiner politischen Rache so alle Bequemlichkeiten des Lebens entzogen habe, die wir doch den schlechtesten unserer Hausthiere gönnen und verschaffen – aber es war vergeblich. Die nackten, feuchten Wände, der schmutzige, aufgerissene Fußboden, das harte, steinerne Bett mit steinernem Kissen, der mephitische Stinkapparat, das war die Ausstattung dieser politischen Besserungshöhle, dieses neapolitanischen „Zuchthauses“, nicht für Raubmörder – denn diese haben es dort viel besser – sondern für gebildete Menschen, die sich ganz einfach berechtigt glaubten, über diese oder jene Staatsangelegenheit anderer Meinung als ihr Landesvater zu sein. Von Licht in diesem Raume war natürlich so gut wie gar keine Rede. Das wenige, was aus dem finstern Winkel vor dem Gemache hineinfallen konnte, mußte sich durch ein kleines, in der Thüre angebrachtes Gitterfenster hindurchwinden, und auch das konnte man noch durch einen angebrachten Schalter vollends verschließen. Um mir nichts von der Wahrheit des Eindruckes zu ersparen, den der Aufenthalt an diesem scheußlichen Ort auf die Sinne und das Gemüth des darin Eingeschlossenen ausüben mußte, bat ich meine Begleiter, mich für einige Augenblicke darin allein zu lassen. Man that es. Ich hörte die schwere Thüre in ihren rostigen Angeln knarren, der Schalter an der Thüre wurde vorgeschoben, ich setzte mich auf das „Bett“ und genoß nun in re für eine halbe Minute einen kleinen Theil dessen, was so Mancher vor mir Tage und Wochen lang und vielleicht noch länger genossen, um bei seiner Befreiung einen Haß mit sich zu bringen aus jenen Räumen, der ebenso finster und unerträglich war, wie deren Atmosphäre.

Einige Schritte weiter, und wir befanden uns an einer zweiten Thüre. Wir betraten ein zweites Gemach, ganz ähnlich dem eben verlassenen, nur hatte es kein „Bett“, sondern statt dessen einen steinernen Stuhl. Ich fragte unsern neapolitanischen Freund, wo denn hier der Gefangene geschlafen habe. Er deutete, als ob sich das von selbst verstanden, mit dem Finger auf die schmierigen Platten, die den Fußboden bildeten, und fügte hinzu, es sei gerade hier gewesen, wo im vergangenen Winter die Ratten einem jungen Manne, während er todmüde auf dem Boden ausgestreckt geschlafen, die Zehen angefressen. Er nannte seinen Namen, den ich jedoch, da er mir fremd war, wieder vergessen. Wir sahen nun noch zwei andere Gefängnisse, die in demselben Gebäude lagen. Sie waren nicht so schlimm, wie die eben beschriebenen, aber vollständig schlimm genug, um auch ihre Zerstörung wünschen zu lassen. Doppelt und dreifach athmete ich auf, als ich wieder an die Luft trat und über mir den blauen Himmel sah, der so unendlich liebenswürdig in den schmutzigen Hofraum hinabschaute. Unser Führer fragte mich, ob wir auch noch die Gefängnisse von San Francesco zu sehen wünschten, er stehe zur Verfügung. Ich bedeutete ihm dankend, daß ich genug gesehen.

Wie oft und auf wie lange diese Gefängnisse der Polizeipräfectur von Neapel als Aufenthaltsort für einzelne Individuen dienten, konnte ich nicht mit Sicherheit in Erfahrung bringen. In den Tagen, an denen ich sie besuchte, waren die politischen Leidenschaften ganz Süditaliens dermaßen aufgeregt, daß es eine reine Unmöglichkeit war, von einem Italiener etwas Sicheres und Unparteiisches über solche Dinge zu erfahren, und andere Zeugen hatte ich nicht. Aber genug, daß ich die Kerker sah und betrat, daß sie genau so waren, wie ich sie eben beschrieben, daß sie ganz und gar den Charakter bewohnter Gemächer an sich trugen, und daß überhaupt nicht anzunehmen ist, sie seien ohne Grund gebaut worden und ohne Grund noch vorhanden gewesen. Vergleiche ich Alles mit einander, was ich für und gegen darüber gehört habe, so scheint es mir am wahrscheinlichsten, daß sie hauptsächlich zu Untersuchungsgefängnissen für politische Gefangene dienten, die man gern dort festhielt, wenn es irgend galt, ein Geständniß zu erpressen. [1]

Im Uebrigen kann man der bisherigen neapolitanischen Criminaljustiz durchaus nicht viel Böses nachsagen, denn gegen ihre Räuber und Mörder schien sie uns eine gewisse Zärtlichkeit zu [655] besitzen. Wenn man durch die Straßen von Neapel schlendert, so begegnen einem sehr oft ganze Gruppen von gelb oder roth gekleideten Menschen, die von einigen Soldaten escortirt werden. Die Erscheinung ist zu auffallend, als daß der Fremde nicht stehen bleiben sollte, um zu fragen, wer das sei, und da erzählt man ihm denn, daß es die Criminalsträflinge sind, und daß die Gelben sich gegen das Eigenthum, die Rothen sich gegen die Person versündigt haben. Ihr äußeres Auftreten läßt es wenig vermuthen. Nur die Kette, welche von den Rothen an dem einen Beine und um die Lenden befestigt getragen wird, berechtigt zu dieser Annahme. Sonst gehen diese Menschen mit einer solchen Gemüthsruhe durch die dichtbelebten Straßen einher, plaudern hier und da mit den sie bewachenden Soldaten, halten dort an einem Cigarrenladen still, um sich eine Cigarre für den Weg anzuzünden, daß man eher glauben sollte, sie wären von einer Ehren-, als von einer Aufsichtswache begleitet. Und wer einmal die Verbrecher am Leben ihrer Mitbürger in der schönen Bucht von Bajä in den dort am Wege liegenden Steinbrüchen oder in den Räumen des Arsenals von Neapel hat arbeiten sehen, der muß unbedingt der Ueberzeugung werden, daß hier nur ein etwas gemäßigtes dolce far niente ist, was wir bei uns mit „Zuchthausstrafe“ und „schwerem Kerker“ bezeichnen. Aber freilich, jene rothen und gelben Gauner und Raubmörder sind ja keine Demokraten und Hochverräther und wie die sonstigen Polizeiausdrücke für „politische Verbrecher“ alle heißen mögen. Die Kerker der Präfectur gehörten nur diesen an. Und auch sonst überall im Königreiche beider Sicilien konnte man es gewahren, daß für die Verbrecher aller Art besser gesorgt war, als für sie. Beinahe alle Gefängnißhäuser liegen an der offenen Straße. Den ganzen Tag hocken ihre Bewohner an den vergitterten Fenstern, unterhalten sich mit den Vorübergehenden und betteln sie mit einem „un povero prigioniere, Signor“ an, während die „Schlechtgesinnten“ in Forts und Casematten untergebracht waren, wo kein menschliches Antlitz ihnen begegnete, mit Ausnahme dessen ihres Kerkermeisters. Von Zeit zu Zeit erließ man dann eine sogenannte Amnestie, um der Bevölkerung und Europa Sand in die Augen zu streuen. Europa ließ sich zuweilen täuschen und schien wenigstens da und dort an eine bessere Zukunft des süditalienischen Volkes glauben zu wollen, aber Neapel selbst glaubte es nie, denn man wußte es ja zu genau, obgleich man es nicht sagen durfte: – jene Amnestie existirte nur auf dem Papier, und die darin Einbegriffenen blieben nach wie vor im Kerker oder in der Verbannung. Erst als das Grollen des Aetna den Bourbonen zeigte, daß sie auf einem gefährlichen Boden ständen, erst als Garibaldi am Pfingstsonntagmorgen in feurigen Zungen zu ihnen geredet, erst da öffneten sich alle Thore und öffneten sich alle Kerker, einstweilen in Palermo und bald darauf auch in Neapel. Das absolute Königthum fiel, und mit ihm die Consequenzen seiner Staatslehre. Garibaldi war stärker als sie.

Es ist traurig, noch in unserm Jahrhundert und in Europa solchen Zuständen zu begegnen, von denen man gern annehmen möchte, daß sie nicht der Geschichte, sondern nur der Gefängnißromantik angehörten, und mancher unserer Leser und Leserinnen wird einen tiefen Seufzer in das Land jenseits der Alpen schicken, aus zartem Mitleid für die Menschen, die dort noch zu dulden haben, und aus Wohlbehagen über das süße Bewußtsein, an den freien Ufern des Rheins oder der Elbe zu wohnen und geschützt zu sein vor solchen und ähnlichen Dingen, „soweit die deutsche Zunge klingt“. Schöner Traum des vaterländischen Gemüthes, der du dich so warm und wonnig über die schwarze Wirklichkeit gelagert, möchtest du bald zur Wirklichkeit werden! Deine Schwingen werden getragen von dem Hauche der Freiheit, der belebend aus Süditalien gen Norden zieht. Aber gebt Acht, daß ihr nicht immer träumt, und daß ihr nicht immer für fremdes Weh weint und für fremdes Glück jubelt, während ihr die Wunde vergeßt, die ihr am eigenen Leibe tragt. Neapel hatte seine geheimen Kerker, und Rom hat sie noch, und auch Venedig dürfte nicht viel besser damit daran sein, – aber auch bei uns, in dem Lande der Denker und Reformatoren, herrscht ja noch das Princip der politischen Rache, existirt noch das Zuchthaus und der „schwere Kerker mit Eisen“ für den „politischen Verbrecher“, oder wartet noch die Geist und Körper vergiftende pennsylvanische Zelle dessen, der sich das Recht herausnimmt, anderer Meinung als seine landesväterliche Regierung zu sein. Unsere Gefangenen aus den Jahren 1848 und 1849 erzählen ja davon, und könnten die Gräber sprechen, sie würden uns manches Seitenstück liefern zu den „neapolitanischen Gefängnissen“.




Blätter und Blüthen.


Wallfische und deren Fang. Seit etwa drei Jahrhunderten, als Spanier zuerst Leviathan’s des Meeres, Wallfische, angriffen und erlegten, hat sich eine ungeheuere Armee von Jägern des Oceans gebildet, die im tollkühnsten und härtesten Kampfe mit den furchtbarsten Feinden ihres Lebens – immer im Angesichte des Todes – Fischthran und Fischbein zu Millionen von Centnern jährlich aus den grimmigen Wogen der Oceane schöpfen und dabei oft zu Hunderten umkommen, ohne Andere davon abzuschrecken. Die Menge der Wallfischjäger zählt nach Tausenden und rühmt sich ganzer Flotten.

Nach den Spaniern und zwar Biscayern und Basken (so unwahrscheinlich sie auch als erste Wallfisch-Jäger erscheinen) nahmen die Engländer und Holländer diese großartigste aller Jagd-Industrieen auf. Erstere drangen bis Spitzbergen, etablirten dort eine Wallfisch-Station und octroyirten Gesetze für den Wallfischfang, die größtentheils noch jetzt gelten. In praktischer Beziehung wurden sie aber hier eben so bedeutend von den Holländern überflügelt, wie in der Heringsfischerei. Die Amerikaner, welche keine Millionen für Soldaten und müßige, drohende Kriegsschiffe zu vergeuden brauchen, besitzen jetzt die größte Wallfisch-Flotte.

Wallfisch ist ein sehr allgemeiner Name, mit dem man sehr verschiedene Arten von oceanischen Thieren, aber keinen einzigen Fisch bezeichnet. Die besten Naturforscher wissen noch nicht genau, wie viel Arten und Species es eigentlich geben mag. Die wilden Männer der Praxis unterscheiden in ihrer Weise „Schwefelboden“, „Breitnasen“, „Rasirmesser-Rücken“, „große Spunde“ und was sie sonst für verzweifelt unwissenschaftliche Namen erfunden haben, um profitablere von weniger ergiebigen Arten zu unterscheiden. Ein Amerikaner, Herman Melville, sehr gelehrt in Sachen der Wallfische, theilte sie in „Folio-“, „Octav-“ und „Duodez-Wale“ ein. Diese Classification ist nicht so dumm, wie sie aussieht: sie bezeichnet wenigstens die bekannten Arten mit unterscheidenden Namen. Folio-Ausgaben sind die eigentlichen Sperm-, Oel-, Fischthran-, Grönland- oder Haupt-Wale für die Jäger. Es sind die beiden Arten, auf die allein officiell und im Großen Jagd gemacht wird. Die Octav-Arten, Grampus und Narwal oder Nasenwal oder Einhorn, kommen nur gelegentlich zu der Ehre, harpunirt zu werden, und die Duodez-Ausgaben, Meerschweine oder Braunfische, werden von den praktischen Helden gar nicht beachtet, da sie nie so viel Oel liefern, um das bei ihrem Fang verbrauchte Oel der Lebenslampe zu ersetzen.

Es ist hier nicht die Absicht, die große, eigenthümliche Familie der Cetaceen oder Wallthiere zu schildern. Deutsche Gründlichkeit aber fordert wenigstens, daß man sage, wo der Wallfisch, dessen Jäger uns hier interessiren, hingehöre. Bekannt ist, daß er zunächst nicht zu den Fischen gehört, und die Wallthiere eine immer im Meere lebende große Familie von Säugethieren bilden, die eigentlich vier Füße haben sollten. Diese sind allerdings auch richtig da, nur zurecht gemacht für ihr Element. Die vorderen stecken in einer Art von Sack und sind so gewachsen, daß sie gut als Flossen und Ruder- oder Locomotiv-Organe gebraucht werden können. Hinterfüße gibt’s gar nicht, d. h. sie sind mit dem mächtigen Hintertheile, das man fälschlich Schwanz nennt, so vereinigt, daß sie die gewaltigste Dampfschraube bilden, einen halbmondförmig auslaufenden organischen Propeller von viel hundert Pferdekraft. Die Naturgeschichte spricht von drei Ordnungen der Wallthiere, pflanzenfressenden Sirenen (Borkenthieren, Seekühen etc.), Delphinien oder Zahnwalen (Narwal, Pottwal) und Balänoiden oder Bartenwalen, den eigentlichen Wall- und Finnfischen.

Allen Wallthieren gemein ist das horizontale Hintertheil mit mächtigem Propeller und der Spund zum Athmen. Sie haben Lungen und müssen Luft aus- und einathmen, nicht Wasser, wie es oft scheint und Viele glauben. Der in arktischer Temperatur warm ausgestoßene Athem steigt wie starke Tabakspuffe 3–4 Ellen in die Luft empor, und nur wenn das Thier unter dem Wasser eine Lunge voll ausstößt, zwingt es einen Theil des Wassers zu einem Fontainenstrahl über die Oberfläche.

Oft hat der Wächter des Wallfischfahrers oben im Mastbaume, von Schnee, Sturm, stechender Kälte, Nebel, Eisbergen und furchtbarer Einsamkeit umgeben, Wochen, ja Monate lang gespäht und gewartet, einen Fontainenstrahl zu entdecken. Endlich jauchzt er auf: „There she blows!“ „Da bläst einer!“ und die dumpfen Gestalten unten, die bisher mürrisch, schläfrig, verdrießlich umherwankten, springen wie wahnsinnig vor elektrischen Zuckungen der Freude und Erwartung in die bereit gehaltenen Boote, das entdeckte Wild, sechshundert bis tausend Mal größer und mächtiger als sie, aufzusuchen und zu erlegen. Ihr Jagdgefild ist der hungrige, grimmige Ocean mit wandernden Eisgebirgen, eisigen, unabsehbaren Wogen, jeder Zoll zehnfache Todesgefahr. Ein Schwanzschlag ihres Wildes schleudert oft Boot und Mannschaften hoch in die Luft und in die eisigen Wasser, in denen die Glieder oft binnen wenig Minuten erstarren.

Wir nehmen an, daß es einen Grönland-Wal gelte, die ergiebigste und kolossalste Thrantonne, die Hauptleidenschaft der europäischen Waler. Bruder Jonathan drüben hat für seine beinahe 700 Wal-Schiffe sich den Sperm-Wal wärmerer Gewässer erkoren, der, obgleich oft ein Drittel [656] größer, als der nordische College, bis 90 Fuß lang und entsprechend dick, weniger Gefahren und sicherern Gewinn bietet.

Die Mannschaften in den Booten rudern und schwingen sich über die Wogen hin mit tollkühner Todesverachtung, bis sie dem sichtbar athmenden oder Wasser spritzenden Ungeheuer ganz nahe auf den Leib rücken. Wie Vögel der Wildniß, die noch keinen Menschen sahen, fürchtet er die wilden Jäger mit dem ausholenden Harpunirer an der Spitze durchaus nicht und ahnt nichts Böses. Erst der tief in sein dickes Fleisch geschleuderte, widerhakige Pfeil erweckt ihn aus seinem Unschuldstraume. Er schleudert seinen ungeheuern Kopf empor, krümmt seine Körpermasse zum Bogen und stürzt sich in größter Hast bodenwärts. Die Harpune, an eine ungeheure Masse dünne Tauleine gebunden, die im Boote zusammengerollt liegt, wickelt diesen Faden mit so rasender Geschwindigkeit ab, daß die Rolle in Flammen geräth, wenn sie nicht gehörig begossen wird. Wehe dem, der dabei mit dem zischend abrollenden Faden in Berührung kommt oder von ihm gefangen wird! Wie oft wurden solchen Unglücklichen Hand oder Fuß abgerissen! Man hat Beispiele, daß Matrosen in die Mitte desselben geriethen, während der getroffene Wal still hielt oder auf die Oberfläche kam, und von dem auf’s Neue Davonschießenden vermittelst dieser Leine geradezu auseinander geschnitten wurden. Ist die Leine nicht lang genug für die Entfernung oder Tiefe, in welche das verwundete Thier eilt, so wird das Boot mit in die Tiefe gezogen, wenn nicht ein rechtzeitiger Schnitt es rettet. Die Mannschaften müssen dann auf Eisstücken Zuflucht suchen, wenn diese eben in der Nähe sind. Andernfalls erstarren und ertrinken sie, da das Schiff selten so nahe ist, um erreichbar zu sein.

Das „Fast-Boot“ (wie das genannt wird, welches die erste Harpune warf) telegraphirt seine Heldenthat durch Aufziehen einer Flagge, zu der sich oft andere gesellen, die um Hülfsboote und mehr „Leine“ bitten. Solche Zeichen werden auf dem Schiffe mit leidenschaftlicher Hast beantwortet. Die Leute springen aus den Cojen in die Boote, ohne sich vorher anzuziehen und fliegen, Kleider in der Hand, halb nackt durch die eisige Kälte herbei, um gleich in volle Arbeit zu gehen, sodaß sie manchmal erst nach Stunden dazu kommen, sich anzuziehen. Der verwundete Leviathan sucht vergebens in einer Tiefe von oft sieben- bis achthundert Klaftern Linderung seines Schmerzes. Er muß eilen, um aus einem Wasserdrucke von vielleicht zwei Millionen Centnern wieder an die Luft zu kommen. Die Männer in den Booten wissen, daß er bald wieder erscheinen wird. Nur ist’s jetzt die eigentliche Lebensfrage: wo? Es ist oft vorgekommen, daß er just unter einem Boote heraufkommt und dasselbe mit allen Mannschaften in die Luft schleudert. Taucht er zwischen ihnen auf, so müssen sie ihm wieder dicht zu Leibe rücken und ihn mit Lanzen bearbeiten. Der Wal schüttelt seinen Schweif, sodaß das Meer umher ärger und gefährlicher wogt und spritzt, als im größten Orkane. Die Boote schaukeln wie Nußschalen dazwischen und müssen mit ebenso großer Geistesgegenwart, als Kraft und Geschicklichkeit vor den Schlägen der Wogen, wie des verwundeten Ungeheuers geschützt werden. Wie weit dabei Tollkühnheit und Todesverachtung gehen, davon erzählt der Engländer Scoresby folgendes Beispiel. Einern verwundeten, auftauchenden Wal gelaug es, die Harpune locker zu schütteln. Ein Matrose springt vom Boote auf das lebende Ungethüm, zieht sein Taschenmesser, schneidet die Harpune los und schleudert sie ihm auf’s Neue tief in seinen lebendigen Speck. Dies war das Werk einer halben Minute. Ehe das Thier auf’s Neue tauchte, war der Held wieder im Boote.

Wenn der Conflict sich zu Ende neigt, speit der Wal Blut, statt Athem und Wasser, das Meer umher färbend, das Eis, die Boote, selbst die Mannschaften mit Blut bespritzend. Aus seinen Wunden quellen Oel und Fett, die sich beruhigend über das Meer ausdehnen. Aber noch kommt der letzte Todeskampf, vor welchern die Boote sich hastig in ehrerbietige Entfernung zurückziehen. Er schleudert den Schweif hoch in die Luft und peitscht ihn schnell hin und her, schlägt das weit umherspritzende Wasser mit seinen Finnen, wirft sich auf die Seite, sodaß das Wasser von den letzten Athemzügen wie Wasserfälle schießt, und stirbt. Hussahs und leidenschaftliches Schwenken der Flaggen verkünden dieses Ereigniß nach allen Seiten. Kein Wunder diese wilden Ausbrüche der Siegesfreude, nachdem so viele Gefahren überwunden, so viel Riesenkraft und Geschicklichkeit und Todesmuth sich geltend gemacht und der Lohn dafür, ein bedeutendes Capital, ruhig vor ihnen liegt! Aber die Strapazen und Gefahren sind damit noch nicht alle vorüber. Es gilt, den großen Todten zu „flensen“, d. h. ihm den Thranspeck abzuschneiden. Fünf oder sechs bemannte Boote ziehen ihn neben das Schiff, die Leute bewaffnen ihre Fußsohlen mit spitzen Hufen und Haken, um Halt auf dem schlüpfrigen Leichnam zu bekommen, und hauen nun den Speck in großen Streifen à 15–20 Centner ab, die durch Maschinerie in den Schiffsrumpf gezogen werden. Während unruhiger See oder gar im Sturme ist diese Arbeit eines Herkules würdig und jeden Augenblick lebensgefährlich. Eine überschlagende Welle reißt Einen oder den Andern mit sich fort, Taue und Haken gerathen mit den Füßen Anderer in plötzliche Verbindung und reißen sie um oder brechen ihnen Glie6der. Auch fällt wohl Einer ein paar Stockwerke tief in den Rachen des oben bereits entblößten Kopfes und ertrinkt, wenn ihm nicht schnell geholfen wird. Auch müssen ihm die „Fischbeine“, die sensenartigen dichten Reihen von Knochen, die bei ihm die Stelle der Zähne vertreten, ausgerissen werden. Eine ganz besonders gefährliche Heldenarbeit ist das Wenden des riesigen Leichnams, nachdem die eine Seite abgeledert worden. Die Schwierigkeit liegt dann besonders in Sicherung und Erhaltung des Gleichgewichts in der Lage des unten geflensten und daher leicht gewordenen Cadavers. Eine andrängende Welle, ein nachgebender Haken oder ein reißendes Tau-Ende, und die ganze Körpermasse schlägt wieder um und schleudert alle „Flenser“ in’s Meer oder zieht sie mit sich von oben nach unten.

Dies ist ein Blick auf die regelmäßige und in Ordnung verlaufende Wallfisch-Jagd, wobei die angedeuteten Abweichungen und Abenteuer noch zu den gewöhnlichen gehören. Aber Stürme, Eisnebel, Eisberge, dichtes Schneegestöber, plötzlich losbrausende widrige Winde, ungewöhnlich starke Wale etc. führen oft zu den schauerlichsten Tragödien des Oceans. Mancher harpunirte Wal taucht nicht, sondern flieht auf der Oberfläche hin und zieht das Boot mit zischendem Sausen binnen kurzer Zeit 30–40 Meilen mit sich. Die andern Boote und das Schiff können nicht so schnell folgen. Sturm- und Widerwind, Nebel und Gestöber, dahinjagende Eisgebirgszüge legen sich dazwischen. Die Mannschaften in dem entführten Boote zittern vor Kälte, taumeln vor Hunger und sehen Tod von allen Seiten. Sie werden gegen eine anbrausende Eismasse geschlagen. Das Boot weicht zersplittert unter ihren Füßen. Einige klammern sich auf dem Eise fest, Andere sinken sogleich. Die auf dem Eise müssen sich fest und flach auf den Bauch legen, um nicht hinuntergespült zu werden. Aber bald verschwindet der Eine, bald der Andere. Oft sind solche Verschlagene auf immer verschollen, ein andermal wurden Einige nach so und so viel Tagen und Nächten noch entdeckt und gerettet, um sie nach dem Aufthauen und Aufleben wahnsinnig werden oder sterben zu sehen. Wie oft machten solche Helden, auf ein paar Dutzend Reisen ein paar Dutzend Mal im Rachen des Todes, Tage und Nächte lang auf Eisschollen umhergetrieben und gerettet, trotz dieser Schrecknisse und eines guten Vermögens sicher, unaufhaltsam gelockt von diesen Reizen des Schreckens, nach zwanzigjährigem Dienste noch ihren letzten Jagdzug mit, um endlich dabei umzukommen! Von solchem Stoff sind die echten Wallfischfänger, solche Sirenenmacht liegt in dem scheinbar reizlosen, abschreckenden gigantischen Kampfe mit der Wuth arktischer Meere und seiner gewaltigen Könige!

Die großartigen amerikanischen Seekriege gegen die Cachelotten, Sperm- oder Pottwallfische sind nicht so gefährlich, obgleich diese viel größer sind. Der Sperm-Wal erreicht bisweilen die Länge von 100 Fuß, hat einen großen Fett-Buckel, ordentliche Zähne und eine hellere Farbe, als der auf dem Rücken schwarze arktische oder Grönland-Wal. Eine weiße, hornige Substanz zwischen seiner Haut und deren Thran-Speck ist noch nie genau wissenschaftlich untersucht und erklärt worden. Er ist lebhafter, muthiger und rachsüchtiger, als der langsame, gutmüthige und furchtsame Grönländer, aber dessenungeachtet weniger gefährlich, blos deshalb, weil er sich in wärmerem, eislosem Wasser aufhält. Das nimmt er so genau, daß die Schiffer und Fischer die warmen Strömungen im Meere an dem Erscheinen und den Wegen des Sperm-Wals erkennen. Sein Kopf ist immer ein großes Reservoir von Spermaceti oder Wallrath, das aus dem noch warmen Thiere förmlich ausgeschöpft wird. Kalt wird es hart und zu Kerzen etc. verwandt.

Der Magen alter, an Verdauungsbeschwerden leidender Exemplare enthält oft bedeutende Stücke von dem kostbaren Ambra, der eigentlichen Blume kostbarster Parfümerien und Räuchermittel. Früher wurde auch viel Ambra als nervenstärkende Medicin verschrieben und verzehrt, doch scheinen die Aerzte größtentheils davon abgekommen zu sein. Die Gelehrten sind noch nicht einig über Entstehung, Zusammensetzung und Fundart des Ambra’s. Oken hält ihn für Gallenstein, der Engländer Atkins für ein Product der Steinkrankheit des Physeter makrokephalus oder großköpfigen Pottwals. Sperm-Wale sind zu jeder Jahreszeit zu finden, während die echten Grönländer nur auf ihren jährlichen Wanderungen zugänglich werden. Deshalb und wegen bereits erwähnter anderer Vortheile jagen die 700 amerikanischen Wallschiffe blos nach Sperm-Walen und haben auf ihren Schiffen selbst die vollkommensten Einrichtungen, den Thran-Speck sogleich auszulassen, zu „reduciren“ und von seinen Fibern zu befreien, deren Fäulniß in den Grönland-Thranfässern so leicht ekelhaft wird und den Thran in wohlverdienten übeln Geruch gebracht hat.

Das große Erntefeld der amerikanischen Waler ist der große oder stille Ocean, Nur nach dem Südpole hin finden sie manchmal wieder Seitenstücke zu den grönländischen Walen, die aber nur im Nothfalle in Angriff genommen und nicht aufgesucht werden. Sie schöpfen jährlich mehr als eine Million Centner Thran aus dem Meere und bringen ihn gereinigt an’s Land und in den Welthandel. Die Engländer und ihre Collegen in den arktischen Regionen zwischen Grönland und der Davis-Straße bringen es lange nicht zu einem Drittel dieser Quantität, die außerdem theurer und schlechter ist, da mehr Arbeit und Auslagen darin stecken. Da sie den ganzen, rohen Thran-Speck in ihre Fässer füllen und erst am Lande dem Processe der Reduction oder Reinigung unterwerfen, entsteht immer viel unnöthige Arbeit und eine mehr oder weniger verdorbene Sorte von Thran. Welche Wichtigkeit dieser in unserer Zeit hat, wo alle Tage viele Millionen dampfgetriebene Räder und sonstige Arme der Industrie geölt und geschmiert werden müssen, ist leicht begreiflich.




Kleiner Briefkasten.

Prof. W r in New-York. Bedaure, von Ihrer Offerte keinen Gebrauch machen zu können, da die Gartenlaube nur Originalartikel bringt. Herrn Dr. Mügge wird die Uebersetzung seiner in unserer Zeitschrift abgedruckten Novelle: „Sigrid, das Fischermädchen“, sicher freuen.

P. v. S. in Stuttgart. Nicht zu gebrauchen, und bitten wir über das Manuscript zu verfügen.

Elise in B. Rückert wohnt in der Nähe Coburgs. Adressiren Sie Ihre Zuschriften nur gefälligst nach Coburg selbst.

Herrn Bürgermeister Schweitzer in Neukirchen. Aus Ihrer werthen Zuschrift haben wir ersehen, daß das Urtheil über Ihren Amtsvorgänger Schweinitz in dem kürzlich von uns veröffentlichten Artikel: „Ein deutscher Dichter und Dulder“ ein ungerechtes. Der Verfasser, welcher unser aufrichtiges Bedauern darüber theilt, läßt Sie hierdurch versichern, daß er dieses Urtheil keineswegs aus directer Quelle geschöpft, sondern einem andern bereits früher gedruckten Aufsatze entlehnt hat.




Zur Nachricht!
Der Schluß von „Schloß Stolpen und die Gräfin von Cosel“ folgt in nächster Nummer mit den Abbildungen des Schlosses Stolpen.
D. Red.

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Ueber die Gefängnisse des Fort San-Elmo läßt sich die Times schreiben: „Einer der interessantesten Gegenstände ist uns jetzt das leicht gewonnene Castell San-Elmo. Die ganze Bevölkerung Neapels, die Männer wie die Frauen, wallfahrtet rastlos zu dem Schreine ihrer patriotischen Märtyrer. Ich ging gestern mit einigen Freunden hin. Wir gingen zuerst durch die Marmorkirche und das Kloster des heiligen Martin, wo unsere rothen Garibaldihemden den Mönchen wenig Gutes zu bedeuten schienen. Sie schauten uns an, da wir vorüberschritten, ohne ein Auge von uns zu lassen; sie selbst in weißen Kutten, groß, stattlich, regungslos, daß man sie für Statuen hätte halten mögen; gute Kartäuser, die in einem Marmorparadiese Buße thun, durch ihr Gelübde zu ewigem Schweigen gebunden und mit äußerlich so ruhiger Miene, als es möglich war unter der unverkennbaren Angst um die sichtbaren und verborgenen Schätze, die sie seit undenklichen Zeiten hier aufgehäuft. Von den Marmorzellen der Mönche nach den einsamen Kerkern der Opfer von San-Elmo ist der Uebergang nur kurz, aber der Contrast ist schrecklich. Die steinernen Stufen führen über sechs Geschosse hinab, und auf jedem der Geschosse war Raum für etwa zehn der Unglücklichen. Einige sehr elende Zellen hatten Fenster; da aber der Blick von dem Hügel über das lieblichste Panorama von Land und See ein zu großer Trost für den einsamen Gefangenen gewesen wäre, so war das Fenster mit dicken Holzgittern verrammelt, nicht um die Flucht zu verhindern, denn nur ein Vogel hätte dies von solcher Höhe versuchen können, sondern um dem Armen die Aussicht auf die heimathlichen Auen zu rauben. Auf dem niedrigsten Geschoß ist kein Fenster. Durch eine kleine Oeffnung in der Thür ward des Morgens dem Gefangenen etwas Brod und Wasser gereicht, die Oeffnung schloß sich wieder, und Nacht war es wieder um ihn vierundzwanzig Stunden lang. Ich will Ihnen von den Scheußlichkeiten, die ich gesehen, nicht weiter reden, ich möchte nur noch eben die Schießscharten erwähnen, die so eingerichtet waren, daß die Schildwachen die Gefangenen in ihren Zellen, auch in ihren Betten erschießen konnten. Wie da die Hinrichtungen von Schweizern und sicilischen Meuterern im Großen betrieben wurden, ohne daß eine Seele eine Ahnung davon hatte; was alles die Henker, die noch gestern im Solde des Königs gearbeitet, uns heute für unerhörte Scheußlichkeiten, die hier verübt worden, eifrig mitgetheilt, werden Sie allmählich aus den Flugschriften ersehen, deren Gegenstand San-Elmo, wie weiland die Bastille, gewiß werden wird. Ja, die guten Neapolitaner brennen vor Ungeduld, von San Elmo keinen Stein auf dem andern zu lassen. Sie erwarten nur das Wort des Dictators. Es dürfte jedoch ein schweres Stück Arbeit sein. Ich schritt auf den obern Zinnen umher und sah, wie die ungeduldigen Bürger die Kanonenungethüme zurückstießen, deren Schlünde auf die gedrängtesten Stadttheile gerichtet waren. Welche Festung und welcher Schutz für die Stadt! Sie scheint ein interessantes Symbol der ganzen Land- und Seemacht der Bourbonen, weniger als nutzlos gegen den fremden Feind, ausschließlich und gänzlich nach innen gerichtet.“
    D. Red.