Die Gartenlaube (1862)/Heft 10
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No. 10. | 1862. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Vom Kirchhof des Dorfes ein Viertelstündchen hinauf durch den Tannenwald, da lag es vor Einem; zunächst der parkartige Garten von alten ungeheueren Lindenalleen eingefaßt, an deren einer Seite der Weg vom Dorfe vorbeiführte; dahinter das große steinerne Herrenhaus, das nach vorn hinaus mit den Flügelgebäuden einen geräumigen Hof umfaßte. Es war früher das Jagdschloß eines reichsgräflichen Geschlechts gewesen; die lebensgroßen Familienbilder bedeckten noch jetzt die Wände des großen Rittersaals, wo sie vor einem halben Jahrhundert beim Verkaufe des Guts mit Bewilligung des neuen Eigenthümers vorläufig hängen geblieben und seitdem, wie es schien, vergessen waren. – Vor etwa zwanzig Jahren war das Gut, dessen wenig umfangreiche Ländereien zu den Baulichkeiten in keinem Verhältniß standen, in Besitz einer alten weißköpfigen Excellenz, eines früheren Gesandten, gekommen. Er hatte zwei Kinder mitgebracht, ein blasses, etwa zehnjähriges Mädchen mit blauen Augen und glänzend schwarzen Haaren und einen noch sehr jungen kränklichen Knaben, welche beide der Obhut einer ältlichen Verwandten anvertraut waren. Später hatte sich noch ein alter Baron, ein Vetter des Gesandten, hinzugefunden, der Einzige von der Schloßgesellschaft, der sich zuweilen unten im Dorfe blicken ließ und auch mit den Leuten im Felde wohl einmal einen kurzen Discurs führte; denn im heißen Sommer oder an hellen Frühlingstagen pflegte er weit umher zu wandern, um allerhand Geziefer einzusammeln, das er dann in Schachteln und Gläsern mit nach Hause nahm. Selten einmal war auch das junge Fräulein bei ihm; sie trug dann wohl eins der leichteren Fanggeräthschaften und ging eifrig redend an des Oheims Seite, aber um die Begegnenden kümmerte sie sich nicht weiter. Die kleine hagere Gestalt der alten Excellenz hatte, außer beim sonntäglichen Gottesdienste in dem herrschaftlichen Kirchenstuhle, kaum Jemand anders als vom Wege aus gesehen, wenn er in der breiten Lindenallee des Gartens auf und ab wandelte oder stehen bleibend das Moos auf dem Steige mit seinem Rohrstocke losstieß. Den scheuen Gruß der vorübergehenden Bauern pflegte er wohl mit einer leichten Handbewegung zu erwidern; was er sonst mit ihnen zu schaffen hatte, wurde von dem Verwalter abgethan, dem die Bewirthschaftung des kleinen Gutes überlassen war.
Nach Jahren war diese Hausgenossenschaft noch durch einen Lehrer des kleinen Barons vermehrt worden. Die Leute im Dorfe erinnerten sich noch sehr wohl seiner; er war aus der Umgegend und stammte auch von Bauern her. Man hatte ihn oft mit dem alten Baron gesehen, und auch das Fräulein, damals schon eine junge Dame, war mitunter in ihrer Gesellschaft gewesen. Man erzählte sich noch, wie er mit dem alten Herrn in den Tannen einen Dohnenstieg angelegt; aber das Fräulein sei meist schon vor ihnen dagewesen und habe die Drosseln, die sich lebendig in den Schlingen gefangen, heimlich wieder fliegen lassen. Einmal auch hatte der junge freundliche Herr den kleinen verkrüppelten Knaben auf dem Arm durch das Tannicht getragen, denn mit dem Rollstühlchen war auf dem schmalen Steige nicht fortzukommen gewesen, und das Kind hatte die gefangenen Vögel selbst aus den Dohnen nehmen können.
Bald aber war es wieder einsamer geworden; der arme Knabe war gestorben und der Hauslehrer fortgegangen. Schon früher hatte man im Dorfe selten von den Gutsnachbarn oder aus der Stadt drüben einen Besuch den Weg nach dem Schlosse fahren sehen; jetzt kam fast Niemand mehr; auch die alte Excellenz sah man selten in der breiten Allee des Gartens wandern.
Nur noch einmal, im Herbste des folgenden Jahres, war es droben auf einige Tage wieder lebendig geworden, als die Hochzeit des jungen Fräuleins gefeiert wurde. Unten in der Dorfkirche war die Trauung gewesen; seit lange hatte man dort so viele vornehme Leute nicht gesehen. Aber die hagere Gestalt des Bräutigams mit dem dünnen Haar und den vielen Orden wollte den Leuten nicht gefallen; auch die Braut, als sie von der alten Excellenz an die mit Teppichen belegten Altarstufen geführt wurde, hatte in dem langen weißen Schleier, mit den dicht zusammen stehenden schwarzen Augenbrauen ganz todtenhaft ausgesehen; was aber das Schlimmste war, sie hatte nicht geweint, wie es doch den Bräuten ziemt. Der alte Baron, der in sich zusammen gesunken in dem herrschaftlichen Stuhl gesessen und mit trübseligen Augen auf die Braut geblickt hatte, war nach Beendigung der Ceremonie allein und heimlich seitwärts über die Felder gegangen. Am darauf folgenden Nachmittag hielt der Wagen mit den Neuvermählten eine kurze Zeit in der Durchfahrt des Dorfkreuzes; und die Leute standen und besahen sich das Wappen auf dem Kutschenschlage, einen Eberkopf in blauem Felde. Der hagere, vornehme Mann war ausgestiegen und brachte der jungen Frau ein Glas Wasser an den Wagen; von dieser selbst war wenig zu sehen, sie saß im Dunkel des Fonds schweigend in ihre Mäntel gehüllt.
Der Wagen fuhr davon, und seitdem vergingen Jahre, ohne daß man von dem jungen Fräulein wieder etwas hörte. Nur dem Prediger hatte einmal der alte Baron erzählt, daß ein Knabe, den sie im zweiten Jahre der Ehe geboren habe, von einer Kinderepidemie dahin gerafft worden sei; und später dann, als die alte [146] Excellenz gestorben und Abends bei Fackelschein auf dem Kirchhof hinter den Tannen zur Erde gebracht wurde, sollte sie Nachts auf dem Schlosse gewesen sein; aber von den Leuten im Dorfe hatte Niemand sie gesehen. Bald verließ auch der alte Baron mit seinen Sammlungen und Büchern das Schloß, wie es hieß, um bei einem andern Vetter seine harmlosen Studien fortzusetzen.
Einen Sommer lang wohnte Niemand in dem steinernen Hause, und das Gras wuchs ungestört auf den breiten Steigen der Gartenallee.
Da, eines Nachmittags, es mochte jetzt ein Jahr vergangen sein, hielt wiederum der Wagen mit dem Eberkopf in dem Wirthshause des Dorfes. Die junge Frau saß darin, das einstige Fräulein vom Schloß; sie sprach freundlich zu den Leuten, erzählte ihnen, daß sie ihr Gut jetzt selbst bewirthschaften und bewohnen werde, und bat um treue Nachbarschaft. Aber froh sah sie nicht aus, auch nicht ganz jung mehr, obwohl sie kaum mehr als fünfundzwanzig Jahre zählen mochte.
Die Leute wußten sich keinen Vers daraus zu machen; bald aber kam das Gerücht über Stadt und Land und auch in die Gaststube des Dorfkruges. Das in der Kirche drüben geschlossene vornehme Ehebündniß war nicht zum Guten ausgeschlagen. Die junge Frau sollte in der Residenz, wo ihr Gemahl eine Hofcharge bekleidete, eine Liebschaft mit einem jungen Professor gehabt haben; Einige wollten sogar gehört haben, es sei der ihnen wohlbekannte Hauslehrer des verstorbenen kleinen Junkers. Die Dame habe einmal selbst in großer Gesellschaft ihre Schuld verrathen, und nun sei sie so was wie verbannt und dürfe nicht in die Residenz zurückkehren.
Während dessen hauste die Baronin droben in dem alten Schlosse in großer Einsamkeit, denn niemals sah man aus der Stadt oder von den benachbarten Adelsfamilien einen Wagen an dem Tannicht hinauffahren. Wie der Schullehrer sagte, hatte sie sich Bücher aus der Stadt kommen lassen, in denen sie die Landwirthschaft studirte; auch mit Dorfleuten, wenn sie solche auf ihren täglichen Spaziergängen traf, führte sie gern derartige Gespräche. Ja, man hatte sie am heißen Juninachnmittage gesehen, wie sie auf einem Acker die Steine in ihre seidene Schürze sammelte und an die Seite trug, begleitet von einem großen schwarzen St. Bernhardshunde, der nie von ihrer Seite wich.
Sie mochte sich indessen doch der übernommenen Aufgabe nicht ganz gewachsen fühlen; denn vor etwa einem Vierteljahre war ein Verwalter angelangt; aber es war ein junger, vornehmer Herr, für den der Vater längst ein mehr als doppelt so großes Gut in Bereitschaft hatte. Die Bauern konnten nicht begreifen, was der in der kleinen Wirthschaft profitiren wolle, zumal sie es bald heraus hatten, daß er seine Sache aus dem Fundament verstehe; der Schulmeister meinte freilich, es sei ein weitläufiger Vetter der Baronin; allein der Förster wollte die Anwesenheit des jungen Herrn nicht als verwandtschaftliche Hülfeleistung gelten lassen. Er kniff die Augen ein und sagte geheimnißvoll: „Was einmal in der Stadt geschehen – – – nun Gevatter, Ihr seid ja ein Schulmeister, macht Euch den Satz selber zu Ende!“
An dem linken Ende der Front neben dem stumpfen Eckthurme führte eine schwere Thüre ins Haus. Rechts hinab, an der gegenüberliegenden breiten Treppenflucht vorbei, auf welcher man in das obere Stockwerk gelangte, zog sich ein langer Corridor mit nackten weißen Wänden. Den hohen Fenstern gegenüber, welche auf den geräumigen Steinhof hinaussahen, lag eine Reihe von Zimmern, deren Thüren jetzt verschlossen waren. Nur das letzte wurde noch bewohnt. Es war ein mäßig großes, düsteres Gemach; das einzige Fenster, welches nach der Gartenseite hinaus lag, war mit schweren, dunkelgrünen Wollgardinen halb verhangen. In der tiefen Fensternische stand eine schlanke Frau in schwarzem Seidenkleide. Während sie mit der einen Hand den Schildpattkamm fester in die schwere Flechte ihres ebenholzschwarzen Haares drückte, lehnte sie mit der Stirn an eine Glasscheibe und schaute wie träumend in den draußen webenden Septembernachmittag hinaus. Vor dem Fenster lag ein etwa zwanzig Schritte breiter Steinhof, welcher den Garten von dem Hause trennte. Ihre tiefblauen Augen, über denen sich ein paar dunkle, dicht zusammen stehende Brauen wölbten, ruhten eine Weile auf den kolossalen Sandsteinvasen, welche ihr gegenüber auf den hohen Säulen des Gartenthores standen. Zwischen den steinernen Rosenguirlanden, womit sie umwunden waren, ragten Federn und Strohhalme hervor. Ein Sperling, der darin sein Nest gebaut haben mochte, hüpfte heraus und setzte sich auf eine Stange des eisernen Garterthors; bald aber breitete er die Flügel aus und flog in dem schattigen Steig entlang, der zwischen hohen Hagebuchenwänden in den Garten hinabführte. Hundert Schritte etwa vor dem Thore wurde dieser Laubgang durch einen weiten sonnigen Platz unterbrochen, in dessen Mitte zwischen wuchernden Astern und Reseda die Trümmer einer Sonnenuhr auf einem kleinen Postamente sichtbar waren. Die Augen der Frau folgten dem kleinen Vogel; sie sah ihn eine Weile auf dem metallenen Weiser ruhen; dann sah sie ihn auffliegen und in dem Schatten des dahinter liegenden Laubganges verschwinden.
Mit leichtem Schritt, daß nur kaum die Seide ihres Kleides rauschte, trat sie in’s Zimmer zurück, und nachdem sie auf einem Schreibtische einige beschriebene Blätter geordnet und weggeschlossen hatte, nahm sie einen Strohhut von dem an der Wand stehenden Flügel und wandte sich nach der Thür. Von einem Teppich neben dem Kamin erhob sich ein schwarzer St. Bernhardshund und drängte sich neben ihr auf den Corridor hinaus. Während sie wie im stillen Einverständniß ihre Hand auf dem schönen Kopf des Thieres ruhen ließ, erreichten beide eine Thür, welche unterhalb der großen Haupttreppe in den schmalen Hof hinausführte. Sie gingen über die mit Gras durchwachsenen Steine und durch das dem Fenster des Wohnzimmers gegenüber liegende Gitterthor in den breiten Gartensteig hinab.
Die Luft war erfüllt von dem starken Herbstdufte der Reseda, welcher sich von dem sonnigen Rondel aus über den ganzen Garten hin verbreitete. Hier an der rechten Seite desselben bildete die Fortsetzung des Buchenganges eine Nachahmung des Herrenhauses: die ganze Front mit allen dazu gehörigen Thür- und Fensteröffnungen, das Erdgeschoß und das obere Stockwerk, sogar der stumpfe Thurm neben dem Haupteingange, Alles war aus der grünen Hecke herausgeschnitten und trotz der jahrelangen Vernachlässigung noch gar wohl erkennbar; davor breitete sich ein Obstgarten von lauter Zwergbäumen aus, an denen hie und da noch ein Apfel oder eine Birne hing. Nur ein Baum schien aus der Art geschlagen; denn er streckte seine vielverzweigten Aeste weit über die Höhe des grünen Laubschlosses hinaus. Die Dame blieb bei demselben stehen und warf einen flüchtigen Blick umher; dann setzte sie den geschmeidigen Fuß in die unterste Gabel des Baumes und stieg leicht von Ast zu Ast, bis die Umgebung der hohen Laubwände ihren Blick nicht mehr beschränkte.
Nach der Seite hin erhob sich der Tannenwald, unmittelbar am Garten, und verdeckte das tiefer liegende Dorf; vor ihr aber war die Schau in’s Land hinaus eine unbegrenzte. Unterhalb des Hochlandes, worauf das Schloß lag, breitete sich nach beiden Seiten eine dunkle Haidestrecke fast bis zum Horizont; in braunviolettem Duft lag sie da; nur an einer Stelle im Hintergrunde standen schattenhaft die Thürme einer Stadt. Die schlanke Frauengestalt lehnte sorglos an einen schwanken Ast, indeß die scharfen Augen in die Ferne drangen. – Ein Schrei aus der Luft herab machte sie emporsehen. Als sie über sich in der sonnigen Höhe den revierenden Falken erkannte, hob sie die Hand und schwenkte wie grüßend ihr Schnupftuch gegen den wilden Vogel. Ihr fiel ein altes Volkslied ein; sie sang es halblaut in die klare Septemberluft hinaus. – Aber unten neben dem auf dem Boden liegenden Sommerhut stand der Hund, die Schnauze gegen den Baum gedrückt, mit den braunen Augen zu seiner Herrin emporsehend. Jetzt kratzte er mit der Pfote an dem Stamme. „Ich komme, Türk, ich komme!“ rief sie hinab; und bald war sie unten und ging mit ihrem stummen Begleiter den hinteren Buchengang hinab, der von dem Rondel aus nach der breiten Lindenallee führte.
Als sie in diese eintrat, kam ihr ein junger, kaum mehr als zwanzigjähriger Mann entgegen, in dessen gebräuntem Antlitz mit der feinen vorspringenden Nase eine Familienähnlichkeit mit ihr nicht zu verkennen war. „Ich suchte Dich, Anna!“ sagte er, indem er der schönen Frau die Hand küßte.
Ihre Augen ruhten mit dem Ausdruck einer kleinen mütterlichen Ueberlegenheit auf ihm, als sie ihn fragte: „Was hast Du, Vetter Rudolph?“
„Ich muß Dir Vortrag halten!“ erwiderte er, während er [147] sie höfisch zu einer in der Nähe stehenden Gartenbank führte. Dann begann er, vor ihr stehend, einen ernsthaften Vortrag über die Drainirung einer kaltgründigen Gutswiese, über die Art, wie dies am zweckmäßigsten in’s Werk zu richten sei, und über die Kosten, die dadurch veranlaßt werden könnten. Er hatte schon eine Zeit lang gesprochen. Sie lehnte sich zurück und gähnte heimlich hinter der vorgehaltenen Hand. Endlich sprang sie auf. „Aber Rudolph,“ rief sie, „ich verstehe von alle dem nichts; Du hast es mir ja selbst erklärt!“
Er runzelte die Stirn. „Gnädige Frau!“ sagte er bittend.
Sie lachte. „So sprich nur; ich habe schon Geduld!“
Dann brachte er’s zu Ende. – Sie reichte ihm die Hand und sagte herzlich: „Du bist ein gewissenhafter Verwalter, Rudolph; aber ich werde mich nach einem andern umsehen müssen, ich kann dies Opfer nicht länger von Dir fordern.“
Ein leidenschaftlicher Blick traf sie aus seinen Augen.
„Es ist kein Opfer,“ sagte er, „Du weißt es wohl.“
„Nun, nun! Ich weiß es,“ erwiderte sie ruhig, „Du bist ja sogar als zehnjähriger Knabe mein getreuer Ritter gewesen. – Bestelle mir nur den Rappen; wir können gleich miteinander zur Wiese hinabreiten.“
Er ging; und sie sah ihm nachdenklich und leise mit dem Kopfe schüttelnd nach.
Bald waren Beide zu Pferde. Der junge Reiter suchte an ihrer Seite zu bleiben; aber sie war ihm immer um einige Kopfeslängen voraus. Sie ließ den Rappen ausgreifen, der Schaum flog von den Ketten des Gebisses, während der Hund in großen Sätzen nebenher sprang. Ihre Augen schweiften in die Ferne, über die braune Haide, auf der sich schon die Schatten des Abends zu lagern begannen. – – – –
Einige Stunden später saß sie wieder allein in ihrem Zimmer am Schreibtisch, die am Nachmittage weggeschlossenen Blätter vor sich. Neben ihr auf seinem Teppich ruhte Türk. – Von der Lampe beleuchtet erschien ihre nicht gar hohe Stirn gegen die Schwärze des schlicht zurückgestrichnen Haars von fast durchsichtiger Weiße. Sie schrieb nur langsam; mitunter ließ sie die Feder gänzlich ruhen und blickte vor sich hin, als suchte sie die Gestalten ferner Dinge zu erkennen. Sie gedachte einer Novembernacht, da sie zum letzten Mal vor ihrem gegenwärtigen Aufenthalt das Schloß betreten hatte. – Der Brief des Oheims, der ihr die Nachricht von der tödtlichen Erkrankung ihres Vaters in die Residenz brachte, trug auf dem Couverte einen mehrere Tage alten Poststempel. Eilig war sie abgereist; nun dämmerte schon der zweite Abend, und die Wälder und Fluren an der Seite des Weges wurden allmählich ihr bekannter. Schon machte aus der Dunkelheit die Nähe des letzten Dorfes sich bemerklich; sie hörte die Hunde bellen und spürte den Geruch des Haidebrennens. An einem kleinen Hause in der Dorfstraße hielt der Wagen. Ihre Jungfer stieg ab, der sie erlaubt hatte, bei ihren dort wohnenden Eltern bis zum andern Morgen zu bleiben. Dann ging es weiter; sie hatte sich in die Wagenecke gedrückt und zog fröstelnd den Mantel um ihre Schultern. Vor ihrem innern Auge war die Gestalt ihres Vaters, sie sah ihn, wie er in der letzten Zeit ihres Zusammenlebens zu thun pflegte, im Zwielicht in dem öden Rittersaale mit seinem Rohrstock auf und ab wandern; den weißen Kopf gesenkt, nur zuweilen vor einem der alten Bilder stehen bleibend oder aus den schwarzen Augen von unten auf einen Blick zu ihr hinüberwerfend. – Es war ganz finster geworden, die Pferde gingen langsam; aber sie wagte nicht den Postillon zum Schnellerfahren zu ermuntern. Eine unbewußte Scheu schloß ihr den Mund, es war ihr fast lieb, daß der Augenblick der Ankunft sich verzögerte. Immer aber, wenn sie die Augen schloß, sah sie die kleine hagere Gestalt an sich vorüberwandern, und unter dem Wehen des Windes war es ihr, als höre sie den bekannten abgemessenen Schritt und das Aufstoßen des Rohrstocks auf den Fußboden. – – Als die Ulmenallee erreicht war, welche über die Brücke nach dem Schloßhof führte, vernahm sie das Schlagen der Thurmuhr, deren Regulirung die alte Excellenz immer selbst überwacht hatte. Sie athmete auf und lehnte sich aus dem Wagen. Eine ungewohnte Helligkeit blendete ihre Augen, als sie in den Hof einfuhren. Die ganze obere Front des Gebäudes schien erleuchtet. Der Wagen rasselte über das Steinpflaster und hielt vor der Eingangsthür neben dem Thurm; der Postillon klatschte mit der Peitsche, daß es an den Mauern des alten Rittersaals wiederklang; aber es kam Niemand. Nach einer Weile vergeblichen Wartens ließ die zitternde Frau sich den Schlag öffnen und bezeichnete ihrem Fuhrmann einen Raum, worin er seine Pferde zur Nacht unterbringen könne. Dann stieg sie aus und trat, nachdem sie die schwere Thür zurückgedrängt, in den großen Corridor des Erdgeschosses. Einige Augenblicke blieb sie stehen und blickte unentschlossen um sich her. Auf den Geländersäulen der breiten Treppe, die in das obere Stockwerk führte, brannten Wachskerzen in schweren silbernen Leuchtern. – Sie beugte sich vor und lauschte; aber es war Alles still. Leise, kaum aufzutreten wagend, begann sie die Stufen hinanzusteigen. Da war ihr, als höre sie droben auf dem Flur die Thür zum Rittersaale knarren; und gleich darauf kam es ihr entgegen, die Treppe herab. Sie sah es nun auch, es war der Hund ihres Vaters; sie rief ihn bei Namen; aber das Thier hörte nicht darauf, er jagte an ihr vorbei auf den Corridor hinab und entfloh durch die offene Thür in’s Freie. – – Erst jetzt fiel ihr ein dumpfer Geruch von Rauchwerk auf. Sie stieg langsam die letzten Stufen in dem hellen Treppenhause hinauf, bis sie den oberen Flur erreicht hatte. Die Thür des Rittersaals stand offen; in der Mitte des weiten Raums sah sie zwei Reihen brennender Kerzen auf hohen Gueridons; dazwischen wie ein Schatten lag ein schwarzer Teppich. Aber es war Niemand drinnen; nur die Bilder verschollener Menschen standen wie immer schweigend an den Wänden. Die gegenüberliegende Thür zu des Oheims Zimmer war weit geöffnet, und auch dort schienen Kerzen zu brennen. Zögernd trat sie über die Schwelle in den Saal; aber von Scheu befangen blieb sie zunächst der Thür in einer Fensternische stehen. Als sie durch die Scheiben einen Blick in das Dunkel hinauswarf, sah sie drüben jenseits der Tannen, von dort, wo der Kirchhof lag, einen rothen Schein am Himmel lodern. – – Sie wußte es nun, sie war zu spät gekommen; unwillkürlich mußte sie die Augen in den leeren Saal zurückwenden Die Kerzen brannten leise knisternd weiter; nur mitunter, wo der Sarg mochte gestanden haben, lief ein Krachen über die Dielen, als drängte es sie, sich von der unheimlichen Last zu erholen, die sie hatten tragen müssen. – Es war nicht Trauer, es war nur Grauen, das sie empfand. – – – – – – – –
Aber ihre Gedanken waren ihrer Feder weit voraus.
Ich will es niederschreiben, mir zur Gesellschaft; denn es ist einsam hier, einsamer noch, als es schon damals war. Sie sind alle fort; es ist nur Täuschung, wenn ich draußen im Corridor mitunter das Husten der Tante Ursula oder die Krücke des kleinen Kuno zu vernehmen glaube. Es war ein goldner Herbsttag, als wir das Kind begruben; die Leute aus dem Dorfe standen alle umher mit jener schauerigen Neugier, die wenigstens den letzten Zipfel vom Leilaken des Todes noch in die Grube schlüpfen sehen will. – Dann, als ich fern war, starb die Tante, und dann mein Vater. Wie oft habe ich heimlich in seinen Augen geforscht, was wohl im Grund der Seele ruhen möge, aber ich habe es nicht erfahren; mir war, als hielten jene ausgeprägten Muskeln seines feinen Antlitzes gewaltsam das Wort der Liebe nieder, das zu mir drängte und niemals zu mir kam. – Droben im Rittersaal hängen noch die Bilder; die stumme Gesellschaft verschollener Männer und Frauen schaut noch wie sonst mit dem fremdartigen Gesichtsausdruck aus ihren Rahmen in den leeren Saal hinein; aber aus dem dahinter liegenden Zimmer läßt sich jetzt weder das Pfeifen des Dompfaffen, noch das Gekrächze Don Pedro’s, des lahmen Staarmatzes, vernehmen; der gute Oheim mit seinen harten Worten und seinem weichen Herzen, mit seinem todten und lebendigen Gethier hat es seit lange verlassen. Aber er lebt noch; er wird vielleicht zurückkehren, wenn es Frühling wird; und ich werde wieder, wie damals, meine Zuflucht in dem abgelegenen Zimmer suchen.
Damals! – – Ich bin immer ein einsames Kind gewesen; seit der Geburt des kleinen Kuno steigerte sich die Kränklichkeit meiner Mutter, so daß ihre Kinder nur selten um sie sein durften. Nach ihrem Tode siedelten wir hier hinüber. In der Stadt hatten wir, wie hergebracht, nur die Etage eines großen Hauses bewohnt; jetzt hatte ich ein ganzes Schloß, einen großen, seltsamen Garten und unmittelbar dahinter einen Tannenwald. Auch Freiheit hatte ich genug; der Vater sah mich meistens nur bei Tisch, wo wir Kinder schweigend unser Mahl verzehren mußten; die [148] Tante Ursula war eine gute förmliche Dame, die nicht gern ihren Platz dort in der Fensternische verließ, wo sie ihre saubern Strick- und Filetarbeiten für ferne und nahe Freunde verfertigte; hatte ich meinen Saum genäht und meine Lafontainesche Fabel bei ihr aufgesagt, so warf sie höchstens einen Blick durch’s Fenster, wenn ich mit dem grauen Windspiel meines Vaters zwischen den Buchenhecken des Gartens hinabrannte.
Spielgenossen hatte ich keine, mein Bruder war fast acht Jahre jünger als ich, und die von Adelsfamilien bewohnten Güter lagen sehr entfernt. Von den bürgerlichen Beamten aus der Stadt waren im Anfang zwar Einzelne mit ihren Kindern zu uns gekommen, da wir jedoch ihre Besuche nur selten und flüchtig erwiderten, so hatte der kaum begonnene Verkehr bald wieder aufgehört. – Aber ich war nicht allein, weder in den weiten Räumen des Schlosses, noch draußen zwischen den Hecken des Gartens oder den aufstrebenden Stämmen des Tannenwaldes; der „liebe Gott“, wie ihn die Kinder haben, war überall bei mir. Aus einem alten Bilde in der Kirche kannte ich ihn ganz genau, ich wußte, daß er ein rothes Unterkleid und einen weiten blauen Mantel trug; der weiße Bart floß ihm wie eine sanfte Welle über die breite Brust herab. Mir ist, als sähe ich mich noch mit dem Oheim drüben in den Tannen; es war zum ersten Mal, daß ich über mir das Sausen des Frühlingswindes in der Krone eines Baumes hörte. „Horch!“ rief ich und hob den Finger in die Höhe, „da kommt er!“ – „Wer denn?“ – „Der liebe Gott!“ – Und ich fühlte, wie mir die Augen groß wurden; mir war, als sähe ich den Saum eines blauen Mantels durch die Zweige wehen. – Noch viele Jahre später, wenn Abends in meinem Kissen der Schlaf mich überkam, war mir, als läge ich mit dem Kopf in seinem Schooß und fühlte seinen sanften Athem an meiner Stirn.
Mein Lieblingsaufenthalt im Hause war der große Rittersaal, der das halbe obere Stockwerk in seiner ganzen Breite einnimmt. Leise und nicht ohne Scheu vor der schweigenden Gesellschaft drinnen schlich ich mich hinein; über dem Kamin im Hintergrund des Saales, von Marmor in Basrelief gehauen, ist der Krieg des Todes mit dem menschlichen Geschlechte dargestellt. Wie oft habe ich davor gestanden und mit neugierigem Finger die steinernen Rippchen des Todes nachgefühlt! – Vor Allem zogen mich die Bilder an, auf den Zehen ging ich von einem zu dem andern; nicht müde konnte ich werden, die Frauen in ihren seltsamen rothen und feuerfarbenen Roben, mit den Papageien auf der Hand oder dem Mops zu ihren Füßen wieder und wieder zu betrachten, deren grelle braune Augen so eigen aus den blassen Gesichtern herausschauten, so ganz anders, als ich es bei den lebenden Menschen gesehen hatte. Und dann dicht neben der Eingangsthür das Bild des Ritters mit dem bösen Gewissen und dem schwarzen, krausen Bart, von dem es hieß, er werde roth, sobald ihn Jemand anschaue. Ich habe ihn oftmals angeschaut, fest und lange; und wenn, wie mir es schien, sein Gesicht ganz mit Blut überlaufen war, so entfloh ich und suchte des Oheims Thür zu erreichen. Aber über dieser Thür war ein anderes Bild, es mochten die Portraits von Kindern sein, die vor einigen hundert Jahren hier gespielt hatten; in steifen, brocatnen Gewändern mit breiten Spitzenkragen standen sie wie die Kegel neben einander, Knaben und Mädchen, Eines immer kleiner als das Andere. Die Farben waren verkalkt und ausgeblichen, und wenn ich unter dem Bilde durch die Thür lief, war es mir, als blickten sie Alle aus den kleinen begrabenen Gesichtern mit ihren beerschwarzen Augen auf mich herab. War dann der Oheim in seinem Zimmer, so flog ich auf ihn zu, und er, von seinen Büchern auffahrend, schalt mich dann wohl und rief: „Was ist? Sind Dir die albernen Bilder schon wieder einmal auf den Hacken?“
Großes Bedenken hatte es für mich, in der Dämmerung durch den Saal zu kommen. Zum Glück waren die sich gegenüberstehenden Thüren an der Gartenseite, die Fenster sahen hier nach Westen, und der Abendschein stand tröstlich über dem Tannenwalde. In des Oheims Zimmer waren dann die Vogelstimmen schlafen gegangen; nur draußen vor dem Fenster wurde der Kauz in seinem großen Käfich nun lebendig. Der Oheim saß dann wohl mit gefalteten Händen in seinem Lehnstuhl, während das Abendroth friedlich durch die Fenster leuchtete. Aber ich wußte ihn zum Sprechen zu bringen; ich ließ mich nicht abweisen, bis er mir das Märchen von der Frau Holle oder die Sage vom Freischützen erzählte, an der ich mich nie ersättigen konnte. Einmal freilich, als die Geschichte eben im besten Zuge war, stand er auf und sagte: „Aber, Anna, glaubst Du denn all’ das dumme Zeug? – Wart nur ein wenig,“ fuhr er fort, indem er seine Schiebelampe anzündete, „Du sollst etwas hören, was noch viel wunderbarer ist.“ Dann haschte er eine Fliege und, nachdem er sie getödtet, legte er sie vor uns auf den Tisch. „Betrachte sie einmal genau!“ sagte er. „Siehst Du an ihrem Körperchen die silbernen Pünktchen auf dem schwarzen Sammetgrunde, die zwei schönen Federchen an ihrem Kopf?“ Und während ich seiner Anweisung folgte, begann er mir den kunstreichen Bau dieses verachteten Thierchens zu erklären. Aber ich langweilte mich; die Wunder der Natur hatten keinen Reiz für mich nach den phantastischen Wundern der Märchenwelt. – – –
Indessen war ich unmerklich herangewachsen; und wenn ich, was selten genug geschah, einmal vor meinem Spiegel stand, so schaute mir eine schmächtige Gestalt mit einem gelben scharfgeschnittenen Gesicht entgegen. Zwar bemerkte ich die auffallende Bläue meiner Augen; im Uebrigen aber hatte dies zigeunerische Wesen mit dem ebenholzschwarzen Haar keineswegs meinen Beifall. Mein Aussehen kümmerte mich indessen wenig. Ich war über die Bibliothek meines Vaters gerathen, in der sich eine Anzahl schönwissenschaftlicher Bücher aus dem Ende des vorigen Jahrhunderts befand. Ich begann zu lesen, und bald befiel mich eine wahre Lesewuth; ich kauerte mit meinen Büchern in den heimlichsten Winkeln des Hauses oder des Gartens und hatte ein paar Mal eine strenge Rüge meines Vaters zu erdulden, weil ich nicht gehört, daß ich zu Tisch gerufen wurde.
Eines Nachmittags war ich draußen, mein Lesefutter in der Tasche, in eine der oberen Fensterhöhlen des Laubschlosses hineingeklettert und hatte es mir auf dem flach geschorenen Gezweig bequem zu machen gewußt. Ich saß im Schatten, die grüne Blätterwölbung über mir, und hatte mich bald in ein Bändchen von Musäus’ Volksmärchen vertieft, während unten in der Mitte des Rondels die heiße Junisonne kochte. Plötzlich kam die Stimme des Oheims in meine Märchenwelt hinein. Als ich hinabblickte, sah ich ihn zwischen den Zwergbäumchen stehen und, die Augen mit der Hand beschattend, zu mir hinaufreden. „So?“ rief er, „es wird sich wohl Niemand darum kümmern, wenn Du hier das Genick brichst?“
„Ich breche ja nicht das Genick, Onkel!“ rief ich hinunter, „es sind lauter alte vernünftige Bäume!“
Aber er ließ sich nicht beruhigen; er holte eine Gartenleiter, stieg zu mir hinauf und überzeugte sich selbst von der Sicherheit meines luftigen Sitzes. „Nun,“ sagte er, nachdem er noch einen kurzen Blick in mein Buch geworfen hatte, „Du bist ja doch nicht zu hüten; spinne nur weiter, Du wilde Katz!“ – –
Um dieselbe Zeit war es, daß eine seltsame Schwärmerei von mir Besitz nahm. Im Rittersaal auf dem Bilde oberhalb der Thür befand sich seitab von den reichgekleideten Kindern noch die Gestalt eines etwa zwölfjährigen Knaben in einem schmucklosen braunen Wams. Es mochte der Sohn eines Gutsangehörigen sein, der mit den Kindern der Schloßherrschaft zu spielen pflegte; auf der Hand trug er, vielleicht zum Zeichen seiner geringen Herkunft, einen Sperling. Die blauen Augen blickten trotzig genug unter dem schlicht gescheitelten Haar heraus; aber um den fest geschlossenen Mund lag ein Zug des Leidens. Früher hatte ich diese unscheinbare Gestalt kaum bemerkt; jetzt wurde es plötzlich anders. Ich begann der möglichen Geschichte dieses Knaben nachzusinnen; ich studirte in Bezug auf ihn die Geschichte seiner vornehmen Spielgenossen. Was war aus ihm geworden, war er zum Manne erwachsen und hatte er später die Kränkungen gerächt, die vielleicht jenen Schmerz um seine Lippen und jenen Trotz auf seine Stirn gelegt hatten? – Die Augen sahen mich an, als ob sie reden wollten; aber der Mund blieb stumm. Ein schwermüthiges, mir selber holdes Mitgefühl bewegte mein Herz; ich vergaß es, daß diese jugendliche Gestalt nichts sei, als die wesenlose Spur eines vor Jahrhunderten vorübergegangenen Menschenlebens. So oft ich in den Saal trat, war mir, als fühle ich die Augen des Bildes auf meinen Lidern, bis ich emporsah und den Blick erwiderte; und Abends vor dem Einschlafen war es nun nicht sowohl das Antlitz des lieben Gottes, als viel öfter noch das blasse Knabenantlitz, das sich über das meine neigte. Einmal, da der Oheim über Feld war, trat ich aus seinem Zimmer, wo ich die Fütterung des Käuzchens besorgt hatte. Während ich durch den Saal ging, wandte [149] ich den Kopf zurück und sah das Bild oberhalb der Thür von der Nachmittagssonne beleuchtet, die durch die naheliegenden hohen Fenster schien. Das Gesicht des Knaben trat dadurch in einer Lebendigkeit hervor, wie ich es bisher noch nicht gesehen, und mich erfaßte plötzlich eine unwiderstehliche Sehnsucht, es in nächster Nähe zu betrachten. Ich horchte, ob Alles still sei; dann schleppte ich mit Mühe drei an den Wänden stehende Tische vor des Oheims Thür und thürmte sie auf einander, bis ich die Höhe des Bildes erreicht hatte. Während ich mitunter einen scheuen Blick über die schweigende Gesellschaft an den Wänden gleiten ließ, mit der ich mich in dem großen Raume eingeschlossen hatte, kletterte ich mit Lebensgefahr hinauf. Als ich oben stand, wallte mein Blut so heftig, daß ich das laute Klopfen meines Herzens hörte. Das Angesicht des Knaben war gerade vor meinem eigenen; aber die Augen lagen schon wieder im Schatten; nur die rothen, festgeschlossenen Lippen waren noch von der Sonne beleuchtet. Ich zögerte einen Augenblick, ich fühlte, wie mir der Athem schwer wurde, wie mir das Blut mit Heftigkeit in’s Gesicht schoß; aber ich wagte es und drückte leise meinen Mund darauf. – Zitternd, als hätte ich einen Raub begangen, kletterte ich wieder hinab und brachte die Tische an ihre Stelle.
Es war auf der Insel Föhr, einem jener siebenzehn Frieseneilande, welche zwischen Neutief und Listertief liegen, und die sogenannte Nordseeinselkette bilden. Die Inselkette dehnt sich sechzig deutsche Meilen Weges aus. Früher waren diese siebenzehn Inseln weit größer. Vor dem zwölften Jahrhundert hingen mehrere derselben noch zusammen; am kleinsten sind die Inseln zwischen dem Dollart und der Elbe geworden. Seit vielen Jahrhunderten pflegt alle 35 bis 40 Jahre nach einem uns unbekannten Naturgesetz eine ungewöhnlich hohe Sturmfluth einzutreten, welche, wenn sie sich bei einem wirklichen Nordseeorkan oder im Winter ereignet, die ganze friesisch-deutsche Nordwestküste unter Wasser setzt. Die Sturmfluthen und die Nordwestorkane haben in den verflossenen Jahrhunderten die siebenzehn Frieseneilande in Brocken verwandelt; aber diese Brocken sind die Außenbollwerke für die binnenliegenden 70 Meilen langen Marschstrecken mit goldenem Boden, ein Bollwerk von Sand, die goldenen Ringe um die Goldfelder der Nordwestküste Deutschlands. Die ganze Nordseeinselkette ist dem allmählichen Untergange durch die Sturmfluthen der Nordsee geweiht. Was gewesen ist, kann wiederkommen und wird wiederkommen. See und Sturm bleiben immer, was sie waren, und wie sie waren, aber die Gewalt der Winde wird stärker, wie die Gewalt der Wogen.
Es war ein heller, leuchtender Septembermorgen. Neben mir auf dem Bogen der Brücke in Wyk, wo die Dampfschiffe zu landen pflegen, welche nach Föhr und nach Silt während der Badesaison fahren, saß heute ein lieber Freund, Dr. jur. Petermann, Advocat in Alt-Strelitz in Mecklenburg. In dem in ganz Deutschland berühmt gewordenen Rostocker Hochverrathsproceß hatte er sich des Verbrechens der „Mißlichkeit“ schuldig gemacht, welches man in Mecklenburg, wie in Schleswig begehen kann, und war seiner [150] Stelle als Gerichtsdirector entsetzt worden. Am Horizont hoben sich die friesischen „Halligen“ wie ganz schmale Streifen Landes von der Meeresfläche ab. Sie erschienen wie schwimmende Inseln mit Besten und Burgen. Das Meer hatte heute eine helle Farbe, so hell, wie die Nordsee überhaupt aussehen kann, welche nicht so bläulich abgeklärt ist, wie die Ostsee. Gerade uns gegenüber hob sich Oland über den klaren Meeresspiegel empor, die kleinste, ödeste und verlassenste der friesischen Halligen. Am Strande lag der „Nautilus“, der beste Schooner im Hafen von Wyk, segelfertig, und der brave Moritz Petersen, mit dem ich manche Fahrt über die Nordsee gemacht habe, befahl seinem Steuermann die Segel aufzuziehen. Oland sollte das Ziel unsers heutigen Ausflugs sein. Man hatte mir erzählt, daß einer der würdigsten deutschen Prediger nach dieser öden Insel verbannt sei, und diesen verbannten Pastor wollte ich besuchen. Die Gründe seiner Verbannung konnte mir Niemand angeben; aus den Erzählungen des verschiedenartigsten Inhalts schloß ich nur, daß sein Verbrechen gegen die dänische Regierung auch unter die weite Kategorie der „Verbrechen der Nützlichkeit“ falle, deren ein Deutscher sich in Dänemark schon durch stumme Demonstrationen schuldig machen kann.
Der Wind blies aus Südost und kräuselte die Meeresfläche leicht auf. Die Danebrogfahnen, welche am Strande an drei hohen Masten befestigt sind, blähten sich stolz auf, die dänische Musik begann die ihre melodische Schwester an Schönheit noch übertreffende Melodie „vorn tappern Seesoldaten“ zu spielen, der Wind füllte das Segel, der Nautilus flog wie eine weißbeschwingte Möve über die grünen Wogen, und nach einer Viertelstunde lag die ganze dänische Herrlichkeit mit ihrer Bademusik, Danebrogsfahnen und Badekarten weit hinter uns. Schweigend bewunderten wir die Herrlichkeit und Majestät des Meeres. Hie und da erhob sich der schwarze Kopf eines Seehundes aus der schimmernden Fläche, schaute uns neugierig an und verschwand dann wieder ebenso schnell unter dem Wasser. Es war eine interessante und merkwürdige Tiefe, über welche wir hinfuhren, welche vielleicht zu den interessantesten Meerestiefen an den europäischen Küsten gehört. Jetzt deckte diese Tiefen ein schimmernder Schleier spiegelnden Wassers. Aber mein Freund zog eine Seekarte hervor und breitete sie auf der Bank aus, auf der wir saßen, und auf dieser Seekarte sahen wir nun Alles, was der schimmernde Wasserschleier, in dem der Kiel des Schiffes eine lange, in allen Farben des Prisma’s im Reflex der Sonnenstrahlen glitzernde Furche zog, verbarg. Da erkannten wir in den tieferen Wasserstreifen den Lauf der Flüsse, welche ehemals hier durch das Land zum Meere strömten, da blühen an ihren Ufern farbenstrahlende Blumen, da wogten gelbe Kornfelder, da erblickten wir die versunkenen Dörfer mit ihren uralten, viereckigen Kirchthürmen, da sahen wir die versunkenen Wiesen und Fluren, welche noch heute alle ihre alten Namen haben, wie sie vor vielen hundert Jahren hießen. Heute haben sie sich in Sandbänke verwandelt, und die Sandbänke bezeichnet der Schiffer noch nach den Namen der Dörfer, welche einst zwischen diesen Wiesen und diesem Ackerlande standen, und vermeidet sie mit derselben Sorgfalt, wie einst der Wanderer sie suchte. Hie und da zog sich eine leise Brandung in langen Windungen durch die grünschimmernde Oberfläche des Meeres, und die Sonnenfunken spielten mit einander in dem weißen Gekräusel. In der Ferne erscheinen diese leisen Brandungen wie lange, gefärbte Streifen. „Kapplings“ nennt sie der Seefahrer; sie sind die verschiedenen Strömungen der Nordsee, welche sich gegenseitig treffen und sich am Rande in die Höhe heben. Und diese Strömungen entstehen weit unten aus den höher liegenden Sandbänken, welche einst Ackerland waren. Alles das sahen wir auf der Seekarte, und dann blickten wir hinunter über den Rand des Schiffes, auf das spiegelnde, durchsichtige Wasser, und oft glaubten wir auf dem Grunde des Meeres alle die weißen Dörfer und die altersgrauen Kirchthürme und die grünen Wiesen und die gelben, wogenden Kornfelder und die farbenstrahlenden Blumen wiederzuerkennen; die Sagen und die historischen Erinnerungen, welche sich hier an jede Tiefe, an jede Sandbank knüpfen, reihten sich in unserm Gedächtniß aneinander; sie sprachen von Liebe und traulichem Stillleben, von gebrochenen Herzen friesischer Mädchen, deren langerwartete Geliebten in den Sturmfluthen der indischen Meere versanken, von flackernden Heerdesflammen und fröhlichen Sonntagen, und wir glaubten oft tief da unten die Kirchenglocken läuten zu hören, welche zum Gottesdienst riefen, und wir sahen die Häuser und die Steintrümmer, welche noch heute da unten im Sande versteckt liegen und unter denen die Knochen der Unglücklichen bleichen, welche in einer jener immer wiederkehrenden, angstvollen friesischen Nächte voll Sturmgeheul und Nothgeschrei mit den Wogen kämpfender Menschen ihren Tod fanden. Ja, es giebt noch Orte – so erzählte man mir auf der Hallige Langenneß – wo diese Trümmer noch in ihrer wirklichen Gestalt über der Fläche des Meeres, wie körperliche Gespenster der Vergangenheit, erscheinen, wenn die langanhaltenden Ostwinde alle Wasser in die hohe See Hinaustreiben und weite Strecken Meeresboden bloßlegen. Dann ist die alte Verbindung der Halligen unter einander wiederhergestellt, und die „Halligmänner“ und die „Halligfrauen“ von Oland und Langenneß und Amram besuchen sich unter einander, über den „Schlick“ laufend, bis die Fluth wiederkommt und den alten Meeresboden von Neuem mit ihren dahinströmenden Wellen bedeckt. So erzählte auch unser braver Petersen, als wir über die schimmernde Tiefe, den Flug der Möven kreuzend, welche sich die weißen Flügel in den Wellen netzten, vor dem stärker wehenden Ostwinde dahin flogen, während er das Steuer direct auf Oland hielt, welches sich in scharfen Contouren am Horizonte abzeichnete, und wo wir bereits die einzelnen Häuser und die alte Kirche ganz deutlich unterschieden.
„Hier sind es die Wasserströmungen, welche über die blühende, lebendige Gegenwart einst dahin tobten. Alles verderbend und in ihre Strudel niederreißend,“ sagte mein Freund mit traurigem Blick, die Seekarte zusammenfaltend; „bei Neapel waren es die Lavaströme, welche aus dem Krater des Vesuv niederstürzten und Städte und Fluren mit ihren feurigen Armen umschlangen. Sie sahen ja diese versteinerten Lavaströme, jetzt vor einem Jahre; vielleicht gerade heute. Wasser und Feuer! In den Resultaten der Zerstörung ist es ganz dasselbe. Aber wir sind ganz nahe an Oland. Der Nautilus wird gleich auf dem Sande festsitzen. Sehen Sie, ich sehe ganz deutlich den Meeresgrund!“
Ungefähr zweihundert Ellen vor uns erhob sich Oland kaum um einige Fuß über der Meeresfläche. Es war halbe Ebbe. Zur Fluthzeit ragen die Halligen nur wenige Zoll über die Oberfläche des Wassers hervor. Wahrscheinlich ist die Höhe des Halliglandes die mittlere Höhe der Fluthen, welche sich in fünfzig Jahren ereignen. Das Meer hat das Land gerade so hoch aufgeworfen, um es ein anderes Mal wieder verschlingen zu können. Beim Anblick des Landes dachte ich unwillkürlich an das Bild eines Schiffes, welches bis an den Rand in das Wasser gesunken ist. Rund herum war das Ufer von den Wellen abgenagt und abgerissen. Der ganze Umfang der kleinen Insel mochte kaum eine halbe Stunde betragen. Einst war Oland größer; man nannte es im Friesenlande sogar „das reiche Oland“. Jene Zeit ist lange vorüber. Jetzt ist Oland die ödeste und verlassenste unter allen Halligen. Die große Sturmfluth im Jahre 1825 riß einen großen Theil der Insel hinunter auf den Grund des Meeres und verschlang ein ganzes Dorf. Hunderte von Menschen ertranken in den brausenden Fluthen. Eine alte Frau auf der Hallige Langenneß schilderte mir jene Sturmnacht, welche sie als junges Mädchen auf dem Dache ihres väterlichen Hauses zugebracht hatte.. Die Fluthen hatten die Gräber des Friedhofes aufgewühlt, die Särge kamen in die Stube geschwommen, und die Todten fielen aus den morschen Bretern, und ihre grinsenden Köpfe starrten die Lebenden an, welche bereits halbtodt vor Angst und Entsetzen waren. Auf der ganzen Insel erblickten wir nicht einen einzigen Baum. Ein warmer Sonnenschein lag aus den grünen Wiesen, auf denen Schafe weideten und die Bewohner beschäftigt waren, das Heu in Sicherheit zu bringen. Auf einem ungefähr zwanzig Fuß über der Fläche der Insel sich erhebenden Walle standen an einander gedrängt ein Dutzend Häuser, neben ihnen die Kirche, ein weißes, schmuckloses Gebäude mit einem Schieferdache. Nirgends war die Insel durch einen Damm oder Deich geschützt. Die Halligmänner von Oland sind zu arm, um Deiche zu bauen. Mit größter Vorsicht lenkte der Schiffer den Schooner mit dem Steuer, ihn immer in dem tiefern Fahrwasser haltend. So fuhren wir noch einige hundert Ellen langsam am östlichen Ufer der Insel entlang. Ueberall sahen wir die zerstörende Wirkung der Fluthen. Brockenweise waren die höheren Ränder in’s Wasser gestürzt. Oland bot einen überaus traurigen und melancholischen Anblick. Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, daß die nächste Sturmfluth die Insel verschlingen würde. Mein Freund recitirte die Rückert’schen Verse:
[151]„Ich fuhr an einer Stadt vorbei,
Ein Mann im Garten Früchte brach –
Und abermals nach fünfhundert Jahren
Kam ich wieder des Weges gefahren,
Da fand ich ein Meer, das Wellen schlug,
Ein Schiffer warf die Netze frei – –“
„Fünfhundert Jahre?“ rief der Schiffer, „nein, nur zwanzig. Alle fünfzig Jahre kehren die großen Sturmfluthen wieder. Vor dreißig Jahren war die letzte Sturmfluth. Oland hat noch zwanzig Jahre auf der Erde zu leben.“
Da erfolgte ein Ruck, dann noch ein Stoß. Der Nautilus saß fest auf dem Meeresboden. „Jetzt geht’s ans Reiten,“ rief Petersen, und sprang in’s Wasser, welches ihm fast bis an die Hüften reichte. Auf seinen Schultern trug er uns an’s Land. Dann zogen wir, da es keinen Pfahl und keinen Baum zum Anbinden des Schooners gab, denselben vermittelst eines langen Taues mit vereinten Kräften auf’s Land.
Wir standen auf festem Boden und nahmen unsern Weg über die Wiesen nach dem Wurtdorfe. Ueberall zogen sich schmale Canäle durch die Wiesen hin, sich vielfach verzweigend. Oft waren sie so schmal, daß wir sie überspringen konnten; die breitern Canäle überschritten wir auf darüber hingelegten Baumstämmen, welche an der obern Fläche platt behauen waren. Die Friesen nennen diese Canäle „Schlote“. Sie hatten schroff abfallende Ufer, welche, völlig parallel laufend, bei ihrem Ursprunge sich in einer ganz schmalen Spitze im Grase verloren. In diese Spitze mündete dann ein anderer Schlot wiederum mit seiner Spitze, und in dieser Gestalt verbreiteten sich die Schlote über sämmtliche Wiesen, wie die Zweige eines Flußsystems. Die Schlote sind die Kinder der Ebbe und der Fluth. Zur Fluthzeit sind sie bis oben an den Rand voll Wasser; während der Ebbe laufen sie stellenweise ganz aus. Jede neue Fluth erweitert sie, und drückt die Risse nach und nach tiefer in den Boden hinein. So setzt das Meer sein Zerstörungswerk gegen die Halligen unaufhörlich von zwei Seiten fort. Während die Wellen die Ufer von außen benagen, und sie stückweis abbröckeln, höhlt es auch von unten den Boden fortwährend aus, ihn mit Hunderten von Schlotarmen umfassend. Heute wehte auf diesen Wiesen, welche der fortwährenden Zerstörung geweiht sind, eine warme Sommerluft. Aber im Herbst und Winter streichen beständig die Meeresstürme darüber hin, und täglich bedeckt sie zweimal die salzige Woge. Und doch lieben die armen Halligbewohner ihr trauriges, ödes Vaterland, wie der schweizerische Hirt seine schimmernden Schneefelder und seine eisstarrenden Gletscher, wie der Araber seine sandige Wüste und wie der Kirgise seine öde Steppe. In den Meeren Westindiens, an den Goldküsten von Guinea, an den Inseln des atlantischen Oceans, dessen Wellen er auf englischen und Hamburger Schiffen als Matrose oder als Steuermann durchfährt, überall, in den Palmenwäldern und in den Lorbeerhainen, im Duft der Lotosblumen des Ganges und an den orangengeschmückten Gestaden des mittelländischen Meeres fühlt sein Herz die schmerzliche Sehnsucht des Heimwehs; und das Heimweh führt ihn nach Jahren zurück nach seinem vom salzigen Seewasser triefenden Wohnsitz, um wieder in seinem ärmlichen Wurtdorfe zu wohnen und von Neuem den Kampf mit den mitleidslosen Wogen zu beginnen, bis eine neue, wilde Sturmnacht ihn in sein nasses Grab hinunterreißt. Was ist der Grund dieses eigenthümlichen Heimwehs? Niemand hat es bis jetzt ergründet. Es ist eins von den Geheimnissen des Menschenherzens, eins jener Räthsel, welche kein Psychologe jemals lösen wird. Auch der Zigeuner sehnt sich aus den goldgeschmückten Gemächern des Palastes nach seiner ärmlichen Hütte auf der windumrauschten Haide. Ich war nie im Stande, über den Grönländer zu lachen, der, als er in Kopenhagen am Strande stand und traurig auf das Meer blickte, wie die Wellen einen Seehund an’s Land spülten, über den Leichnam des Thieres herstürzte, es umarmte und in Thränen ausbrechend die Worte rief: „O, mein theures Vaterland!“
Die Halligmänner und Halligfrauen von Oland waren mit dem Einbringen des Heus auf einer nahe am Wurtdorf belegenen Wiese vollauf beschäftigt. Es ging dabei ganz still und ruhig zu, geschäftig rannten sie, die Heubündel in große weiße Laken gepackt auf den Köpfen, nach dem Wurtdorfe hinauf, um eiligen Laufes zurückzukommen und das Geschäft zu wiederholen. Wir hörten kein Gelächter, kein Singen, kein Gespräch; schweigend wurde die Sache abgemacht. Nur die eilig nach dem Dorfe und rückwärts trippelnden Füße zeigten an, wie wichtig hier die Zeit sei. Es schien ein warmer Tag zu werden, und im Westen thürmten sich einige verdächtige Wolkenberge auf, ein Zeichen, daß es heute noch eine Springfluth geben und das Meer über seine Ufer steigen könne. Deshalb waren die Halligbewohner so eilig in der Arbeit. Eine einzige Springfluth konnte sie um die Ernte eines Jahres bringen. „Der blanke Hans“, wie man hier das Meer nennt, ist ebenso listig, wie gewaltthätig. Deshalb besitzt man in jedem Hause eine Fluthtabelle, auf der für jeden Tag des Jahres die Stunde der Fluth und der Ebbe, sowie die außergewöhnlichen Springfluthen bezeichnet sind. Fluth und Ebbe, Wetter und Springfluthen sind hier die bewegenden Kräfte, um die Jahr aus Jahr ein sich die Beschäftigung und die Eintheilung der Zeit der Halligbewohner dreht. Oft kommt die Springfluth um Mitternacht; dann steigen sie eilig aus ihren Betten, stürzen aus den Häusern halbbekleidet auf die Wiesen und entreißen das Heu den heranstürmenden Wogen; oft schleicht sie während der Predigt heran; dann steigt ein Halligmann leise auf die Kanzeltreppe, zupft den Pfarrer am Priesterrock und flüstert: „Herr Pastor, das Wasser kommt.“ Dann hört der Pfarrer mitten in der Predigt auf und eilt an der Spitze seiner Gemeinde auf die Wiese, um das Heu zu bergen, welches eine Stunde später der Raub des Wassers gewesen sein würde. Das Heu ist ja der Haupterwerb dieser Armen, welche außerdem nur von der Wolle ihrer Schafe, von dem Verkauf ihrer Lämmer und der Butter und dem Käse leben, den ihre wenigen Kühe liefern. Und deshalb waren sie auch heute so eilig, so still und so geschäftig. Wir gingen mitten durch ihre Reihen. Sie sahen frisch und gesund aus. Die Seeluft und der Seewind auf den Halligen conserviren vortrefflich. Ich habe Frauen auf den Halligen gesehen, denen ich höchstens ein Alter von vierzig Jahren gegeben hätte, obschon sie über die Mitte der Fünfzig hinaus waren. Pferde haben sie nicht, um das Heu einzufahren; deshalb müssen sie es selbst in ihre Häuser tragen. Mancher Halligbewohner hat niemals ein Pferd gesehen, wie die Einwohner von Venedig. Auf den größern Halligen werden während der Heuernte einige Pferde vom Festlande eingeführt, welche dann nach Beendigung derselben zurückgebracht werden.
Die Zukunfts-Medicin.
Menschheit! willst Du denn wirklich niemals klug werden und Dich nie aus den Fesseln des Aberglaubens, nämlich in Bezug auf Dein Gesund- und Kranksein, erlösen lassen? Willst Du denn wirklich Deinen Verstand, der sich doch sonst nicht gar so schwach und erbärmlich zeigt, in dieser Beziehung niemals richtig gebrauchen lernen?
Du fragst ganz ernsthaft in Deiner Kindischheit: „aber warum hat denn der liebe Gott die Arzneimittel erschaffen, wenn sie nicht gebraucht werden sollten?“ Kannst Du Dir denn wirklich nicht selbst darauf antworten: der Mensch hat ja erst jene große Menge theils pflanzlicher und thierischer, theils unorganischer (salziger, metallischer, steiniger, erdiger, gasförmiger) Schöpfungsproducte zu Arzneimitteln gestempelt und künstlich zugerichtet. Und daß sich dies wirklich so verhält, das geht recht deutlich daraus hervor, daß die Anzahl derselben tagtäglich in Folge der Entdeckungssucht mittelsüchtiger Heilkünstler und geldsüchtiger Charlatane fortwährend so wächst, daß bald kein einziger Gegenstand in irgend einem Welttheile mehr von der Heilverpflichtung verschont bleiben wird.
Oder meinst Du wirklich, daß der liebe Gott Stoffe zum Heilen von Krankheiten erschaffen hat, wie: gebrannte Schuhsohlen, pulverisirte Edelsteine und Mumien, Pfauendreck und weißen Hundekoth, gedörrte Bienen, Kröten und Schlangen, getrocknete Regenwürmer, geraspeltn Menschenhirnschädel und Rhinoceroshorn, Eselsklaue und Wildschweinszahn, Hechtszähne und Aalraupen-Rückgräten;
[152] gräten; Aal-, Hunde-, Biber-, Katzen-, Storch-, Wachtel-, Pferde-, Hühner-, Hasen-, Hecht-, Murmelthier-, Schlangen-, Dachs-, Ratten-, Bären-, Fuchs-, Bocks-, Ziegen-, Hirsch- und Menschen-Fett; Spinnweben, Moos von Menschenhirnschädeln, eingetrocknete Hecht-, Rebhühner- und Ochsengalle; Bockshaare und Rebhühnerfedern u. s. f.? – Von Pflanzensamen, Wurzeln, Hölzern, Kräutern, Schwämmen, Blumen, Früchten, Harzen u. dgl. haben aber fast alle schon und in allen nur möglichen Formen als Arzneimittel herhalten müssen.
Denkender Leser! Denkst Du Dir denn wirklich gar nichts dabei, wenn Du tagtäglich siehst und hörst, daß dieselbe Krankheit bei den verschiedenartigsten Heilmethoden, durch die verschiedenartigsten Mittel und Hokuspokuse geheilt wird; – daß ganz ungebildete Menschen ohne den geringsten Begriff von Heilkunst ebenso gut Kranke herstellen, wie die gelehrtesten Doctoren; – daß Mensch und Thier ohne Arznei und Arzt gesundet; – daß sehr oft bei Krankheiten alle die dagegen gerühmten Mittel nichts helfen und daß dem Reichen trotz aller seiner Schätze bei vielen Krankheiten ebensowenig geholfen wird, wie dem Armen; – daß ein und dieselbe medicinische Autorität bei ganz derselben Krankheit bald dieses bald jenes Arzneimittel als ausgezeichnet empfiehlt; – daß verschiedene medicinische Größen bei ganz derselben Krankheit ganz verschiedene Mittel empfehlen; – daß schließlich bei allen Fortschritten der Heilkunde doch im Ganzen eben noch so viele Menschen sterben, und daß bei den verschiedenartigsten Heilmethoden die Zahl der Sterbenden, ebenso wie der Genesenden, ziemlich dieselbe bleibt, wie ehedem?
Wolltest Du nur ein kleines Bischen über diese Thatsachen nachdenken, so müßtest Du doch endlich auf den Gedanken kommen, daß hier wohl etwas Besonderes im Spiele sein und wahrscheinlich im kranken Körper Etwas geschehen muß, was vom Heilkünstler und seinen Heilmitteln unabhängig ist. Und so Etwas existirt auch wirklich; es ist der sogen. Naturheilungsproceß (s. Gartenl. 1855 Nr. 25), dem bis auf sehr wenige fast alle Heilungen zu verdanken sind. Dieser Proceß (wie schon oft gesagt, bestehend in heilsamen, auf krankmachende Einflüsse und Entartungen folgende Veränderungen der flüssigen oder festen Bestandtheile unseres Körpers) wird leider von allen unwissenschaftlichen Heilkünstlern ganz ignorirt, und was immer Gutes während der Krankheit passirt, schreiben diese sich zu, während es doch jenem zukommt.
Was der Naturheilungsproceß leisten kann, zeigt sich am deutlichsten bei der homöopathischen Heilkünstelei mit ihren ganz unwirksamen Nichtsen. Denn Nichtse in Bezug auf ihre Wirksamkeit sind und bleiben die wirklich homöopathisch gereichten Arzneien, auch wenn sie noch durch die Spektralanalyse nachzuweisen wären. Diese Nichtse sind nämlich dem naturgemäßen Gange dieses Processes ganz gewiß nicht hinderlich, während das sicherlich gar nicht so selten bei Darreichung der wirksamen allopathischen Arzneien der Fall sein dürfte. Deshalb ist es auch stets gerathen, beim Krankwerden in Ländern, wo mit Kühnheit und kräftigen Medicamenten in den Krankheitsproceß eingreifende Heilkünstler wirken (und das findet in den meisten außerdeutschen Ländern statt), zur Homöopathie seine Zuflucht zu nehmen, vorausgesetzt nämlich, daß man überhaupt noch so abergläubisch ist und ohne Arzt und Arznei nicht zu gesunden glaubt. Jedoch soll mit dieser Empfehlung der Homöopathie ja nicht etwa auch behauptet werden, daß dieselbe in allen Fällen unschädlich sei, denn es giebt deren, wo sie durch Unterlassung oft sehr schadet.
Daß übrigens die Ansicht des Verf. über den Naturheilungsproceß und die Entbehrlichkeit der allermeisten Arzneimittel nicht vereinzelt dasteht, beweisen die Aussprüche von bekannten Männern der Wissenschaft. So spricht sich z. B. Wunderlich in folgender Weise aus: „Es giebt keine Krankheitsform, die nicht ohne sogenannte Medicamente geheilt werden kann und bei welcher dieselben nicht durch tausend andere Hülfsmittel, welche dem rationellen Arzte zu Gebote stehen, ersetzt werden könnten, und in der Mehrzahl der Fälle ist die Verordnung von Medicamenten geradezu Nebensache, in einer nicht kleinen Zahl entschieden nutzlos und bloße Concession, welche bei dem Aberglauben des Patienten und zur Befestigung seines Vertrauens oft unerläßlich ist.“ – Oesterlen sagt: „So lange wir in Arzneistoffen oder Heilmitteln, die bei einem Kranken in Anwendung kommen, die wesentliche, fast zureichende Ursache seiner Heilung gesehen, ließ sich nicht leicht erklären, warum diese Heilung so häufig ausgeblieben, trotz der Anwendung jener Mittel, oder warum Heilung oft genug zu Stande kam, obgleich keine solchen Mittel angewendet wurden, und warum dieselbe Krankheit beim Gebrauche der verschiedenartigsten Mittel gleich schnell und gleich sicher heilen konnte. Dies Alles werden wir aber leicht begreiflich finden, sobald wir uns einmal davon überzeugt haben, daß die sogen. spontane Heilungstendenz unter Mitwirkung günstiger Lebensverhältnisse bei den meisten Kranken die eigentliche und nächste Bedingung ihres Genesens ist.“
Daß die jetzigen Aerzte nicht mehr so viele und große Bullen voll Medicin verordnen, wie ehedem, rechnen Viele der Homöopathie zum Verdienste an. Allein das ist eine nur von Unzurechnungsfähigen ausgehende Anrechnung und total unrichtig. Ganz allein die Fortschritte in der Heilkunde (medicinischen Wissenschaft) sind es, welche diese Aenderung in der Heilkunst veranlaßt haben, und deshalb verschreiben auch Heilkünstler, die mit der Wissenschaft nicht fortgeschritten sind, gerade noch so viel wie früher. – Es ist überhaupt ganz merkwürdig, welchen Grad von Arroganz und Ignoranz die Homöopathen in der Lobhudelei ihrer Heilkünstelei entwickeln. Sie ignoriren die Naturheilkraft gerade so wie ihres Meisters Worte und möchten es gern todtschweigen, daß Hahnemann, nachdem er 12 Jahre lang seine Anhänger mit den noch jetzt üblichen homöopathischen Heilmitteln an der Nase herumgeführt hatte, plötzlich in einem vierbändigen Werke nachzuweisen sucht, daß bis dahin die homöopathische Behandlung von sieben Achteln der chronischen Krankheiten eine nutzlose gewesen sei. – Ist es ferner nicht eine Arroganz sonder Gleichen, daß die Homöopathen fortwährend mit ihrem Aehnlichkeitsgesetze um sich werfen, gerade als wäre dasselbe wirklich ein vernünftiges Naturgesetz, obschon es nichts als pure Lüge ist? Denn niemals, – und das sei hiermit den Anhängern der Homöopathie, die in ihrem Fanatismus für diese Heilkünstelei nicht geradezu unzurechnungsfähig geworden sind, sondern ihre fünf Sinne und ihren Verstand noch gebrauchen können, gesagt und zum Versuchen empfohlen, - niemals läßt sich bei einem gesunden Menschen durch Chinarinde ein Zustand künstlich erzeugen, der einem Wechselfieberanfalle nur im Entferntesten ähnlich wäre. Und gerade darauf gründet sich doch die ganze Homöopathie. Aber: „und wenn du einen Narren im Mörser mit dem Stämpfel stießest wie Grütze, so ließe seine Narrheit doch nicht von ihm!“
Da nun die Naturheilkraft und nicht die Arzneien die Krankheit curiren (denn die Tilgung oder Linderung einzelner Krankheitserscheinungen mit Hülfe von allopathischen Arzneien kommt hier gar nicht in Betracht), so wird auch jeder rationelle Arzt vor allen Dingen die Processe kennen und fördern zu lernen suchen, welche bei jeder Krankheit zur Genesung führen können. Es versteht sich aber ferner wohl ganz von selbst, daß der Arzt, will er den Naturheilungsproceß kennen und womöglich unterstützen, auch im Stande sein muß, die Veränderungen im Körper des Patienten, welche der Krankheit zu Grunde liegen, auffinden zu können. Das Erkennen (Diagnosticiren) einer Krankheit ist nun aber durch die Symptome, welche für den Homöopathen zum Ausdüfteln seines Nichtsmittelchens vollständig hinreichen, ganz und gar unmöglich. Dazu bedarf der Arzt nicht nur einer genauen Kenntniß von allen überhaupt vorkommenden krankhaften Veränderungen der festen und flüssigen Bestandtheile unseres Körpers (der pathologischen Anatomie), sondern auch einer jahrelangen Uebung seiner Sinne (besonders des Gehörs, Gesichts und Gefühls) zum Ergründen von Abweichungen der sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften eines erkrankten Organs (der physikalischen Diagnostik), so daß er sich dann am Krankenbette nach genauer Untersuchung (Besichtigen, Befühlen, Beklopfen, Behorchen u. s. f.) des Patienten sofort in seiner Phantasie ein Bild vom kranken Innern desselben entwerfen kann. – Also ohne diese beiden Lehren (von denen auch nicht ein einziger Homöopath[2] etwas Ordentliches versteht) ist ein richtiges Erkennen weder der Krankheiten, noch des einer jeden Krankheit zukommenden Naturheilungsprocesses möglich. Leider ist nun aber auch der gebildetste und erfahrenste Arzt gar oft, trotz der genannten Doctrinen und [153] trotz der genauesten Untersuchung des Kranken nicht im Stande, eine Krankheit mit Sicherheit zu erkennen, und dann quält er sich (wenn er nämlich ein menschliches und wissenschaftliches Interesse für den Kranken und überhaupt für seinen Beruf hat) nicht selten Tag und Nacht mit dem Gedanken an die unsichere Diagnose ab. Diese Qual kennen die unwissenschaftlichen Homöopathen bei ihrem Altweiberkrankenexamen freilich nicht, und deshalb konnte auch kürzlich ein homöopathischer Arzt, Herr Dr. Schüßler,[3] schreiben: „Also Herr Prof. Bock quält sich ab, wenn er Diagnosen macht. Le pauvre homme!! Habt Mitleid mit ihm. Ich hatte gedacht, ein Professor, ein Mann der Wissenschaft (für einen solchen will er doch gelten) brauche nicht grübelnd die Stirne zu runzeln, um mit Hülfe der diagnostischen Instrumente und gestützt auf physiologische und pathologische Kenntnisse eine Krankheit zu erkennen. Wie man sich doch täuschen kann!“
Den Naturheilungsproceß bei Krankheiten zu fördern, ist demnach die eine Aufgabe eines rationellen Arztes. Sodann theilt ihm die Wissenschaft aber auch noch eine andere zu und zwar die: Krankheiten von seinen Mitmenschen abzuhalten. Nur solche Aerzte, welche diese beiden Aufgaben erfüllen, wird es in der Zukunft, wenn die Menschheit mit Hülfe naturwissenschaftlichen Unterrichts vernünftiger denken gelernt hat, noch geben können. Wie aber die Naturheilungen zu unterstützen und Krankheiten zu verhüten sind, soll später besprochen werden.
Der Bergsturz bei Schandau.
Fast verticale Felswände, auf deren Vorland und Kamm kräftiger, duftreicher Forst von kerzengeraden Tannen und hellgrünen Buchen und Birken sich emporstreckt, in deren kühlen, quellenreichen Schluchten, von keinem Windzuge berührt, das edle Farrnkraut seine tropischen Formen in üppiger Fülle aus tiefem Moose austreibt und Wald von zauberischem Grün seine sonndurchglitzerte Wölbung gegen einen schmalen Streifen blauen Himmels abschließt, begleiten links und rechts den mäandrischen Lauf der Elbe von Pirna bis zur böhmischen Grenze. Das tausendfache Echo dieser Felswände, an deren barocken, bald gnomenhaft hockenden, bald langgedehnt in die Luft strebenden Formen der Schall sich wunderlich bricht, leiht dem engen Stromthale eine wohllautvolle, nie ermüdende Stimme. Das tiefe, wandernde Sausen des Waldes mischt sich hier mit dem rauschenden Ruderschlage fernherkommender Dampfböte, dem weithinschallenden monotonen Rollen der Eisenbahnzüge, dem Murmeln des Stromes und dem Brausen der Mühlen in den Gründen zu einer melancholisch tönenden, aber beredten Sprache unendlichen Lebens. Zuweilen durchbricht dies ewige sonore Sausen und Murmeln der hellere Ton der fällenden Axt im Forst, der Anschlag der Hunde in den Gehöften, der Knall einer Büchse oder eine rufende Menschenstimme als lautere Accente in dieser ewigen Rede der Natur, ohne daß sich deshalb das Haupt des träge auf dem hinsiechenden Dampfboote ausgestreckten Reisenden erhöbe, oder der Ackersmann sein Gespann anhielte, um zu lauschen.
Aber dann und wann kracht, bei blauem Himmel, furchtbarer Donner durch das leise tönende Flußthal! Nicht groß und voll Majestät wie der des Himmels, sondern polternd, schütternd, mit tiefem Knirschen und Krachen gemischt, von dem die Erde bebt und unwillkürlich das Herz sich zusammenzieht. Dann fahren die Reisenden auf den Schiffen empor, die Wanderer stehen still, der Arbeitsmann richtet sich von seiner Arbeit auf; so weit man diesen Donner hört, stockt einen Augenblick jede Thätigkeit, und so manchen Mund hört man die Worte murmeln: „Gott geb’ es gnädig!“ –
Diejenigen aber, welche sich in jenem Augenblicke einer gewissen jener kahlen, grell beleuchteten Stellen der Felswände gegenüber befanden, die durch ihre harte, glänzende Farbe die Harmonie des Thalbildes so empfindlich stören und von denen aus sich gewaltige Sandhalden bis an den Strom strecken, sahen plötzlich den Wald auf dem Kamme der Felswand wanken, dann reihenweis die mächtigen Stämme, mit Felsblocken und Geröll und Schutt gemischt, in die Tiefe stürzen, und dann endlich die eben noch wie für die Ewigkeit gegründete, thurmhohe Felswand sich mit gähnenden Rissen bedecken, mit furchtbarem Donner in einzelne Blöcke auflösen und, Staubsäulen aufwirbelnd und wie ein Vulcan Gestein und Schutt weit umher schleudernd, in sich selbst zusammenbrechen. – –
Es ist dann in einem Steinbruche der sächsischen Schweiz „eine Wand“ gefallen. Seit den Jahrhunderten, in denen aus dem berühmten, schönen Steine, der „Pirnaischer Sandstein“ heißt, in Nähe und weiter Ferne Kirchen und Brücken, Paläste und Festungsmauern, Museen und Wohnhäuser gebaut worden sind, wird dieser Stein in unveränderter, unverbesserter, gefahrvoller Weise gewonnen.
In mehr oder minder mächtigen, fast ganz horizontal gelagerten Bänken, die unter einander so gut wie gar nicht verbunden sind, thürmt sich dieser Thonsandstein zu den Felsen der sächsischen Schweiz auf. In höchst unregelmäßiger Vertheilung durchfahren diese Bänke Verticalklüfte, die meist mehrere derselben mit scharfen. glatten Flächen durchschneiden. In der Steinbrechersprache heißen diese Klüfte „Lose,“ d. h. Stellen, wo der Stein selbst losbricht, wenn ihm seine Unterstützung genommen wird. Auf diese Formation des Sandsteins der sächsischen Schweiz gründet sich die Methode von dessen Gewinnung.
Man sucht eine Felsmasse guter, bauwürdiger Beschaffenheit aus, die durch „Lose“ von der Gesammtmasse genügend getrennt erscheint. Einen solchen Felsenkörper nennen die Steinbrecher „eine Wand.“ Man arbeitet die unterste Felsenbank desselben so lange und so tief heraus, bis die Masse sich in verticaler Richtung in den Losen, in horizontaler, vermöge des Durchbrechens der festen Bänke, vom Felsen trennt, das Uebergewicht nach vorn bekommt und, sich selbst in leichter behandelbare Stücke zertrümmernd, zusammenstürzt. Die so mit einem Male herabgeworfenen Massen variiren an Gewicht von zehntausend bis mehrere hunderttausend Centner.
Wie nahe der Augenblick des Ueberstürzens an den des Feststehens grenzt, wie schwer sich alle Einwirkungen von Nässe, Temperatur, wechselndem Anquellen und Zusammentrocknen des Erdreichs, der Wechsel der Cohäsion und Reibung des Gesteins, Angesichts so ungeheurer, unregelmäßiger Massen, deren Schwerpunkt nur ganz ungefähr zu taxiren ist, abschätzen lassen, liegt auf der Hand, und damit tritt auch das ganze, ungeheure Maß der Gefahr, das mit den letzten Arbeiten beim „Hohlmachen“, so heißt in der Steinbrechersprache das Unterminiren der Felswände, verknüpft ist, vor die Seele. Aber diese Gefahr wird noch wesentlich durch die Form, in der die Arbeit ausgeführt wird, vermehrt.
Meist wird, um Gestein, Material und Arbeitslohn zu sparen, die „Höhlung“, welche oft 20 und 30 Ellen tief, bei einer Breite von 30-100 Ellen, in den Felsen hineinreicht, so niedrig gemacht, daß der Arbeiter nur liegend arbeiten kann, indem er auf einem Strohkissen mir der linken Schulter ruht und nur kriechend die furchtbare, grabähnliche Kluft zu verlassen im Stande ist. An ein schnelles Entfliehen ist daher, wenn „die Wand“ Zeichen von Bewegung geben sollte, nicht zu denken.
Die ersten dieser Zeichen bestehen in dumpfen, kanonenschußähnlichen Knallen im Innern der Felsmasse, wodurch sich das Durchbrechen der Gesteinbänke zu erkennen giebt. Die Steinbrecher sagen, wenn diese schauerlichen Warnungssalven aus dem Innern des Gebirgs heraus erschallen: „die Wand schreit“. Stählerne Nerven gehören dazu, um es bei diesen Dröhnungen in der Nähe einer solchen Wand auszuhalten!
Meist aber dauert dies Knurren im Felsenstocke Tage und Wochen lang, ehe sich eine merkliche Bewegung der Wand zeigt. In Steinbrüchen, welche mit einiger Vorsicht betrieben werden,
- ↑ Verfasser der in achter Auflage erschienenen Erzählung „Immensee“.
- ↑ Meiner Behauptung: „daß es unter den Homöopathen auch nicht einen einzigen Mann giebt, dessen Name in den Natur- und Heil-Wissenschaften rühmlichst genannt würde“, tritt der homöopathische Arzt, Herr Dr. Schüßler, mit den Worten entgegen: „erst hätte Bock beweisen müssen, daß es keinen solchen Mann giebt; dann erst wäre seine Frage statthaft gewesen.“ Ich glaube, Herr Dr. Schüßler hätte, um meine Behauptung zu widerlegen, besser gethan, wenn er mir auch nur einen einzigen in der Wissenschaft rühmlichst genannten homöopathischen Mann genannt hätte.
- ↑ An Herrn Dr. Schüßler! Ich empfehle Ihnen angelegentlichst meine vierte Auflage der medicinischen Diagnostik zum eifrigen Studium, damit Sie nur wenigstens einmal einen Begriff von der Schwierigkeit des wissenschaftlichen Diagnosticirens bekommen.
[154] unterstützt man, vom ersten Schreien der Wand an, dieselbe mit einer großen Anzahl mannsstarker Stempel von kräftigem Holz, um dem allzuplötzlichen Sturze vorzubeugen.
Sorgsam legt der gewissenhafte Bruchmeister zwischen einige dieser Stempel und die Felsendecke, alte Tassen, Pfeifenköpfe oder die Scherben des Bierseidels, das bei der letzten Flucht von stürzendem Gestein zerschlagen wurde. Das allergeringste Herabrücken der „Wand“ zerdrückt diese Scherben dann mit lautknirschendem Klirren. Dies ist den in der Höhlung Arbeitenden dann das Signal zu eiliger Flucht. Kaum aber haben die Symptome der Bewegung wieder aufgehört, hat die Wand sich wieder „gesetzt“, so sieht man auch die. tollkühnen Steinbrecher wieder in die schauerliche Gruft der „Höhlung“ kriechen, und auf’s Neue hört man, tief hinten in der feuchten, niedrigen, lichtlosen Kluft, allenthalben Eisen auf Stein klingen, beschäftigt, die Höhlung tiefer zu machen.
Nach den ersten deutlichen Bewegungen der „Wand“ hört das Knacken, Knallen und zornige Poltern im Innern des in seiner Ruhe gestörten steinernen Riesen nicht auf. Da hört man Sand rieseln, Kiesel in Spalten kollern; Gesteinschalen lösen sich und schlagen klatschend herab, Felsbänke verschieben sich mit tiefem, mächtigem Knirschen, und in den oben erwähnten Losen lockert sich Geröll und Lehm und zeigt die tief hineingehenden, trennenden Spalten. Und endlich löst sich auch der moosige Waldboden auf dem Kamme der Wand! Die alten Stämme, die seit hundert Jahren die Zweige im Sturme kämpfend verschränkten, rücken auseinander; die uralt verschlungenen Wurzeln zerren sich wundgerungen aus dem dichten Geflecht, das zerrissene Moos hängt in Festons in der neuentstandenen Kluft, und ein Stück duftender, rauschender Wald neigt mit der sinkenden „Wand“ dem kahlen steinigen Abgrunde zu.
Ist es aber so weit nun mit dem sterbenden Felsgliede, dann werden, von vorsichtigen Brechern, Reihen von mächtigen Holzkeilen auf der Höhe in die gebildeten Spalten getrieben, ein Theil der stützenden Stempel wird dünn gehackt und der Rest mit tiefen Bohrlöchern versehen, die man mit Pulver füllt und mit langsam brennenden Zündern versorgt. Mit gewaltigen Holzschlägeln wird, von colonnenweis aufgestellten Leuten, oben auf die Keile geschlagen und Keil vor Keil gesetzt, wie der Spalt sich weitert und der Felskoloß sich neigt. Ununterbrochener wird Knallen, Prasseln, Rieseln und Kollern im Innern – jetzt neigen sich die ersten Stämmchen auf dem Kamme und stürzen mit einem mächtigen Gusse von Schutt in die Tiefe, jetzt folgen ihnen große Geröllsteine und donnern, in Staub zerberstend, auf das Holz herab – jetzt lösen sich Schalen, Hunderte von Centnern an Gewicht, und erfüllen das Thal mit hallendem Donner. Immer leichter ziehen die Keile! Jetzt wird von einem beherzten Manne Feuer an die Zünder in den stützenden Stempeln gelegt. Weit hinaus weckt der Knall des zersplitternden Holzes das Echo der Waldberge, der leichte, blaue Pulverrauch wirbelt empor. – – Jetzt der zweite Schuß, der dritte, fünfte, zehnte – das Echo braust ununterbrochen – die Wand hüllt sich in blaue Pulverschleier! – Da schüttelt sie plötzlich die Krone von Wald von ihrer hohen Stirne – mit stöhnendem Sausen stürzen die Reihen der Fichten, in der Luft wirbelnd, mit Grund und Boden, Schutt und Land in die Tiefe. Ein Katarakt von Geröll folgt! – „Die Wand kömmt!“ Die Erde scheint sich zu spalten, denn riesige Risse schießen, so weit und breit der Blick die Felswand umfaßt, über die hohe Steinmasse dahin. – Dem Zuschauer schwindelt – die Grundfeste der Erde scheint in Bewegung – die Wand neigt sich – und nun ist nichts als Erdezittern und Donnern und Durcheinanderwälzen von Felsblöcken und unermeßliches Staubgewölk, über das, wie vulcanisch geschleudert, Baumstämme und Felsen emporspringen und aus dem hervor eine Anzahl hausgroßer, unförmlicher Blöcke, wie eine Heerde wildgewordener Elephanten, den Wald wie Gras zerquetschend, hinunter nach dem Strome setzen. – Und die ganze Atmosphäre ist nur eine Sturmesbewegung von Schall und Luftdruck – und dann wieder vollkommene Todesstille. Die erschütterten Menschen schweigen, wie die erschrockenen Vögel. – Alles ist vorüber, und nur der Fels sieht so ganz anders aus, wie seit zehntausend Jahren. –
So fällt die vorsichtig gefällte, glücklich stürzende Wand.
Wehe aber, wenn sie mit ihrem Falle die unglücklichen Arbeiter in der Höhlung überrascht und sie entweder, fast muß man dies Glück nennen, im Nu erdrückt, oder in entsetzlichen, niedrigen, unter dem gestürzten Berge übrig bleibenden Steinsärgen lebendig begraben, dem furchtbarsten Tode des Erstickens, Verhungerns oder Verdurstend, oder, selbst im Falle sie durch unerhörte Anstrengungen gerettet werden sollten, der entsetzlichsten Todesangst preisgiebt!
Wer von dem reizenden kleinen Badeorte Schandau aus gemächlich am rechten, waldigen Ufer der Elbe hin stromaufwärts wandert, erreicht bald eine links in die Felswände hineinschneidende, enge Schlucht, die wegen Gott weiß welchen glücklichen Gebräudes in einem der Dörfer, zu dem der Weg durch die Schlucht leitet, im Volksmunde den drolligen Namen „zum guten Bier“ führt. Das Thor der Schlucht bilden hohe Wände von trefflichem Gestein, und rechts und links sind daher die stolzen Felsenmassen durch zwei gewaltige Steinbrüche defigurirt, deren mächtige Halden, zwischen denen der umbuschte Grundweg empor gewunden ist, sich bis an das Ufer der Elbe strecken. An der thalwärts gekehrten Ecke des Grundes liegt der größte der beiden Steinbrüche, dessen Hauptfronte, in einer Länge von 250–300 Ellen, nach der Elbe zu gekehrt ist. In dieser Richtung wurden auch in dem Bruche die Wände gefällt. Die Halde des Bruchs erhebt sich, dicht vom Elbufer, circa 60 Ellen hoch steil empor, dann nimmt ein ungefähr 100 Ellen breites, horizontales Vorland das fallende Gestein auf. Von diesem kleinen Plateau aus erhebt sich dann die eigentliche Bruchwand wieder ungefähr 70 Ellen hoch vollkommen vertical. Nach der Schlucht „zum guten Biere“ hin war die Felsmasse so gut wie gar nicht angebrochen.
Dieser Steinbruch, der sehr schönen, besonders sehr weißen Stein lieferte, gehörte seit geraumer Zeit einem, leider nun verstorbenen, wackern Industriellen, G. Quandt mit Namen, dessen Thätigkeit mit Oelmühlen, Schifferei, Steinbruchbetrieb, Flößerei das obere Elbthal belebte. Während fünf Jahren wandte dieser wohlhabende Mann bedeutende Summen auf das „Hohlmachen“ einer außerordentlich großen Wand in diesem Bruche, die in einer Länge von 150 Ellen und einer Höhe von durchschnittlich 40 Ellen fallen sollte. Die Stärke und der feste Zusammenhang der Bänke widerstand aber in außerordentlicher Weise den Bestrebungen, so daß die „Höhlung“ schon 25 und 27 Ellen tief hineingedrungen war, ohne daß sich irgend welche Anzeichen, die auf den baldigen Fall der Wand gedeutet hätten, kund gaben. Bloß ein Theil der unteren Bank, von trefflichem Gestein, brach im vorigen Herbste nieder, wodurch die „Höhlung“ an einigen Stellen über mannshoch wurde. Als die jetzigen Besitzer des Bruchs, die Herren Fröde und Pieschel, den Bruch nach Quandt´s Tode kauften, beschlossen sie, den schönen Stein der gefallenen untern Bank während des Winters zu Steinwaaren verarbeiten zu lassen und dieselben, zu verwerthen, während dieser Zeit aber die Arbeiten am Hohlmachen einzustellen, damit der Sturz der Wand nicht etwa die fertigen Steinwaaren zerstören möchte.
Niemand dachte somit an den Fall der Wand, die, wie gesagt, noch keinerlei Anzeichen gegeben hatte, daß sie demselben nahe sei.
So hatten sich denn die Arbeiter auch in der anscheinend völlig sicheren Hohlung selbst einen Schutz vor den scharfen Thalwinden geschaffen, indem sie in der zumeist stromauf gekehrten Ecke derselben Geröll, sogenannte Horzeln, und sonstigen Bruchabfall, zu einer Art dicken Mauer zusammenhäuften, die, fast bis an die untere Platte der Höhlung reichend, mit den Felswänden der Höhlung selbst zusammen, eine Art geschlossenen Raum herstellte, dessen Decke die genannte Felsplatte bildete, der sein Licht durch einen zwischen Platte und Schuttmauer gelassenen Spalt erhielt und in und aus welchem man durch eine freigelassene, große Oeffnung in der Schuttwand verkehrte.
Der innere Raum dieser Art von Steinhütte war ungefähr acht Schritt in’s Geviert groß und so hoch, daß ein Mann gerade darin stehen konnte. Die Platte der Wand ragte über denselben fast noch 10 Ellen weit horizontal, elbwärts hinaus. Es war ein ganz behaglicher Winkel da für die armen Steinbrecher; wie in einem Keller, kühl im Sommer, lauwarm im Winter. – Lustig knisterte hier am Morgen des 25. Jan. ein Feuerchen, an dem ein 14jähriger Knabe, Sohn eines der 24 Steinbrecher draußen, deren Eisen im muntern Klingklang auf dem Gestein seit Tagesgrauen erschallt war, den Kaffee zum zweiten Frühstücke der Männer bereitete. Sie ließen sich nicht zweimal rufen, als, nach [155] Steinbrechersitte, aus weittönendem Signalhorn das Frühstückzeichen gegeben wurde, und das langnachplaudernde Echo hatte den letzten halben Takt noch nicht ausgesungen, als Alle um das Feuerchen saßen und mit warmem Trank und, nach Steinbrecherart, sehr fetter Kost von Brod und Speck, die Kälte aus den steifgefrorenen Gliedern, die das kalte Eisen kaum mehr halten mochten, zu treiben suchten. Die karg zugemessene, halbe Stunde des Frühstücks wird vom Arbeiter ausgenutzt. Er plaudert gerne, wenn er ißt. Am liebsten aber von allen Arbeitern der Steinbrecher, dem seine Arbeit selbst das Sprechen verbietet, weil dies das Einschlucken des Steinstaubes befördert, welches ja ohnehin, wie bekannt, das Leben des Steinbrechers in so grausamer Weise verkürzt, daß ein Fünfziger unter diesen Armen ein Greis genannt wird.
Hier gab ein Wort das andere. Die kurz vorher in Sachsen verspürten Erdstöße hatten das Interesse der ihr halbes Leben im Geripp der Erde zubringenden Leute lebhaft angeregt. Um den Nestor der Steinbrecher, den alten Linke, einen Mann, dessen eisenfeste Gesundheit den erwähnten, verderblichen Einflüssen des Gewerbes doppelt so lange als andere rüstige Naturen widerstanden hat, saßen sie, roth vom Feuer angeglüht, während blaue Strahlen der schrägen Wintersonne den Rauch durchführen. Linke liest die Zeitungen allsonntags auf der Ostra-Scheibe bei Schandau, er ist auch bibelfest, der hohlwangige, graue, hustende Achtundsechzigjährige. Er spricht vom Ausbruch des Vesuv, vom Lissaboner Erdbeben. – Man lauscht und hat die Zeit vergessen – draußen tritt der Signalist vor die im Sonnenschein liegende Felswand und richtet das Horn nach der leuchtenden Fläche, um es recht lustig klingen zu lassen – da schwindelt ihn – es bewegt sich Alles, so weit er sieht – die Bäume droben nicken – die Felsen neigen sich – „Hilf, großer Gott! die Wand stürzt!“ – Weit von sich wirft er das Horn – die bleiernen Füße wollen nicht wie sein Hirn – ein böser Traum – und hinter ihm ist Donnern, Krachen und Knirschen, an ihm vorüber, über ihn weg, setzen, wie wilde Eber und Hirsche, hundert Centner schwere Blöcke brüllend in die Tiefe, wie riesige, pfeifende Fledermäuse umschwirrt ihn Gestein, Sand bedeckt und blendet ihn – er stürzt und glaubt sich verloren – da ist es still um ihn – grabesstill – er wagt, das Haupt zu erheben – da steht die Felswand – weit zurück – und vor ihm liegt, thurmhoch titanisch ausgeschüttet, die furchtbarste Felsengrab-Pyramide im hellen Sonnenglanz. – Mannsstarke Tannen sind als Grabespalmen darauf gestreut, wie ein Kind Grashalme auf den Hügel des Lieblingsvogels wirft. Sinnverwirrt denkt der Mann an Nichts, als sein Signalhorn unter den Trümmern zu suchen.[1] – – –
Drinnen aber hatte, gerade als der Greis vom Erdbebenrollen sprach, ein dumpfschwerer, markerschütternder Knall im Felsen die Sitzenden emporgejagt – da dröhnt ein zweiter, und mächtiges Geprassel, wie von losen Gesteinsmassen, die aus großen Höhen fallen, folgt. „Ein Erdbeben!!“ – schreien einige Stimmen. – „Helf uns Gott ja!“ ruft der alte Linke, „aber von oben! “ – und im selben Augenblicke zittert der Fels um sie her in den Grundfesten. Die Stehenden fühlen den Druck der sinkenden Decke auf den Köpfen – grabfinster wird’s im Nu – und um sie kracht es und donnert und zittert – – Dann gleich ist’s todesstill – mir dann und wann noch – fern draußen – außerhalb des Berges – der dröhnende Sturz eines Felsblocks – ein leises Schieben im Gestein. – Sie sind lebendig begraben. – Sie schweigen Alle – als fürchte Jeder die furchtbare Ueberzeugung, allein zu leben; dann beginnen sie mit leiser Stimme zu rufen, wie um die Grabesstille nicht zu stören: „Petters! Heckel! Kühn! Linke! Löser!“ – „Hier! hier!“ tönt’s bei jedem Namensruf aus der dumpfen Finsterniß – vierundzwanzigmal. – Alle sind da, Alle leben. – Jetzt erst löst sich der Schreck in Worte und Thränen. Die steinernen Männer weinen. Es ist Nichts als Schluchzen in dem gemeinsamen Grabe. – Aber Naturen, wie die solcher gefahrenharten Leute, reagiren stark gegen die unthätige Muthlosigkeit. Des alten Linke Stimme, die Alle kennen, wird zuerst laut: „Vertraut Gott, Kinder! Wer weiß, ob es so schlimm ist, als es aussieht. Richter (der wackere Bruchmeister) lebt! Wir werden nicht im Stiche gelassen werden. Vor Allem müssen wir sehen, wie das Gestein um uns liegt und ob wir uns nicht selbst durcharbeiten können. Wer weiß, ob die Masse, die uns deckt, groß ist?“
„Ist kein Kien da, um Lichtspähne zu machen? Die Bank ist kienig!“ – Spähne werden geschlissen, und eine Minute darauf erhellt die rothe aufflackernde Flamme die furchtbare, niedrige Höhle, zu deren Eingang das entsetzliche Schuttgeröll hereingequollen ist, und die bleichen, angstfahlen Gesichter. Man leuchtet umher – doch da ist Alles fest geschlossen, wie vermauert. Eine Platte, von der sie alle wissen, daß sie mindestens 13 Ellen von massivem Stein dick ist,, deckt sie von oben, und das ist ihr schauerliches Glück. Geschlossen ist die Höhle felsentief gegen Leben und Tod von außen – aber da steht nur ein Krug mit Wasser, da sind höchstens noch 10 Pfund Brod, da sind noch einige Schnitte Wurst und Speck – der Tod braucht nicht von außen zu kommen, der ist sicher genug mit ihnen eingeschlossen, wenn es Gott nicht gefällt zu retten und Menschen nicht retten können! – Und es ist so todesstill da unten, kein kleiner Laut dringt von außen her; sie müssen recht, recht tief begraben sein. –
Johann Gottlieb Fichte.[2]
Glanz, und die, so Viele zur Gerechtigkeit weisen, wie
die Sterne immer und ewiglich. Daniel XII. 3.„Fichte heißt dieser Mann, dem selbst seine entschiedensten Widersacher Nichts nachzusagen wissen, was den leisesten Flecken auf seinen Charakter würfe, sondern über den das ganze unterrichtete Deutschland sich längst vereint hat, daß er die Redlichkeit und Reinheit selbst war. Es verlohnt sich wohl, über diesen Mann, der ebenso wenig alle Tage geboren wird, als man einen schon geborenen dazu, was er war, machen kann, noch einige Worte zu sagen.“ ... So eine deutsche Zeitung im September 1822, als jene riesige Giftspinne, im Nest der heiligen Allianz ausgebrütet und genannt „Mainzer Centraluntersuchungscommission“, das Andenken des großen Todten in die Maschen ihres unheilvollen Netzes zu verstricken gewagt hatte.
Ja wohl lohnte es sich damals, zu einer Zeit stupider Brutalität von oben und feiger Erschlaffung von unten, der Mühe, wieder an einen Gelehrten zu erinnern, der nicht nur ein solcher, sondern ein Mann gewesen war, ein Charakter vom edelsten Metall, in jeder Beziehung einer der besten Männer deutscher Nation, und wahrlich nicht im Sinne der „besten“ Männer von 1848. Auch heutzutage wieder, wo die Charakterlosigkeit als anerkanntes Zubehör praktischer Lebensweisheit sich breitmacht und so Viele, Viele mittelst Redensarten mit ihrem Gewissen und ihrer patriotischen Pflicht sich abfinden zu können glauben, – ja, auch heutzutage dürfte es wieder der Mühe sich lohnen, an einen Mann vom Schlage Fichte’s zu erinnern. Es liegt in der Betrachtung solcher Gestalten, welche, von dem Hauche des Ideals „umwittert“, gegenüber dem gemeinen alltäglichen Gedräng und Getriebe das Ewige, das Göttliche repräsentiren, Etwas, das die moralische Atmosphäre reinigt, etwas Stärkendes und Erhebendes.
Verdeutlichen wir uns daher Fichte’s Persönlichkeit. Vergegenwärtigen wir uns seinen Lebenslauf; denn dieser ist zugleich die Charakteristik des Mannes.
- ↑ Wunderbarerweise sollte der so glücklich dem Felsensturz entgangene Signalist doch noch der einzige bei diesem Ereignisse Verletzte werden. Am 25. Januar Nachmittags traf den, neben dem Bruchmeister Richter anscheinend an ganz sicherer Stelle Stehenden, ein Stein, der von der Höhe des Felsens herabbröckelte und schräg von einem Blocke abprallte, fast tödtlich am Vorderhaupt. Er liegt noch darnieder.
- ↑ Das deutsche Volk hat am 19. Mai 1862 das hundertjährige Jubelfest der Geburt dieses großen Mannes zu begehen; zu dieser Feier bietet hiermit die Gartenlaube ihren Ehrenzoll.
[156] Die Geschlechtsregister der wahrhaft großen Menschen muß man nicht im Almanac de Gotha suchen. Es ist Ausnahme, nicht Regel, wenn auf den sogenannten „Höhen der Gesellschaft“ ein tüchtiger, geschweige ein wirklich edler und großer Mann sich entwickelt. Eher noch gedeihen dort bedeutende Frauen. Nicht die Gunst, sondern vielmehr die Ungunst der Verhältnisse schmiedet den Mann. Die Kinder des Glücks, und nun gar vollends die „im Purpur geborenen“, erfahren nur selten oder nie jenen schmerzlichen, aber heilsamen Druck der Noth, welcher die Muskeln der Seele stählt und ihre Federkraft erhöht. Ja, die „große Meisterin“, die Noth, sie ist es, welche den kategorischen Imperativ der Pflicht lehrt und willensstärke Charaktere bildet. Man braucht fürwahr kein Schmeichler der Menge zu sein, um Herder ’s Ausspruch, daß alles wahrhaft Gute und Große aus dem Volke komme, als vollkommen gerechtfertigt anzuerkennen. Nur muß man dabei sich hüten, nach dem Vorgang französischer und deutscher Scribenten, welche die Worte Socialisten und Narren zu gleichbedeutenden gemacht haben, Volk und Proletariat zu identificiren.
Im Dorfe Rammenau in der Oberlausitz wurde am 19. Mai 1762 dem Bandweber Christian Fichte ein Sohn geboren, Johann Gottlieb Fichte, der zu einem stillen, träumerischen, nachdenklichen Knaben heranwuchs, nicht eben besondere, glänzende Fähigkeiten verrathend, in keiner Weise zu den „Wunderkindern“ gehörend, aus welchen gewöhnlich nur sehr ordinäre Menschen werden. Man sagt, ein uralter Großoheim habe dem Kinde in der Wiege einen bedeutenden Namen prophezeit; gewiß ist, daß in dem weichen, gern einsam durch Wald und Flur schweifenden, die Blicke in vager Sehnsucht nach der Ferne richtenden Knaben Niemand den Mann von unbeugsamem Willen, den Begründer der tapfersten aller Philosophieen ahnen konnte. Aber das Feuer der Widerwärtigkeit und der Hammer der Armuth härten edles Metall, während unedles dabei allerdings oft in die Brüche geht.
Es war keine Aussicht vorhanden, daß der junge Johann Gottlieb in der Welt einen andern Platz würde einnehmen können, als den an einem der Webstühle, die unter dem Dache seines Vaterhauses klapperten. Er war, wie gesagt, kein Wunderkind, doch mitunter blitzte ein Funkenschlag des Genius aus der Seele des Weberjungen. Dem Ortspfarrer entging das nicht, und der würdige Mann begann nicht nur den Knaben zu unterrichten, sondern lenkte auch die Aufmerksamkeit eines wohlwollenden Edelmanns, des Freiherrn von Miltitz, auf denselben. Die Güte dieses Gönners erschloß unserm Johann Gottlieb die wissenschaftliche Laufbahn, denn Herrn von Miltitz’s Fürsorge machte es möglich, daß sein junger Schützling die Stadtschule zu Meißen, dann Schulpforta und zu Michaelis 1780 die Universität Jena beziehen konnte, zunächst in der Absicht, Theologie zu studiren. Da aber unser der Gottesgelahrtheit Beflissener mit der schon damals ihm eigenen Energie daran ging, das Glauben mit dem Wissen, die Offenbarung mit der Vernunft in Uebereinstimmung zu bringen oder, mit anderen Worten, sich eine „haltbare Dogmatik“ zu schaffen, so ging sein Theologismus erst langsam, dann rasch und rascher bergab. Eine „haltbare Dogmatik“, gerechter Himmel, wo ist die zu finden, wenn nicht im Lande des absoluten Denknichts?
Auf diesem Boden sich anzusiedeln war Fichte nicht gemacht. In Wahrheit, er hatte die Linksschwenkung von der Theologie zur Philosophie bereits vollzogen, während er noch von dem idyllischen Glück eines dorfpfarrherrlichen Daseins träumte. Träumen war sonst zu dieser Zeit, wo der Jüngling sein philosophisches Talent in die strenge Schule Spinoza’s gab, nicht eben mehr seine Sache. Aber seine Lage in der Gegenwart war so, daß man begreift, wie er zu seinem Trost ein Zukunftsidyll der erwähnten Art sich ausmalen mochte. Denn zu den inneren Bedrängnissen des Strebenden, der unter hartem Ringen zwischen Glauben und Zweifel den Kern seiner nachmaligen Philosophie, die freie Selbstbestimmung, in seiner Seele reifen fühlte, kamen äußere, da der gütige Freiherr von Miltitz inzwischen gestorben war. Von jetzt an hat der junge Fichte lange Jahre sein Brod, und zwar häufig im herbsten Wortsinne das trockene Brod, dem Leben abkämpfen müssen. Das Ergebniß dieses Kampfes war jene herrliche Mannhaftigkeit, die wir an Fichte so sehr zu bewundern und leider an so vielen Gelehrten so sehr zu vermissen haben. Es gab von jeher und giebt noch heute in Deutschland eine Menge von armen und bitterarmen Studenten- und Candidaten-Existenzen, aber kaum dürfte eine zweite mit solcher Kraft und solchem Stolz sogar getragen worden sein, wie die Fichte’sche.
Zu den geplagtesten Sterblichen damaliger Zeit gehörten die Hauslehrer. Wen nicht etwa, was freilich häufig der Fall war, eine angeborene und lakaienhaft entwickelte Gemeinheit darüber wegbrachte, der konnte in einem solchen Magisterdasein den Unterschied von Ideal und Wirklichkeit in seiner bittersten Schroffheit kennen lernen. Es war das auch Fichte’s Loos, denn vom Jahre 1784 an that er in verschiedenen sächsischen Familien Hauslehrerdienste. Er machte auf dieser Laufbahn kein Glück. Seine Orthodoxie, d. h. Nichtorthodoxie, erregte „höheren Ortes“ Bedenken und zudem war er nicht der Mann, welcher sich, wie Thümmel’s Magister Sebaldus, vorkommenden Falls dazu hergegeben hätte, ein abgetragenes Kammermädchen zu heirathen. Im Jahre 1788 finden wir unsern angehenden Philosophen in einem elenden Dachkämmerchen zu Leipzig, ohne Stelle, ohne Aussicht, am Hungertuche nagend. In dieser Noth wird ihm durch den wackeren Steuereinnehmer Weiße, den „Kinderfreund“, eine Hauslehrerstelle in Zürich angetragen, und im August g. J. macht sich Fichte zu Fuß auf den Weg nach der Schweiz.
In dem an der alten Limmatbrücke gelegenen Gasthof „zum Schwert“, damals und noch etliche vierzig Jahre lang nachher dem ersten Zürichs, hat Fichte die Kinder des Besitzers Ott, einen Knaben und ein Mädchen, unterrichtet und nebenbei, weil dies nöthig, auch die Mutter seiner Zöglinge erzogen. Vorübungen zur Schriftstellerei füllten die kärglich zugemessenen Mußestunden des Hauslehrers, der sich zugleich auch wieder als Candidat der Theologie sehen ließ, da ihm Lavater’s Verwendung den Zutritt zur Kanzel im Münster eröffnete. Auch in der Gemeinde Flaach und in sonstigen Ortschaften des Cantons hat er etliche Male gepredigt. Klarheit und Kraft, wie sie später seinen akademischen Vortrag so vortheilhaft auszeichneten, wurden auch diesen Kanzelreden nachgerühmt.
Fichte’s damalige Lage war nicht ohne geselliges Behagen. Zürich hat sich vor den meisten übrigen Schweizerstädten von jeher durch ein lebhafteres Interesse für geistige Regung und Bewegung hervorgethan. Im vorigen Jahrhundert war die Stadt sogar eine Weile lang einer der vortretendsten Mittelpunkte deutscher Culturentwicklung. Einige sehr interessante, selbst an’s Pikante streifende Capitel unserer Literaturgeschichte spielten in Zürich. Auf der Höhe über dem Hirschengraben, wo sich zur Zeit, wo ich dieses schreibe, der Prachtbau des eidgenössischen Polytechnicums allmählich erhebt, stand und steht noch heute das Haus, welches Bodmer bewohnte und in welches am 23. Juli 1750 der fünfundzwanzigjährige Klopstock als Gast eintrat. Aus den Fenstern desselben genoß er des ersten entzückenden Ausblicks über die Stadt hinweg auf den See und den Kranz der Hochalpen. Wenige Tage darauf fand jene Fahrt nach der Au statt, welche, von dem Messiassänger in der herrlichen Ode „der Zürichsee“ verewigt, eine der anmuthigsten Episoden der Sittengeschichte des Jahrhunderts ausmacht. Zwei Jahre später war Wieland Bodmer’s Gast, und das lebhafte gesellige Getriebe, in welches er während seines Aufenthalts in Zürich verwickelt wurde, hat zweifelsohne mitgewirkt, den nachmaligen deutschen Ariost und Lucian von der seraphischen Schwindel- und Schwarmgeisterei, an welcher er damals noch laborirte, zu heilen. Später, in der Sturm- und Drangperiode, zog Lavater, der es bekanntlich liebte, sein Christenthum mit Kraftgenialität wunderlichst zu verquicken, durch die seltene Anziehungskraft seiner Persönlichkeit manchen Stürmer und Dränger zeitweilig nach seiner Vaterstadt. Es kam der wirkliche Titan Goethe, es kamen auch die Pseudotitanen Stolberg. Mit den Letztern, die ihr Bischen Kraft in allerhand burschikosen Auslassungen verteilten, hatte Sanct Lavatus seine liebe Noth. Man zeigt noch jetzt die Stelle hinter dem „Sihlhölzli“, wo der Gute die Züricher Bauern nur mit Mühe abhielt, die gräflichen Dioskuren, welche nach genommenem Bade in griechisch-bacchantischer Nacktheit am Flußufer umherpäanten, auf gut „züribieterisch“ an landesüblichen Anstand zu erinnern …
Zur Zeit, als Fichte in Zürich im Schwert hauslehrte, war freilich der Most seraphischer und kraftgenialer Ueberschwänglichkeit daselbst bereits nicht so fast zu Wein, als vielmehr zu Essig geworden. Indessen hatte sich doch immer noch ein Kreis von Männern erhalten – Lavater, Pfenninger, Tobler, Steinbrüchel, Hottinger – deren Umgang für Fichte anziehend und anregend sein [157] mußte. Geradezu geschickbestimmend für ihn aber ward es, daß er durch Lavater in das Haus des Waagmeisters Rahn eingeführt wurde. Rahn hatte Klopstock’s Schwester Johanna geheirathet und von dieser im Jahr 1758 eine Tochter erhalten, Johanna Maria, welche Fichte’s Gattin werden sollte – eine jener Gelehrten-Frauen, nicht gelehrten Frauen, wie sie zum Glück in den Lebensgeschichten deutscher Geisteshelden nicht selten vorkommen. Wieland, Voß, Schiller, Jean Paul, Fichte erfuhren die ganze Segensfülle solcher Hausfräulichkeit, während ein gut Theil von der geistigen Verlotterung, um nicht zu sagen Verluderung der Romantiker, wie ich glaube, auf Rechnung ihres sehr zweideutigen oder vielmehr sehr unzweideutig frivolen Verhältnisses zu den Frauen zu setzen sein dürfte. Man weiß ja, wie die Herren Schlegel, Schelling, Werner, Brentano zu den Weibern – ich vermeide absichtlich den Ausdruck Frauen – sich stellten, und gewiß heißt auch die Wurzel von gar vielem Unerquicklichen in Goethe’s späterem Leben Christiane Vulpius … Fichte’s Herzensbund mit Johanna Maria Rahn war nicht das Resultat leidenschaftlicher Erregung. „Beide“ – erzählt Fichte’s Sohn – „schon in einem Alter, wo leidenschaftliche Verblendung ernste Gemüther nicht mehr täuscht und verwirrt, gründeten ein Verhältniß, das, durch genauere Kenntniß und innigere Achtung immer tiefer sich befestigend, endlich für das ganze Leben geschlossen wurde.“
Zu Ostern 1790 löste Fichte sein Verhältniß zu Herrn Ott; er war der Hauslehrerei gründlich überdrüssig geworden, gerieth aber auf den bei seiner ganzen Charakteranlage höchst sonderbaren Gedanken, eine Stelle als Prinzenerzieher oder als Vorleser bei Hofe zu suchen. Daß sein wahrer Beruf der eines akademischen Lehrers sei, scheint er damals noch gar nicht geahnt zu haben. Außerdem gehörte es ja zu den Lieblingstendenzen der Epoche, durch persönliche Einwirkung auf die vornehmen Kreise den zeitbewegenden Ideen Bahn zu brechen. Die guten, idealgläubigen Menschen von damals! Sie wußten noch nicht, daß es eine sociale Grenzlinie giebt, wo die Wirksamkeit der Ideen überhaupt aufhört.
Ueber Stuttgart und Frankfurt in sein Heimathland Sachsen zurückgegangen, schrieb Fichte im Mai 1790 von Leipzig aus an Lavater, daß seine vorhin erwähnten Pläne keine Aussicht auf Verwirklichung hätten und er sich daher mit schriftstellerischen Arbeiten werde durchzubringen versuchen müssen. Eine traurige Aussicht, zumal Fichte eine eigentlich productive Natur niemals gewesen ist! Sein Talent war ein sprödes, brüchiges; er arbeitete sehr langsam und ruckweise, es wäre denn, daß, wie mitunter geschah, die mächtig in ihm arbeitenden Gedanken in einer plötzlichen Eruption sich entluden. Wie arm er damals war, erkennt man, wenn er sich bei seiner Braut entschuldigt, daß er jetzt nicht die Mittel habe, sein ihr versprochenes Portrait machen zu lassen. Er mußte sich sein kärgliches Brod durch Privatunterricht erwerben, den er Studenten ertheilte. Einem gab er Lectionen über die Kantische Philosophie, und „dies war“ – schreibt er an seine Braut – „die Gelegenheit, die mich zum Studium derselben veranlaßte.“ Mit diesem Studium hatte Fichte’s Leben erst seinen wahren geistigen Inhalt bekommen. An der Philosophie des großen Weisen von Königsberg bildete seine eigene sich empor, die consequenteste Gestaltung des deutschen Idealismus, die kühnste Manifestation des germanischen Princips der freien Persönlichkeit, aber zugleich auch die strengste Concentration der Forderungen germanischer Sittlichkeit. Fichte’s Philosophie war, um das gleich hier zu sagen, eine Parallele, eine Ergänzung zu Schiller’s Poesie. Beide lehrten und forderten die Freiheit des Individuums, aber Beide forderten und förderten auch die Fortbildung der Deutschen von freien Menschen zu freien Staatsbürgern.
Im Frühling von 1791 war Fichte entschlossen, nach Zürich zurückzugehen, um sich mit seiner Verlobten zu verbinden. Allein wie bisher so ziemlich alle seine Pläne, scheiterte auch dieser, und zwar an dem Umstand, daß Johanna’s Vater gerade damals sein Vermögen durch den Bankerott eines Bankierhauses verlor. Erst später konnte ein Theil desselben gerettet oder wiedererlangt werden. So reiste denn Fichte zu Ende Aprils nicht südwärts, sondern ostwärts, um eine ihm angebotene Erzieherstelle im Hause des Grafen v. P. zu Warschau anzutreten. Unterwegs hatte er zu Bischofswerda eine Zusammenkunft mit seinem Vater, und es charakterisirt ihn vortrefflich und schön, wenn er in sein Reisetagebuch schrieb: „Der gute, brave, herzliche Vater! Mache mich, Gott, zu einem so guten, ehrlichen, rechtschaffenen Mann und nimm mir alle meine Weisheit, und ich habe immer gewonnen.“ Dies Reisetagebuch ist übrigens sehr interessant, voll Anschaulichkeit und [158] Leben. Es beweist sehr hübsch, wie treu und frisch der Mann, welcher der kühnste aller Abstractoren, der sicherste aller speculativen Wolkenwandler gewesen ist, das wirkliche Leben aufzufassen verstand.
Aber die Reise nach Warschau erwies sich als ein Fehlgang, sowie Fichte in den Palast des Grafen v. P. getreten war und diesem Herrn und Madame sich vorgestellt hatte. Der gegenseitige Eindruck war ein „unvortheilhafter“. Der ernste, gediegene, wohl auch etwas deutschviereckige Fichte und die französisch lackirte polnische Frivolität, wie paßte das zusammen? Gar nicht. Für den polnischen Adel war damals und ist noch jetzt der nächste beste französische Windbeutel der beste, d. h. der wahlverwandteste und willkommenste Pädagog. Das Verhältniß löste sich also, noch bevor es wirklich begonnen hatte, und Fichte pilgerte von Warschau nach Königsberg, weil es ihn drängte, Kant’s persönliche Bekanntschaft zu machen. In Königsberg angelangt, setzte er sich hin, um sich selber einen Empfehlungsbrief an den berühmten Mann zu schreiben, nämlich eine „Kritik aller Offenbarungen“, eine Arbeit, mit deren Veröffentlichung Fichte in der philosophischen Welt debütirte. Kant nahm diesen Empfehlungsbrief und dessen Schreiber „mit ausgezeichneter Güte“ auf, und auch außerdem gewann er sich in Königsberg warme Freunde, deren Empfehlung ihm eine Erzieherstelle im Hause des in der Nähe von Danzig begüterten Grafen von Krokow verschaffte. Also abermals Hauslehrer! Aber diesmal war er es wenigstens unter anständigen Bedingungen und in einer Familie, welche seinen Werth zu schätzen wußte.
Unterdessen wurde der „Versuch einer Kritik aller Offenbarungen“ bei Hartung in Königsberg gedruckt, und die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Kreise, welche damals durch die Kantische Philosophie so hoch bewegt waren, lenkte sich rasch auf das zuerst anonym erschienene Buch. Man hielt Kant selbst für den Verfasser desselben, bis der große Philosoph durch eine Erklärung in der Allg. Literatur-Zeitung Fichte als Autor nannte und diesen damit so zu sagen dem gelehrten Publicum vorstellte. Es begannen hiermit für Fichte die vielen Leiden und wenigen Freuden deutscher Autorschaft und litterarischer Berühmtheit. Auch das orthodoxe Halloh der Ketzerriecher begann sofort, wie das ganz folgerichtig immer geschieht, so oft ein Stück Wahrheit in die Welt tritt.
Im Sommer von 1793 finden wir unsern jetzt schon ehrenvoll genannten Philosophen abermals in Zürich, wo die Verhältnisse im väterlichen Hause seiner Braut sich wieder so leidlich günstig gestaltet hatten, daß Hochzeit gemacht werden konnte. Sie wurde den 22. October in Baden bei Zürich wirklich gefeiert, und Lavater gab den Neuvermählten auf ihren Flitterwochenausflug in die welsche Schweiz den Denkspruch mit:
„Kraft und Demuth vereint wirkt nie vergängliche Freuden,
Lieb’ im Bunde mit Licht erzeugt unsterbliche Kinder.“
Auf dieser Fahrt machte Fichte die Bekanntschaft und gewann die Freundschaft von Baggesen und Fernow, und er führte, nach Zürich zurückgekehrt, die Beiden den See hinauf nach Richterswyl zu Pestalozzi. Der treffliche Verfasser des unübertroffenen Volksbuchs von Lienhard und Gertrud, der große Reformator der Volkserziehung, meines Erachtens neben Ulrich Zwingli der beste und größte Mann, welchen die Schweiz hervorgebracht hat, war damals, wenig oder gar nicht beachtet, mit Vorübungen auf das große Werk seines Lebens beschäftigt, – nach einer brieflichen Aeußerung Fernow’s „ein Mann zwischen 40 und 50, häßlich und blatternarbig von Gesicht, simpel in seiner Kleidung und seinem Aeußeren wie ein Landmann, aber so voll Gefühl, wie ich wenig Menschen kenne, und dabei voll trefflicher praktischer Philosophie.“
Zunächst in glücklicher Muße im Hause seines Schwiegervaters lebend, brachte Fichte, auf der Grundlage der Kantischen Philosophie weiterbauend, den Um- und Aufriß seines philosophischen Systems, wie sich dasselbe in der „Wissenschaftslehre“ (1794) zuerst darstellte, in sich mehr und mehr zur Klarheit und Reife. Auch trug er auf die Bitte Lavater’s und mehrerer Freunde denselben einen vollständigen Cursus der Lehre Kant’s vor. Wie bedeutend Fichte als philosophischer Lehrer schon damals auf seine Zuhörer wirkte, bezeugen verschiedene enthusiastisch-dankbare schriftliche Aeußerungen Lavater’s, der freilich, nebenbei gesagt, kaum im Stande war, den eigentlichen Kern von Fichte’s Speculation zu erfassen. Neben diesen Arbeiten betheiligte sich unser Philosoph, dessen ganzes Wesen ja auf die That, auf das Handeln, auf die Bethätigung menschlicher Kraft im Staatsleben gestellt war, unmittelbar an dem großen Kampfe der Zeit, indem er, unbeirrt durch das wüthende Gekläff der reactionären Meute über die Ausschreitungen der französischen Staatsumwälzung, seine „Beiträge zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution“ schrieb, sowie seine „Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas, die sie bisher unterdrückten.“ Fichte gehört mit Georg Forster bekanntlich zu den wenigen, sehr wenigen deutschen Gelehrten und Literaten, welche die Nothwendigkeit der Revolution und ihren Entwicklungsgang wirklich begriffen, während z. B. ein Goethe über eine mehr als naive Anschauung dieser weltgeschichtlichen Tragödie niemals hinauskam. Natürlich gelangte Fichte zu dem Ruf eines „Demokraten“, und wie nachtheilig dieser Ruf später vielfach auf sein äußeres Glück wirken mußte, kann man sich leicht denken, da ja auch heutzutage noch das Wort Demokrat allen politischen Fibelschützen oder, schweizerisch gesprochen, Häfelischülern graulich macht.
Novelle von Fanny Lewald.
(Fortsetzung.)
Nur ein Mann weilte in ihrer Nähe, der es sah und wußte, was in ihr und mit ihr vorging. Einer lebte in ihrer Nähe, der ihr Leiden wie einen eigenen brennenden Schmerz empfand, und der den Mann verachtete, welcher das Unglück Veronika’s geworden war. Ulrich’s Liebe wachte über ihr und wachte über sich selbst so streng, daß nicht sein Onkel, nicht der Späherblick Franziska’s, die den Schatten eines Verdachtes mit Freuden benutzt haben würde, dem Grafen einen Zweifel gegen die tadellose Reinheit seines Weibes einzuflößen, es ahnten, was in Ulrich’s Herzen vorging.
Mit der Sorge eines Bruders, mit dem Scharfsinn der Leidenschaft, die nur stärker und tiefer geworden war, je fester er sie in sich verschlossen, war er dem ränkevollen Treiben der Marquise seit der Ankunft seines Onkels in Paris gefolgt. Vorsichtig, wie es dem jüngern Manne gegen den ältern, dem Neffen gegen den Onkel zustand, hatte er denselben daran zu erinnern gewagt, wer und was Franziska sei, und welches Spiel sie mit ihm getrieben von Anfang an. Indeß der Graf hatte nicht darauf geachtet. Kleine, aber peinliche Erörterungen waren die Folge solcher Gespräche gewesen, und Ulrich hatte es nicht bis zu einem Aeußersten kommen lassen mögen, um nicht aus der Nähe Veronika’s verwiesen zu werden, und um ihr nicht zu fehlen, falls einmal die Stunde kommen sollte, in welcher sie seiner bedurfte.
Er war viel in dem Hause seines Onkels, denn er war unbeschäftigt in Paris, und er sah Veronika häufig allein, die er als seine Tante zu betrachten nicht erlernen konnte. Aber wie oft er auch ihre stillen Seufzer hörte, wie oft er sie einsam und in Thränen fand, und wie oft er Zeuge davon wurde, wenn sein Onkel an der Seite der Marquise auswärts und strahlend in Heiterkeit erschien, niemals ward ein Wort der Klage von Veronika gegen ihn geäußert, niemals hatte er sie gefragt: was fehlt Dir, Veronika? und wie könnte ich Dir helfen? – Die strenge Selbstbeherrschung, zu welcher die Freifrau und der Vater Veronika’s die Beiden gewöhnt, hielt sie in ihren Banden, und obschon wohl nie ein großer Kummer verschwiegener getragen wurde, als Veronika und Ulrich ihre Schmerzen trugen, so wußte doch Jeder von ihnen, was der Andere litt, und Jeder von ihnen hatte seinen Trost an der unausgesprochenen Theilnahme des Anderen.
Nur des Grafen Schicksal, nur das Allgemeine, so weit es ihn betreffen konnte, lag Veronika am Herzen, und Fragen um die Vorgänge in dem Lande, in der Stadt, in der Nationalversammlung [159] und in den Clubs waren es, welche Ulrich der Gräfin zu beantworten hatte, wenn er bei ihr erschien. Jeder Trommelschlag, jedes Freiheitslied, deren Klänge von der Straße in die Säle ihres Hauses drangen, machten sie erbeben, jedes Zeitungsblatt vermehrte ihre Angst, denn der Haß gegen die Leibwächter des Königs, gegen die Schweizer-Regimenter, war in den untern Classen fanatisch geworden, und Veronika begann zu fühlen, daß ihre Kräfte sie verließen.
Ein sehnsüchtiges Verlangen nach einem weiten Blick in’s Freie, nach Feldern, Wiesen, Wald und Bergen, die ersten Zeichen eines schmerzlichen Heimwehs fingen an sich ihrer zu bemächtigen, aber sie wollte dieselben nicht erkennen, und doch beengten die Mauern ihres Gartens, die Häuser der Stadt ihr mit jedem Tage mehr das Herz, doch wurde dieser Sommer ihr zu einer Qual, vor der sie sich nicht zu bergen wußte.
Eines Morgens befand sie sich in einem der Säle des Erdgeschosses, dessen bis zum Boden gehende Fenster sich nach dem Garten öffneten. Die Orangenbäume, die in doppelten Reihen auf der Terrasse aufgestellt waren, sendeten ihren Duft in das Zimmer, in dem vergoldeten Gitterwerk der Volieren unter den Buchsbaumhecken sangen die Vögel, aus der Muschel des Tritonen stieg vor dem Mittelfenster der Wasserstrahl in die Höhe und hob in regelmäßigem Wechsel die goldene Kugel bald hoch bis zu den Spitzen der regelrecht geschnittenen Buchsbaum-Obelisken empor, bald ließ er sie niederfallen bis hart an den Rand der Muschel; und wohin Veronika das Auge auch richtete, überall war es heute wie gestern, wie ehegestern, und wie es vor dem Jahre gewesen war.
Mitten in dem Saale stand ein Marmortisch. Veronika saß in einem Sessel zu seiner Rechten, der Graf saß an der andern Seite. Ein Diener hatte das Frühstückgeräth aus Sèvre-Porzellan aufgetragen und sich dann entfernt, denn man hatte von Rottenbuel her die Gewohnheit mitsammen zu frühstücken beibehalten, und es war das fast die einzige Stunde, in welcher Veronika den Grafen ohne Zeugen sah und sprach. Sie hatte ihm die Chocolade eingeschenkt, das Frühstück war beendet, und der Graf trat danach, in voller Uniform, zum Ausgehen angekleidet, an den vergoldeten Ständer des weißen Papageis, welcher gewohnt war, an jedem Morgen aus der Hand des Grafen sein Biscuit zu empfangen.
„Du könntest Pollo auf die Terrasse hinausbringen lassen,“ sagte der Graf, gleichmüthig mit dem Vogel tändelnd, „Pollo ist in dem warmen Wetter gern im Freien!“ – und als wolle er dem Vogel sein Behagen je eher je lieber bereiten, löste er das Schloß der Kette, mit welcher derselbe an seinem Ständer befestigt war, und trug ihn nach der Voliere hinaus, um ihn dort an einer ihrer hervorstehenden Verzierungen zu befestigen.
Es ist immer ein Tropfen, der den vollgefüllten Becher zum Ueberfließen bringt. Allen den Zuvorkommheiten, aller der Aufmerksamkeit und Willfährigkeit, welche der Graf der Marquise bezeigte, hatte Veronika mit äußerer Fassung gegenüber gestanden, seiner Fürsorge für Pollo vermochte sie nicht zu stehen.
„Für den Vogel sorgt er,“ sagte sie leise zu sich selbst, und in ihrem Herzen fügte sie hinzu: „und an mich denkt er nicht!“ – Die Thränen kamen ihr in die Augen, das Herz schwoll ihr empor und that ihr wehe, daß sie den tiefen Seufzer nicht unterdrücken konnte. Aber sie schämte sich ihrer Schwäche und wendete sich ab, dem Grafen ihre Thränen zu verbergen, als er, ihren Seufzer vernehmend, zu ihr zurücksah.
„Fehlt Dir Etwas?“ fragte er gelassen.
Veronika zwang sich zu lächeln. „Es geht mir wie Pollo!“ versetzte sie, „ich sehne mich in’s Freie!“
„Und weshalb fährst Du nicht aus?“ fragte der Graf weiter, in jenem Tone, mit welchem man eine oberflächliche Unterhaltung mit einem Fremden fortsetzt, „sind doch Leute und Pferde jetzt unbeschäftigt genug!“
„Du nanntest es bedenklich, Bester,“ erinnerte die Gräfin, „als ich neulich daran dachte, in das Gehölz zu fahren.“
„Die Wappen sind jetzt von den Wagenschlägen abgenommen, und ich habe unseren Leuten bis auf Weiteres die Livree untersagt!“ bemerkte der Graf mit Bitterkeit. „Es hat also keine Gefahr!“
„Und Du hast Nichts dagegen, wenn ich ausfahre? Ich möchte wohl einmal nach Saint-Denis, nach Montmorency!“
„Warum so weit? Warum nicht in das Gehölz?“
„Ach!“ rief die Gräfin, einmal ihrer selbst nicht mächtig, „wenn Du mich begleiten, mit mir kommen wolltest! Wenn wir nur einmal, nur einmal wieder, wie in den schönen Tagen, die nicht mehr sind, uns gemeinsam die Seele erfrischen könnten an dem vollen Sonnenschein, an der frischen Luft in Wald und Feld, wenn nur eine jener Stunden wiederkehren möchte, in welchen wir in die Heimath, auf unsern Schlössern des schönen Glaubens lebten –“
Der Graf ließ sie nicht zu Ende reden. Seine Miene war finster geworden, er ging nach der Seite des Zimmers, an welcher sich neben der Thüre der Drücker zur Klingel befand.
„Die Monarchie geht unter, wir stehen am Rande eines Abgrundes, und Du hegst die tändelnden Gedanken einer schwärmerischen Mädchenseele! Jeder Tag kann unser letzter werden, und Du magst daran denken, Dich zu vergnügen!“ sagte er unwillig, weil die Worte der Gräfin und der Ton, mit welchem sie gesprochen wurden, ihm unwillkürlich eigene Erinnerungen wach riefen, die er zu übertäuben gelernt hatte.
Er hatte den Klingelzug ergriffen; die Gräfin, welche aufgestanden und dem Grafen gefolgt war, hielt seine Hand zurück. Sie war blässer geworden, als sie es jetzt ohnehin schon war; aber ihre Augen erglänzten hell, obschon Thränen in ihnen schimmerten, und ihrem Gatten fest in das Antlitz schauend, sprach sie, weil sein Vorwurf ihr das Herz umwendete: „Ich mich vergnügen, Joseph? Woher sollte mir die Neigung dazu kommen? Es giebt kein Vergnügen, keine Freude für ein verlassenes Weib, für ein Weib, das sich sagen muß, es wurde nie geliebt, und alle seine Liebe, alle Gluth und Treue seines Herzens reichte eben nur hin, dem Manne, dem sie geweiht waren, für einen Augenblick die Untreue einer Anderen vergessen zu machen.“
Der Graf fuhr auf. „Was soll das, Veronika?“ rief er, „was sollen uns Erörterungen, die Keinem von uns fruchten? Wir haben uns getäuscht – Du sagst es – sei es drum! Aber können wir das ändern? Können wir Geschehenes ungeschehen machen? “
„Joseph!“ rief die Gräfin, die sich kaum aufrecht zu erhalten wußte, „Joseph! besinne Dich; mit diesen Worten trittst Du meine Vergangenheit mit Füßen, zerstörst Du und vernichtest Du mir die Zukunft! Nimm diese unglückseligen Worte zurück. Laß mir die Möglichkeit, die Möglichkeit wenigstens, mich zu täuschen, mich mit meinen Träumen und Hoffnungen zu täuschen. Es ist die erste Klage, die Du von meinem Munde hörst, es soll die letzte sein!“
Sie war außer sich, und sich ihm zu Füßen werfend, rief sie: „Täusche mich, um Gottes Barmherzigkeit willen täusche mich! Mach’ es mich glauben, o! mach’ es mich glauben, daß Du mich einst geliebt hast, daß Du mich einst noch wieder lieben wirst! Ich kann nicht leben ohne diesen Glauben!“
Der Graf hob sie empor, der Vorgang hatte ihn erschreckt, er ängstigte und quälte, er erschütterte ihn sogar, aber er rührte ihn nicht. Die Marquise hatte der Gräfin das Herz ihres Gatten vollständig abwendig gemacht.
„Veronika,“ sagte er, und an der Ruhe, mit welcher er zu ihr sprach, konnte sie die ganze Kluft ermessen, welche ihn von ihr trennte, „wir Menschen sind nicht Herren über unser Herz. Was ich in frühern Jahren an Franziska auch getadelt habe, ich habe sie geliebt seit meiner ersten Jugend. Als ich Dich sah, glaubte ich sie vergessen zu können. Du bist die einzige Frau, welche mir diese Zuversicht eingeflößt. Nicht Dein, nicht mein und nicht Franziska’s ist die Schuld, daß mich mein Herz betrog. Ich liebe Franziska, wie je zuvor, und ihre heroische Hingebung an die Sache, welcher ich diene, einer Sache, die Dir fremd ist, hat sie mir jetzt verehrungswürdig gemacht. Es ist nicht gut, daß es so ist, aber es waltet eben ein unglückliches Verhängniß über uns. Wer kann das ändern?“
Die Gräfin war starr vor Schrecken. Sie schwieg eine Weile, wie gelähmt vom Schmerz, dann schlug sie die Hände über ihrem Haupte zusammen, und mit einer Stimme, der man ihre ganze Verzweiflung anhörte, rief sie: „Wie bist Du Dir selbst entfremdet!“
Sie standen einander gegenüber, aber sie fanden die Worte nicht mehr, die von ihr zu ihm, von ihm zu ihr die Brücke bilden konnten. Das dauerte einen Augenblick, endlich nahm Veronika ihre letzte Kraft zusammen und sagte: „Du hast es ausgesprochen, und ich habe es längst geglaubt, daß jedweder Tag uns hier die [160] letzte Stunde bringen könne. Das eben trieb mich zu dem Verlangen, noch einmal zu Dir von Grund der Seele zu sprechen. Ich wollte Dich erinnern – ich wollte versuchen – –“ sie vollendete nicht. – „Umsonst! umsonst!“ rief sie, und ihr Gesicht in ihren Händen verbergend, verließ sie eiligen Schrittes das Gemach.
Der Graf stampfte unmerklich mit dem Fuße. Er hatte Veronika ungerührt gegenübergestanden, nun sie sich entfernt hatte, begriff er das Elend, das er über sie gebracht, und er beklagte sie, er fühlte sich schuldig. Aber er hatte zu lange aufgehört sie zu lieben, er hing zu fest an Franziska, um an eine Versöhnung, an eine innere Herstellung seiner Ehe zu glauben, und der Gedanke an die Trennung derselben, den Franziska ihm oftmals nahe gelegt, bot sich ihm jetzt zum ersten Male aus eigenem Antrieb dar, weil er durch die Scheidung sich und Veronika die Freiheit und mit dieser sich und ihr den Frieden wiedergeben zu können meinte.
Er wollte zu ihr gehen, in diesem Sinne mit ihr sprechen, als Ulrich ihm angemeldet wurde. Das änderte seinen Entschluß. Es schien ihm gerathen, erst den Eindruck ausklingen zu lassen, welchen die eben erlebte Unterredung auf Veronika gemacht haben mußte, und da die Vorstellung der Scheidung ihn nun plötzlich völlig hinnahm, wollte er lieber erst reiflich darüber nachsinnen, wie er sie seiner Gattin anbieten und annehmbar machen könne. Sein Sinn richtete sich damit thätig in die Zukunft, eröffnete sich einer Hoffnung, und es war ihm nicht anzumerken, was eben zwischen ihm und der Gräfin vorgegangen und womit er selbst beschäftigt war, als sein Neffe bei ihm eintrat und nach des Grafen und der Gräfin Ergehen fragte.
„Veronika bekommt das Heimweh!“ sagte der Graf, dem dieser Einfall wie eine Erleuchtung durch die Seele schoß, „und zwar, wie ich fürchte, das Heimweh im wahren Sinne des Wortes. Sie hatte heute ein Verlangen, die Stadt zu verlassen, in das Freie zu fahren, das wirklich etwas Krankhaftes an sich trug. Du könntest mir einen Dienst leisten, mein Freund, wenn Du sie begleiten wolltest.“
„Und Sie werden nicht von der Partie sein, Onkel?“ fragte der Freiherr.
„Mir fehlt die Ruhe dazu!“ entgegnete der Graf. „Wer hat jetzt auch Zeit, sich wie Veronika des jungen Grüns und der Sonnenstrahlen zu erfreuen!“ Er hatte das in einer Weise gesprochen, die er zu bereuen schien, denn er fügte hinzu: „Man könnte sie um eine Sorglosigkeit beneiden, welche in diesem Augenblicke an sich und an irgend eine Befriedigung für sich zu denken fähig ist.“
Aber die Begütigung, welche er zu machen beabsichtigt hatte, schloß eigentlich nur einen neuen Vorwurf in sich, und Ulrich wußte, was Veronika erduldete, und Ulrich liebte Veronika.
Heißer Zorn röthete seine Wangen, er hielt die Antwort, die sich ihm aufdrängte, jedoch zurück, und sagte ruhig, aber mit unverkennbarer Selbstbeherrschung: „Es ist nicht Sorglosigkeit, mein Onkel, was die Wangen Veronika’s gebleicht hat und ihr ein befreiendes Aufathmen in Gottes Natur zu einem Bedürfniß werden läßt!“
Der Graf war bei der Ankunft seines Neffen auf die Terrasse hinausgegangen, und sie schritten lustwandelnd neben einander her. Bei Ulrich’s Worten wendete er seine Augen nach ihm, aber es paßte ihm nicht, es zu verstehen, was die Mienen des jungen Mannes deutlich aussprachen. „Gewiß nicht!“ entgegnete er deshalb, „aber das Heimweh überwältigt sie, wie es mir scheint.“
Weil er die Wahrheit verbergen wollte, gewann sein Ausdruck etwas Leichtfertiges, das den Freiherrn empörte. Er konnte es nicht ertragen zu schweigen oder sich das Ansehen zu geben, als glaube er dem Wort des Grafen. Und auffahrend in seinem Zorne sagte er: „Es wäre sehr erklärlich, daß die Aermste sich vom Heimweh ergriffen fühlte, da sie hier keine Heimath gefunden hat!“
Der Graf hielt in seinem Gange inne. Fest und stolz, wie er sich in solchen Augenblicken gab, trat er vor seinen Neffen hin und sagte: „Männer hinterhalten nicht, wenn sie Etwas widereinander haben. Was hast Du mir zu sagen, Ulrich! Sprich es aus!“
Der Graf mußte sehr aufgeregt sein, um so gewaltsam einer Erklärung entgegen zu gehen, das stand für Ulrich fest, aber er war selbst zu erregt, um den Anlaß, der sich ihm darbot, nicht zu benutzen; und eben so entschieden, wie die Frage an ihn gerichtet war, antwortete er: „Sie haben der Marquise von Vieillemarin das Leben eines Mannes geopfert, und ich war Zeuge davon. Lassen Sie mich nicht Zeuge davon werden, Onkel, daß Sie der Marquise auch die edelste der Frauen opfern!“
„Ulrich!“ rief der Graf im Jähzorn auflodernd, „Du vergissest, zu wem Du sprichst!“
„O, daß ich es vergessen könnte!“ rief der Freiherr. „Daß ich es vergessen könnte, wie Sie sie mir geraubt, und wie ich geschwiegen, in dem Glauben, dem bessern Manne zu weichen. Daß ich sie vergessen könnte, die brennende Eifersucht, mit welcher ich Veronika zuerst an Ihrer Seite wiedersah! Ich floh meine Tante, die ich liebte, ich floh meinen Onkel, den ich verehrte, weil das Herz meiner Mutter an dem Bruder hing; ich verließ Alles, ich opferte Alles, die Nähe der Mutter, die Heimath, das Vaterland. Ich verbannte mich, ich begehrte Nichts, Nichts als ihr Glück. Kein Gedanke, der sie begehrte, sollte in ihrer Nähe sich regen! Ich hätte damit sie zu entweihen, ihr Glück zu entheiligen gefürchtet, das ich so wohl geborgen wähnte an der Seite ihres Gatten. Da kamen Sie nach Paris.“ – –
Ulrich verstummte, auch der Graf war stumm. Der Freiherr warf sich auf einen der Gartensessel nieder und stützte den Kopf in seine Hände, der Graf stand wie angewurzelt an dem Flecke und starrte den Boden an, als habe sich vor ihm die entsetzliche Tiefe eines grausen Abgrundes eröffnete. Endlich raffte er sich empor, ging eine Strecke mehrmals langsam auf und nieder und blieb vor Ulrich stehen, ihn gedankenvoll betrachtend. Dann, als dieser sich mit plötzlichem Entschlusse aufrichtete, sagte der Graf: „Was wir einander noch zu sagen haben, Ulrich, wird kurz sein, und wir werden uns für immer trennen. Uns als Feinde zu begegnen, hindert uns die Liebe für Deine Mutter, die zwischen uns steht; uns jetzt zu verständigen, hindert uns Veronika, die ebenfalls zwischen uns steht. So laß uns denn scheiden, und –“
„Und Veronika?“ rief Ulrich bleich und regungslos.
Der Graf war ebenso blaß geworden. „Vertraue sie mir!“ sprach er mit einer Erschütterung, wie er sie nie zuvor empfunden hatte. „Vertraue sie mir! jetzt kannst Du sie mir anvertrauen.“
Er reichte seinem Neffen die Hand, Ulrich konnte sich nicht überwinden, sie anzunehmen.
„Ich will versuchen, Ihnen zu vertrauen!“ sagte er gepreßt.
Dann entfernte er sich, und der Graf blieb allein zurück, sich selbst und seinen Gedanken und Vorsätzen überlassen.
K. in Dr. Sie irren sich nicht, die Verlagshandluug der Gartenlaube sah sich durch die massenhaften Nachbestellungen genöthigt, die Auflage seit Neujahr vier Mal zu erhöhen, und läßt augenblicklich 135,000 Exempl. abziehen. Ob diese Anzahl lange ausreichen wird, kann im Voraus nicht bestimmt werden. Daß aber auch Sie als Geschäftskundiger über die Herstellungskosten eines solchen Unternehmens so vollständig im Dunkeln tappen, hat uns fast ein Lächeln abgenöthigt. In Ihren Ausstellungen fehlen mindestens 10–12 Posten, welche viele Tausende repräsentiren und von einzelnen Beträgen scheinen Sie gar keine Ahnung zu haben. So erfordert jede Nummer bei der jetzigen Auflage allein 10 Ries sogenannte „Abgänge“, d. h. schlechte, beim Druck verdorbene Bogen, welche in den meisten Fällen nicht einmal als Maculatur benutzt werden können. Diese Abgänge, wovon ein großer Theil sofort wieder in die Papiermühle wandert, kosten der Verlagshandlung jährlich allein die Kleinigkeit von 3560 Thaler.
S. K. in N. Der „deutsche Volksfrühling“ ist bereits mehrere Male componirt.