Die Gartenlaube (1876)/Heft 6

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1876
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 6.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Im Hause des Commerzienrathes.


Von E. Marlitt.


(Fortsetzung.)


Henriette riß den Thürflügel auf, und die krampfhaft geballten Hände gegen die Brust drückend, sog sie angstvoll gierig die frische Luft ein, aber eine augenblickliche Erstickungsnoth machte sich doch geltend. Käthe und der Commerzienrath eilten, die Leidende zu unterstützen; auch Flora erhob sich. Sie warf unwillig die Cigarre in den Aschenbecher. „Nun werden wohl die harmlosen Dampfwölkchen schuld sein müssen an dem Anfall,“ sagte sie geärgert, „aber ich weiß es besser. Du gehörtest von Rechtswegen in’s Bett, Henriette, und nicht in die trockene Frühlingsluft hinaus, die für Leute Deines Schlages wahres Gift ist – ich habe Dich gleich gewarnt, aber Du hast ja nie Ohren für einen wohlgemeinten Rath und möchtest Einem am liebsten weißmachen, Du strotzest von Gesundheit wie Posaunenengel. Ebenso obstinat bist Du bezüglich der ärztlichen Hülfe –“

„Weil ich meine kranke Lunge nicht dem ersten besten Giftmischer anvertraue,“ ergänzte Henriette in mattem, aber sehr entschiedenem Tone.

„O weh, das geht meinem armen, alten Medicinalrathe an die Ehre,“ rief Flora lächelnd. Sie zog die Schultern empor. „Immerhin, Kind, wenn es Dir Vergnügen macht! Ich kann ja auch nicht wissen, wie er seine Mixturen mischt, soviel aber darf ich behaupten, daß er noch nie einem Patienten ungeschickter Weise nahezu – den Hals abgeschnitten hat.“

Der Commerzienrath fuhr mit bleichem Gesichte herum und hob unwillkürlich die Hand, als wolle er sie auf den impertinenten, lästernden Frauenmund pressen; er schien sprachlos – sein Blick streifte scheu Käthe’s Gesicht.

„Du Herzlose!“ stieß Henriette hervor.

„Herzlos bin ich nicht, aber unerschrocken genug, böse Dinge beim Namen zu nennen, selbst wenn die harten Worte auf eigene Wunden zurückschlagen sollten. Wo bliebe dann auch das Verdienst der strengen Wahrhaftigkeit? … Denke an jenen schlimmen Abend und frage Dich, wer Recht behalten hat! Ich wußte, daß ein tiefer Sturz aus den Höhen fälschlich erträumter Berühmtheit erfolgen mußte – er ist erfolgt, zermalmender, rettungsloser, als ich selbst gefürchtet, oder wollt Ihr auch die einstimmige Verurtheilung von Seiten des Publicums wegdisputiren? Daß ich aber nicht mit stürzen will, wird Jeder begreifen, der mich kennt. … Ich kann nicht beschönigen und vertuschen, wie es z. B. die Großmama aus dem Fundament versteht; ich will es auch gar nicht. Keine Rolle ist lächerlicher als die jener ahnungslosen Frauenseelen, die da noch öffentlich anbeten, wo, wie die Welt sich zuzischelt, längst nichts mehr zu verehren ist.“

Sie schlug auch den andern Thürflügel zurück und trat hinaus auf den Söller. Sie hatte in leidenschaftlicher Steigerung gesprochen; der bleiche Marmorton ihres vom blauen Frühlingshimmel sich scharf abhebenden Römergesichts belebte sich unheimlich; mit den flimmernden Augen voll abweisender Verachtung, mit den nervös bebenden Nasenflügeln war sie die personificirte brennende Ungeduld.

„Uebrigens hat es ja in seiner Hand gelegen, mich zu bekehren – wie hätte ich ihn dann vertheidigen wollen mit Mund und Feder!“ fuhr sie fort, während sich ihre feinen Finger in das rasselnde Geflecht verdorrter Schlingpflanzen verstrickten. „Aber er hat es vorgezogen, auf meine erste und einzige dahinzielende Frage stolz wie ein Spanier mit einem Eisesblicke zu antworten –“

„Diese Antwort sollte Dir genug sein –“

„Ganz und gar nicht, mein lieber Moritz; ich finde sie sehr bequem und wohlfeil, und in Bezug auf sprechende Blicke und Gesten bin ich skeptisch – ich verlange mehr. … Aber ich will Dir zeigen, daß mir der gute Wille nicht fehlt, indem ich Dir hiermit noch einmal wiederhole, was ich gleich zu Anfang verlangt habe: Beweise mir und der Welt, daß er seine Schuldigkeit gethan hat, denn Du warst Zeuge!“

Er trat rasch von der Thürschwelle zurück und legte die Hand schützend über die Augen – das Sonnenlicht, das den Balkon grell überströmte, belästigte ihn unerträglich. „Du weißt allzu gut, daß ich das nicht in der Weise kann, wie Du es forderst – ich bin kein Mediciner,“ versetzte er mit tief herabgedrückter Stimme; sie verlor sich fast in einer Art von Murmeln.

„Kein Wort mehr, Moritz!“ rief Henriette. An ihrem Körper bebte jede Fiber. „Mit jedem Vertheidigungsversuch giebst Du zu, daß diese edle Braut einen Anschein von Berechtigung für sich hat, feig und wankelmüthig zu sein.“ Ihre großen Augen, in denen das innere Fieber aufglühte, richteten sich haßerfüllt auf das schöne Gesicht der Schwester. „Im Grunde kann man nur wünschen, daß Deine grausamen Manöver möglichst rasch zum Ziele führen möchten, das heißt – sei es endlich einmal in dürren Worten ausgesprochen – daß er in Folge Deiner sichtlichen Entfremdung freiwillig das [94] Verhältniß lösen hilft; denn er verliert wahrlich nichts an Deiner kalten Seele, die sich nur an äußere Erfolge klammert, aber er liebt Dich und wird weit eher mit vollem Bewußtsein in eine unglückliche Ehe gehen, als sich von Dir trennen – das beweist sein ganzes Verhalten –“

„Leider,“ warf Flora über die Schulter herüber ein.

„Und aus dem Grunde werde ich zu ihm stehen und Deine Machinationen vereiteln, wo ich kann,“ vollendete Henriette mit zuckenden Lippen und gesteigerter Stimme.

Der mitleidige Seitenblick, mit welchem Flora das tieferregte gebrechliche Mädchen langsam maß, funkelte förmlich in grausamem Spott, aber es war auch, als käme ihr bei dieser Musterung eine überraschende Erkenntniß; sie legte plötzlich den rechten Arm um Henriettens Schultern, zog die Widerstrebende an sich heran und flüsterte ihr mit einem sardonischen Lächeln in’s Ohr: „Beglücke Du ihn doch, Kleine! Ich werde ganz gewiß keinen Einspruch erheben – davor bist Du sicher.“

Bis zu welchem frevelhaften Uebermuthe konnte sich doch solch eine eitle Frauenseele versteigen, die sich gefeiert und heiß begehrt wußte! Käthe stand nahe genug, um das Gezischel zu verstehen, und so passiv sie sich auch bisher verhalten, jetzt sprühte ein ehrlicher Zorn aus ihren Augen.

Flora fing den Blick auf. „Schau, was das Mädchen für ein Paar Augen machen kann! Verstehst Du denn keinen Spaß, Käthe?“ sagte sie halb amüsirt, halb betroffen. „Ich thue Deinem verhätschelten Pflegling nichts, obschon ich das gute Recht hätte, Henriettens kleine Bosheiten endlich einmal derb abzufertigen. … Diese zwei Menschen,“ sie zeigte auf den Commerzienrath und Henriette, bilden sich ein, über meine Sitten wachen zu müssen, und Du Jüngstes, eben aus dem Pensionsnest geschlüpft, Häkel- und Stricktouren und ein paar französische Brocken im Kopfe, hältst sofort zu ihnen und machst Fronte gegen mich – Närrchen, meinst Du wirklich ein Urtheil über Deine Schwester Flora zu haben?“ Sie lachte belustigt auf und streckte die Hand gegen einen der Nußbäume aus, von welchem eben eine Taube emporflog; der blendendweiße Vogel stieg hoch in den flimmernden Himmel hinein. „Siehst Du, Kleine, eben noch hockte sie neben den Anderen auf dem Aste dort, und die Anderen waren Ihresgleichen – und jetzt werfen ihre ausgebreiteten Flügel förmlich Silberfunken, und in der einsamen blauen Höhe wird sie eine selbstständige stolze Erscheinung für die Menschenaugen drunten. Vielleicht lernst Du dermaleinst verstehen, auf welche feurige, dürstende Menschenseele das Bild paßt. Apropos, Moritz,“ unterbrach sie sich lebhaft und winkte den Commerzienrath zu sich heraus auf den Söller, „dort hinter dem Gehölze muß ja wohl Bruck’s Acquisition, das alte Wirthschaftsgebäude, liegen – ich sehe starken Rauch über den Bäumen –“

„Aus dem einfachen Grunde, weil Feuer auf dem Herde brennt,“ versetzte lächelnd der Commerzienrath; „die Tante Diakonus zieht seit gestern ein.“

„In das verwahrloste Nest, wie es ist?“

„Wie es ist. Uebrigens war der Schloßmüller ein viel zu guter Wirth, um seine Gebäulichkeiten verfallen zu lassen; in dem Hause fehlt kein Nagel, kein Ziegel auf dem Dache.“

„Nun, Glück zu! Im Grunde ist die Sache so übel nicht. Die vorweltlichen Ausstattungsmöbel der Tante und das Bild des seligen Diakonus passen an die Wände. Platz genug für die Einmachbüchsen und das Backobst wird ja auch da sein, und das Scheuerwasser fließt direct und unerschöpflich am Hause vorbei.“ Sie affectirte einen leichten Nervenschauer und nahm wie unwillkürlich den reichgarnirten Kleidersaum auf, als fühle sie sich plötzlich auf einen frischgescheuerten Dielenboden versetzt. „Es wird gut sein, die Thüren zu schließen,“ sagte sie rasch in das Zimmer zurücktretend; „der Wind trägt den Rauch und Dampf herüber. Puh –“ ihre feinen Nasenflügel vibrirten; sie fuhr mit dem Taschentuche durch die Luft – „ich glaube wahrhaftig, die gute Frau bäckt ihre unvermeidlichen Pfannenkuchen, noch ehe sie einen Stuhl zum Niedersitzen im Hause hat – sie kann nun einmal das Schmoren und Backen nicht lassen.“ Damit schlug sie die Thürflügel zusammen.

Währenddem hatte Henriette still das Zimmer verlassen. Bei Flora’s Geflüster war sie in jähem Aufschrecken emporgefahren wie Jemand, der sich, plötzlich erwachend, vor einem tiefen Abgrunde findet. Seitdem hatte sie kein Wort mehr gesprochen, und nun war sie hinaufgestiegen in das oberste Gelaß des Thurmes, wo die Tauben und Dohlen nisteten. Käthe griff nach ihrem Sonnenschirme – sie wußte, daß die Kranke stets allein sein wollte, wenn sie sich stillschweigend aus dem Kreise der Anderen entfernte – das Thurmzimmer aber mit den dicken Wänden, der erdrückenden Pracht und der gebieterisch auf- und abrauschenden, capriciösen Schwester erschien ihr beklemmend unheimlich; war es doch, als fliege der Zündstoff zu Streit und Reibereien unausgesetzt durch die Luft, in der Flora athmete. Das junge Mädchen beschloß deshalb, rasch einen Gang zu Suse zu machen.

„Nun meinetwegen, da gehe in Deine Mühle,“ rief der Commerzienrath ärgerlich, nachdem er vergeblich versucht hatte, sie zurückzuhalten, „aber erst sieh’ hierher!“ Er zog seitwärts an einem schweren Gobelinbehange – dahinter, in einer tiefen Mauernische, stand ein neuer Geldschrank. „Der gehört Dir, Du Gebenedeite; das ist Dein ‚Bäumlein rüttle Dich, wirf Gold und Silber über mich!‘“ sagte er, und seine Hand glitt förmlich liebkosend über das kalte Metall. „Alles, was Dein Großvater an Haus und Hof, an Wald und Feld besessen hat, da drin liegt es, in Papier verwandelt. Diese Papiere arbeiten bienenfleißig Tag und Nacht für Dich. Sie ziehen unglaubliche Geldströme aus der Welt in diesen stillen Winkel. … Der Schloßmüller hat seine Zeit wohl begriffen – das beweist sein Testament; aber wie fabelhaft seine Hinterlassenschaft in der Form anwachsen wird, das hat er schwerlich geahnt.“

„Sonach bist Du auf dem besten Wege, die erste Partie im Lande zu werden, Käthe – kannst wie im Märchen zu Deinem Hochzeitsmahl den Speisesaal mit harten Thalern pflastern lassen,“ rief Flora herüber; sie lehnte wieder zwischen den Polstern des Ruhebettes und hatte ein Buch in die Hand genommen. „Schade um das Geld! Schau, Du mußt nicht böse sein, Kind, aber ich fürchte, Du bist moralisch allzu viel gedrillt worden, um mit Geist Deinen Goldregen vor der Welt funkeln zu lassen.“

„Das wollen wir abwarten,“ lachte das junge Mädchen. Einstweilen habe ich noch kein Recht, eigenmächtig auch nur einen Thaler da herauszunehmen,“ sie zeigte auf den Schrank; „aber in Bezug auf die Schloßmühle möchte ich, wenn auch nur für einen Tag, majorenn sein, Moritz.“

„Ist sie Dir unbequem, schöne Müllerin?“

„Meine Mühle? So wenig unbequem wie mein junges Leben, Moritz. Aber ich war gestern im Mühlengarten – er ist so groß, daß Franz die an die Chaussee stoßende Hälfte aus Mangel an Zeit und pflegenden Händen vernachlässigen muß. Er will Dir den Vorschlag machen, das Stück zu verkaufen; es gäbe prächtige Bauplätze zu Villen und würde gut bezahlt werden, meint er, ich aber finde, daß die Landhäuser ganz gut auch wo anders stehen können, und möchte das Grundstück lieber Deinen Leuten geben, die gern in der Nähe der Spinnerei bauen wollen.“

„Ach – verschenken, Käthe?“

„Fällt mir nicht ein. Du brauchst gar nicht so spöttisch mitleidig zu lächeln, Moritz. Ich werde mich wohl in der Villa Baumgarten mit ‚Sentimentalität und Ueberspanntheit‘ blamiren! … Uebrigens wollen ja die Leute auch gar kein Geschenk oder Almosen, wie Doctor Bruck sagt –“

„Ei, ‚wie Doctor Bruck sagt‘? Ist der auch schon Dein Orakel?“ rief Flora, aus den Kissen emporschnellend – sie fixirte über das Buch hinweg scharf, mit einem räthselhaft wechselnden Ausdrucke das Gesicht der Schwester; es erröthete allerdings für einen Augenblick tiefer, aber die Augen erwiderten den blinzelnden Blick fest, mit kaltem Ernste. „Ich weiß auch, welchen Werth das Selbsterworbene hat – was ich mir selbst erringen kann, ziehe ich dem bestgemeinten Geschenke weit vor,“ fuhr sie fort, ohne auf Flora’s Einwurf zu antworten; „und schon aus dem Grunde sollen die Leute zahlen, genau das zahlen, was sie für Deinen Grund und Boden geben wollten.“

„Da machst Du ja brillante Geschäfte, Käthe,“ lachte der Commerzienrath. „Mein steriles Stück Uferland wäre schon mit der Summe, die darauf geboten worden ist, schlecht genug bezahlt gewesen – nun gar der prächtige Gartenboden neben der Mühle! … Nein, Kind, so gern ich auch möchte – [95] mein vormundschaftliches Gewissen gestattet mir nicht, Dich auch nur für eine Stunde majorenn sein zu lassen.“

„Nun, da mögen sich die Baulustigen einstweilen behelfen, wie sie können,“ sagte sie weder überrascht, noch ärgerlich. „Ich weiß, ich werde in drei Jahren darüber noch genau so denken, wie heute, dann aber kann es sich schon ereignen, daß ich auch noch den dummen Streich mache, den Leuten das Baugeld ohne Procente vorzustrecken.“

Sie grüßte ruhig lächelnd und ging hinaus.




7.


Langsam stieg sie die gewundene Treppe hinab, die zur oberen Hälfte das Mauerwerk so schmal durchschnitt, daß sich wohl nur der Schemen der wandelnden Ahnfrau an dem Herabsteigenden vorbeizudrücken vermochte. … Die arme Ahnfrau, hier hatte sie nichts mehr zu suchen, hier war sie verscheucht, und wenn auch der neugebackene Edelmann sie kraft seiner Besitzrechte reclamirte, wenn er auch, um der Auszeichnung willen, daß die gespenstige weiße Frau sich um sein Wohl und Wehe kümmere, noch einmal so tief in seinen strotzenden Geldsäckel griff, als ihm bereits der Adel gekostet. Drunten hing es an den Wänden, das Rüstzeug ihres ritterlichen Geschlechts, die Waffen, mit denen die alten Recken um Ehre und Schande, um Gut und Blut gekämpft; die hatte sie allnächtlich mit vorübergleitenden Händen gefeit und doppelt gesegnet, je mehr Beulen und Scharten und unheimliche dunkle Flecken feindlichen Blutes sie aufwiesen. Jetzt funkelten und gleißten sie feiernd am Nagel, und das Rüstzeug des neuen Geschlechts im alten Thurme waren – die modernen Geldschränke.

Ja, das seltsam fremdartige Element, das drüben in der Villa durch alle intimen Familiengespräche zitterte – das Geldfieber, der Speculationsgeist – es war auch hierher in das ernsthaft copirte Ritterwesen verschleppt worden. Es wehte in der Luft; es schlich treppab, treppauf, und dort die mächtigen, Jahrhunderte alten Humpen auf den Credenztischen der Halle, sie waren eine Ironie in den weichen Händen der Couponschneider, wie die riesenhaften, neuaufgefrischten Riegel und Vorlegeschlösser in grotesker Lächerlichkeit die eiserne Kellerthür bedeckten – sie hüteten die Champagnerflaschen des Commerzienraths, während droben Tausende und aber Tausende hinter kaum erkennbarem, zierlichem Verschlusse lagen. Das historische Pulver aus dem dreißigjährigen Kriege lag auch noch drunten, lediglich um deswillen von Seiten des Commerzienraths geduldet, wie Henriette boshaft behauptete, um wißbegierige Besucher nebenbei auch die kostbaren Weinsorten im kühlen, trockenen Thurmkeller sehen zu lassen. … Und das war’s, was Käthe den alten Heimathboden, auf welchem ihre Kindheit sich abgespielt, fast unkenntlich machte, dieses Sichsehenlassen, dieses Berechnen des Effectes nach außen in kostspieligen Neuerungen, das fieberhafte Streben, die Welt auch wissen zu lassen, daß das Postament, welches man erklommen, ein goldenes sei – das Alles schlug den Geist der ehemaligen alten Firma Mangold geradezu in das Gesicht; sie hatte nie ihren gediegenen Wohlstand als „blendenden Goldregen“ aus den altfränkischen Truhen aufsteigen lassen; ebenso wenig durfte zu Banquier Mangold’s Lebzeiten die Geldmacht im Familienkreise dominiren; ein so pünktlicher Chef er auch in seinem Comptoir gewesen, nie war ihm daheim ein Wort über Geldgeschäfte entschlüpft. Und jetzt! Selbst die Präsidentin speculirte; sie hatte ihr kleines Vermögen von wenigen Tausenden auch in das große Glücksrad geworfen, das heißt in Actien angelegt, und fast unheimlich sah es aus, wenn das Gesicht der sonst so kühlempfindenden Frau bei den immer wiederkehrenden Geldgesprächen vor aufgestörter innerer Leidenschaft roth bis über die Schläfe wurde. …

Käthe verließ den Thurm und betrat die Brücke. Sie bog sich einen Augenblick über das Geländer und sah forschend in die Wasserfluth, als müßten die alten Bekannten, die Zwergobstbäumchen und Beerensträucher, noch an ihren Plätzen stehen, aber sie blickte nur in ihr eigenes Gesicht mit dem Diadem der dicken, braunen Flechte über der Stirn – dieses Mädchen hatte die wundersame Eigenschaft, der Goldfisch der Familie zu sein; das wurde ihr täglich gesagt, als solcher wurde sie respectirt und ausgezeichnet; man suchte ihr begreiflich zu machen, daß sie eben als solcher die braunen Flechten nicht selber ordnen dürfe, daß eine Kammerjungfer nunmehr unumgänglich nöthig sei, aber sie hatte sich ernstlich und energisch der Frau Präsidentin gegenüber verwahrt; sie gab ihren Kopf nicht in dergleichen künstlerische Hände – im Frisirmantel stundenlang steif und feierlich wie ein Götzenbild zu sitzen, das brachte sie in ihrem ganzen Leben nicht fertig. … O ja, es war und blieb „über die Maßen hübsch“, reich zu sein, nur durfte der Reichthum nicht unfrei machen; er durfte dem raschen, warmblütigen Menschenkind die regen Hände nicht binden wollen.

Sie hatte die zierlichen Anlagen vor der Ruine verlassen und schritt auf dem wenig gepflegten Wege neben dem weidenbesetzten Flußufer. Noch den Hauch scharfer Winterkälte im Athem und den geschmolzenen Schnee aus den Bergen mit sich schleppend, schossen die Wassermassen lehmfarben neben ihr hin, aber die Elritzen zuckten frühlingslebendig und blank wie Silberstäbchen durch die trübe Fluth; an den Weidengerten saßen die weichflaumigen Blüthenkätzchen, und unter dem schützenden Laubgebüsch hatte das Leberkraut den ganzen zarten Schmelz seiner himmelblauen Blumen ausgebreitet – die gaben schon einen Frühlingsstrauß. –

Die Blumen in der Hand, wandelte sie langsam weiter bis zu der alten Holzbrücke. … Dort streckte sich Susens Bleichplatz, die mit Obstbäumen bestandene Rasenfläche hin. Der Commerzienrath hatte Recht gehabt, in dem niedrigen Holzgitter, das den Garten umfriedigte, fehlte kein Stab, und an dem Hause kein Ziegel, kein Brett, auch nicht die kleinste Latte des Weinspaliers. … Und es war doch ein hübsches, altes Haus, die verlästerte Baracke! Es lag so geborgen hinter dem rauschenden Flusse, und der Laubwald im Hintergrunde, der sogenannte Stadtforst, der ziemlich nahe an das Holzgitter heranrückte, gab ihm den anmuthig einsamen Charakter einer Försterei. Niedrig war es allerdings; es hatte nur eine Fensterreihe – direct darüber erhob sich das Dach mit den vergoldeten Windfahnen und den massiven Schlöten, von denen der eine in der That rauchte – nie gesehene Erscheinung! In dem Hause hatte seit langen Zeiten kein Feuer in Herd und Ofen, kein Licht auf dem Tische gebrannt. Zu des Schloßmüllers Lebzeiten war jahraus, jahrein Getreide in den Stuben aufgeschüttet worden, die Jalousien hatten wie festgemauert vor den Fenstern gelegen, und nur alljährlich bei der Obsternte hatte die streng verschlossene Hausthür tagsüber offen gestanden. Da war dann auch die kleine Käthe hineingeschlüpft in die sogenannte Obstkammer, die neben der Küche gelegene weißgetünchte Stube mit dem großen, grünen Ofen, und hatte sich das Schürzchen mit Birnen und Aepfeln gefüllt. … Heute nun waren die Läden zurückgeschlagen, und das junge Mädchen sah zum ersten Mal Glasscheiben blinken in den großen, von Steinrahmen umfaßten Fenstern. Das war nun Doctor Bruck’s Haus.

Ohne zu wissen wie, hatte sie die Brücke überschritten und umging das Gebäude von drei Seiten. Das Herz klopfte ihr ein wenig. Sie hatte kein Recht mehr, sich hier bemerklich zu machen, aber ihre Fußtritte verhallten auf dem weichen Grasboden; dazu toste der angeschwollene Fluß stark herüber, und auf dem Dache lärmten die Spatzen. Einzelne Fensterflügel standen offen; sie sah Ampeln mit grünem Schlingpflanzenbehang an den stuckverzierten Zimmerdecken schweben und blankes Kupfergeschirr auf der Küchenwand glänzen; auch zartes Vogelgezwitscher klang heraus und mischte sich mit dem zänkischen Geschrei der Sperlinge, aber kein Geräusch menschlichen Lebens und Treibens war zu hören. … Nun bog sie zuversichtlicher um die westliche Hausecke und wollte die Hauptfronte entlang gehen, und da schrak sie zusammen.

In der Flügelthür, welche die Façade in zwei gleiche Hälften theilte, und von der die Steintreppe fast vornehm breit auf den Rasenplatz herabstieg, stand eine Frau, eine feine, schlanke, fast mädchenhaft zierliche Erscheinung. Sie hatte einen Tisch neben sich stehen, auf welchem Bücher und Bilder aufgehäuft lagen, und war mit Abstäuben derselben beschäftigt. Befremdet sah sie auf die unsicher Näherkommende und ließ unwillkürlich das Bild sinken, das sie eben mit dem Staubtuche säuberte – es war Flora’s Photographie im Ovalrahmen.

Das konnte doch unmöglich die Tante Diakonus sein! Nach Flora’s eben gehörter, mit beißender Ironie getränkter Schilderung [96] hatte sich Käthe ein kleines, gebücktes, wenn auch immer noch rasches Hausmütterchen mit küchengeschwärzten Händen gedacht, das, zwischen Pfannen und Töpfen und Einmachbüchsen grau geworden, nichts Lieberes that, als Pfannkuchen backen – das Bild war unvereinbar mit dieser Dame, deren kleines, allerdings ältliches Gesicht so zartbleich und edel, mit so milden, sprechenden Augen aus dem weißen Spitzentuche sah, welches sie über das noch sehr reiche, aschblonde Haar geknüpft hatte.

Käthe wurde immer befangener und stammelte, an den Fuß der Treppe tretend, eine herkömmliche Entschuldigung. „Ich habe als Kind hier gespielt, und bin vor einigen Tagen aus Dresden zurückgekehrt und – das ist meine Schwester,“ setzte sie, auf das Bild zeigend, hastig hinzu, und dann brach sie in ein frisches, helles Lachen aus und schüttelte den Kopf über sich selbst und die naive, ungeschickte Art der Einführung, zu der sie in ihrer Verlegenheit gegriffen.

Und die Dame lachte auch. Sie legte das Bild auf den Tisch, und die Stufen herabsteigend, streckte sie dem jungen Mädchen beide Hände entgegen. „Dann sind Sie Bruck’s jüngste Schwägerin.“ Ein leiser Schatten flog über ihr Gesicht. „Ich habe nicht gewußt, daß Besuch in der Villa Baumgarten eingekehrt ist,“ fügte sie mit einem kaum hörbaren Anfluge von Bitterkeit hinzu.

In diesem Augenblicke zog auch ein Wolkenschatten über Käthe’s Seele hin – war sie denn so ein gar Nichts, ein solch verschollenes, nicht mitgeltendes Glied der Familie Mangold, daß Doctor Bruck es nicht der Mühe werth gefunden hatte, seine Begegnung mit ihr zu erwähnen? … Sie biß sich auf die Lippen und folgte schweigend der einladenden Handbewegung der Dame, welche ihr vorausging und eine Thür in dem weiten Hausflure öffnete. Die schlanke Frau war noch so graziös in jeder Bewegung.

„Das ist mein Stübchen, meine Heimath bis an’s Ende,“ sagte sie mit einer so herzensfreudigen, gleichsam aufathmenden Betonung, als sei sie bis zu diesem Ruheporte mit müden Füßen in der Irre gewandert. „Ehe mein Mann als Diakonus in die Stadt versetzt wurde, lebten wir in einer kleinen Pfarre auf dem Lande. Es ging uns sehr knapp, und ich hatte mein ganzes haushälterisches Talent nöthig, um die Standeswürde nach außen hin zu wahren, aber es war doch die schönste Zeit meines Lebens. … Die staubige Luft und das Geräusch der Stadt haben meinem Nervenleben nicht gut gethan; meine stille Sehnsucht nach grüner Einsamkeit wurde nahezu krankhaft. Ich habe das nie ausgesprochen, und doch hat der Doctor heimlich gesorgt und gespart, und vor einigen Tagen führte er mich hierher in das Haus, das er wenige Stunden zuvor für mich erstanden hatte.“ Bei den letzten Worten klang ihre Stimme verschleiert und tiefbewegt. Sie war also doch die Tante, und ihren Neffen nannte sie stolz „den Doctor“. Und jetzt lächelte sie anmuthig. „Ein wahres Schlößchen ist’s, nicht wahr?“ fragte sie zutraulich. „Sehen Sie doch die Flügelthüren und die prächtige Stuckarbeit an der Decke! Und die alte Ledertapete da mit den geschwärzten Goldleisten ist jedenfalls sehr kostbar gewesen. Draußen im Garten finden sich auch noch Spuren von Taxushecken und Sandsteinfiguren. Ursprünglich ist das Haus der Wittwensitz einer Dame aus dem Hause Baumgarten gewesen – ich weiß es aus einer Chronik. … Wir haben nun tüchtig gescheuert, gelüftet und einige Oefen geheizt, um die alten Wände zu durchwärmen; sonst ist Nichts, nicht ein Nagel verändert worden; dazu reichten die Mittel nicht – und es wäre auch sehr überflüssig gewesen.“

Käthe hatte längst mit stillem Behagen die ganze Einrichtung überflogen. Die dunkelgewordenen Mahagonimöbel paßten just zu der gelben Ledertapete. An der Mittelwand, nicht weit von dem weißglasirten, weitbauchigen, auf verschnörkelten Füßen ruhenden Ofen, stand das kattunbezogene Sopha, und darüber hing in der That das Portrait des seligen Diakonus, ein schlichtgemaltes Pastellbild, das den alten Herrn in seiner Amtstracht vorstellte. Ein köstlicher Schmuck aber waren die Pflanzengruppen an den zwei hohen und breiten Fenstern, die Azaleen- und Palmenarten, die prachtvollen Gummibäume, warm und kräftig vergoldet von dem die klaren Filetgardinen durchbrechenden Sonnenlicht. Die Goldfische in der Glasschale und der Singvogel im Messingkäfig, diese Pfleglinge einsamer Frauen, fehlten auch hier nicht; auf den Fenstersimsen blühten Frühlingsblumen, buntfarbige Hyacinthen und die träumerisch gesenkten Häupter der weißen Narcisse – das Nähtischchen aber stand in einer förmlichen Nische von Lorbeerlaub.

„Meine Zöglinge – ich hab’ sie fast vom Samenkorn an erzogen,“ sagte die Tante, dem bewundernden Blick des jungen Mädchens folgend. „Die schönsten und liebsten habe ich selbstverständlich dem Doctor in’s Zimmer gestellt.“ Sie schob die angelehnte Thür des Nebenzimmers zurück und führte Käthe hinüber.

„Selbstverständlich!“ wie das klang! So weiblich demüthig, so mütterlich liebend und – verziehend. … Sie hatte ihm „selbstverständlich“ auch das schönste Zimmer im Hause ausgesucht, das Eckzimmer, an dessen östlich gelegenen Fenstern der Fluß vorbeirauschte. Ueber den breiten Wasserstreifen hinaus that sich eine der hübschesten Parkpartieen auf, und fern, hinter Lindenwipfeln, glänzte bläulich das Schieferdach der Villa. … Zwischen diesen Fenstern, an der sehr schmalen Spiegelwand stand der Schreibtisch; wenn der Doctor die Augen vom Papier hob, dann sah er dort die Fahnenstange in den Himmel hineinragen – in den Himmel! Käthe fühlte plötzlich ihre Wangen in heißer Scham brennen; hier bot zärtliche Fürsorge Alles auf, dem Mann verstohlen das Süßeste, das Geliebteste nahe zu rücken, und dort drüben sann ihre treulose Schwester Tag und Nacht darauf, ihn aus seinem Himmel zu stoßen. Mit dem frivolen: „Beglücke Du ihn doch!“ hatte sie vorhin ihre Anrechte verächtlich ausgeboten.

Ob die warmherzige, zartempfindende Frau, die da neben ihr stand, es wohl ahnte, oder vielleicht auch nur instinctmäßig fühlte, daß über kurz oder lang ein unabwendbares Leid, wie es ihn schwerer nicht treffen konnte, über ihren Liebling hereinbrechen werde? Sie hatte Käthe nicht aufgenommen, wie eine kaum in die Heimath Zurückgekehrte, den Familienverhältnissen Entfremdete, sondern als Bruck’s jüngste Schwägerin, die nothwendig mit allen Beziehungen so vertraut sein müsse, daß sie sich gar nicht erst als Tante vorzustellen brauche – demnach mußte ihr Verkehr in der Villa Baumgarten kein intimer sein, und es war in diesem Moment, als wolle sie die Annahme bestätigen, denn sie zeigte nach der leeren Spiegelwand über dem Schreibtisch und sagte unbefangen: „Ich bin noch nicht fertig mit der Einrichtung – da fehlt noch die Photographie der Braut und das Oelbild seiner Mutter, meiner lieben, verstorbenen Schwester.“

Sonst fehlte nichts mehr in dem unbeschreiblich anheimelnden Zimmer. Der Doctor, der heute mit dem Abendzug zurückkehren sollte, hatte keine Ahnung, daß er die Tante nicht mehr in der Stadt finden werde. Sie hatte ihm den Umzugstrubel ersparen wollen, und der Commerzienrath war, wie sie dankbar sagte, so sehr zuvorkommend gewesen, ihr zu dem Zweck das Haus sofort zu übergeben.


(Fortsetzung folgt.)




„Die erste Tragödin der ersten deutschen Schaubühne“.


Der große Frankfurter Pessimist Schopenhauer ist bekanntlich nicht sehr gut zu sprechen auf unsere Welt. Er warnt seine freundlichen Leser dringend vor den listigen Schlichen der Natur, die es auf gar nichts Anderes abgesehen hat, als die Menschheit an der Nase herumzuführen. Das ganze Leben ist nicht nur ein Geschäft, das die Kosten nicht deckt, es ist geradezu eine consequent durchgeführte unverschämte Prellerei, zu deren Opfer die gütige Mutter Natur den Menschen macht. Gar zu plump darf sie freilich das Geschäft des ewigen Foppens nicht betreiben, sonst würden die armen Betrogenen am Ende ihre vertrauensselige Gemüthlichkeit verlieren, sich kurz entschließen, ihr nicht länger aufsitzen zu wollen, und ihr so mit einem Male das Spiel für immer durchkreuzen. Um das zu verhindern, geht sie von Zeit zu Zeit von ihrer Regel ab und läßt ab und zu einige

[97]

Charlotte Wolter als Messalina.
Nach dem Markart’schen Oelgemälde auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

[98] Menschen wirklich, oder am liebsten auch nur scheinbar, glücklich werden, und diese Wenigen sind dann dazu bestimmt, der ungeheuren Mehrheit Sand in die Augen zu streuen. Sie sind die eigentlichen Lockvögel, an deren goldglänzendem Gefieder sich die Menge vergafft, und – weiter hat es keinen Zweck. –

Für solche Lockvögel hat denn die gütige Mutter, wenn wir uns einmal auf den Standpunkt des citirten Philosophen stellen wollen, auch auf dem Felde der Kunst vorgesorgt. Es ist im Allgemeinen bekannt, daß auch da der überwiegenden Mehrzahl von gläubigen Jüngern und hoffenden Priesterinnen statt des ersehnten Lorbeers die Dornenkrone des Elends auf das Haupt gedrückt wird, aber die Lockvögel, diese Lockvögel mit ihrem strahlenden Gefieder und mit ihrem Sirenensang, sie singen und schläfern und lullen Dich ein, und ehe Du es Dich versiehst, bist Du in ihrem Zauberbanne und hoffst, es ihnen gleich thun zu können. Kein Jüngling lernt seinen Faust auswendig (damit pflegt bei uns Deutschen wenigstens die Geschichte anzufangen), ohne daß er im Schreine seines Herzens die stille Hoffnung trüge, daß aus ihm doch noch ein Dawison, ein Devrient oder doch ein Lewinsky werden könnte, und ebenso wahrscheinlich ist es, daß noch kein Mädchen die weltbedeutenden Bretter zum ersten Male betreten hat, ohne ganz im Stillen bei sich zu denken, daß es ihm doch vergönnt sein könnte, dereinst als hellblinkender Stern am Kunsthimmel zu blinken und es dereinst einer Patti im Singen oder einer Wolter im Tragiren gleich zu thun.

Einer Wolter! Ich habe auch sie zu den Lockvögeln gezählt. Die Direction des Wiener Burgtheaters wird mir gerne bestätigen, daß sie zu diesen gehört, wenn auch zunächst in anderem als in dem soeben angedeuteten Sinne. Es ist nichts Seltenes, daß sich schon um drei Uhr Nachmittags eine dichte Menge vor den Pforten des Burgtheaters drängt und stößt, um für die um sieben Uhr beginnende Vorstellung sich ein Plätzchen zu erkämpfen. Dieses durch Künstlerbegeisterung erzeugte Gedränge ist so stark und ferner auch so charakteristisch für die Wiener Bevölkerung, daß ein dramatischer Dichter sich veranlaßt gesehen hat, es zu einer sehr wirkungsvollen und gern gesehenen Bluette, „Der Einlaß vor dem Burgtheater“, zu verwerthen, und fragt man, welchen Namen dieses Gedränge zumeist zu danken sei, so wird der der Wolter jedenfalls nicht zuletzt genannt werden dürfen. Doch nicht ohne Kampf hat sich die Künstlerin den Ehrenplatz in der deutschen Theaterwelt der Gegenwart erobert, den sie jetzt mit sieggewohnter Sicherheit einnimmt; sie gehört nicht zu jenen Glückskindern, welchen gute Genien ihre schönsten Geschenke im Schlafe bringen; Schritt für Schritt hat sie sich emporkämpfen müssen, Schritt für Schritt durch Noth und Entbehrungen, durch gestörte Illusionen und zertrümmerte Hoffnungen hindurch, bis sie das Ziel wirklich erreichte, das auch ihr verführerisch vorgeschwebt haben mag, als sie zum ersten Male vom Lampenfieber geschüttelt wurde.

Wie bei so vielen ihrer Berufsgenossen und Genossinnen war auch bei ihr der erste Theaterbesuch entscheidend für ihre zukünftige Laufbahn. Nicht von einer Loge oder einem bequemen Fauteuil des Parterres oder der Galerie sah sie zum ersten Male der bunten Theaterwelt in’s Gesicht. Sie kauerte, vor innerer Aufregung zitternd, hinter einer Coulisse, nachdem sie den Garderobekorb einer Künstlerin[WS 1] hatte dürfen in’s Theater tragen helfen. Da ward der erste Funke in ihre jugendliche Brust geworfen, und der Brand, der durch diesen entfacht wurde, war nicht mehr zu unterdrücken, weder durch Güte noch durch Strenge. Ein halbes Kind noch verließ Charlotte Wolter Köln, ihre Vaterstadt, und kam nach Wien, um sich hier der Kunst zu widmen. Der glückliche Zufall, der so oft im rechten Augenblicke den von Gott und der Welt verlassenen Menschenkindern zulächelt, ließ sie in Frau Gottdank, einer früheren Hofschauspielerin, eine mütterliche Freundin und eine verständige Lehrerin finden. Frau Gottdank war die erste, welche in dem leidenschaftlichen Kinde das große Talent entdeckte, und in ihrer großen Freude über den Fund verlangte sie nicht nur nichts für ihre Lectionen (es hätte ihr auch freilich wenig geholfen, da zu verlangen, wo nichts war), sondern setzte sogar in aufopferndster Weise den Unterricht fort, als sie krank und siech im Bette lag.

Das erste Engagement fand Charlotte Wolter an dem deutschen Theater zu Pest, woselbst es ihr vielleicht hätte ganz wohl ergehen können, wenn der Director nicht sehr bald darauf bankerott geworden wäre. Nun hieß es für die junge Kunstnovize die Misère der Schmieren kennen zu lernen. Sie kam mit einer Truppe nach Stuhlweißenburg, wo anfänglich ziemlich fleißig gemimt wurde, bis der Director in die für alle Parteien sehr unangenehme Lage gerieth, die Gagen nicht mehr bezahlen zu können. Dennoch sollte die Gesellschaft weiter spielen, da ja Abonnementsgelder im Vorhinein eincassirt worden waren. Unsere Künstlerin aber hatte, um überhaupt leben zu können, das Wenige, was sie an Theatergarderobe besaß, versetzen müssen, und als sie sich daher weigerte, aufzutreten, sollte sie erfahren, daß mit einem Stuhlrichter von Stuhlweißenburg nicht zu scherzen sei. Unmittelbar vor der Vorstellung erschien nämlich ein martialischer Pandur mit aufgepflanztem Bajonnet in ihrem Stübchen und escortirte sie ohne viel Federlesens in’s Theater, wo sie ihrer Schuldigkeit gemäß das Publicum zu unterhalten hatte. Fräulein Wolter spielte, allein am nächsten Morgen entschwebte sie von der Bildfläche Stuhlweißenburgs, und ward nicht mehr gesehen. Sie kam nach Wien und war so glücklich, am Karl-Theater sofort Beschäftigung zu finden, nachdem Franz Treumann und das Ehepaar Nestroy, welchen sie die Deborah zur Probe vorspielte, gefunden hatten, daß Talent, allerdings ein sehr bildungsbedürftiges Talent, vorhanden sei. Und wie wurde dieses Talent gepflegt? Man ließ sie zugleich mit Nestroy, Scholz und Treumann, diesem ausgesuchten Komikertrifolium, auftreten, man beschäftigte sie in Stücken, wie „Tanzmeister Paucerl“, „Einen Jux will er sich machen“, „Vierzig Mädchen in Uniform“ etc. Kurz, es war, als hätte man um jeden Preis einen königlichen Aar abrichten wollen, daß er trillire wie ein Zeiserl oder höchstens wie ein Canarienvogel. Man kann sich denken, daß eine Künstlerin mit einer dämonischen, gewaltigen Leidenschaft in der Brust sich recht traurig ausgenommen haben mag bei diesen Späßen. Aber es sollte noch lange nicht anders werden.

Emil Devrient kam nach Wien und gastirte im Karl-Theater; man gab endlich Tragödien, die Wolter aber durfte Stubenmädchen spielen. Devrient bemerkte nichts von ihrem Talente, dagegen bemerkte er mit Staunen ihre wahrhaft classische Schönheit. Doch man brauchte kein Devrient zu sein, um den Adel dieser Züge, um die vornehme Classicität[WS 2] dieses Profils zu bemerken, zu bewundern, und jedenfalls war das nur ein schwacher Trost für die Künstlerin, deren Loos ungefähr dem des Pegasus im Joche glich. Es kam Hendrichs nach Wien, und wieder gelangten Tragödien auf das Repertoire des Karl-Theaters; man gab „Macbeth“, und die Wolter durfte eine der Hexen spielen. Und doch sollte dieses Mal ein freundlicher Strahl in ihre dunkle Existenz fallen. Hendrichs hatte ihre Schönheit nicht bemerkt, denn als Hexe hatte sie eine gräuliche Larve vor dem Gesichte, aber er wurde während der Vorstellung überrascht von dem Tone ihrer Stimme und ihrer Art zu sprechen. Diese Hexe hatte wirklich den Teufel im Leibe, wie Hendrichs meinte, und ohne weitere Besinnung prognosticirte er der kleinen Hexe eine große tragische Zukunft. Vor der Hand freilich mußte sie noch immer Stubenkätzchen und Nähmamsellchen fort spielen. Endlich erbarmte sich ihrer Cajetan Cerri, der bekannte liebenswürdige lyrische Dichter. Er ging zu Laube und führte diesen in’s Theater, und nun trat endlich die langersehnte Wendung in dem Schicksale der Wolter ein. Laube’s sicherer Blick erkennt in ihr, trotz der sehr unglücklichen Rolle, die sie gerade zu spielen hat, die geborene tragische Heldin. Er räth ihr, sich schleunigst vom Karl-Theater loszumachen, in die Welt hinauszugehen, sich im tragischen Fache auszubilden und dann beim Burgtheater anzuklopfen. Sie gastirt in Brünn. Laube schickt ihr Lewinsky nach, damit er sehe, wie sie sich mache, und Lewinsky kommt mit der inhaltsschweren Meldung zurück, daß sie sich wirklich mache. Laube schmunzelt und meint, daß man sie nur ausreifen lassen solle.

Charlotte Wolter macht inzwischen ihren Weg weiter; sie nimmt ein Engagement am Victoria-Theater an. Am ersten Tage muß das angekündigte Stück abgesagt werden, da der erste Liebhaber feierlich erklärt, mit „dieser Person“ nicht spielen zu wollen – das sei die personificirte Talentlosigkeit. Am nächsten Tage fällt der erste Liebhaber durch, während „diese Person“ sich eines durchschlagenden Erfolges zu erfreuen hat. [99] Nun erst wird sie von mehreren Capacitäten, worunter auch Dingelstedt, der Reihe nach entdeckt, sie aber lernt mit unerschüttertem Eifer unter der Leitung ihres wackern Regisseurs Hein und ihrer Lehrerin, der Frau Peroni-Glasbrenner, weiter und läßt sich endlich vom Director Maurice auf vier Jahre für das Hamburger Stadttheater engagiren. So hatte aber Laube, der Director des Wiener Hofburgtheaters, nicht gerechnet, kaum war sie gebunden, als er auch ihre Fesseln, beziehungsweise ihren Contract zu lösen trachtete. Das gelang durch ein ziemlich schweres Opfer, zu welchem sich die Künstlerin zu verstehen hatte: sie mußte sich verpflichten, durch drei Jahre jährlich sechs Wochen in Hamburg zu gastiren, ohne dafür ein Honorar zu beanspruchen.

So kam sie an’s Burgtheater, und so ward aus ihr die erste Tragödin der ersten deutschen Schaubühne. Da hatte sie nun endlich den lange und schmerzlich ersehnten Spielraum gewonnen, auf welchem ihr mächtiges Talent seine Schwingen regen und entfalten konnte, und diese Schwingen haben sich entfaltet und sich zu hehrem Fluge erhoben, der immer mit untrüglicher Sicherheit das begeisterte Publicum mit sich reißt, empor zu jenen Höhen, auf welchen im reinen Aether der reinen Kunst alle kleinen Sorgen des Alltagslebens vergessen werden. Ihr Talent läßt sich nicht zerlegen, wie ein mechanischer Apparat. Ihr Talent ist ihre Persönlichkeit – ihr Talent ist ihr Auge, ihre Stimme, ihre Bildhauer wie Maler gleich begeisternde Schönheit, und vor Allem ihre Seele, ihre tiefe Empfindung, die sie befähigt, die von den großen Dichtern empfundene Leidenschaft voll und ganz nachzuempfinden. Soweit kann man ihrer Begabung in die Karten blicken; wie sie es weiter anstellt, all’ der glühenden Leidenschaft den rechten Ton, die rechte Gestalt zu geben, das ist ihr Geheimniß, das ihre zahllosen Nachahmerinnen ihr vergeblich abzulauschen getrachtet haben, und das ihr wohl überhaupt nicht abzulauschen ist. Der „Wolter-Schrei“ ist in Wien zu einem geflügelten Worte geworden, allein es ist kein manierirter Kunstschrei darunter verstanden, den sie in immer gleicher Fassung zur Disposition hielte, sondern vielmehr der elementare Ausbruch einer erschütternden Leidenschaft, die gerade darum die Seelen immer wieder ergreift, weil nichts Gemachtes, nichts Manierirtes in ihr ist.

Auf ihre einzelnen Rollen kann ich an dieser Stelle nicht eingehen; um nur ihre „Medea“ zu würdigen, müßte man soviel Raum zur Verfügung haben, wie mir für diesen ganzen Artikel gestattet ist. Wer ihre „Medea“ oder ihre „Sappho“ einmal gesehen hat, wird sie nie wieder vergessen. Ihr Repertoire ist ein außerordentlich umfangreiches und umfaßt beinahe alle Heroinen der classischen wie der modernen Bühnenliteratur. Lady Macbeth, Gräfin Orsina, Phädra, Deborah, Hebbel’s Chriemhild und Maria Magdalena, Adrienne Lecouvreur und die Fürstin Udaschkin (Graf Waldemar) haben noch keine bessere Darstellerin gefunden. Unsere Abbildung zeigt die Künstlerin als Messalina in Wilbrandt’s „Arria und Messalina“. Dem Stücke hat die Kritik ziemlich hart zugesetzt, über die geniale Leistung der Wolter aber herrschte nur eine Stimme des Lobes.

Das Bild, das die „Gartenlaube“ heute ihren Lesern vorlegt, hat seine Geschichte, die zum Schlusse hier kurz erzählt sei. Wissen Sie, freundliche Leserin, was ein „Vielliebchen“ ist? O, nicht diesen Blick beleidigter Majestät! Sie wissen es – gut; allein nicht alle Menschen haben diese Wissenschaft, und ich könnte traurige Geschichten von einem Graveur erzählen, der auf ein verlorenes Vielliebchen, einen schönen Silberbecher, groß und breit „Philipp“ gravirte, weil er nicht wußte, was ein Vielliebchen sei. Doch Sie wissen es, und das genügt. Makart, der berühmte Maler, hatte an die Künstlerin ein Vielliebchen verloren, und Künstler vom Schlage Makart’s können so fürstlich zahlen, wie nur irgend ein Kaiser. Begeistert von der herrlichen Leistung der Künstlerin als Messalina malte er sie als solche und überraschte sie mit dem Gemälde. Das geniale, farbenglühende Bild hängt nun im Boudoir unserer Heroine, und sie sowohl wie der Maler des Bildes haben mit zuvorkommendster Liebenswürdigkeit der „Gartenlaube“ das Reproductionsrecht des interessanten Werkes überlassen, das hier zum ersten Male in die Oeffentlichkeit tritt.

Balduin Groller.




Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Das rothe Quartal.


(März–Mai 1871.)


Von Johannes Scherr.


3. Endlich haben wir die Kommune!


„Aux urnes!“ hieß die Losung der Pariser am 26. März und von allen Wänden herab predigten rothe Plakate die Tugenden einer ausgiebigen Anzahl von Kommune-Kandidaten.

Helles Sonntagswetter, und man macht seine Wählerpflicht im warmen Sonnenschein ab wie ein anderes Sonntagsvergnügen. Alles ist munter und wohlauf. Das Paris beherrschende Roth ist heute kein düsteres, sondern schillert rosenröthlich. Was kümmern uns die von den Wällen der Nord- und Ostforts verwundert nach der „Weltleuchte“ hereinschauenden „deutschen Barbaren“? Nichts. Was fragen wir nach dem in Versailles sich duckenden Nußknacker von Thiers? Weniger als nichts. Denn wir sind souverän, wir Söhne der Weltsonne Paris, souveränst, und wir wollen heute wieder einmal den Erdball in Erstaunen setzen, indem wir ihm zeigen, wie man eine Kommune comme il faut zuwege bringt. Es ist endlich an der Zeit, daß unsere dreimalheilige Dreieinigkeit „Liberté, Egalité Fraternité“ zur Wahrheit und Wirklichkeit werde auf Erden. Denn – also hat der Bürger Jules Allix in einer Klubbsitzung von Belleville prophetirt und dekretirt – „frei sein muß jeder, gehorchen keiner. Sogar das Kind muß frei sein von der Geburt an, maßen es niemand Gehorsam schuldet, auch seinen Eltern nicht.“

Dieses und andere ähnliche prächtige Principien in Thatsachen zu verwandeln, wählen wir also heute unsere hochgelobte Kommune. …

Es geht dabei ganz ordentlich her, das muß man sagen. Die Pariser scheinen durchaus zeigen zu wollen, daß sie in allem Anstand, ja so zu sagen mit Eleganz anarchisch zu sein vermögen. Aber was anarchisch? Regierung muß sein, und wir haben den einköpfigen „Tyrannen“ Thiers nur abgeschüttelt, um uns einen siebzig- oder gar neunzigköpfigen aufzuladen. Variatio delectat mulieres virosque.

Würdevoll marschiren die Bürgerwehrmänner in größeren und kleineren Gruppen nach den Abstimmungslokalen, während ihre besseren Hälften in die verschiedenen Kirchen zur Messe gehen, denn die Pariserin vom anständigen Mittelstand ist bis über die Ohren in Katholicismus getaucht. Die Herren Bürger vom Stadthause lassen ihre Boten durch die verschiedenen Quartiere rennen, und da es an Pferden für die Adjutanten fehlt, sieht und hört man Garibaldiner im vollen Seiltänzerwichs der Garibalderei auf Velocipedes durch die Straßen sausen. Wer nachmittags sich die Mühe nehmen will, die große Barrikade zu erklettern, welche man am 19. März aufgethürmt hat, um den Stadthausplatz gegen die Rue Rivoli hin abzusperren, kann von dort herab ein fröhliches Drängen und Treiben auf diesem Platz erschauen. An 20,000 Bürgerwehrleute sind da versammelt, und die Musikbanden verschiedener Bataillone spielen auf. Rothhemden und Blaublusen schäckern mit Damen, die mehr oder weniger „von jener Sorte“ sind. Zuaven und Turkos tanzen mit Marketenderinnen zwischen den Geschützen, welche, in Batterie gebracht, ihre Mündungen den Ausgängen des Platzes zukehren.

Der Mitglieder des „Conseil municipal“ – diese Benennung klebte man vorderhand noch der Kommune als ein Feigenblatt auf – sollten 90 sein, der eingeschriebenen Wähler waren 490,000. Aber von diesen hatte sich mehr als die Hälfte den Protest hinter die Ohren geschrieben, welchen am 19. März 35 pariser Journale einmüthig gegen die Giltigkeit dieser Wahl zum voraus erhoben hatten, zu nicht geringer Erbosung der Herren vom Centralkomité, welche darauf in ihrem „Journal [100] officiel“ am 22. März eine drohende Kundgebung erließen, deren kurzer Sinn war, daß sie die Freiheit der Presse achten würden, so lange dieselbe so frei wäre, nur in ihrem, der Stadthausherren, Sinne zu schreiben. Nur 277,300 Wähler gingen zu den Urnen und aus diesen kamen als gewählt hervor die (nach der Reihenfolge der 20 Arrondissements gezählten) Bürger 1) Adam, Barré, Méline, Rochard; 2) Brelay, Chéron, Loiseau-Pinson, Tirard; 3) Arnaud, Demay, Dupont, Murat, Pindy; 4) Amouroux, Arnould, Clémence, Gérardin, Lefrançais; 5) Blanchet, Jourde, Ledroit, Régère, Tridon; 6) Beslay, Goupil, Leroy, Robinet, Varlin; 7) Brunel, Lefèvre, Parisel, Urbain; 8) Allix, Arnould, Rigault, Vaillant; 9) Desmarest, Ferry, Nast, Parent, Ranc; 10) Babick, Champy, Fortuné, Gambon, Pyat, Rastoul; 11) Assi, Avrial, Delescluze, Eudes, Mortier, Protot; 12) Fruneau, Geresme, Theiß, Varlin; 13) Chardon, Duval, Fränckel, Maillot; 14) Billioray, Decamp, Martelet; 15) Clément, Langevin, Vallès; 16) Bouteiller, Marmottan; 17) Chalain, Clément, Gerardin, Malon, Varlin; 18) Blanqui, J. B. Clément, Dereure, Ferré, Grosset, Theiß, Vermorel; 19) Buget, Courent, Delescluze, Miot, Ostyn, Oudet; 20) Bergeret, Blanqui, Flourens, Ranvier.

Abgesehen von den Doppelwahlen und dem von Paris abwesenden Blanqui, ist die thatsächliche Mitgliederzahl der Kommune nie eine vollzählige gewesen. Denn keineswegs waren alle die Gewählten mit der Sache einverstanden. Die sämmtlichen Erkorenen der Arrondissements 1, 2, 9 und 16 verweigerten die Annahme der Wahl. Ebenso in anderen Bezirken die Herren Fruneau, Goupil, Lefèvre, Leroy, Murat und Robinet. Am 16. April verschritt man zu Ergänzungswahlen, an welchen aber nur ein Achtel der Wahlberechtigten theilnahm. Unter den Gewählten sind Cluseret, Courbet, Garibaldi (Menotti) und Vésinier zu nennen. Andere, wie Briosne und Rogeard, lehnten das ihnen übertragene Mandat ab. In drei Bezirken kam wegen allzu dünner Betheiligung gar keine Wahl zustande. Die Kommune war demnach vom Anfang bis zum Ende niemals vollständig; niemals repräsentirte sie sämmtliche Quartiere oder gar sämmtliche Bevölkerungsklassen von Paris. Wohl war unter ihre rothen Mitglieder da und dort ein blaues oder wenigstens röthlichbläuliches hineingesprenkelt, z. B. der Bürger Beslay und der wackere Färbergesell V. Clément, aber Blauheit oder auch nur Bläulichkeit vermochte gegen das triumphirend herrschende Roth nicht aufzukommen.

Frühmorgens am 26. März hatte das Centralkomité mittels einer vom Tage zuvor datirten Proklamation seine Selbstauflösung angekündigt. Aber es war das eigentlich nur ein so thun. Denn nach öffentlich aufgelöstem Komité fuhr ein geheimes, welchem Assi vorsaß, zu bestehen und zu amten oder wenigstens mitzuamten fort.

Am 28. März wurden die „Saturnia regna“ der Kommune auf dem Stadthausplatz unter großem Festjubel ausgerufen und sah die frühlingswarm scheinende Sonne wieder einmal eins jener pariser Haupt- und Staatsspektakel, wie sie deren an derselben Stelle schon so manches gesehen hatte. Einhundert oder gar zweihundert Bataillone Bürgerwehr waren da in Parade aufgestellt. Vor der Front des riesigen Stadtpalastes war eine große Bretterbühne aufgeschlagen. Darauf saßen die Mitglieder des gehenden Centralkomité und die der kommenden Kommune, alle mit rothen Schärpen geschmückt. Ueber die Bühne ragte eine gipserne Statue der Republik empor, einen rothen Gürtel über den Hüften, die rothe phrygische Mütze auf dem Kopfe. Vor die eherne Bildsäule Heinrichs des Vierten sammt seinem bronzenen Gaul hatte man eine spanische Wand von rothen Fahnen hingestellt, um die Augen der Bürger und Bürgerinnen, Republikaner und Republikanerinnen durch den Anblick eines „Tyrannen“ nicht zu beleidigen. Die eigentliche Ceremonie, das heißt die Uebergabe der Gewalt von seiten des Centralkomité an die Kommune, wurde kaum bemerkt in dieser Flut von Farben, Sonnenstralen und Waffenglitzern, in diesem Schwall von hunderttausend Menschenstimmen. Das „Vive la république!“ wurde auf der Estrade ausgebracht und zur Antwort scholl vom Platze herauf zurück: „Vive la commune!“ Ein Meer von Bajonnetten, Degenspitzen, Hüten, Kappis und Taschentüchern wogt empor. Die sämmtlichen Musikbanden intoniren die Marseillaise; alle Anwesenden, Männer, Frauen, Kinder fallen ein in die herzbewegende Weise des alten Zauberliedes, und die am Seinequai aufgestellte Batterie donnert den Takt des brausenden Chorgesangs.

Eine ganze Reihe von Augen- und Ohrenzeugen hat erklärt, daß dieser Augenblick ein sehr ergreifender gewesen sei und daß sich dabei das Volk von Paris wieder einmal in seiner ganzen Begeisterungsfähigkeit und Liebenswürdigkeit gezeigt habe.

Zweifelsohne. Aber bei alledem drängt sich einem doch die Wahrnehmung auf, daß schon der festliche Beginn der Kommuneherrschaft die Geistesöde, den Ideenmangel und die Gedankenarmuth der ganzen Bewegung signalisirte und symbolisirte. Nicht einmal ihre Inthronisirung wußten die Herren von der Kommune irgendwie originell in Scene zu setzen. Das ganze Spektakel vom 28. März mußte jedem Kenner der Revolutionsgeschichte wie ein Abklatsch jener Spektakel vorkommen, welche Anno 1793 der „Oberceremonienmeister des Schreckens“, der Maler David, inscenirt hatte. Nur mehr Roth wurde jetzt aufgewendet und bedeutend weniger Redekunst. An Phrasenschwulst und Tiradenbombast dagegen fehlte es auch jetzt nicht. Sagte doch das scheinbar gegangene Centralkomité am Abend des Tages in einem Maueranschlag den Bewohnern von Paris, daß diesen „heute dem großartigsten Schauspiel anzuwohnen gegönnt gewesen sei, welches jemals Menschenaugen geblendet und Menschenherzen gerührt hat. Denn Paris begrüßte die Republik und hieß sie willkommen. Paris schlug im Buche der Geschichte eine neue Seite auf und schrieb seinen mächtigen Namen darauf“ – u. s. w. im Geleier nach bekannter Melodie. Charakteristisch, wenn auch nicht origineller als das übrige, war der Schluß des Aktenstücks. Man weiß ja, daß schon die Reden und Proklame der ersten Revolution neben „la patrie“ immerfort „l’humanité“ und „le genre humain“ gestellt, sowie das Evangelium von der Freiheit, Gleichheit und Bruderschaft allen Völkern des Erdkreises zu bringen verheißen hatten. So auch das Abendproklam vom 28. März. Denn nachdem es die „stolze Parole“ ausgegeben: „Den Tod für das Vaterland!“ forderte es die Pariser auf, fest und vertrauensvoll um die Kommune sich zu scharen, weil nur dadurch das große Endziel zu erreichen wäre: – die „Universalrepublik“.

Der gewohnte gallische Größenwahnsinn, wiederum der alte Chauvinismus, diesmal mit einem rothen Mäntelchen angethan.




 Am Bodensee.

Das Dampfroß braust am Gestade entlang,
Ueber dem Wasser hallt Sturmgesang.
Die in Spiegelglätte noch eben schliefen,
Die Wogen, sie steigen herauf aus den Tiefen,

5
Sie schwellen und bäumen sich Bergen gleich,

Nahen sich rollend dem Uferdeich,
Recken empor sich wie graue Gespenster,
Schleudern den Gischt in’s Wagenfenster,
Sinken zurück dann mit Donnerhall

10
In den Fluthenschwall.


     Wohl! Ich verstehe das wilde Grollen
Der Wasserberge, der aufruhrtollen;
Die Wogen, sie können es nimmer vergessen,
Daß sie die Herrschaft einst besessen,

15
Daß sie den ganzen Erdenball

Vordem umschmiegt mit brausendem Schwall.
Doch aus der Wasser umfangendem Schooß
Rang, mälig sich hebend, das Land sich los.
Sie sahen, verdrängt, in Höhen und Gründen

20
Tausendfältig sich Leben entzünden

Und reicher stets aus des Stoffes Schranken
Gestaltet ersteh’n der Schöpfung Gedanken.
Der Zauber der Formen, Farben und Töne
Schmückte die Flur mit harmonischer Schöne,

25
Der Thiere Geschlechter erfüllten das Feld,

Und der Mensch ward geboren als Herr der Welt.

     Das ist es, weshalb die neidischen grollen
Und schäumend wider die Ufer rollen,

[101]

Sie möchten ersäufen das grüne Land,

30
Begraben das Werk der Menschenhand,

Sie hassen die Form und die Weltvernunft,
Ersehnen des Chaos Wiederkunft,
Möchten in lebenvertilgender Schlacht
Stürzen das All in die alte Nacht.

35
     Aber es wüthet umsonst die Welle;

Wir jagen vorbei mit siegender Schnelle,
Und heute noch von des Rigi Spitzen
Seh’ ich die Häupter der Alpen blitzen,
Wie sie sich baden im Lichtazur,

40
Ein Wunder wie keins auf irdischer Flur.

Und wenn mir frohlockend die Seele schwillt,
Dann zaubr’ ich hervor ein anderes Bild:
In Schönheit strahlend und Harmonie
Steigt mir herauf vor der Phantasie

45
Reizumflossen die süßeste Frau,

Und weilt sie auch fern in nordischer Au,
Ihr Bild steht leibhaft vor mir da
Und ewig ist es im Geist mir nah,
Und berauscht von Natur und Menschenschöne,

50
Ergießt sich mein Herz in Jubeltöne

Und spottet der finsteren Urgewalten,
Die hassend verfolgen des Lichtes Gestalten,
Und höhnt, von Entzücken vollgesogen,
Euren Grimm, ihr Wogen.

55
Wohl weiß ich: einst werdet ihr siegen

Und wieder wie anfangs das Erdreich umschmiegen.
Was lebt, das bringt ihr in grimme Noth,
Und über den Erdball schreitet der Tod,
Die Sonne verliert einst Gluth und Glanz,

60
Es endet um sie der Planeten Tanz,

Sie neigen sich matt in den Sonnenball
Und verschwinden im All.

     Doch eh’ sie hereinbricht, die Weltennacht,
Flammt noch durch Aeonen des Himmels Pracht;

65
Die Erde rollt lang noch in sicheren Bahnen,

Und wie sie auch grollen, der Tiefe Titanen,
Die Schönheit bleibt sich’rer Besitz der Welt,
Und ehe der Erdball in Trümmer fällt
Und das Menschenauge, das letzte, bricht,

70
Geht manches Geschlecht noch am goldenen Licht,

Millionen noch schwelgen im Grün der Au,
Schau’n aufwärts von Bergen in’s Aetherblau,
Millionen noch werden aus Frauenaugen
Nimmerermess’nes Entzücken saugen

75
Und, selig durchglüht vom höchsten der Triebe,

Aufjauchzen in heiliger Liebe.

 Albert Moeser.



Bis zur Schwelle des Pfarramts.[1]
IV. 2. Unter den Philosophen.


Motto: Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Theil der Menschen zeitlebens gern unmündig bleibt und warum es Anderen so leicht wird, sich zu ihren Vormündern aufzuwerfen. Zur wahren Reform der Denkungsart, mag sie auch noch so langsam vor sich gehen, ist nur die Freiheit nöthig, von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlich Gebrauch zu machen.
  Kant.


Als wir nach Ablauf der Ferien wieder durch das Stiftsthor einzogen, lag nach einer traditionell gewordenen Studienordnung Kant’s Kritik der reinen Vernunft auf unserem Pulte aufgeschlagen. Das war nach dem Zuckerbrode der schönen Literatur eine harte und schwere Speise. Da galt es „Bretter bohren“, wie unser Präceptor sich ausgedrückt hatte. Bis man nur an diese schwerfällige Schreibweise sich einigermaßen gewöhnt hatte, bis man einige Uebung darin erlangt hatte, diese Lastwagen von Perioden ordentlich ab- und auszupacken, bis man sich des eigentlichen Sinnes dieses philosophischen Kauderwelsch, der wahren Bedeutung dieser fremdartigen Kunstausdrücke völlig versichert hatte, war schon ein großes und mühsehliges Stück Zeit vergangen. Aber nun erst das Ergebniß dieser scharfsinnigen, mit so viel Bedacht und Gewissenhaftigkeit geführten Untersuchungen! Es war Einem zu Muthe, wie wenn man gewaltsam an den Füßen gepackt und auf den Kopf gestellt wird. Kant muthete uns dieselbe umfassende Umwälzung der Denkweise zu, wie sie Copernikus seinen Zeitgenossen zugemuthet hatte. Copernikus hatte dem Menschen gleichsam die Erde unter den Füßen weggenommen und ihn in die ideale Mitte des Sonnensystems gestellt, um ihm von da aus ein Weltbild zu zeigen, welches dem Augenschein schnurstracks widersprach; Kant nahm dem Menschen die Dinge vor den Augen weg und versetzte ihn in den idealen Mittelpunkt seines Selbstbewußtseins, um ihm von hier aus die Welt in einem neuen, ungeahnten Lichte zu zeigen.

„Du meinst“ – so etwa sagt er zum Menschen – „die Dinge seien so, wie sie sich Deinen Sinnen darstellen? Täuschung! Was sie sind, sind sie nur durch Dich, durch Dein Auge, das ihr Bild so und so zurückspiegelt; was sie sind in einem ganz anders organisirten Auge, in dem Auge des Bewohners einer anderen Welt zum Beispiel, das wissen wir nicht. Du siehst die Dinge in Raum und Zeit, aber Raum und Zeit sind nichts [102] Wirkliches, in der äußeren Welt Vorhandenes; das sind nur Formen, welche Dein Geist zu den Dingen hinzubringt, Gläser, durch welche Dein Anschauungsvermögen die Dinge betrachtet, Gefäße, in welche Du vermöge einer nothwendigen Einrichtung Deiner Natur die auf Dich eindringenden Dinge einfassest. Was diese Dinge sind ohne Dich, ohne die Formen, die Du an sie heranbringst, also an sich selbst, nach ihrem eigentlichen Wesen und ihrer wahren Natur, das weißt Du nicht. Wir erkennen also die Dinge nur, wie sie uns erscheinen, nicht wie sie sind; ‚das Ding an sich‘ bleibt dem Menschen ewig unbekannt.“ Und unser Dichter spricht ganz im Sinne Kant’s, wenn er unter den „Worten des Wahnes“ die Meinung aufführt, daß dem irdischen Verstande die Wahrheit je werde erscheinen, „ihren Schleier hebt keine sterbliche Hand; wir können nur rathen und meinen; du kerkerst den Geist in ein tönend Wort, doch der freie wandelt im Sturme fort.“

Man folgte dem kühnen Revolutionär im Reiche des Gedankens Schritt für Schritt; man ließ sich die Trugschlüsse aufzeigen, welche die menschliche Vernunft in allen ihren bisherigen Speculationen über Gott und Welt und Menschenseele begangen hatte, und man blickte mit einem gewissen kritischen Wohlgefallen auf diese Trümmerwelt des gewöhnlichen Meinens und Glaubens. Aber so recht wohl wurde es Einem doch nicht in dieser dünnen und scharfen Luft der Kritik. Sobald man nur der Zucht des strengen und scharfsinnigen Meisters einen Augenblick entronnen und sich selbst zurückgegeben war, stellte sich der alte Adam, das gemeine, hausbackene Denken wieder ein und sprach bei sich selbst: „Ja! der Baum, den ich da vor mir sehe, ist doch gewiß ein Baum; ich kann seine Geschichte verfolgen von dem Kerne an, aus dem er erwächst, bis zur Krone, in welcher er sich vollendet – warum sollte er anders sein, als er mir erscheint? Der menschliche Geist mit den nothwendigen Formen seiner Anschauung und seines Denkens wird doch für die Dinge der Welt berechnet sein und diese für ihn; nur weil das Auge sonnenhaft ist, vermag es die Sonne zu erblicken; was nicht etwa ich als Einzelwesen, was der Mensch vermöge der Einrichtung seiner Natur so anschauen und so denken muß, das wird auch in Wirklichkeit so sein. Was der Mensch vermöge der nothwendigen Formen seiner Anschauung und seines Denkens auf Erden bindet, das wird auch im Himmel gebunden sein, und was er also auf Erden löst, das wird auch im Himmel los sein. Ueberdies giebt es, wenn Kant Recht hat, nicht blos keinerlei Erkenntniß des Uebersinnlichen, der Dinge an sich, es giebt im Grunde auch keine Erkenntniß der sinnlichen und wahrnehmbaren Dinge; denn auch von diesen erkennen wir nicht das Wesen, sondern nur den Schein, den sie auf unser Auge werfen; was sie wirklich sind, wissen wir nicht. Es giebt also überhaupt keine Wissenschaft, keine Erkenntniß, keine Wahrheit. ‚Wir können nur rathen und meinen‘, und ‚die Kritik der reinen Vernunft‘ hat zwar das Denken geschult, wie kein anderes philosophisches System, aber in ihrem Ergebnisse hat sie nicht über Pyrrho und Hume, die Zweifler an aller Wahrheit, hinausgeführt.“

Unter diesen und ähnlichen Gedanken fing ich an zu zweifeln, ob ich überhaupt Kant verstanden, seine eigentliche Meinung richtig aufgefaßt habe. Ich wagte nicht meine Unwissenheit gegen irgend Jemand einzugestehen; ich fürchtete, ausgelacht zu werden; denn ich meinte, was mir so viel Kopfzerbrechen mache, sei für die Anderen eine leichte Sache. Ich raffte Alles zusammen, was an Popularisirung und Erläuterung des schweren Buches von Anhängern, zum Theil noch Zeitgenossen des großen Philosophen, im Druck erschienen war, aber das verwirrte nur noch mehr; denn es verbarg die wahre Gestalt des furchtbaren und schwer zugänglichen Kritikers hinter dem Bilde eines brauchbaren, dem gewöhnlichen Verständniß angenäherten Dogmatikers.

Einer Jugend, die gern aus dem Vollen schöpft, die in’s Unbegrenzte schweift, die mit neugierigem Sinn wissen möchte, was die Welt im Innersten zusammenhält, mochte die Selbstbescheidung des greisen Denkers von Königsberg, sein besonnenes Maßhalten, und bedächtiges Grenzensetzen nicht behagen. Man schaute von dem Brod der Entbehrung, das er reichte, nach den vollen Fleischtöpfen, welche die auf ihn folgenden Philosophen in Aussicht stellten. Da sollte das Welträthsel endgültig gelöst, die absolute Philosophie mit der absoluten Religion gefunden und der ewige Friede zwischen Wissen und Glauben geschlossen sein.

Fichte, der Weiterleiter der Kant’schen Philosophie, sprach mich als großer Mensch und granitener Charakter gewaltig an, aber den Denker verstand ich nicht. Die „Wissenschaftslehre“ legte ich nach einigen Versuchen, die Schale zu zerbrechen, wieder weg. Sollte ein Mensch in vollem Ernste der Meinung sein, daß alle Dinge außer ihm, die Häuser, die Berge, die Bäume, die Sterne, die Menschen um ihn nur das Erzeugniß und die Abspiegelung seines eigenen Ich seien? Mochte auch eine solche Annahme als eine natürliche Folgerung aus den Kant’schen Voraussetzungen sich ergeben, so wollt’ ich doch lieber an meine eigene Unfähigkeit, philosophische Gedanken zu fassen, glauben, als an solche Ungeheuerlichkeiten im Gehirne eines Denkers. Ging ich darum in ehrfurchtsvoller Scheu an Fichte vorüber, so stieß mich dagegen Schelling förmlich ab. Er galt mir als der Philosoph der Romantik und der Reaction.

Eine vortreffliche und geistvolle Abhandlung Arnold Ruge’s über „unsere Classiker und Romantiker“ hatte einen tiefen Eindruck auf mich gemacht. Hier wurde über die Romantik – in dem weiteren Sinn des Wortes, in welchem bald nachher Strauß einen Friedrich Wilhelm den Vierten von Preußen als den Romantiker auf dem Throne der Cäsaren zeichnete – die unerbittliche Geißel der Satire und des männlichen Zornes geschwungen: sie wurde an den treffenden Beispiele der Tieck, Schlegel, Novalis, Stolberge etc. gezeichnet als das souveräne Belieben des eitlen sich selbst bespiegelnden Ichs, das die ganze Welt zum Spielball seiner Laune und Willkür macht, das geistreiche Wesen, das dilettantische Genießen und Versuchen höher stellt, als den bürgerlichen Fleiß und die tüchtige Arbeit für vernünftige Weltzwecke, für das tägliche Leben eine eigene aristokratische Moral der Genies erfindet und die Gesetze der gemeinen Sittlichkeit mit Füßen tritt, in der Philosophie an die Stelle eines geordneten Denkens geniale Schrullen und geistreiche Aperçus setzt, in der Kunst die Regel und das Gestaltbare verachtet und das Formlose, Unaussprechliche zu gestalten sucht, in der Politik für das Mittelalter schwärmt und in der Religion nach dem Katholicismus hinüberschielt.

Diesem Dämmer der Romantik wird die lichte Welt des Gedankens und der Formenschönheit, der gesunde Realismus eines Kant, Goethe, Schiller als der Classiker der deutschen Nation gegenübergestellt. In diesem saftigen Gemälde erschien Schelling als der Philosoph, als der Johannes der Romantik. Es mag viel Leidenschaft in diesem Urtheil liegen, aber ich konnte ihm doch nicht ganz Unrecht geben, nachdem ich Schelling’s „Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit“ studirt hatte. Das Büchlein ist hübsch, geistreich, gefällig geschrieben, aber die Grundbegriffe desselben: der Gott, der anfänglich noch nicht Gott, sondern sein eigener bewußtloser Ur- und Ungrund ist, aus dem er sich zum Erfassen seiner eigentlichen Gottheit erhebt, der Mensch, der durch eine vor- und außerzeitliche That, also vor seiner Existenz nicht nur seinen sittlichen Charakter, sondern sogar seine Körperbeschaffenheit bestimmt etc. – erschienen als phantastisch und gnostisch, und ein solcher Denker verlor sich in die dunkeln Gründe der Mythologie.

Kam so von dieser Seite her wenig Licht, so stürzte man sich mit um so größerem Vertrauen auf Hegel. Die Hegel’sche Philosophie erlebte eben damals – Anfang und Mitte der vierziger Jahre – ihre schönste Zeit. Noch hatte der allgemeine Geist sich nicht feindselig und mißtrauisch von der Philosophie abgewandt und der Ruf nach Erfahrung und exactem Wissen den Sinn für die Speculation noch nicht ertödtet. Wohl hatte die Hegel’sche Philosophie aufgehört, Staatsphilosophie zu sein, aber das gereichte nur zu ihrem Vortheile; junge, unabhängige Geister waren eben daran, die keimkräftigen und fruchtbaren Gedanken des Systems, zum Theile glücklich befreit von den Klammern der eintönigen, schwerfälligen Formel, in alle Gebiete des Wissens und bald auch des Lebens hinauszutragen. Die „Hallischen Jahrbücher“ legten im Tone des frischen, kecken Jugendmuthes die Grundsätze Hegel’s als Maßstab an die Zustände des Staates und der Kirche an. Strauß, Zeller, Schwegler übersetzten die geheimnißvollen Orakelsprüche des Meisters in ein schönes, verständliches [103] Deutsch, hellten manche dunkle Punkte in selbstständiger Forschung auf und zerstreuten die Nebel, in welche sich der Staatsphilosoph von Berlin wohl oft absichtlich gehüllt hatte, und Baur’s, des großen Tübingers, Fackel leuchtete erst hell und weithin durch die dunkeln Gebiete der Religionsgeschichte, als er sie an Hegel’s Licht angezündet hatte. Andere bearbeiteten die Rechtswissenschaft, wieder Andere die Aesthetik mit glänzendem Talente im nämlichen Geiste, und die Geschichtsschreibung zumal nahm einen neuen Aufschwung, indem sie doch wesentlich von Hegel gelernt hatte, sich in den Geist der Zeiten liebend zu versenken und die Ereignisse in den großen Zusammenhang beherrschender Ideen zu stellen.

Für den Studirenden jener Zeit hatte die Bearbeitung der Hegel’schen Philosophie zu allgemeinem Gebrauche den ungemeinen Vortheil, daß er den Geist derselben in sich aufnehmen konnte, ohne sich lange mit der mühsamen und oft unerquicklichen Form herumzuschlagen, in welcher derselbe sich durch die Schriften des Philosophen selbst zum Lichte rang, daß er des Kerns habhaft werden konnte, ohne sich die Zähne und Lippen an der stachligen Schale zu verwunden. Das „Ansich und Fürsich und Anundfürsich“ hat mir wenig Kopfzerbrechens gemacht; die sogenannte dialektische Methode habe ich weder verstanden noch anzuwenden gesucht; um die Haltbarkeit des Details habe ich mich wenig gekümmert; es war das große Weltpoëm des Gedankens, das den Jüngling berauschte; es war der grandiose Wurf einer umfassenden, alles Wirkliche in sich schließenden Weltanschauung, was ihn fesselte und mit sich fortriß; die ganze Welt eine Offenbarung der Vernunft, des Einen ewigen Geistes, der die Natur zum Schemel seiner Füße und den Menschengeist zu seinem Throne gemacht hat, ein geordnetes Stufenreich aufsteigender Entwickelungen, die ihren ruhelosen Trieb in dem Geiste haben, welcher zugleich ihr Grund und ihr Zweck und Ziel ist, der seine Wesensfülle ausbreitet von der Natur an, dem noch gebundenen und verhüllten Geiste, bis zu der lichten Welt der Freiheit und Vernunft im Menschen, und hier wieder stufenweise aufsteigend im Gewissen und Denken des Einzelwesens, dann in den Ordnungen und Sitten des Hauses, der Gesellschaft, des Staates, zuletzt in den höchsten Fernen seiner Erscheinung, in der Kunst, Religion und Philosophie, in welchen er sein eigenes Wesen anschaut und genießt. Daher die Welt ein ewiges Werden, ein ruheloser Proceß, ein Drängen von Stufe zu Stufe, steter Fortschritt und nie endende Entwickelung, ein sausender Webstuhl, an welchem das lebendige Kleid der Gottheit gewoben wird, weil jede Stufe der Weltentwickelung zwar eine Offenbarung des ewigen Geistes, aber unter den Bedingungen und in den Schranken der Zeit ist, jedoch diesem ruhelosen Processe fehlt das unverrückbare helle Auge nicht, der ordnende, gestaltende, sich ewig gleichbleibende und selige Geist, von dem, durch den, zu dem alle Dinge sind. Die ganze Welt eine Offenbarung der Vernunft – und die Völkergeschichte das Weltgericht oder der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit; jede Nation die Trägerin einer Idee, an der sie untergeht, um ihren reifen Kern einer anderen, mit dem Dienste eines neuen Weltgedankens betrauten zu übergeben; die Völker, wie die Individuen, die auf dem Schauplatze der Weltgeschichte auftreten, gleichsam um den Thron des Ewigen geschaart als die Vollbringer seiner Gedanken und die Zierrathen seiner Herrlichkeit, in ihren blinden Leidenschaften und eigennützigen Bestrebungen wider Willen die Werkzeuge Dessen, der sie lenkt und ihr Thun in sein Lichtreich verwebt. Der einzelne Mensch zwar auf der einen Seite Geschöpf, eine verschwindende Welle im Ocean, eine selbstlose Erscheinungsform, aber doch zugleich ein Gefäß des Ewigen, der sich in allem Endlichen offenbart, ein Mitarbeiter Gottes, ein Missionär des Geistes, berufen, aus der Sinnlichkeit zur Vernunft, aus seiner Natürlichkeit zur Freiheit sich durch eine That des Geistes emporzuarbeiten.

Gewiß ein imponirendes, für eine phantasievolle Jugend bestechendes Weltbild! Dieser Philosoph schien alle früheren Systeme zugleich aufgelöst und erfüllt zu haben. Die Kluft, an welcher das Denken des Begründers der neueren Philosophie, Cartesius, gescheitert war, die Kluft zwischen Natur und Geist, der ausgedehnten und der denkenden Substanz, die nur äußerlich durch eine dritte, durch einen Deus ex machina, überbrückt war, schien hier ausgefüllt; der Dualismus löste sich auf in einen vollständigen Monismus des Gedankens und auch die Natur war Geist aus Geist. Spinoza’s Ein und Alles war hier gerettet, aber die Starrheit der Einen Substanz und die Unfreiheit der Dinge war aufgelöst in dem lebendigen Geist, an welchem die Wesen der Welt nicht ihre äußere Schranke, sondern ihr innerstes Gesetz, ihren eigenen Lebenstrieb haben. Leibnitzens Monaden, das heißt die Dinge der Welt als lebendige selbstthätige Wesen, von denen jedes das Universum in seiner Weise abspiegelt und die sich nur durch den Grad der Deutlichkeit ihrer Vorstellungen von einander unterscheiden, erschienen wieder in dem Stufenreiche der Vernunft, das sich von den gebundensten Formen der Natur an, in welchen der Geist gleichsam seufzend nach Licht ringt, immer höher und höher zur vollen Helle des Bewußtseins erhebt. Dem vorsichtigen Denken und Scheiden Kant’s gegenüber mochte diese Speculation immerhin wie ein Rausch aussehen, aber war sie nicht doch das letzte Wort seines Idealismus, indem sie die ganze Welt der äußeren Dinge nur als eine Abspiegelung des Geistes, als einen Ausdruck des Gedankens betrachtete? Und war der Gott, der hier verkündigt wurde, nicht eben derjenige, welchen die ganze neuere Philosophie oft im herben Kampfe, manchmal in schlecht geschlossenem Frieden mit der Kirche gesucht hatte, der Gott, den Goethe so treffend bezeichnet hat in dem Worte:

„Was wär’ ein Gott, der nur von außen stieße,
Im Kreis das All am Finger laufen ließe!
Ihm ziemt’s, die Welt im Innern zu bewegen,
Natur in sich, sich in Natur zu hegen,
So daß, was in ihm webt und lebt und ist,
Nie seine Kraft, nie seinen Geist vermißt.“

Und war die Welt, deren Bild hier entworfen wurde, nicht eben diejenige, welche die ganze neuere Philosophie verlangte, ein gesetzmäßiges, aus eigenen innewohnenden Kräften handelndes, durch keine äußerlichen Eingriffe gestörtes Ganzes voll innerer Zweckmäßigkeit und Vernunft?

Ja, ein tief religiöser Zug schien durch diese Philosophie zu gehen. Der ewige Geist, von dem, zu dem alle Dinge sind, die Welt die Werkstatt seiner Gedanken, der Schauplatz seiner Weisheit und Güte, sodaß Alles recht und gut ist an seiner Stelle (alles Wirkliche vernünftig und alles Vernünftige wirklich, wenn man die Hegel’sche Paradoxie recht verstehen will), die Weltgeschichte ein Weltgericht, der Mensch aus der Nacht der Natürlichkeit sich emporringend zu Gott – da schienen sich alle Stimmungen und Forderungen der Religion mit Leichtigkeit anknüpfen zu lassen, und wenn man über den unfertigen, anfangs bacchantisch taumelnden Gott spottete, der erst warten muß, bis der Philosoph ihm ein Licht über sich selbst aufsteckt, so schien uns das ein tiefes Mißverständniß zu sein, zu welchem allerdings der Philosoph durch manche Aeußerungen Anlaß gegeben haben mochte. So tapfer wir uns gegen die sogenannte „Persönlichkeit“ Gottes wahrten, so sehr wir es mit Goethe hielten:

„Was soll doch euer Hohn
Ueber das All und Eine?
Der Professor ist eine Person;
Gott ist keine –“

so schien es uns doch selbstverständlich, daß der Geist, der schon der Natur die Spuren eines Alles zusammenschauenden Denkens aufgedrückt, der in den Bewegungen der Sterne Rechenexempel gelöst hatte, an welche aller menschliche Scharfsinn nicht hinanreicht, nicht erst beim Menschen die Klarheit über sich selber zu suchen habe.

Schenkte mir so die Philosophie eine Weltanschauung, bei welcher der denkende Geist trotz aller Knoten, die noch zu lösen waren, und aller Geheimnisse, die noch übrig blieben, im Ganzen ausruhen könnte, so verdankte ich ihrem Studium ein noch werthvolleres Gut: die Freude an der unabhängigen, niemals abgeschlossenen Forschung. Nichts in der ganzen Menschengeschichte war mir häßlicher und abscheulicher, als die Engherzigkeit der Theologen, welche der freien Forschung ihr unfehlbares Buch oder ihr fertiges Dogma entgegenstellen. Ich faßte einen rechten Widerwillen gegen die Kirche, welche sich ohne Unterschied, ob katholisch oder evangelisch, im Amte der Ketzerrichterin gefiel und gegen die Meinungen der Philosophen bald den Arm des Staates, bald die Wuth des Volkes aufrief. Die [104] von Staat oder Kirche verfolgten Denker, die Spinoza, die Wolf, die Fichte, die Strauß hatten meine volle Sympathie. Jeder sage, was ihm Wahrheit dünkt! Die Wahrheit selbst sei Gott befohlen! Es giebt nur Ein Buch, das auf jeder Seite ewigen göttlichen Gehalt trägt – das ist die Welt, und es giebt nur Ein Mittel, die Wahrheit daraus zu finden – das sind zwei gesunde Augen. Aber jenes Buch ist so groß, daß Keiner es ausliest, und die Augen nehmen so verschiedene Gesichtspunkte, daß Jeder hören soll, was der Andere sieht. Von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlich Gebrauch zu machen, ist eines der allgemeinsten Menschenrechte, und nur die freieste Ausübung dieses Rechtes bringt die menschliche Erkenntniß vorwärts.

Was geht über diese freie Lust des Forschens und Schauens?




Auch ein Jubiläum.


Erinnerung von Friedrich Hofmann.


Heute, am 1. Februar 1876, sind es fünfundzwanzig Jahre, daß Wilhelm Bauer im Kieler Hafen mit seinem ersten Brandtaucher versank, und die Schilderung dieses Ereignisses war der erste Artikel der „Gartenlaube“ über den „deutschen Erfinder“. Wir dürfen diesen „Jubiläumstag“ nicht vorübergehen lassen, ohne noch einmal des Mannes zu gedenken, für welchen die Leser dieses Blattes seit jener Zeit bis zu seinem Ende ihre Theilnahme bethätigt haben. Wilhelm Bauer ist, wie seiner Zeit alle Zeitungen berichteten, nach sechsjährigen Leiden im vorigen Jahre heimgegangen. Noch am 10. Juni 1875 hatte er sich zum Grabe seines letzten Kindes, seines Töchterchens Constanze – es würde ihr zehnter Geburtstag gewesen sein – fahren lassen. Dort weinte er sich noch einmal in den Armen seiner Gattin recht aus und verließ die Stätte mit dem Wehrufe: „Hier liegen unsere Freuden begraben!“ – Zehn Tage später, gegen die Mittagszeit des Sonntags, ahnte er bei voller Geistesklarheit seine nahe Auflösung. Auf die Frage eines Freundes nach seinem Befinden antwortete er: „Es geht gut, bald wird es zum Allerbesten gehen.“ Da schlug’s zwölf Uhr, und auf der Straße marschirte eine Regimentsmusik vorüber. Sichtlich erregt lauschte er den altbekannten Klängen; der alte Soldatengeist wachte noch einmal auf und folgte den ferner und ferner verklingenden Tönen, und mit dem Verhallen des letzten Tones war der letzte Lebensfunke Wilhelm Bauer’s verglommen.

Der vielbewegte Lebensgang des seltenen Mannes ist den Lesern der „Gartenlaube“ aus einer langen Reihe von Artikeln bekannt. Für sie bedürfte es kaum eines Rückblickes auf denselben, wenn nicht die Zeitungen bei Bauer’s Tode eine ziemlich gleichlautende biographische Skizze gebracht hätten, welche Berichtigungen und Ergänzungen nothwendig macht. Wahr erzählen alle bis zum Beginne der Hebung des Dampfschiffes „Ludwig“. Von hier an lauten die Berichte: Bauer habe bei der Ludwigshebung sich seine Gichtkrankheit zugezogen, und dann erst sei durch die „Gartenlaube“ dem deutschen Volke die Veranlassung gegeben worden, „seinem genialen Sohne eine Ehrengabe zu widmen, die ihm das Leben soviel zu versüßen vermocht, wie es bei seinem Zustande eben ging.“

Es wäre übergroße Bescheidenheit, die zu einer Fälschung der Geschichte des Lebens und der Erfindungen Wilhelm Bauer’s führte, wollten wir zu jenen Zeitungsnotizen für immer schweigen, und selbst das Mißliche, daß der Verfasser dieser „Erinnerungen“ seinen Antheil an Bauer’s Streben und Kämpfen dabei ausdrücklich mit hervorheben muß, darf ihn von der Veröffentlichung des Nachstehenden nicht abhalten.

Nicht erst, als es mit Wilhelm Bauer zu Ende ging, trat die „Gartenlaube“ für ihn ein, sondern mit ihrem Auftreten für ihn begann der zweite Abschnitt seiner Laufbahn. Der erste Lebensabschnitt Bauer’s beginnt mit dem Baue und Untergange des ersten Brandtauchers im Kieler Hafen, umfaßt die Odysseus-Fahrten des „deutschen Erfinders“ nach Wien und Triest, nach Berlin, nach London und Paris und schließlich nach Petersburg und Kronstadt, wo die Submarine ihre Erprobung feierte, und schließt mit der Heimkehr Bauer’s nach Baiern und seinen ersten Versuchen der Ludwigshebung im Bodensee.

Durch fremde, nachgewiesene Schuld stand hier sein Erfinderruf, die mit Mühen und Todesgefahren erkämpfte Errungenschaft seines Lebens, auf dem Spiele. Er mußte das Schiff heben, oder er verlor Ehre und Vertrauen für immer. – In dieser Noth befand sich Wilhelm Bauer, als ich durch Dr. L. Hauff’s Broschüre über dessen Erfindungen auf das außerordentliche Talent des verkannten und unterdrückten Mannes aufmerksam gemacht wurde. Ich veröffentlichte sofort in dem von mir damals redigirten Payne’schen „Panorama des Wissens und der Gewerbe“ mehrere Artikel mit trefflichen Stahlstich-Illustrationen über den außergewöhnlich fesselnden Gegenstand und trat dadurch mit Bauer in directe Verbindung. Auf einer Heimreise von London suchte kurz nachher Bauer mich in Leipzig auf und weihete mich in das Wesen, die bisherigen Schicksale und die mögliche Tragweite seiner Erfindungen ein. Von diesem Augenblick an wurde ich, von dem edlen Ernst und unerschöpflichen Geist Bauer’s und der Wichtigkeit seiner Ziele überzeugt und gefesselt, des Mannes Freund und Vertreter in der Presse. Aber erst als ich bald darauf (im Herbste 1861) zur ständigen Mitarbeiterschaft an der „Gartenlaube“ berufen wurde und die Redaction die Spalten derselben für die Bauer’sche Sache öffnete, konnte, bei deren schon damals sehr großem Leserkreis und der Empfänglichkeit desselben für patriotische Anregungen, ein Rettungsversuch für Bauer’s Unternehmen mit der Hoffnung auf glückliche Durchführung gewagt werden.

Nachdem die Theilnahme für die Person Bauer’s durch die Schilderung der Kieler Niederfahrt erregt und das Publicum durch eine illustrirte Darstellung über die Schiffhebungsweise Bauer’s unterrichtet war, erfolgte die Gründung des „Centralcomité für Wilhelm Bauer’s deutsches Taucherwerk“ in Leipzig. Es galt nun nicht mehr, das versunkene Schiff blos auf die billigste Weise zu heben, denn das hätte Bauer mit Hülfe der erprobten Benutzung der Fässer statt seiner Ballons und Kameele bei gesichertem Bergedampfer bewerkstelligen können: jetzt galt es, Bauer’s Apparate, die vor Allem auf Hebung versunkener Schiffe und Güter aus Meerestiefen berechnet waren, auf das Gründlichste zu erproben. Diese Erprobung war weder billig noch leicht. Sie machte trotz der glücklichen Sammlungen der „Gartenlaube“ und dem Eifer des Leipziger Comités die Hülfe von Männern nöthig, deren Namen in den Zeitungsberichten ebenfalls verschwiegen worden sind. Sie waren F. Streit, der Industrielle Moser und, in der höchsten Noth, als alle Mittel erschöpft waren, Herzog Ernst von Coburg-Gotha, welcher ein bedeutendes Capital für die Ehrenrettung der deutschen Erfindung zur Verfügung stellte. Alle belohnte am 21. Juli 1863 der glänzende, erhebende, unvergeßliche Triumphzug des gehobenen „Ludwig“, als dessen Schiffsglocke zum ersten Male nach zwei Jahren und vier Monaten wieder über die Wellen des Bodensees zu den Ufern hinübertönte.

Deutschland war leider, trotz des nationalen Festaufschwungs des Volks, damals noch nicht der Staat, in welchem ein solcher Erfolg dem Erfinder goldene Früchte hätte tragen können. Wie würde amerikanischer Unternehmungsmuth eine solche Erfindung ausgebeutet haben! Bauer selbst hatte zu bittere Erfahrungen im Auslande gemacht, um für sein Wirken wieder einen ergiebigeren Boden auswärts zu suchen, und das Gefühl der Dankbarkeit, das ihn für die ihm von der Nation zu Theil gewordene Unterstützung erfüllte, würde ihn auch ohne das rege Vaterlandsgefühl, das ihn früher mit Schmerz erst aus Deutschland scheiden ließ, als die letzte Hoffnung für die Ausführung seiner ersten Erfindung im Vaterlande verschwunden war, von einem solchen abermaligen Schritte abgehalten haben. Außerdem war es zunächst nicht der Mangel an gutem Willen, sondern ein unvorhergesehenes Zeitereigniß, woran die so allgemein gehoffte und gewünschte Verwerthung der Schiffhebung und der unterseeischen Schifffahrt für Deutschland scheiterte.

In Bremen schien die Schiffhebung feste Hand zu finden. Während aber die Unterhandlungen über eine dafür zu gründende

[105]

Die gute Censur.
Nach dem Oelgemälde von L. Tannert.

[106] Actiengesellschaft noch schwebten, kam das Jahr 1864 und der neue dänische Krieg, der jedes Unternehmen zur See unmöglich machte. Dieser Krieg führte den rastlosen Erfinder wieder zu seinem Brandtaucher, dem er nun in dem „Küstenbrander“ (Gartenlaube 1864, Nr. 35) eine neue Gestalt und praktischere Bestimmung gab. Sofort trat auf meine Anregung in Leipzig ein neues Comité „für Wilhelm Bauer’s unterseeische Kriegsfahrzeuge“ zusammen. Allein trotz der glänzenden Gutachten, mit welchen polytechnische Vereine und Versammlungen dafür auftraten, trotz des warmen Eifers der patriotischen Presse und der noch immer regen Theilnahme des Volkes für W. Bauer, mußte bald die Befürchtung aufsteigen, daß die Beschaffung einer so bedeutenden Summe, wie sie der Bau und die kampffertige Ausrüstung eines Küstenbranders erforderte, nicht rasch genug für den begonnenen Krieg und wohl erst nach Jahren zu ermöglichen sei. Allgemeine Freude erregte es daher, als plötzlich die preußische Regierung sich der Erfindung annahm. Am 9. September 1864 stand Bauer vor einer vom Kriegs- und Marine-Ministerium eingesetzten Commission, welche nach „gründlichster Prüfung und Erörterung aller irgend möglichen Einwürfe das Project des Submarine-Ingenieurs W. Bauer als in seinen Principien richtig, als wohlausführbar und als aller Voraussicht nach überaus werthvoll einstimmig anerkannte“. Wirklich wurde Bauer zu Anfang des folgenden Jahres nach Stettin berufen, um dort den Bau eines Küstenbranders zu leiten.

Bauer zog mit seiner Familie nach Arthursberg bei Stettin und trat vom Januar 1865 an in preußischen Sold. Die Freude dauerte nicht lange. Bauer hatte zur Vervollständigung des Küstenbranders die Erprobung eines unterseeischen, rückstoßfreien Geschützes und einer neuen Motionskraft für unerläßlich erklärt, und drei Fachmänner-Commissionen waren einstimmig dafür eingetreten, indem sie die Anweisung von dreitausend Thaler für die Motionsmaschine und vierzehnhundert Thaler für das Geschütz befürworteten, weil ohne praktische Versuche kein bestimmter Schluß über deren unter- und überseeische Verwendung gezogen werden könne, während andererseits weder theoretische noch technische Motive gegen die Sache sprächen, wobei sie die Genialität und die Vielseitigkeit des Gesammtprojectes noch besonders hervorhoben. Alle dem entgegen verlangten die Admiralitätsräthe auf den dem Marine-Ministerium von den Fach-Commissionen, mit welchen Bauer mündlich verhandelt hatte, erstatteten Bericht hin von Bauer, „daß, bevor auf kostspielige Experimente mit ihm eingegangen werden könne, von ihm zunächst präcise, verständliche und wissenschaftlich begründete Projecte vorzulegen bleiben“.

Dieses Ansinnen, ohne vorhergegangenes Experiment über die Wirkung noch unerprobter Naturkräfte eine wissenschaftliche Abhandlung zu schreiben, mußte für Bauer, den genialen Praktiker, aber ungelehrten Mann, einer Ablehnung des ganzen Unternehmens gleichkommen. Er beschloß daher, auf eigene Faust diese Experimente durchzuführen und dann, wo möglich, den ganzen Küstenbrander fix und fertig auf dem Bodensee herzustellen. Zu diesem Behufe zog er, da er von der badischen Regierung den nöthigen Schutz erhoffte, mit seiner Familie nach Constanz.

Wieder konnte nun nur durch nationale Hülfe der abermals mittellos dastehenden Erfindung aufgeholfen werden. Die lange Unterbrechung der Comité-Thätigkeit hatte die öffentliche Theilnahme für die Sache eingeschläfert. Es galt, alle Hebel für deren Wiedererweckung in Bewegung zu setzen. Nächtelang arbeitete ich damals an Aufrufen, Bitten und Ermahnungen an die Flotten-Comités, Schützengesellschaften,[WS 3] Landesversammlungen (Erlangen), polytechnische Gesellschaften, den Nationalverein und alle damaligen Turner-, Schützen- und Sängerfeste, um mit der einen Erfindung den vielen anderen unschätzbaren und mit ihr sämmtlich[WS 4] verlorenen Erfindungen wieder aufzuhelfen, während Bauer selbst persönlich in Volks- und Nationalversammlungen und selbst in der Naturforscherversammlung zu Hannover (27. Sept. 1865) erschien und durch seine kunstlose Beredsamkeit dem Volke zu Herzen sprach und selbst die Männer der Wissenschaft für sich und sein Streben begeisterte. Alle diese Mühen würden dennoch nicht einmal zum nächsten Ziele, der Geschütz-Erprobung, geführt haben, wenn nicht Bauer die Generalversammlung des Nationalvereins im October 1865 zu Frankfurt am Main zu dem Beschlusse vermocht hätte, zweitausend Thaler ihm als Ehrengabe zu bestimmen, und wenn nicht sein König, Ludwig der Zweite von Baiern, ihn in der Ausführung des Experiments wesentlich unterstützt hätte. So erlebte denn endlich, nach unsäglichen Sorgen und Anstrengungen, Bauer abermals einen Triumph seines Genies: die glänzend gelungene Durchschießung zweier mehrere Zoll dicker Eisenplatten in vierundzwanzig und sechsunddreißig Fuß Tiefe des Starnberger Sees. Diesem Probeschießen, am 18. April 1866, wohnten eine k. bairische Artillerie-Commission und die Herzöge Karl Theodor und Max Emanuel von Baiern bei. Bauer selbst schilderte es in der Gartenlaube (Nr. 21, 1867). Eisenplatten und Geschoß, die einzigen unvergänglichen Zeugnisse des gelungenen Experiments, habe ich bis jetzt noch in Verwahrung.

Trotz des anerkannten und bewunderten Erfolges dieser Schießversuche bot kein Staat Bauer die Hand zur Erprobung des zweiten und letzten Erfordernisses zur Vollendung der Selbstständigkeit der Submarine: seiner Petroleumsgasmaschine. Ein Versuch, durch Anwendung derselben für Luftschifffahrt, als deren Haupthinderniß Bauer den stets unlenkbar bleibenden Ballon erklärte, die nun einmal unerläßlichen Experimente durchzuführen, scheiterte an Erlahmung der Theilnehmer der dazu gebildeten Gesellschaft. Bei diesen Versuchen aber, die im Winter von 1867 auf 68 in der Pfalz stattfanden, kam Bauer’s Gichtleiden zum Ausbruch. Er war von Constanz nach Rorschach gezogen, wohin er aus der Pfalz im Sommer 1868 zurückkehrte. Im Herbst zog er wieder nach München. Immer neu aufsteigende Hoffnungen milderten nur wenig seinen tiefen Gram darüber, daß die Vollendung der zwei größten Erfindungen seines Genies, der unterseeischen und der Luft-Schifffahrt durch seine „Petroleumgas-Wasserprall-Maschine“, wie er sie nannte, ihm nicht vergönnt sein sollte.

Welch verhältnißmäßig geringes Opfer für die von wissenschaftlichen Akademien und praktischen Fachmännern als, wenn gelungen, unberechenbar wichtig anerkannte Erfindung war nöthig, – und weder Staat noch Capital regten eine Hand dafür! Wie wahr, wie gerecht, wie schneidend ist W. Bauer’s Klage: „So stehe ich wieder nur um ein Kleines vorgeschritten in Erfahrung und Leistung vor Deutschland, sehe tief bewegt mich zur Thatlosigkeit verurtheilt, während die Rüstungen zu Land und See ganz Deutschland beschäftigen. Die Nation kann ich nicht um so große Opfer bitten; die Regierungen wollen an mir keinen Dreyse zur See erkennen, ich selbst aber bin machtlos dem Geschick überantwortet. Mein Urtheil, daß die Monitors nur der Uebergang zu Submarine sind, wird belacht. Meine Behauptung, daß ‚Lissa‘ den Beweis geliefert hat, daß sich Kriegsschiffe dem Widderstoß durch Untertauchen entziehen müssen, erscheint heute noch kindlich oder zu kühn, und meine Fernsicht, daß die Handelsschiffe den Gefahren des Sturmes, des Strandens, Scheiterns etc. durch Untertauchen unter die Wellentiefe während eines Sturmes wie eine Qualle sich entziehen müssen und noch werden – erscheint der Gegenwart noch zu grau. Die Sache ist noch in deutscher Hand, kommt noch nicht aus England ober Amerika und kostet darum noch nicht Millionen! Das sind die Mängel, an denen sie zu Grunde geht.“

Zu diesem Seelenschmerz trat nun noch körperliches Leiden. Bauer’s Riesennatur, welche so oftmals Winter- und Wasserkälte und stechende Feuergluth im wildesten Wechsel ertragen hatte, war gebrochen, und alle Kunst und Liebesmühe heilte sie nicht wieder zusammen, – und dieses letzte Schicksal mußte ihn erreichen, als sich ihm endlich eine königliche Rettungshand bot. Wiederum eine Commission, diesmal bestehend aus den Münchener Autoritäten und Professoren Jolly, dem Physiker, Pettenkofer, dem Chemiker, Beilich, dem Mathematiker, und dem Vorstand des Polytechnischen Vereins, Obermünzmeister v. Haindle, prüfte Bauer’s Plan und bisherige Versuche seiner neuen Motionsmaschine, und auf deren Gutachten erhielt Bauer den Auftrag, ein unterseeisches Versuchsboot für den Starnbergersee zu bauen. Das Glück war endlich da, aber es fand einen Glied um Glied der gichtischen Erlahmung und dem unaufhaltsamen Absterben preisgegebenen Mann. Selbst die Cur in Wildbad (1869 und 1870) half nicht mehr, wie wohl auch die treue Sorge des edlen Arztes Dr. Renz und die Hochachtung und Theilnahme aller Gäste für den „fahrenden Ritter vom [107] Meeresgrund“, den nun seine Gattin im Rollwagen durch die Anlagen fuhr, seinem Herzen that. Zur vollständigen Lähmung der Füße kam 1870 die der Finger; das Schreiben wurde ihm zur Pein und endlich unmöglich. Er dictirte nun seinem Töchterlein Constanze. Da mußte ihm auch dieses sterben, und ein Schlaganfall lähmte ihm (1871) sogar die Sprechorgane, während der unerschütterte Geist fortarbeitete, immer das große Ziel vor Augen, mit aller Qual der Hoffnungslosigkeit. – Auch ein letzter Cur-Versuch in Partenkirchen blieb erfolglos.

Wilhelm Bauer’s letzte Sorge wandte sich nunmehr der Rettung seiner Erfindungen für die Zukunft und das Vaterland zu, und abermals winkte ihm ein Lichtblick von Hoffnung. Eine letzte Commission von Professoren des Polytechnicums besichtigte seine Modelle und Zeichnungen und fand, daß dieselben für die kaiserliche Kriegsmarineschule in Kiel zu empfehlen sein möchten und daß wohl das königlich baierische Ministerium des Aeußeren die weitere Vermittelung übernehmen werde. Diese Aussicht war dem armen Kranken ein erhebender Trost. Er hoffte auf die Erfüllung seines dringendsten Wunsches: daß aus dem Marinedepartement von Kiel oder Danzig ein guter Techniker zu ihm beordert werde, damit er diesem die zu den Zeichnungen und Modellen nöthigen Beschreibungen dictiren und unter seinen Augen die noch nöthigen Zeichnungen zu dem Küstenbrander und dem Unterwassergeschütz anfertigen lassen, kurz, seinem geistigen Nachlasse die Möglichkeit praktischer Verwerthung sichern könne. Auch hoffte er, daß dann die Reichsregierung ihm wohl ein kleines Capital oder auch eine Pension werde zu Gute kommen lassen; denn Bauer wurde nicht, wie die Zeitungen berichten, durch eine „Ehrengabe der Nation“, sondern durch eine Pension seines Königs vor Noth bewahrt. Aber auch diese letzte Hoffnung scheiterte. Der betreffende Herr Minister „ersah keine Veranlassung, an das preußische Ministerium hierüber zu berichten, und in Baiern seien weder Studienanstalten noch Museen, worin die Submarine irgendwie vertreten wäre.“

Das war die Art, wie Wilhelm Bauer’s fünfundzwanzigjähriges Jubiläum seiner Erfinderthätigkeit – er hatte sie 1850 in Kiel begonnen – in München gefeiert wurde. In England hatte man längst Bauer’s Portrait in die Sammlung berühmter Erfinder im Kensington-Museum eingereiht; ebenso ist es im Belvedere zu Wien. In seinem Heimathlande hat man nicht einmal eine öffentliche Aufbewahrungsstätte für seine Modelle und Zeichnungen. – Wahrlich, man braucht nur sämmtliche Gutachten der wissenschaftlichen und Fachmännercommissionen von 1850 bis 1874 über W. Bauer’s Erfindungen zusammen drucken zu lassen, um die Nachwelt in das gerechteste Erstaunen zu versetzen, daß ein solches Leben in unserer Zeit so enden mußte.

Auf seinem Sterbebette noch um die Rettung seiner Erfindungen für Deutschland besorgt, bestimmte er seinen Nachlaß an Modellen, Zeichnungen und Beschreibungen derselben zu einer Stiftung, welche jungen Talenten technische Aufgaben stellen, die beste Lösung belohnen und auf diesem Wege auch seine eigenen Erfindungen der Ausführung und Ausbeute preisgeben soll. Es war sein letzter Gruß für mich, daß er dieselbe „Bauer-Hofmanns-Stiftung“ benannte. Da jedoch dies eine rein technische Angelegenheit ist, so will die „Gartenlaube“ sie auch den Fachmännern und Fachblättern allein überlassen.

Möchte man auch gern glauben, daß das Zeugniß der vielen Zeitgenossen, welche den Bestrebungen Bauer’s ihre Theilnahme zuwandten, hinreichend sei, um das Einzige, was er in seinem mühevollen Leben erworben, seine Erfinderehre, gegen ungerechte Angriffe oder Todtschweigung zu schützen, so haben wir doch jetzt schon gesehen, wie kurz in dieser Beziehung oft das Gedächtniß der Tagespresse ist. In Nr. 42 von 1865 veröffentlichte die „Gartenlaube“ den illustrirten Artikel „Das unterseeische Kabel im Bunde mit der unterseeischen Schifffahrt und versenkbaren Kabelstationen“ – und 1870 verkünden deutsche Zeitungen denselben Plan als den eines Mr. Hall und preisen ihn als einen „kühnen amerikanischen Gedanken“. Von Bauer’s Taucherapparaten sind die Taucherkammer patentirt, das unterseeische Schiff erprobt und der „Polyp“ bekannt schon seit 1862; trotzdem wird 1871 bei der Schilderung von Toselli’s Versuch mit einem neuen Tauchapparat der Bauer’schen Vorarbeiten mit keiner Silbe gedacht. Für die neuen Torpedo-Boote wird der Mangel eines „ganz unter Wasser gehenden Fahrzeugs“ beklagt, als ob W. Bauer nie gelebt habe; ebenso wenig kennt man bei der Anpreisung eines neuen submarinen „Dampf“-Schiffs, das unter Wasser mit Gußstahlhinterladern schießen soll, Bauer’s Küstenbrander und seine Schießerprobung im Starnbergersee. Im Jahre 1860 brachte Payne’s „Panorama“ in trefflicher Stahlstich-Illustration eine „schwimmende Revolver-Batterie“, die den Beifall des Prinzen Adalbert von Preußen ganz besonders gefunden hatte; im Jahre 1870 bringt ein Münchener Blatt Illustration und Beschreibung einer soeben in England ausgeführten „schwimmenden Dreh-Batterie“, aber von der W. Bauer’s weiß es nichts.

Diese Beispiele genügen wohl, um den Wunsch zu rechtfertigen, daß die vielen zerstreuten Mittheilungen über Wilhelm Bauer’s Leben und Erfindungen in ein Buch zusammengefaßt und daß die vorhandenen Illustrationen demselben beigegeben werden möchten. Bauer selbst hat dazu bereits das Beste geliefert: in seinem Nachlaß fand sich eine ausführliche Selbstbiographie, zum Theil von seiner Hand geschrieben, zum Theil dictirt, vor; dieser würden sämmtliche Gutachten über seine Erfindungen und von den Hunderten seiner Briefe an mich diejenigen beizudrucken sein, welche eingehende Aufschlüsse, oft mit erklärenden Federzeichnungen, zu einzelnen Maschinentheilen und dergleichen enthalten. Ein solches Buch würde ein Denkmal und Ehrenschutz zugleich für Wilhelm Bauer sein. Möchte die alte Theilnahme für ihn wieder erwachen und es ermöglichen, daß wenigstens dieser Wunsch des unvergeßlichen Todten in Erfüllung gehe.




Blätter und Blüthen.


Die Tonsprache im Schnellverkehr. Die neuesten Aussichten im Telegraphenwesen erinnern an jenen Stotterer, dem man zu singen rieth, als er seine Eilbotschaft mit Hülfe der Sprache nicht an den Mann bringen konnte. Das bisherige Strichpunkt-System ist ein sehr umständliches Verfahren, und seit vielen Jahren sind die Bemühungen der Techniker darauf gerichtet gewesen, Abhülfe zu schaffen. Ein deutscher Physiker Phil. Reis hatte im Jahre 1861 gezeigt, daß man mittelst eines einfachen Apparates, des Telephons, Schallschwingungen in elektrische Ströme übersetzen und Gesang oder Musik per Draht nach einem entfernten Orte senden könnte. Diesen Gedanken hat nun ein dänischer Telegraphenbeamter, Herr Paul La Cour in Kopenhagen, in anderer vielversprechender Form aufgenommen, indem er mit Stimmgabeln von verschiedener Höhe Töne angiebt, und deren schwingende Zinken gleichzeitig als Stromvermittler und Unterbrecher wirken läßt. So viel Schwingungen die Stimmgabel in der Secunde macht, so viel Ströme sendet sie in die Ferne, und es ist klar, daß, wenn man an der meinetwegen hundert Meilen entfernten Station festzustellen vermag, wie viel hundert oder tausend Ströme in der Secunde ankommen, auch bekannt ist, welcher Ton jenseits angeschlagen wurde. Von dem Grundsatze ausgehend, daß nur gleich- oder harmonisch gestimmte Saiten, Stimmgabeln etc. von einer zu ihnen gelangenden Schwingungsart sympathisch berührt, das heißt zum Mittönen angeregt werden, wendet nun La Cour genau gleich abgestimmte Stimmgabeln (die aber, wie diejenigen der anderen Station, unter sich disharmonisch abgestimmt sein müssen) an, um die Botschaft zu entziffern. Er läßt nämlich die anlangenden Ströme spiralig um die aus weichem Eisen gefertigten Zinken sämmtlicher Stimmgabeln kreisen, und dieselben dadurch ebenso oft in Hufeisenmagnete verwandeln, als Ströme in der Secunde ankommen, wobei sich ihre Zinken, von äußeren Momentmagneten angezogen, ebenso oft entfernen und nähern. Aber nur bei der gleichgestimmten Gabel äußert diese Anregung eine tiefere Wirkung; sie schwingt freiwillig und stärker mit als die andere und verräth dadurch den in weiter Ferne angeschlagenen Ton. Aber daß man so mit beispielsweise zehn Stimmgabeln statt Strich und Punkt zehn verschiedene Zeichen angeben kann, ist noch das Geringste an der neuen Erfindung. Viel wichtiger ist, daß dem Drahte durch mehrere Stimmgabeln gleichzeitig elektrische Ströme mitgetheilt werden dürfen und daß die Urheber dennoch auf der Empfangsstation getrennt und sicher erkannt werden, in ähnlicher Weise, wie das menschliche Ohr mehrere verschiedene Töne nebeneinander unterscheidet. Durch diese Möglichkeit vermehrte sich bei paarweiser Verbindung der zehn Stimmgabeln die Zahl der Zeichen bereits auf fünfundvierzig, und es ist wahrscheinlich, daß man dies noch weiter wird treiben können, wenn es wünschenswerth ist.

Die Vortheile des Stimmgabeltelegraphen sind aber damit noch nicht erschöpft. Hätte man aus den Endstationen sehr viele und auf den Zwischenstationen immer nur einzelne und verschiedene derselben, so würde man mit jeder Station im Besonderen und in einer für die Zwischenstationen unverständlichen Weise verkehren können, was das in Nr. 40 der „Gartenlaube“ von 1875 (S. 669) geschilderte Aushorchen der Depeschen selbst [108] dem Stationsvorsteher unmöglich machen würde. Das kann für Staatsdepeschen von großer Wichtigkeit werden und die directen Couriere und Feldjäger überflüssig machen. Man würde dann mit noch größerem Rechte von diplomatischen Noten und Notenwechsel reden dürfen, und da alle Meinungsäußerungen musikalisch transponirt würden und die Niederschrift der Depeschen am besten mit Notenschrift gegeben werden würde, so wäre das berühmte europäische Concert fertig, und zuletzt verwandelte sich vielleicht die ganze Welt in ein großes Opernhaus, in welchem Bismarck als erster Tenor und Pio Nono als Bassist auftreten. Man hat noch einen ganzen Sack voll weiterer Anwendungen angeführt, die sich von demselben Apparate machen ließen, unter Andern eine für den Seekrieg, welche lebhaft an das virtuose Umblasen der Mauern von Jericho durch die hebräische Militärmusik erinnert. Man denke sich einen wichtigen Seehafen mit einem weiten Kranze unterseeischer Torpedos umgeben, von denen man es in der Gewalt haben muß, gerade diejenigen rechtzeitig explodiren zu lassen, denen feindliche Schiffe zu nahe kommen. Sonst mußte man nach jedem einzelnen Torpedo eine besondere Leitung legen; jetzt könnte man sie alle durch eine einzige mit einander verbinden, wenn jeder in seiner Brust eine andere Stimmgabel verbirgt, die man vom Ufer aus zur gegebenen Zeit veranlassen kann, in den Ton der Zerstörung einzustimmen. Mit einem Worte, die Idee gehört zu denjenigen, welche eine Zukunft haben, und die Ausführbarkeit derselben im Allgemeinen ist bereits auf der Linie zwischen Kopenhagen und Friedericia (einer Strecke von dreihundertneunzig Kilometern) erprobt worden. C. St.     


Chinesische Schuhmacher in Amerika. Eine große Schuhfabrik im Staate Massachusetts beschäftigt neben einhundertundsieben Amerikanern dreiundneunzig junge Chinesen. Die Idee, Chinesen in diesem Etablissement zu verwenden, wird seit einigen Jahren mit so gutem Erfolge durchgeführt, daß fortwährend neue Engagements abgeschlossen werden. Die Söhne des himmlischen Reiches, die in anderen Zweigen der europäisch-amerikanischen Industrie schon seit etwa einem Jahrzehnt sich hübsche Kenntnisse erworben hatten, waren im modernen Schuhwesen bis vor vier Jahren ziemlich unbewandert. So lange ist es her, seit die erwähnte Fabrik die ersten fünfundsiebenzig Verehrer des Confucius aufnahm. Der Contract wird stets auf drei Jahre gemacht. Die Bezahlung variirt zwischen zweiundzwanzig und dreißig Dollars monatlich. Die Chinesen können bekanntlich sparsamer sein als Angehörige aller anderen Nationen. Sie begnügen sich mit der denkbar elendesten, dafür aber auch billigsten Befriedigung ihres Schlafbedürfnisses und der Anforderungen ihres Magens; ihre Natur kann eben einen Puff ertragen. So kam es, daß jenes Fünfviertelschock Jünglinge nicht mehr als neun Dollars per Monat und Kopf ausgaben. Ihre Ersparnisse sendeten sie allmählich nach Hause. Nach den ersten achtundzwanzig Monaten hatten dieselben die Höhe von siebenunddreißigtausend Dollars erreicht, und als die wackeren Arbeiter in ihre Heimath zurückkehrten – was sofort nach Ablauf ihrer Verträge geschah –, besaß jeder von ihnen etwa achthundert Dollars – in ihrem Lande ein Vermögen, mit dem sie auf eigene Faust operiren können. Diese asiatischen Arbeiter sind fleißiger als die amerikanischen und europäischen, aber nicht so geschickt, weshalb sie auch weniger Arbeit fertig bringen. In der Werkstätte sind sie ruhig, anständig, verträglich; auch außerhalb derselben vergehen sie sich niemals gegen die öffentliche Ordnung. Aber „stille Wasser sind tief“; während die Leute aussehen, als könnten sie nicht drei zählen, und thun, als ob sie sich um gar nichts bekümmerten, beobachten sie sorgfältig Alles, was sie sehen, machen es im Geheimen nach und lachen bald die verblüfften Inländer aus, die nicht wissen, woher das Gelbgesicht seine Kenntnisse genommen. So ein Schlitzauge geht zu einem Spengler oder Seifensieder oder Hutmacher in die Lehre, nach einigen Monaten tritt er aus und macht, da er viel billiger lebt, also auch billiger verkaufen kann, seinem Herrn bald erfolgreich Concurrenz. So werden die Vortheile, welche chinesische Gesellen bieten – Fleiß und spottgeringer Lohn, da es ihnen ja nur darauf ankommt, das Geschäft zu lernen – zu Danaergeschenken. Auch auf allerlei Listen kommt es den mongolischen Schlauköpfen nicht an, wenn es sich darum handelt, den Yankees ihre industriellen Geheimnisse abzuforschen. In einem transoceanischen Localblatt fanden wir kürzlich ein amüsantes Beispiel davon. Ein „Chinaman“ (Chinese) brauchte zehn hölzerne Cabinen und kam mit einem Zimmermann über den Preis in’s Reine. Während der Zimmermann von dem im Bette liegenden Kuli glaubte, er schlafe fest, beobachtete dieser genau die ganze Arbeit. Des andern Tages war der Zimmermann nicht wenig aufgebracht, als der Arbeitgeber ihm den Preis für die eine vollendete Cabine bezahlte und sagte: „No more makee; me makee, hihihi, me makee!“ Das heißt, aus dem chinesischen Englisch übersetzt: „Ich brauche Dich nicht mehr; ich werde den Rest selbst machen; hahaha!“ Da der Chinese die Worte der Uebereinkunft von vornherein tendenziös gefärbt hatte, konnte ihm der überrumpelte Yankee nichts anhaben.

Es ist gewiß erfreulich, eine so lange innerhalb ihrer ausgedehnten Mauern und hohen Berge begraben gewesene intelligente Nation aus ihrer Zurückhaltung immer mehr heraustreten zu sehen. Wenn die Japanesen sich so eifrig zeigen, sich die geistigen Errungenschaften der modernen Civilisation anzueignen, – warum sollten ihre Nachbarn nicht wenigstens den materiellen nachstreben?L. K–r.     


Ein heimlicher Feind der Seidenraupen. Ich hielt in einem sogenannten „Rumpelkämmerchen“ Seidenraupen, und zwar nur in geringer Anzahl, um selbst einmal den Wandlungsproceß der Natur beobachten zu können. – Die Raupen schlüpften aus, etwa fünfzig an der Zahl, und gediehen bei guter Fütterung zusehends. Nach ungefähr vierzehn Tagen, nachdem sie sich groß und dick gefressen, erschien mir ihre Anzahl kleiner als zuvor, doch unterließ ich das Zählen. Die Zeit des Einspinnens kam heran; ich hatte schließlich noch neunundzwanzig goldgelbe hübsche Cocons, die ich an einen Faden traubenartig befestigt frei und an einem von der Wand abstehenden Holzstäbchen aufhing. Nach etlichen Tagen – ich hatte die Kammer seither nicht mehr betreten – fand ich sieben Cocons durchlöchert, auf dem untergebreiteten Tuche aber saßen nur vier Schmetterlinge; die anderen drei waren spurlos verschwunden. Ich sah nun öfters des Tages nach. Bald waren weitere dreizehn ausgekrochen, und doch zählte ich im Ganzen nur elf Schmetterlinge. Das war mir räthselhaft. Niemand betrat außer mir die Kammer, und ich fragte mich daher: wo kamen meine armen Schmetterlinge hin?

Eines Abends nach elf Uhr wollte ich nochmals nach meinen Pfleglingen sehen, als ich zu meiner Ueberraschung ein großes Prachtexemplar der hier gewöhnlichen, ein Centimeter im Durchmesser haltenden Hausspinnen auf den Cocons sitzen sah. Das war also die räthselhafte Vertilgerin meiner Raupen und Schmetterlinge! Mein Kommen störte die Freche gar nicht; ja, sie ließ sich ruhig beleuchten und betrachten. In dem ihr am nächsten liegenden Cocon zeigte sich schon ein kleines Loch, und der sorglose Schmetterling arbeitete tüchtig am Durchbruche und seinem sicheren Tode entgegen. Eine volle Stunde wurde meine und der Spinne Geduld auf die Probe gestellt. Endlich noch ein Ruck, ein Flügelschlag, der erste und letzte – da saß auch unser schneeweißer Schmetterling in den Fängen der Erbarmungslosen. Das war die einfache Lösung des Räthsels von den fehlenden Schmetterlingen. Aber warum die Spinne so geduldig auf das Ausschlüpfen derselben harrte, anstatt sich bequem einen Braten vom Tuche zu holen, das ist mir bis heute noch unerklärlich; nachdem ihr Opfer vollendet, entfernte sie sich, auf Holzstäben und Wand ihren Weg nehmend und nicht, wie ich vermuthet, auf das Tuch sich niederlassend, um da weitere Verheerungen anzurichten, und doch mußten ihre wachsamen Augen das Leben und Getreibe der Schmetterlinge längst entdeckt haben. Ich schnitt ihr den Weg ab und ließ sie im Wasser einen verdienten Tod finden. B. T.     


„Durch’s deutsche Land. Malerische Stätten aus Deutschland und Oesterreich.“ So lautet der Titel eines im Verlage von Alexander Duncker in Berlin erschienenen Prachtwerkes, das in mehr als einer Hinsicht Beachtung verdient. Gewährt es schon hohen Genuß, architektonisch bedeutende Bauwerke, historisch berühmte Stätten kennen zu lernen, so wird dieser Genuß noch erhöht, wenn, wie hier, durch den zwar knappen, aber warm und mit Liebe geschriebenen Text die nöthigen geschichtlichen Erläuterungen gegeben werden. Einzelne der von B. Mannfeld radirten Ansichten, wie die Holstenstraße in Lübeck, Bacharach am Rhein, die Rathhaustreppe in Görlitz, sind von trefflicher Wirkung und erwecken ein um so höheres Interesse, als die Sucht zu modernisiren in unseren Tagen ein altehrwürdiges Baudenkmal vergangener Jahrhunderte nach dem andern vernichtet. Das Werk, dessen Anschaffung durch die Ausgabe in Lieferungen wesentlich erleichtert wird, muß allen Freunden künstlerisch ausgeführter Darstellungen landschaftlicher und architektonischer Motive um so wärmer empfohlen werden, als durch dasselbe die altberühmte, in der Neuzeit aber wenig gepflegte Kunst des Radirens wieder zu verdienter Geltung gebracht wird.


Die Altersasyle betreffend. Die Verwaltung der evangelischen Diakonissenanstalt zu Straßburg, welche wir in unserem Blätter- und Blüthenartikel über Altersasyle (Nr. 49 des vorigen Jahrganges) mit genannt haben, benachrichtigt uns, daß ihr Haus ganz angefüllt sei. „An achtzig Pensionäre besetzen sämmtliche Räume, und wir haben,“ schreibt die Verwaltung, „fortwährend so viele Anfragen aus der unmittelbaren Nähe zu berücksichtigen, daß nicht vorauszusehen ist, wie wir in den nächsten Jahren auswärtigen Anfragen entsprechen könnten.“ Wir bitten unsere Leser, durch Verbreitung dieser Notiz zur Vermeidung der ferneren Beunruhigung jener Anstalt mitzuwirken.


Kleiner Briefkasten.

Alfr. Qdt. in Bremen. Auf Ihre Anfrage, was die Inschrift „1813 wurde hier gepflanzt für 1871“ in dem Granitfelsen auf dem Glöckner (nicht Glöckel) bei Eisenach zu bedeuten habe, und Ihre Vermuthung, daß hier eine Beziehung auf die großen Kriegsereignisse jener Jahre zu Grunde liege, diene Ihnen Folgendes zur Antwort:

„1813 pflanzte der damalige Förster König in Ruhla, Begründer der später nach Eisenach verlegten, noch bestehenden Forstschule, mit seinen Schülern einen Fichtenbestand auf dem Glöckner, einem über zweitausend Fuß hohen Bergrücken am ‚Rennstiege‘, und setzte die Abtriebszeit dieser Bäume als die finanziell günstigste auf achtundfünfzig Jahre, also auf 1871 fest. Die Inschrift ist somit ein Betriebsplan. Um den dort liegenden Felsen wurden sogenannte Anlagen gemacht, worin sich schon der Anfang zu der späteren verschönernden Thätigkeit König’s in seiner Stellung als Oberforstrath zeigt. Die Inschriften bilden ein Stammbuch für die jungen Forsteleven. Uebrigens stehen die Fichten noch jetzt und sind noch keine Riesen, sondern nur mittelmäßige Bäume von geringer Höhe. Der gelehrte Forstmann hatte bei seiner Berechnung die hohe stürmische Lage nicht in Rechnung gebracht.“

Allen Einsendern von poetischen Beiträgen zu unserem Blatte wiederholen wir hiermit auf das Bestimmteste, daß es uns völlig unmöglich ist, auf Gedichte, welche uns unaufgefordert zugegangen sind, eine andere Antwort zu ertheilen, als den Abdruck oder im Falle der Unbrauchbarkeit die Vernichtung derselben. Auf Beurtheilung poetischer Producte können wir uns unter keinen Umständen einlassen. Möge diese Mittheilung endlich einmal respectirt werden und den vielen Zusendungen von Gedichten und massenhaften Mahnungen und Anfragen nach deren Verbleib ein Ende machen!



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Durch einen gerade sehr starken Andrang sogenannter Zeitartikel, deren Inhalt eine beschleunigte Veröffentlichung erforderte, sind wir in die Nothwendigkeit versetzt worden, den weiteren Abdruck der unter der obigen Ueberschrift im letzten Jahrgange der „Gartenlaube“ begonnenen Schilderungen für einige Zeit zu sistiren. Wir haben diese Unterbrechung einer so werthvollen und in weiten Kreisen der gebildeten Welt mit warmer und nachhaltiger Theilnahme begrüßten Artikelreihe sehr lebhaft bedauert, gänzlich fern aber mußte uns die Ahnung liegen, daß wir bei der Wiederaufnahme des Fadens vor einer so ernsten und schmerzlichen Pflicht stehen würden, wie es diejenige ist, der wir in diesem Augenblicke zu genügen haben. Es war ein in der vollen Blüthe frischester Vollkraft lebender und wirkender Mann der Wissenschaft und des freiheitlichen Kampfes, der erst im verflossenen Jahre auf unsere Bitte diese Erinnerungen aus seiner Jugendgeschichte niedergeschrieben und in ihnen ein bedeutsames Stück deutscher Cultur- und Geistesgeschichte so anziehend charakterisirt hat. Seinen Namen wollte er jedoch dabei vorläufig noch nicht genannt wissen – er hatte die Lösung dieses vielfach die Neugier erregenden Geheimnisses für einen ihm geeignet erscheinenden Moment sich vorbehalten. Ein schnell hereingebrochenes Verhängniß jedoch hat es anders gewollt; es hat ihn den Moment nicht erleben lassen, und wir glauben unsererseits nunmehr der Eingebung eines herzlichen Pietätsgefühls folgen und die oben mitgetheilte Fortsetzung nicht ohne die Bemerkung hinaussenden zu sollen, daß der Autor dieser persönlichen Eröffnungen und selbstbiographischen Aufzeichnungen kein anderer gewesen als Heinrich Lang, der freigesinnte Pfarrer in Zürich, der durch seine bahnbrechenden Zeitschriften weithin berühmte Vorkämpfer einer durchgreifenden Reform der Religion. Nach kaum zweitägiger Krankheit ist der rüstige Mann am 12. Januar jählings seinem schönen und segensreichen Wirken entrissen worden, und noch ist der Schmerz zu neu, noch zu groß die Erschütterung, welche die unerwartete Trauerkunde überall bei den Liberalen Deutschlands hervorgerufen hat, als daß schon gegenwärtig eine volle Würdigung des Hingeschiedenen erfolgen könnte. Unzweifelhaft fest aber steht für alle Kundigen, daß in ihm die deutsche Wissenschaft und Literatur eine leuchtende Zierde, die Sache der Freiheit und namentlich der religiösen Befreiung einen ihrer macht- und geistvollsten Vorkämpfer verloren hat.
    Lang war ein Deutscher von Geburt und hatte bis zu seinem Ende stets sehr innige Wechselbeziehungen mit Deutschland unterhalten. Durch die revolutionären Bewegungen von 1848 und 1849, an denen er sich betheiligt hatte, war er frühzeitig aus seiner schwäbischen Heimath in die Schweiz geworfen worden, die er seitdem nicht wieder dauernd verlassen hat. Als geborener Redner von großer und hinreißender Begabung, wollte er dem Kanzelberufe nicht entsagen; als ein ausgezeichneter Denker und Forscher mit tief religiösem Gemüthe wollte er für eine aufrichtige und entschiedene Versöhnung der Religion wirken mit allen Consequenzen der modernen Wissenschaft und Cultur. Diese mit kühnem Feuer und aller Energie eines gereiften Charakters von ihm ergriffene Aufgabe ist unablässig das Ziel seines Strebens geblieben, wie es in der treuen Arbeit für seine gleichgesinnte Gemeinde, in seinen Vorträgen, seinen wissenschaftlichen Werken und seinen berühmten Zeitschriften „Religiöse Zeitstimmen“ und „Reform“, sowie in seiner Eigenschaft als hervorragendes Mitglied des Deutschen Protestantenvereins sich dargestellt hat, dessen jährliche Hauptversammlungen durch den seltenen Gedankenreichthum seiner von tiefer Freiheitsgluth durchhauchten Predigten einen ganz besonderen Glanzpunkt erhielten. Auch die Redaction der „Gartenlaube“ betrauert in ihm einen geschätzten Mitarbeiter. Möge er sanft ausruhen von der Arbeit des gewaltigen Kampfes, aus dem ein vorzeitiger Tod ihn abgerufen hat! – Die noch restirenden Artikel zu dem Cyklus „Bis an die Schwelle des Pfarramts“ sind in unseren Händen und werden thunlichst schnell zum Abdruck gelangen.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Künsterin
  2. Vorlage: Classiicität
  3. Vorlage: Schutzengesellschaften
  4. Vorlage: sämmtlch