Die Gartenlaube (1879)/Heft 21
[345]
No. 21. | 1879. |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.
Der Rath sah seinen Knaben mit Lust und Stolz aufwachsen, wie aber die Majorin über das unruhige Blut, die seltsamen Gewohnheiten und die Charakteranlagen dieses doch gewiß echten Wolfram’s dachte, darüber schwieg sie, wie über Alles, was ihren Bruder anging. Es war ihr nur einmal eine rügende Bemerkung über die Gemüthsart des Knaben entschlüpft, und da hatte der Rath spitz geantwortet:
„Auch an den Wolfram’s modeln die Zeitverhältnisse; mit dem stillen Arbeiten und Sparen, der Principienreiterei im engen Kreise ist’s nicht allein mehr gethan, meine gute Therese – jetzt heißt’s, den Mitlebenden die Stirn bieten, die Zähne weisen, und dazu ist mein Junge wie geschaffen, er wird seiner Zeit gewachsen sein.“
Seitdem beschränkte sie sich auf die leibliche Verpflegung des Knaben, und wenn ihr auch oft, bei berechtigten Klagen des Gesindes, die Augen zornig glühten, so antwortete sie doch nur mit Achselzucken oder einer stummen Handbewegung nach der Amtsstube, als der höchsten Instanz, hin.
Sie war überhaupt noch wortkarger geworden als zuvor; die Milchholenden behaupteten, selbst der kurze Abendgruß werde ihr blutsauer. Drunten in der Wirthschaft ruhten und rastete ihre fleißigen Hände nicht einen Augenblick, aber oben im Giebelzimmer lagen sie meist feiernd im Schooße, als seien sie todtmüde. Dann saß sie hinter dem weißen Ahorntische und sann; in den ersten Jahren sah sie befriedigt, ja, mit einem rachegesättigten Ausdruck auf die leere Stelle im hellgetünchten Fensterbogen, wo früher das Bild des Sohnes gehangen; denn es war, als habe sie aus dem ganzen Dasein ihres Kindes nur einen einzigen Eindruck in ihrer Seele zurückbehalten – den Moment, wo das verschleierte Mädchen an seiner Seite über die Mutter triumphirt hatte. Später aber suchten ihre Augen diese Stelle nicht mehr; sie irrten vorüber und starrten ziellos hinaus in’s Weite, diese eigensinnigen, strengen Augen, die früher geflissentlich nie über das Weichbild ihrer Häuslichkeit in’s Leere hinausgesehen hatten – denn ein müßig verschleuderter Augenblick hatte ja Geldwerth. Nur das Nachbargebiet vermieden sie consequent; die Majorin wußte sehr gut, daß ihr Sohn die letzte Nacht im Schillingshofe verbracht hatte und dort in seiner Opposition gegen den mütterlichen Willen bestärkt worden war.
Es existirte überhaupt nicht der geringste Verkehr zwischen dem Schillingshof und dem Klostergut; nicht einmal das Ableben des alten Freiherrn war drüben angezeigt worden. Einmal aber hatte Baron Schilling den Weg der Majorin gekreuzt, und zwar in der Absicht, sie zu sprechen. Sie war, was eigentlich nicht oft geschah, in der Kirche gewesen, und auf dem Heimwege hatte er sie angeredet und ihr nach einer längeren Einleitung, die sie in regungslosem Schweigen angehört, einen Brief von Felix hingereicht. Sie hatte nur die Farbe gewechselt und sich steif emporgereckt – der junge Mann behauptete damals, sie sei förmlich gewachsen vor seinen Augen – hatte ihn von oben bis unten mit einem vernichtenden Blick gemessen und eisig höflich gesagt: „Ich verstehe nicht, von wem Sie reden, Herr Baron, und habe durchaus keinen Grund, einen Brief anzunehmen, denn ich correspondire mit Niemand.“ Damit hatte sie abweisend nach dem Schreiben gedeutet und war weiter gegangen, und er hatte es verschworen, diesen Eiszapfen, wie der alte Freiherr die Frau genannt, nie wieder zu behelligen.
So erfuhr sie nie, unter welchem Himmelsstrich ihr Sohn lebte. Sie wußte nicht, daß sein Vater ihn und sein junges Weib in der That mit offenen Armen empfangen und das junge Paar sofort mit wahrhaft fürstlichem Glanz und Reichthum umgeben hatte – und es war gut so; sie wäre gestorben an dem Seelensturm der Erbitterung, der rachsüchtigen Wallungen und doch auch – des Mutterschmerzes. Sie erfuhr aber auch nicht, daß der amerikanische Bürgerkrieg seine Wogen am verheerendsten über das reiche Südcarolina wälzte, so verheerend, daß die Pflanzer-Aristokratie des Südens, unter deren Banner ja auch Major Lucian stand, Schritt für Schritt kämpfend, auf dem eigenen Grund und Boden zurückweichen mußte, um schließlich zu unterliegen.
Vielleicht hätte die Nachricht von dem Ende des Mannes, dessen Namen sie trug, erlösend auf die innere Erstarrung dieser Frau gewirkt – denn mit dem Schluß eines Menschenlebens pflegt der Tod die Gläser zu zerbrechen, durch welche die verfolgenden Leidenschaften den Gegner im Leben gesehen; in dem Wörtchen „todt“ zischen die nachzüngelnden Flammen aus, wie das glühende Metall beim Niedersturz in die Wassertiefe – aber es kam ihr nie zu Ohren, daß Major Lucian, schon länger gebrochen an Kraft und Gesundheit, inmitten jener Kämpfe gestorben war. Sie gedachte noch täglich des Spruches: „Des Vaters Segen bauet den Kindern Häuser, aber der Mutter Fluch reißt sie nieder“ mit Genugthuung, und steifte sich in ihrem grollerhitzten Sinnen und Grübeln hartnäckig darauf, daß jene biblische Verheißung sich erfüllen müsse – während ihr unglücklicher Sohn, [346] bei Vertheidigung seines Herdes schwer verwundet, bereits seit Langem auf dem Leidensbette einem frühen Tode entgegenging.
Nach einem stillschweigenden Uebereinkommen zwischen dem Rath und seiner Schwester wurde der Name des Verstoßenen nie wieder laut; er war für das Klostergut und seine sämmtlichen Insassen verschollen und verpönt, wie der seines Vaters.
Im Schillingshof dagegen flogen anfangs häufig Nachrichten aus Amerika ein – enthusiastische Schilderungen, glückstrahlende Berichte, die aber schon im Jahre 1861 durch die Schatten böser Vorahnungen getrübt wurden. Dann blieben sie ganz aus, und erst im Jahre 1865, nachdem mit der vollständigen Unterwerfung des Südens der amerikanische Bürgerkrieg beendet worden war, schrieb Felix von seinem Schmerzenslager aus an den Freund im Schillingshofe und meldete ihm den Tod seines Vaters und die völlige Verwüstung und Verödung seines Besitzthums. In diesem Briefe hatte auch das Schreiben gelegen, das die Majorin zurückgewiesen. Seitdem war der Briefwechsel ein regerer geworden; denn Baron Schilling war und blieb dem Fernen ein treuer Freund.
Sein eigener Lebensgang war inzwischen – den Tod seines Vaters ausgenommen – in keiner Weise durch wuchtige Stöße des Schicksals erschüttert worden. Stetig emporwachsend, wurde sein Künstlername weit über die Marken Deutschlands hinaus gefeiert; das mächtige Talent des Barons war ein Goldquell, der ungeahnt hervorbrach und, wie der alte Herr noch kurz vor seinem Ende in schmerzlicher Selbstanklage und bitterem Sarkasmus sagte, „die nichtswürdige, unväterliche Opferung des armen Isaak“ als überflüssig stempelte.
Baron Schilling lebte fast ausschließlich seiner Kunst. Er hatte sich ein schönes Atelier im Garten des Schillingshofes gebaut und eingerichtet, das aber oft verlassen stand; denn er reiste viel, lebte abwechselnd in Italien, Frankreich, vorzugsweise gern auch in Skandinavien, je nachdem seine Ideen und Entwürfe die unmittelbare Anschauung des Bodens erheischten, auf dem sie fußen sollten.... Immer aber, wo er auch gesehen wurde, ob in den Straßen von Rom, Paris oder Stockholm – immer hing ihm die lange, blasse, blonde Frau, höchst elegant, aber mit Vorliebe in Grau gekleidet, am Arme.
Sie hatte es scheinbar aufgegeben, gegen das künstlerische Wirken ihres Mannes anzukämpfen, nachdem sie jahrelang glühenden Haß gegen „die Pinselwirthschaft“ in dem altadeligen Hause gepredigt, den Bau des Ateliers um jeden Preis zu hintertreiben gesucht und vergebens die ganzen Requisiten ihres schwächlichen Nervenlebens aufgeboten hatte. Nicht einmal auf den heiteren Gleichmuth, die verbindlich ruhige äußere Haltung ihres Mannes hatten diese Bemühungen zu wirken vermocht, geschweige denn, daß sie seine Schaffenslust, seine Begeisterung berührt hätten; dieser junge Kopf war zu ihrem Erstaunen noch weniger lenksam, als ihr alter, strenger Beichtvater, der finstere Eiferer. – Das Atelier wurde vor ihren Augen fertig, ein herrliches Bild um das andere vollendet; die verhaßten Modelle gingen ungenirt an der „gnädigen Frau“ vorüber, und der noch weit mehr angefeindete „Erwerb durch den Pinsel“ kam direct an die vornehme Adresse des Baron Schilling.... So zog es die junge Frau denn vor, das Berufsleben ihres Mannes mit seinen Gefährlichkeiten wenigstens zu überwachen – ein Posten, den ihr schon allein ihre halbverschwiegene, leidenschaftliche Liebe zudictirte. Ihre schwache Gesundheit verbot ihr von selbst alle angreifenden Reisen, aber sie ging nichtsdestoweniger mit. Sie ließ ohne Widerrede ihrerseits, aber auch ohne Aufforderung von seiner Seite einpacken, sobald er den Tag seiner Abreise festgesetzt hatte; sie durchwanderte mit ihm die Museen und Gemäldegallerien, stieg in Schluchten hinab und auf die Bergesgipfel empor und setzte sich schweigend, mit der ewigen Stickerei in der Hand, seitwärts nieder, sobald er zu zeichnen begann....
In den Künstlerkreisen war die Baronin verhaßt durch die souveräne Art, mit der sie jegliches Verständniß für die specielle künstlerische Begabung ihres Mannes, wie auch für die Kunst überhaupt entschieden ablehnte, und als Baron Schilling im Jahre 1866 auf den Kriegsschauplatz nach Böhmen eilte und, halb im Johanniterdienst, halb um seiner Studien willen, den Feldzug mitmachte, da jubelten die befreundeten Künstler, daß „der nebenher schleppende, lange, blonde Schatten“ doch einmal von seiner Seite hatte weichen und zu Hause bleiben müssen.... Die vornehme Gesellschaft dagegen fand die Frau zwar nicht hübsch, um ihrer stolz selbstbewußten Manieren willen aber „comme il faut“; auf ihrer Visitenkarte vereinigten sich zwei Namen von gutem Klange; sie hatte den reich begüterten Baron Steinbrück allein beerbt und galt für streng, ja fanatisch im Punkte ihres römisch-katholischen Glaubens – lauter Gründe, die ihr viel Auszeichnung, besonders in Rom, verschafften....
Es war für die umwohnenden Leute eine seltene Erscheinung gewesen, daß während der letzten Wintermonate die Schlöte auf dem Säulenhause Tag für Tag gedampft und die Gascandelaber im Vorgarten allabendlich gebrannt hatten, und nun war der Frühling nahezu vorüber und noch hob sich mit jedem Morgen die monoton graue Rouleauxreihe in der Beletage und ließ die Spitzen- und Seidendecorationen hinter den Scheiben sehen. Man wußte, daß Baron Schilling an einem großen Werke arbeite und sich deshalb aus der Welt in den stillen Schillingshof zurückgezogen habe. Im Vorgarten wurde er selten gesehen, noch weniger aber an den Fenstern der Beletage, welche die Baronin bewohnte.... Mitunter machte er zu Pferde Ausflüge in die Umgegend; er war ein einsamer Reiter, der oft in die unwegsamsten Pfade einlenkte, um einem schöne Baume oder einer Felsenpartie das Profil abzugewinnen.
Sein Atelier stand auf dem Gartengrundstück, das sich hinter dem Säulenhause ausbreitete und inmitten eines großen Stadttheiles mit dichtgedrängter Bevölkerung einen grünen Fleck Landes bildete, weit genug, um in seiner Mitte die tiefe Stille eines einsamen Parkes zu behüten. Im siebenzehnten Jahrhundert hatte der Stolz der Ritterlichen das Schilling’sche Wappen in grünem Buchsbaum riesengroß vor der Ostfronte des Säulenhauses hinbreiten lassen; Rosmarin- und Eibenhecken waren zu Vasen, Pyramiden, ja zu großen Vogelgestalten verschnitten gewesen und hatten im steifen Gemisch mit Muschelgrotten und abnormen Steinfiguren abgewechselt. Von allen Nachkommen war die geschmacklose Schöpfung respectirt worden, bis der Freiherr Krafft kam und mit seinem gesunden Sinn den ganzen Plunder cassirte. Die verstümmelten Bäume und Sträucher durften in’s Kraut schießen, so viel sie Luft hatten; köstliche Wiesenflächen wurden angelegt, schöne, starke Bäume gepflanzt, und alle die Brünnlein und Wasserstrahlen, die aus Vogelschnäbeln und Krötenmäulern zu Tage gesprungen waren, kamen jetzt natürlich quellend aus moosigem Gestein und rieselten lustig als volle Silberader durch das Rasengrün bis zum Teiche, den ein Kreis junger, kräftiger Linden umstand. Hier waren sie alle heimisch, die Amseln und Drosseln, die Finken und der scheue Pirol; die süßen Wiesenkleeblüthen hingen voll summender Bienen und Hummeln, und für das schmarotzende Schmetterlingsvolk waren Beete voll Sommerblumen da. An der Ostseite schloß eine Mauer den Garten von einer stillen Straße ab. Ein Dickicht von Fichten, mit Laubbäumen vermischt, maskirte die steile Steinwand, und vor diesem Wäldchen erhob das Atelier seine helle, stuckverzierte Façade und sah in diese grüne Oase voll Duft und Vogelgesang hinein.
Die Glasthür, die aus den oberen Gemächern nach der südlichen Plattform des säulengeschmückten Erdgeschosses führte, stand weit offen. Der Morgenwind strich frisch und kräftig vom Nadelwald der nächsten Bergzinne herüber, aber in den offenen Salon quoll er doch südlich träge, wie mit beschwertem Flügel; er blieb draußen halb und halb in der blüthenbedeckten Orangerie hängen, die das mächtige, balustradenumschlossene Viereck der Terrasse füllte. Diese hochgetragenen, vollentwickelten Blätterkuppeln drängte sich so intensiv an einander, daß es von dieser Seite her stets, selbst unter dem blendend goldenen Morgenlichte, in das Zimmer hinein tief dunkelte und schattete.
Der Frühstückstisch stand seitwärts in einer Ecke, da, wo hinter einer starkstämmigen Magnolie die vollblätterige Waldrebe an der Hauswand emporkletterte, während ein anderer Theil ihrer Rankenwucht sich über die Balustrade warf, um drunten mit ihren schaukelnden, grüngefiederten Ausläufern nach der nächsten Säule zu haschen. Bunte Ara-Papageien schwangen sich ungestüm auf ihren Ständern unter den Orangenbäumen und reckten die Hälse kreischend nach den Kuchenkörben; das lüsterne [347] Spatzenvolk kam von der Zinnenkrone des Oberbaues und rückte auf dem Geländersims attakirend gegen den Frühstückstisch vor, und jetzt schlüpfte auch Minka heraus, so verdächtig scheu und hastig, als sei sie durch eine offengelassene Thür desertirt.
Minka zerpflückte nach wie vor mit Passion jeden Brief, jede Photographie, alles Zerreißbare, was sie erwischen konnte, in Atome; sie zerbrach die Fächer und Sonnenschirme ihrer Herrin, bearbeitete leidenschaftlich mit ihren Nägeln die Rockschöße der Bedienten und verschleppte Schmuckstücke und Nippes in die unzugänglichsten Ecken. Aber mit demselben schweigenden, lächelnden Gleichmuth, wie Baron Schilling vor seinem emporsteigenden neuen Atelier, hatte die Frau Baronin allzeit schützend vor ihrer Minka gestanden. Sie kaufte sich mit unzerstörbarer Ruhe immer wieder neue Fächer und Schirme, bezahlte den klagenden Domestiken ohne eine Miene zu verziehen, den erlittenen Schaden und stieg selbst mit bis auf den Dachboden, wenn es galt, die versteckten Gegenstände zusammenzusuchen.
Das boshafte Thier war noch genau so behende und geschmeidig, wie vor acht Jahren. Es verjagte zunächst mit einem grotesken Sprung auf den Geländersims die aufschreienden Spatzen, stopfte sich zum Aerger der Aras die Backentaschen voll Kuchen, und schlüpfte, immer auf der Flucht, nach dem entgegensetzten Ende der Terrasse. Dort erhoben sich die Wipfel der dicht vorüberlaufenden Platanenallee hoch über der Balustrade, und ihre Laubmassen quollen wie eine grüne Fluth auf die Plattform herein; der Affe sprang auf das Geländer und begrub versinkend den kleinen, dunklen Leib in dem wohlig kühlen Geäst.
Gleich darauf kam die Baronin auf die Terrasse. Sie war nicht allein; eine Dame, noch jung, von imposanter, kräftiger Gestalt, mit brünettem Gesicht unter dicken, scharf aus der Stirn gestrichenen, schwarzen Haaren, folgte ihr auf dem Fuße. Sie hing einen weichen Plaid über einen Korbstuhl in der geschützten Ecke und breitete ein dickes, zottiges Fell auf die Steinfließen; das geschah fürsorglich geschäftig, aber nicht mit der Beflissenheit einer Kammerjungfer, sondern würdevoll und freundlich, in freiwilliger Pflege, wie sie eben eine Jugendfreundin der anderen angedeihen läßt – denn Jugendfreundinnen waren sie, die Baronin Schilling und Fräulein Adelheid von Riedt. Sie waren im Klosterpensionat zwei Unzertrennliche und später treue Correspondentinnen gewesen; es war demnach begreiflich, daß die Frau Baronin im Jahre 1866, zu derselben Stunde, wo ihr Gemahl seine Abreise nach dem Kriegsschauplatze unwiderruflich beschlossen, „die Langentbehrte“ aufgefordert hatte, zu ihr zu kommen, „weil sie nicht allein bleiben wolle“. Seitdem kam Adelheid öfter und blieb monatelang, um die kränkliche Freundin zu pflegen – sie konnte das, ohne andere Pflichten zu verletzen, denn sie war Stiftsdame in B. und stand verwaist, fast allein in der Welt.
„Ich bitte Dich, Adelheid, bringe die gefräßigen Schreier zur Ruhe!“ sagte die Baronin verdrießlich und zeigte nach den kreischenden Aras. „Arnold hat eine wahre Passion, mir Unvernünftiges und Unausstehliches zu schenken, und ich muß es dann aus Höflichkeitsrücksichten zu meiner Qual um mich dulden.“ Sie seufzte tief auf.
Ihre Stimme hatte eine tiefere Lage angenommen als früher; sie war gleichsam in Bitterkeit gesättigt; der Teint der Baronin war grauer als je, und unter den Augen, wie an den Schläfen hin liefen zahllose feine Runzelandeutungen, Spuren der rastlosen, inneren Arbeit verheimlichter Leidenschaft und eines allzu frühzeitigen Alters.
Ein weißer, mit breiten Stickereien und blauseidenen Schleifen garnirter Schlafrock fiel weitfaltig, in glänzender Frische und Eleganz an der hageren Gestalt nieder, und eine Brüsseler Barbe mit dicker blauer Bandcocarde lag auf dem lose gesteckten blonden Haar und vervollständigte die provisorische Morgentoilette, die seltsam abstach von dem schwarzen Seidenanzuge der Stiftsdame. Man sah, diese Dame hatte bereits Toilette gemacht für den ganzen Tag; an dem knappsitzenden Kleide wurde sicher keine Schleife verändert, aus dem spiegelnden Scheitel und dem festgeflochtenen Haarknoten am Hinterkopfe war Nachts keine Nadel gezogen – dieser ernsten, dunkeläugigen Erscheinung lagen Sichgehenlassen und Bequemlichkeit offenbar fern.
Während sie einige Biscuits für die Aras zerpflückte, trat ein junges Mädchen aus der Glasthür und brachte auf einer Platte einige verdeckte Schüsseln mit warmen Speisen und heißes Wasser im Theekessel.
Die Augen der Baronin verfinsterten sich. „Wo steckt die Birkner? Wie kommt es, daß Sie das Frühstück besorgen, Johanna?“ fragte sie verdrossen.
„Mamsell Birkner läßt sich für einige Stunden bei der gnädigen Frau entschuldigen – ihr schlimmes Kopfweh hat sich eingestellt,“ versetzte das junge Mädchen ruhig. Ihre ernsten Augen unter den dunklen, das jugendliche Gesicht stark verdüsternden Brauen senkten sich nicht vor dem kalten Blicke der Dame, und weder ihr Gesichtsausdruck noch irgend ein Farbenwechsel zeugten von verletzter Empfindlichkeit.
Sie erfüllte pünktlich ihre Obliegenheiten am gedeckten Tisch.
„Ich sehe nur zwei Couverts!“ schalt die Baronin.
„Der Herr Baron hat im Atelier gefrühstückt und ist schon vor zwei Stunden ausgeritten,“ lautete die Antwort.
Die Baronin biß sich auf die Lippen. Sie sank in den Lehnstuhl; den Ellenbogen auf den Geländersims stützend, und schweigend weggewendet, schob sie die Rechte unter das Kinn und blickte ziellos hinaus in’s Weite.
In diesem Augenblicke erhob sich ein klägliches Geschrei drunten im Vorgarten. Minka rannte wie besessen um den großen Rasenplatz und rieb sich unter fortwährendem Jammern den Rücken, und drüben auf der weinumsponnenen Klostermauer hüpfte und sprang ebenso toll ein zweites koboldartiges Wesen, dem das starrende Haar tief in die Stirn hing und dessen flinke, dürre Beine wie Holzstäbchen aus den kurzen weiten Sammethosen ragten. . . . Mosje Veit balancirte in der einen kleinen Faust ein Blasrohr, und mit der andern hielt er sich die Seite vor Lachen – er hätte sich am liebsten überschlagen mögen vor Vergnügen über den Effect seiner Thonkugel.
Die Domestiken kamen auf den Lärm hin aus dem Säulenhause gelaufen und nahmen, nach der Mauer hinauf scheltend, die völlig zerknirschte und gebeugte Minka in ihre Mitte. Aus dem Giebelfenster des Klostergutes bog sich die Majorin – von der Terrasse aus sah man deutlich ihr alterndes, aber immer noch schönes Profil. Ein starkes Gefühl des Aergers mochte in ihr aufwallen, denn sie drohte dem boshaften Burschen mit der gehobenen Hand und ertheilte ihm einen derben Verweis.
Da erschien auch der Rath Wolfram über der Mauer; er stieg auf der Leiter empor, die Veit im Klosterhofe angelegt hatte. „Bemühe Dich nicht, Therese! Ich glaube, das ist meine Sache,“ rief er seiner Schwester zu. „Uebrigens sehe ich nicht ein, weshalb Du Dich ereiferst. Wer solch gräuliches Geziefer um sich leiden mag, der soll’s thun, aber es gehört sich, daß er’s zwischen seinen vier Pfählen behält und nicht zum Skandal und Schreckniß Anderer frei herumlaufen läßt. Ich strafe meinen Sohn ganz gewiß nicht für die wohlverdiente Lection.“
Der Kopf der Majorin verschwand, und der Rath umschlang seinen zappelnden, langbeinigen Sprößling und trug ihn die Leiter hinab.
Man hatte jedes Wort der sonoren, impertinent geschärften Stimme des Raths klar und deutlich drüben auf der Terrasse gehört. „Der Unverschämte!“ klagte die Baronin ganz erschrocken und betreten. „Und ich kann Arnold nicht einmal um Genugthuung bitten, weil es sich um die arme Minka handelt!“
Sie zog sich tief hinter die Magnolie zurück.
„Das abscheuliche Thier,“ klagte sie und lehnte den Kopf alterirt an die Wand. „Minka ist wieder einmal desertirt – zum Gaudium der Domestiken – o, ich kenne diese kleinen, stillen Bosheiten sehr gut. Man hat, meinem stricten Befehl entgegen, die äußere Thür meiner Appartements offen gelassen,“ ein Seitenblick voll bitteren Grolles suchte die servirende Dienerin, die eben mit dem leeren Tablet die Terrasse verlassen wollte. „Ich vermuthe, Sie sind es gewesen, Johanne.“
Das Mädchen wandte sich auf der Schwelle um, und jetzt stieg ein lebhaftes Roth in ihr Gesicht.
„Dagegen muß ich mich entschieden verwahren, gnädige Frau,“ sagte sie bescheiden„ aber fest, „eine solche Pflichtwidrigkeit lasse ich mir ganz gewiß nicht zu Schulden kommen.“
Sie blieb noch einen Augenblick in Erwartung eines Befehles oder einer Bemerkung höflich auf der Schwelle stehen; dann verschwand sie geräuschlos im anstoßenden Salon.
„Mit diesem ‚Hannchen’ hat mir Arnold auch eine Pönitenz [348] auferlegt, und ich seufze machtlos unter derselben,“ sagte die Baronin unmuthig, während ihr die Stiftsdame wie einem hülflosen Kinde die Theetasse füllte und zurecht machte. „Kann ich dafür, daß mich ein Schauder schüttelt, wenn sie in meine Nähe kommt? Ich spüre den Hauch einer begangenen Todsünde um ihre ganze Person – sie ist und bleibt Adam’s Kind ... Dazu diese antipathische Physiognomie! Das Gesicht ist wie von Stein, als läge eine todte Seele dahinter, und doch steckt das Mädchen voll unheimlicher Leidenschaft – damals nach der gräulichen Katastrophe mit ihrem Vater hat sie sich lange wie toll geberdet.“ Die Baronin zuckte die Schultern. „Man hat meiner Selbstüberwindung stets sehr viel zugemuthet; in diesem Schillingshofe kommt man überhaupt nie zur ersehnten inneren Ruhe.“
Ein kaltes Lächeln stahl sich um den feinen, schmallippigen Mund der Stiftsdame.
„Soll das eine Anklage sein, Clementine?“ fragte sie, und ihre dunklen Augen sahen ernst, ja strafend auf die gegenüber sitzende Frau herab. „Wer sein Schicksal so eigenmächtig eine heiß gewünschte Bahn gelenkt hat, wie Du, der muß es dann auch nehmen, wie es kommt. Wärst Du Deinem frommen Entschluß nicht treulos geworden, dann lebtest Du jetzt unter Gottes unmittelbarer Hut, im seligen Frieden. Uebrigens,“ lenkte sie ein, denn das blutlose Frauengesicht war noch fahler, aber auch herber geworden – Eigensinn und Aerger überwogen offenbar weit das Schuldbewußtsein, an welches leise gerührt wurde – „übrigens thut Johanne musterhaft ihre Pflichten und ist eine nicht zu entbehrende Stütze der Hausmamsell. Sie soll in der fixen Idee, daß die Unschuld ihres Vaters doch noch an den Tag kommen müsse, förmlich aufgehen –“
„Ja, das versichert die gute Birkner, die das Mädchen gründlich verzieht, stets mit unleidlichem Pathos,“ fiel die Baronin ein, während sie sich apathisch langsam aufrichtete. „Lächerlich! Das alberne Ding, die Johanne, thut alles Ernstes, als sei ein edles altes Wappenschild befleckt worden.“ Sie schob die Haarmassen, an denen die Blätter der Waldrebe gezaust hatten, aus den Schläfen, wies eine der warmen Schüsseln, die ihr die Stiftsdame hinreichte, voll Widerwillen zurück und bröckelte etwas mürbes Gebäck in ihren Thee. „Bah, alte verjährte Geschichten! Wer mag sich noch dafür interessiren! Mein Schwiegervater hat durch Adam’s Klatscherei das Nachsehen gehabt, und das war ganz gut für mich; mit dem alten Manne wäre kein Auskommens gewesen, wenn er durch die Kohlen ein Millionär geworden wäre, wie der da drüben.“
Sie deutete nach der Richtung, wo vorhin der graue, maliciös ausdrucksvolle Kopf des Rathes über der Mauer erschienen war. Ihre matten Augen flimmerten einen kurzen Moment in stechendem Glanze – aus der indolenten Nachbarin war urplötzlich eine unversöhnliche Feindin geworden.
„Eine grundgemeine Nachbarschaft, dieses Klostergut!“ murmelte sie. „Und aus dieser grobkörnigen Familie hat sich Arnold seinen Spielcameraden geholt, ‚seinen einzigen Freund’, wie er stets zu sagen beliebt.“
„Ja, Felix Lucian, der eine Tänzerin entführt hat!“ warf die Stiftsdame mit zugespitztem Tone hin. „Das Weltleben hat seltsame Elemente an Dich herangespült, Clementine.“
Das Gesicht der Baronin verdüsterte sich.
„Sie haben mich nie berühren dürfen, diese Elemente; ich wehre mich stets gegen solche Gemeinschaft,“ fiel sie mit erregter Stimme ein. Aber sieh sie Dir an, die viereckigen Köpfe der Schillings, drüben im Mittelsaal! Auf allen liegt dasselbe Gepräge derber Neigungen – Arnold nennt es Kraft und Kühnheit – dagegen hilft kein Ankämpfen. Reserve, ein consequentes Sichfernhalten, das sind die einzigen schwachen Waffen, die den Schilling’schen Ehefrauen verbleiben. Bis jetzt habe ich Dir noch gar nicht gesagt, daß mein Mann Mitverschworener eines Familiengeheimnisses ist, in Folge dessen ich vielleicht schon in der Kürze Menschen um mich dulden muß, die voraussichtlich wüsten Lärm in mein stilles Leben bringen – der Schillingshof wird Gäste beherbergen, die –“
Die Stiftsdame horchte gespannt auf, aber ein Geräusch von der Glasthür her machte die Baronin verstummen; sie sah seitwärts und streckte sofort in lebhafter, ungnädiger Abwehr die Hand aus. Ein Bedienter war aus dem Salon getreten; er trug Minka auf dem Arm.
„Ich wollte der gnädigen Frau nur melden, daß das arme Thierchen wieder wohlauf ist,“ stotterte er ganz verblüfft über die hinausweisende Geberde.
„Es ist gut,“ sagte die Baronin stirnrunzelnd. „Die Strafe kann dem Thier nicht schaden. Minka hat für den ganzen Tag strengen Arrest – sie soll mir heute nicht mehr vor die Augen kommen.“
Der Diener reichte ihr eine Postmappe hin, die er mitgebracht hatte, und entfernte sich schweigend. Im Salon lachte er sich in’s Fäustchen – sonst wurde bei dergleichen Vorkommnissen die im ganzen Hause grimmig gehaßte „schwarze Canaille“, die er eben vor den Ohren der Gnädigen in mitfühlendem Tone „das arme Thierchen“ genannt hatte, sorgfältig untersucht und gepflegt – und nun diese plötzliche Ungnade! Was der Unwille des Hausherrn, die Lamentationen der Dienerschaft nicht bewirkt, das hatte eine grobe Beleidigung von außen her fertig gebracht – die ging denn doch „über den Spaß“.
Die Postmappe, welche der Bediente gebracht, war eine praktische Einrichtung der Frau Baronin; „damit keine Zuschrift durch die Fahrlässigkeit der Domestiken abhanden komme“, gingen alle im Schillingshofe einlaufenden Briefe durch die Hand der Herrin. Sie schloß die Mappe auf und sortirte alles Eingegangene. Das geschah mit gewohnter Pünktlichkeit, mit den graciös lässigen, diese Frau charakterisirenden Bewegungen, bis plötzlich bei einem jäh aufsteigenden Wangenroth die langen, dünnen Finger zuckten, als sei aus einem der Couverts eine flinke Spinne über sie hingehuscht. Dieses Couvert war schwarz gerändert und zeigte ein schön ausgeprägtes Wappen auf dem Siegel.
„Also doch!“ murmelte sie tonlos. „Und ich hoffte mit jedem Tag mehr, daß die Geschichte wieder einschlafen würde.“ Sie war jedenfalls sehr unangenehm berührt, aber sie verbarg das unter einem erzwungenen Lächeln. „Lupus in fabula!“ sagte sie, der Stiftsdame den Brief hinhaltend; er war an Baron Schilling adressirt. „Ich sprach Dir von Gästen; das dünne Briefblättchen in diesem Couvert ist jedenfalls der Courier, der ihr unvermeidliches Erscheinen sicher für die allernächsten Tage feststellt. Wirst Du es ertragen, mit einer ehemaligen Tänzerin unter einem Dache zu leben?“
Bilder von der Mosel.
Von Dr. Roderich Irmer.
1. Beilstein.
„Sei bis zum fernsten Lande verherrlicht, gehörnte Mosella,
Nicht verherrlicht nur dort, wo du entströmest der Quelle
Und den goldenen Schmuck des lockigen Köpfchens emporhebst,
Wo den murmelnden Lauf du an Ufers Krümmungen windest,
Oder wo du am deutschen Gestad’ dich strömend ergießest!
Wenn der zarten Camöne man Gunst und Ehre noch schenket,
Wenn noch der menschliche Geist auf Dichtung Muße verwendet,
Dann lebst, Mosel, du fort in Wort und Liede gepriesen.“
So besang vor beinahe 1500 Jahren der römische Dichter Decimus Magnus Ausonius die Mosel. Unser materialistisches Zeitalter hat ihr zwar keine Verse gewidmet – aber welcher Deutsche, der je den funkelnden Brauneberger oder die „Goldtröpfchen“ Pisports gekostet, verkündete nicht dankbar den Ruhm der Mosel?
In diesen Tagen wird die neue, vielleicht die wichtigste Heerstraße Deutschlands, die Moselbahn, eröffnet. Gewaltige Viaducte überspannen die Landstraßen, und in märchenhaft leichten Bogen wölben sich die ehernen Brücken majestätisch über den ernsten Rhein und die spielende Mosel. Wie bald, und jene wilden, unzugänglichen, sagenreichen Gegenden durchsaust die cultur- und lichtbringende Locomotive und verscheucht die düsteren Schatten ultramontaner Verranntheit und Unduldsamkeit, die in diesem weltfernen Strich Landes noch in voller Blüthe stehen.
Welcher Contrast: hier und da blickt unter den Schienen der neuen Straße das schräge Pflaster der aufgedeckten alten Römerstraße hindurch! Wie nahe liegen hier zwei Jahrtausende!
[349] [350] Auch die Schöpfung der Römer war eine Militärstraße, angelegt, damit der eherne Schritt der römischen Legionen schneller in das Herz Deutschlands gelangen, damit der Polypenarm des südlichen Riesenreiches die germanische Welt fester umspannen möchte. Aber unbemerkt zogen in langen Reihen die wohlthätigen Geister der antiken Cultur mit ein in unser Vaterland, wie in ähnlicher Weise hoffentlich die moderne Cultur ihren Weg auf der jungen Straße finden wird. Diese junge Straße aber wird dem staunenden Ostländer eine ganz neue, eigenthümliche, ihm bisher unbekannte Welt erschließen; wie Viele wissen es in unserm Vaterlande, daß die Mosel in malerischen Naturschönheiten würdig mit ihrem Nachbar, dem Rheine, wetteifern kann?
Eine der werthvollsten Perlen in ihrer Kette landschaftlicher Reize bildet gleich zu Anfang Beilstein, eine kurze Strecke oberhalb der Stadt Kochem gelegen. Zu welcher Jahreszeit man auch die alte Ritterburg besucht – mag der Schnee die düsteren Trümmer bedecken und die Mosel drunten rollende Eisblöcke schäumend an das Gestade werfen, mag der Lenz oder der Sommer mit üppigem Grün und bunten Wiesenblumen die Felsen umkleiden, immer gewährt sie einen überraschenden, höchst pittoresken Anblick. Der Maler findet hier zu jeder Zeit und von jeder Seite neue Motive; auch dem Geschichtsforscher zeigen sich die Trümmer der Ahnenburg der alten Ritter von Braunshorn nicht undankbar, und wer für romantische Gemüthsstimmung schwärmt, findet sie ungesucht reichlich in dem verwitterten Eulenneste. Wie ein beredtes Denkmal der Erinnerung an jene alten, wilden Recken, die dort oben den sauern Moselwein aus gewaltigen Humpen leerten und Gesetz und Recht zum Spielball ihrer Eisenfaust machten, ragt es in die Lüfte hinein, zerrüttelt und zerzaust vom Sturme der Zeit, aber noch immer mit dem Eindrucke zäher Kraft und abwehrenden Trotzes.
Während das linke Moselufer gerade an jener Stelle nur flache, aber fruchtbare Rebenhügel bietet, die wie ein Frühlingskranz sich um das liebliche Poltersdorf winden, fallen rechts die kahlen Felsen schroff hernieder, und drunten am Moselstrande zieht sich mit engen Gassen und alten, hohen und schmalen Häusern der Flecken Beilstein hin.
Viel ist noch nicht modern dort in dem alten Burgfrieden, und urwüchsigeres und älteres Pflaster giebt es wohl kaum in einer anderen Stadt, als auf dem engen, finsteren Forum der Beilsteiner, das, wie die Grabgewölbe Salzburgs, in den Felsboden eingehauen ist.
Wie alt Burg und Ort sind, entzieht sich der Bestimmung; es geht uns mit den Ortschaften wie mit den rheinischen Urgeschlechtern, mit denen sich sonst an Alter kein Adel in Deutschland messen kann: wir erfahren nur von ihrem Dasein. Schon im Jahre 1309 erhielt Beilstein Stadtrechte auf Fürsprache seines Besitzers, des Ritters Johann von Beilstein, der ein „Hofmeister“ des tapferen und kräftigen Kaisers Heinrich des Siebenten genannt wird; zugleich bekam der Ritter 200 Mark, wofür er 10 sogenannte kaiserliche Schutzjuden in die neue Stadt aufnehmen mußte. Seit dieser Zeit ist Beilstein ein Lieblingsplatz thätiger, den Handel belebender Juden geblieben. Johann von Beilstein oder richtiger Braunshorn muß eine angesehene Person an der Mosel gewesen sein, da ihm der Kaiser in derselben Zeit den gewiß schwierigen Auftrag ertheilte, die rauflustigen Großen der dortigen Gegend, deren beliebtester Tummelplatz die weite Rasenfläche zwischen Beilstein und Wunneberg sein mochte, zur Ruhe zu bringen.
Schon 1362 erlosch der Mannesstamm des alten Geschlechts, und die Besitzungen mit der Burg Beilstein fielen an die weibliche Linie, welche die Herren von Wunneberg vertraten. Um diese Zeit aber ging es auch mit dem alten Ritterthum zu Ende; die goldenen Zeiten, wo Gewalt und Stärke Recht und Gesetze mit Füßen traten, wo der alte Ritter seine Schulden bequem mit einem glücklichen Raubzuge gegen schutzlose Kaufleute bezahlen konnte, waren allmählich geordneteren Zuständen gewichen; die ersten Strahlen einer neuen Zeit fingen bereits an, die alten Ritter aus ihren Eulennestern zu vertreiben. Auch die Wunneberger ereilte das Schicksal, dem die meisten ihrer Standesgenossen zum Opfer fielen. Ihre Besitzungen und die geringen Einkünfte, die ihnen nach dem Verluste der einträglichsten Quelle, der Wegelagerei, geblieben waren, vermochten die Ritter nicht mehr zu ernähren; sie geriethen in Schulden, und die reichen Kirchenfürsten von Trier waren gern bereit, Vorschüsse zu geben, welche die Empfänger nie wieder zurückzuzahlen vermochten. Die Folge war, daß die Wunneberger das ganze vierzehnte Jahrhundert hindurch mit den Kirchenfürsten von Trier heftige Fehden hatten, welche mehrfach ein Heer des geistlichen Oberhirten vor die Burg der rauflustigen Ritter führten.
In der Mitte des folgenden Jahrhunderts haben wir das im Mittelalter nicht ungewöhnliche Beispiel eines Bruderkampfes in den Mauern Beilsteins selbst, bis sich Philipp von Wunneberg in einer stürmischen Nacht zum alleinigen Herrn des alten Familiensitzes machte. Aber der Ritter brachte zugleich den Keim neuer Verwickelungen in die Burg, indem er sich zu den Augsburger Glaubensartikeln bekannte.
Es war unzweifelhaft, daß die Intoleranz der geistlichen Herren der dortigen Gegend über kurz oder lang einen Vernichtungskrieg gegen eine Lehre unternehmen würde, welche die Existenz des Kurfürstenthums bedrohen mußte. Gleich die ersten Jahre des furchtbarsten aller Religionskriege, des dreißigjährigen, brachte denn auch über die Wunneberger das Verderben. Als die getreuesten Landsknechte des Papstes, die Spanier, unter Spinola die Pfalz, das Heimathland des unglücklichen Winterkönigs, unterworfen hatten, fingen sie auch an, die umliegenden Gegenden von dem „Gifte der Reformation“ zu heilen und mit „Blut und Eisen“ die Ketzer zur alleinseligmachenden Kirche zurückzuführen. Das feste Beilstein fiel in ihre Hände, und Wilhelm, der Letzte des edlen Geschlechtes, mußte besitz- und heimathlos seiner Ahnenburg den Rücken kehren. Rührend ist die Schilderung seines Elends in einem Briefe, den der stotze Ritter in bitterer Armuth und Noth an den Kurfürsten Philipp Christoph von Trier zu dessen Geburtstage richtete. Man sieht aus ihm, daß der gerühmte Reichsritterstand oft genug ein glänzendes Elend war.
Erst im Jahre 1634 gelang es dem Wunneberger, seine Burg mit Hülfe der Schweden, welche die reiche „Pfaffengasse“ am Rhein und an der Mosel angelockt hatte, wieder zu erobern, aber schon drei Jahre später bettete man ihn, den Letzten des uralten Geschlechts, bei seinen Ahnen. Die Trierer Kirche, die zu jener Zeit durch die Gefangenschaft des Erzbischofes Philipp Christoph zu Linz verwaist war, zog Beilstein als erledigtes Lehen ein und gab es an die gut kaiserlich gesinnten Metternichs. Zwar cassirte der geniale und energische Kurfürst nach seiner Befreiung sofort jene Belehnung, nichtsdestoweniger aber behaupteten sich die Metternichs in der Reichsherrschaft und erhielten bald darauf sogar die Reichsgrafenwürde vom Kaiser. Ihr Regiment fing gleich mit einem gut katholischen Werke an: die Protestanten mußten zum größten Theil das Land verlassen; ein Carmeliterkloster sorgte für die Bekehrung der Zurückgebliebenen.
Ludwig dem Vierzehnten, jenem Vandalen unter den Königen, war es vorbehalten, wie die meisten Moselburgen, so auch Beilstein zu zerstören. Die Reichsherrschaft selbst jedoch blieb bis zur französischen Revolution in den Händen der Metternich’schen Familie. Erst der Vater des 1775 im Metternicher Hofe zu Coblenz geborenen weltbekannten Kanzlers, des Fürsten Clemens Wenzel von Metternich, dem später auch das schöne Johannisberg als Besitz zufiel, trat im Reichsdeputationshauptschluß die Herrschaft Beilstein gegen die gefürstete Abtei Ochsenhausen ab.
Von den Bewohnern des lebhaften Fleckens Beilstein sind heute beinahe ein Drittel Juden – ein merkwürdiges Beispiel von Anhänglichkeit an die Heimath, die sonst unter den Juden des deutschen Westens selten zu sein pflegt. Alles ist heute dort anders geworden, als es im romantischen Mittelalter war: die stolze Burg – beiläufig jetzt im Besitz des Geheimen Commerzienraths Ravené in Berlin, der leider seine frühere Absicht, sie zu restauriren, wieder aufgegeben hat – liegt in Trümmern; die tapferen Ritter sind verschwunden; die Macht des Krummstabes, der einst dort geherrscht, ist gebrochen; überall eine ganz andere Welt – nur die Söhne Canaans haben Stand gehalten, das conservativste Element des alten Moselstädtchens Beilstein.
In der einleitenden Skizze dieser Darstellung ergab sich, daß der moderne Socialismus, an sich ein zwiespältiges Wesen voll innerlich widerstrebender Eigenschaften, in deutschen Köpfen zur höchsten Vollendung reifte und, indem er die reinsten und die unreinsten Triebe der menschlichen Natur zu einheitlicher Wirksamkeit verschmolz, gewissermaßen seinen innern Widerspruch überwunden zu haben schien. Aber gerade auf dieser gipfelnden Höhe schlug er sofort wieder in seinen genauen Gegensatz um. Während sich die revolutionäre Arbeiterbewegung in England und Frankreich aus verkehrten Zuständen, also immerhin mit einer gewissen Naturnotwendigkeit entwickelte, entstand sie bei uns im Mutterlande der größten Denker unter den Demagogen, welche der Socialismus hervorgebracht hat, zunächst als ein politisches Abenteuer. Es wäre thöricht zu glauben, daß es heute keine deutsche Sozialdemokratie gäbe, wenn es keinen Ferdinand Lassalle gegeben hätte, aber gewiß ist, daß, als er im Frühjahre 1863 seine Agitation aus mehr oder minder frivolen Beweggründen begann, unsere Arbeiter noch nicht entfernt daran dachten, sich aus freien Stücken gegen die bestehende Ordnung in Gesellschaft und Staat aufzulehnen, denn sie lebten in nichts weniger als unmenschlichen Verhältnissen.
Unter diesen Umständen ist es nicht möglich, die Person Lassalle’s zu umgehen, wenn man seine Schöpfung schildern will, so wenig es sonst gerade in sozialen Fragen gerathen sein mag, den Werth der Dinge nach den Schwächen oder Vorzügen der Personen zu beurtheilen und sie in dieser Weise sei es zu über- oder zu unterschätzen. Lassalle war eine edel und groß angelegte Natur; eine eiserne Kraft, ein mächtiger Wille, eine geniale Fähigkeit, mit glänzender Schärfe den innersten Kern der Dinge zu erfassen, hoben ihn hoch über das Maß selbst begabter Menschen empor. Sein Wesen hat die ersten Männer unseres Jahrhunderts bezaubert, darunter so durchaus verschiedene Charaktere wie einen Fürsten Bismarck, einen Böckh, Heine, Humboldt, Savigny. Alles war ihm gegeben, wonach höchster Ehrgeiz ringen mag, nur das Eine nicht, was die historische Größe von dem historischen Abenteurer scheidet, die selbstlose Hingabe an den Gedanken. Nichts lächerlicher zwar, als Lassalle zu betrachten wie einen verlaufenen Aufwiegler, der die Arbeiter für eigensüchtige Zwecke ausbeuten wollte, aber wohl kann auch der größte Eifer seiner glühendsten Bewunderer ihn nicht vor dem Vorwurfe retten, mit welchem Alles gesagt ist, vor dem Vorwurfe nämlich, daß ihm seine Person immer und überall höher stand als seine Sache. Gewiß hat er Werke geschaffen, die als eherne Denkmale menschlichen Fleißes und Geistes noch dauern werden, wenn die deutsche Sozialdemokratie bis auf den Namen erloschen sein wird, aber es lag doch ein tieferer Sinn darin, daß er die öffentliche Bühne zuerst in einem unsaubern Skandale betrat und in einem unsaubern Skandale zuletzt auch von ihr verschwand.
Noch ein Jüngling, kaum zwanzigjährig, warf sich Lassalle zum Ritter der Gräfin Hatzfeldt auf in jenem vielberufenen Ehescheidungsprozesse, welcher eine der merkwürdigsten Seiten deutscher Rechtspflege füllt. Er selbst nannte sein Dazwischentreten eine „religiöse Insurrection“, und er vergaß auch nicht den Opferstock aufzustellen, in welchen die Gräfin für den Fall des Sieges eine namhafte Spende niederlegte. Ringend und watend in diesem uferlosen Sumpfe, wuchs Lassalle zum Manne empor, und riesengroß wuchs mit ihm der eitle und gauklerische Zug seiner Natur. Man muß ihn beispielsweise nur hören, wie er vor den Kölner Geschworenen mit einer zitternden Thräne an der Wimper das schreckliche Loos seiner Clientin beklagt, die während der Dauer des Prozesses nur ein Jahreseinkommen von achttausend Thalern bezöge. Und als nach fast zehnjährigem Kampfe endlich ein günstiger Vergleich erzielt war, galt dieser zweifelhafte Gewinn dem Verfasser des „Heraklit“ und der „Erworbenen Rechte“ bis an sein Ende als der „größte Triumph“ seines Lebens.
Zweifellos haben auch in diesem ersten Abenteuer Lassalle’s ideale Momente gewaltet. Die Macht des Geistes als einen unübersteiglichen Damm entgegen zu setzen der Macht des Geldes und des Ranges, als ein jüdischer Knabe ohne Anhang und Namen einen der ersten Magnaten des Landes in den Staub zu werfen – wer mag leugnen, daß auch hier ein leiser Schimmer socialen Freiheitsdranges hineinspielt? Aber es war eben nur ein leiser Schimmer; in der Hauptsache hat Lassalle den furchtbaren Mißbrauch seiner herrlichen Gaben nie verwunden. Seitdem prahlte er wie ein Falstaff von seinen Heldentaten, und die Macht des Geldes wurde ihm bald eine werthvollere Waffe, als die Macht des Geistes. Niemals hat das schnödeste Geldprotzenthum sich nackter und roher geäußert, als da Lassalle sich feierlich in seinen jüngst veröffentlichen Briefen an eine russische Dame vermaß, niemals von dem Ertrage seiner Arbeiten leben zu wollen, und da er bei diesem Anlasse den Gelderwerb durch Geistesarbeit eine „geistige Prostitution“ nannte. Niemals ist eine gröbere Beleidigung dem Andenken unserer geistigen Heroen, einem Lessing und einem Schiller widerfahren, die freilich keine hohen Renten aus dem Gewinn von Skandalprocessen bezogen, wie Lassalle aus dem Processe Hatzfeldt, sondern schlecht und recht von dem Ertrage ihrer geistigen Thätigkeit lebten.
In der Mitte der fünfziger Jahre hatte Lassalle die Sache der Gräfin zu glücklichem Ende geführt; darauf siedelte er, noch in der ersten Blüte des Mannesalters, aus den Rheinlanden nach Berlin über, wo ein großer Schauplatz seiner großen Kraft harrte. Mit der Sicherheit der Magnetnadel wies sein gewaltiger Wille auf praktische Betätigung im öffentlichen Leben, allein die dumpfe Stickluft der traurigen Reactionszeit lähmte alle politische Thatkraft, und lange Jahre konnte sich diese faustische Natur nur gleichermaßen in dem bunten Wirbel des großstädtischen Lebens, wie in der verzehrenden Arbeit der Gedankenwelt erschöpfen. Aber auch als wieder ein freierer Luftzug durch Deutschland zu wehen begann, vermochte Lassalle nicht an die Kränze zu rühren, nach denen seine glühende Seele trachtete; die parlamentarische Bühne blieb ihm verschlossen, obgleich er mit mehr als einem Führer der allmächtigen Fortschrittspartei nahe befreundet war. Scheute man sein herrisches Wesen oder stieß man sich an seinem Verhältnisse zur Gräfin Hatzfeldt, genug, man gab ihm kein Mandat für das Abgeordnetenhaus und fügte ihm dadurch eine Kränkung zu, welche der ehrgeizige und leidenschaftliche Demagoge um so weniger vergaß, als er die Fortschrittspartei in der Frage des Militärconflicts auf falschen Bahnen zu sehen glaubte.
Er zögerte nicht, sich zu rächen. Zunächst suchte er die Berliner Bezirksvereine für sich zu gewinnen, allein diese Burgen der Fortschrittspartei erwiesen sich als uneinnehmbar. Seine glänzenden Reden rührten nicht die Herzen der Hörer, aber wohl erregten sie die Aufmerksamkeit des Staatsanwaltes, der ihm einen Proceß wegen Gefährdung des öffentlichen Friedens anhing. Das gerichtliche Verfahren erregte einiges Aufsehen namentlich durch die in ihrer Art großartige Verteidigung Lassalle’s; es lenkte auf ihn den Blick einiger Leipziger Arbeiter, die mit der Fortschrittspartei gleichfalls in Zwist gerathen waren. Dabei handelte es sich nicht eigentlich um sociale Beschwerden, sondern man stritt über das größere oder geringere Maß von politischem Radicalismus, das unter den obwaltenden Umständen zu bewähren sei. Jene Arbeiter, der Cigarrenmacher Fritzsche, der Schuhmacher Vahlteich und Andere, hatten ein Centralcomité gebildet, welches einen allgemeinen Arbeitercongreß berufen sollte, aber da kein Mensch wußte, was er eigentlich wollte, so war die Sache eben daran, im Sande zu verlaufen,. als ihr das Auftreten Lassalle’s eine andere Wendung gab. Das Centralcomité bat ihn um Hülfe und Rath; schnell entschlossen lieferte er in seinem „Offenen Antwortschreiben“ den systematischen Plan einer umfassenden Arbeiteragitation.
Ausgehend von dem „ehernen Lohngesetze“, wonach unter der Herrschaft von Angebot und Nachfrage das Einkommen des Arbeiters immer auf den notwendigen Lebensunterhalt beschränkt
[352] bleiben muß, welcher gewohnheitsmäßig zur Fristung der Existenz und zur Fortpflanzung erforderlich ist, entwickelte Lassalle, daß die Arbeiter demgemäß nie aus eigener Kraft ihre Lage zu heben vermöchten. Nur der Staat könne ihnen helfen, indem er ihnen durch Ueberweisung von Geldmitteln die Bildung von Erwerbsgenossenschaften ermögliche, in welchen sie ihre eigenen Unternehmer seien. Um dieses Ziel zu erreichen, müßten sie sich in den Besitz der Staatsgewalt setzen, das heißt, da sie die ungeheure Mehrheit der Bevölkerung bildeten, das allgemeine Stimmrecht zu erwerben suchen und behufs dieses Zweckes einen großen Agitationsverein gründen, der sehr bald bei nur einigermaßen reger Betheiligung eine gewaltige Macht werden würde.
Es ist heute überflüssig, tiefer die Unhaltbarkeit dieses Vorschlags zu zergliedern. Das „eherne Lohngesetz“, ein Satz, den Lassalle allerdings nicht erfand, sondern den die ältere englische Nationalökonomie ganz einseitig aus dem furchtbaren Elende folgerte, welches ehedem in den industriellen Arbeiterkreisen des Inselreichs herrschte, hat sich praktisch und theoretisch längst als hinfällig gezeigt. Die Erwerbsgenossenschaften mit Staatshülfe sind nicht nur von Gegnern der neuen Weltanschauung, sondern auch von wissenschaftlichen Socialisten, wie Lange und Rodbertus, so sogar von socialdemokratische Agitatoren, wie Bracke, als ein Gedanke nachgewiesen, der unmöglich durchzuführen ist und, selbst wenn er praktisch möglich wäre, doch den beabsichtigten Zweck nicht erreichen würde. Endlich hat auch das allgemeine Stimmrecht, welches nicht durch eine Agitation der Arbeiter erobert, sondern durch einen hochherzigen Entschluß des modernen Staats selbst den arbeitenden Classen gespendet wurde, nicht die goldenen Früchte gereift, die sich Lassalle von ihm versprach.
Und auch schon darum verdient dieser Vorschlag keine ernstere Würdigung, weil sein Urheber selbst gar nicht an ihn glaubte. Lassalle’s wissenschaftliche Verdienste liegen nicht auf volkswirthschaftlichem, sondern auf philosophischem und rechtswissenschaftlichem Gebiete; nur in diesen Zweigen menschlicher Erkenntniß hat er neue und ursprüngliche Gedanken zu Tage gefördert. Volkswirthschaftlich ist er vollkommen abhängig von Marx, mit dem er schon 1848 in den Rheinlanden zusammen wirkte; auch er sieht in dem Gemeineigenthum am Grund und Boden und allen Arbeitswerkzeugen das einzige Heil der Menschheit. Offen spricht er diese Ueberzeugung aus in den vertrauten Briefen, welche er während seiner Agitation an Rodbertus richtete; so lange er zu denken vermöge, bilde es, schreibt er, den innersten Kern seiner Weltanschauung, daß Boden, Capital und Arbeitsproduct den Arbeitern gehören solle. Doch das, fügt er hinzu, dürfe man dem Mob noch nicht sagen; er habe seine Erwerbsgenossenschaften nur vorgeschlagen, um die Arbeiter zu „interessiren“, sei aber gern bereit, diesen Vorschlag fallen zu lassen, sobald ein anderer „ausspintisirt“ werde, der den gleiche Zweck besser erfülle. Hält man diese vertrauliche Aeußerungen Lassalle’s neben sein „Offenes Antwortschreiben“, in welchem er feierlich allen Communismus und Socialismus verleugnet, in welchem er mit den pathetischen Worten schließt: „Dies ist das Zeichen, das Sie aufpflanzen müssen. Es giebt kein anderes für Sie,“ so ist das verwegene Abenteuer des Agitators gebührend gekennzeichnet und durch ihn selbst gerichtet.
Vergebens fielen ihm seine beste Freunde in den erhobenen Arm, fruchtlos warnten Bucher, Rodbertus, Ziegler. Vergebens erhob die öffentliche Meinung in ganz Deutschland einmüthigen Widerspruch gegen die Lehre des neue Propheten; nur wenige Arbeiter in wenigen Städte ließen eine verworrene und weit eher entmuthigende, als ermunternde Zustimmung hören. Und mochte immerhin ein verächtliches Lächeln um die Lippen des hochmüthigen Mannes spielen, wenn der laute Lärm der Tagespresse und der Volksversammlungen um ihn toste, vergebens sah er sich doch auch im Reiche der Wissenschaft nach einem einzigen Bundesgenossen um. Aber selbst dieser Schlag, von allen der schmerzlichste, brach nicht den starren Sinn, der seinen Willen gegen eine Welt von Feinden durchsetzen, der eher untergehen, als nachgeben wollte. Lassalle blickte stolzen Auges über den dichten Schwarm der Jäger und schüttelte seine „revolutionäre Mähne“; mochte er tausendmal verloren sein, wehe doch dem, auf den er sich in jähem Sprunge warf; niemals verharschten die Wunden, welche die Klaue dieses Löwe riß.
Ein seltsamer Zauber waltete um den merkwürdigen Mann; wie eine große Zahl der ersten Geister der fesselnden Eigenthümlichkeit seiner Unterhaltung sich gern hingab, so riß der feurige Sturm seiner Beredsamkeit die Heere willenlos mit sich fort, die gekommen waren, gegen ihn zu kämpfen. Massenversammlungen in Frankfurt und Leipzig, welche seine Gegner geworben hatten, ihn niederzustimmen, erklärten sich begeistert für ihn, sobald er vor sie trat und eine jener blendenden Reden hielt, denen unsere politische Literatur in ihrer Art nichts Aehnliches an die Seite zu stellen hat. Im Vertrauen auf diese Erfolge gründete Lassalle am 23. Mai 1863 zu Leipzig den „Allgemeinen deutschen Arbeiterverein“ behufs friedlicher Erkämpfung des allgemeinen Stimmrechts. Elf Städte waren vertreten, sechshundert Arbeiter zugegen. Die Statuten legte eine dictatorische Gewalt in die Hand des Präsidenten. Wer dieser Präsident sein mußte, konnte nicht dem Schatten eines Zweifels unterliegen. Finster schweigend nahm Lassalle die Wahl an. Nicht der jubelnde Zuruf eines begeisterten Volkes hob einen Tribunen empor; wie mußte es den eitlen Agitator kränken, daß wenige Arbeiter, querköpfig, unbekannt, nach widerlichem Gezänk über die Paragraphen der Statuten, deren Geist sie nicht zu fassen vermochten, um sein Leben würfelten!
Und Schlag auf Schlag folgten neue Demüthigungen. Die deutsche Socialdemokratie war geschaffen, aber noch fehlten die Socialdemokraten. Schon in den erste Woche der Agitation begann eine harte Nemesis das frevle Beginnen zu sühnen; die deutschen Arbeiter litten nicht unter Uebelständen, wie solche ihre englischen und französische Cameraden vor Jahrzehnten den socialistischen Lockungen zugänglich gemacht hatte; ruhig und still blieben die Massen, in welche diese aufregende Agitation geschleudert wurde. Lassalle war unermüdlich thätig; auch seine heftigsten Gegner müssen bewundernd auf die gewaltige Fülle der Arbeit blicken, die er in anderthalb Jahren zu bewältigen vermochte, aber es war keine erlesene Schaar, welche seine lärmende Trommel zu werben verstand. Nur wenige tüchtige Arbeiter darunter mit hellen Augen und starken Fäusten, sonst ein tragikomisches Völkchen, leichtfertige Gesellen, gedankenlose Schwätzer, viel schrullenhafte Köpfe, die heute diesem, morgen jenem Marktschreier nachlaufen. Der beste Stamm fand sich noch in den Rheingegenden zusammen; in Berlin war gar nichts zu erreichen.
Nur wenige Wochen, und es zeigte sich, daß das Unternehmen, so wie es Lassalle geplant hatte, nicht durchzuführen sei. Er hatte auf Zehn-, auf Hunderttausende von Rekruten gehofft; nur bei so großartiger Betheiligung hatte sein Vorgehen eine Sinn. Er war gerade der letzte Mann, ein stilles Conventikel zu gründen, in welchem verschrobene Ideen in gegenseitiger Duldsamkeit erörtert wurden. Nach dem ersten Vierteljahre zählte der Verein etwa tausend Mitglieder, verstreut über ganz Deutschland, darunter vielleicht nicht zehn, die Lassalle verstanden. Selbst der Vereinssecretär Vahlteich, der täglich um ihn war, wußte sich so wenig in die leitenden Gedanken des Unternehmens einzuleben, daß er den Verein in lauter örtliche Gruppen auflösen, das heißt einfach vernichten wollte. Dazu fehlte es fortwährend an Geld; die geringen Beiträge der spärlichen Mitglieder sickerten nur langsam in die Casse oder versiechten ganz.
Schon nach einem Monat hatte Lassalle vorläufig genug von diesem Elende. Unter dem Hohngelächter seiner Gegner, dem Murren seiner kleinen Schaar reiste er auf drei Monate in die Bäder. Nicht als ob er schon am Erfolg völlig verzweifelt wäre; hochmüthig wies er die Aufforderung kleinmüthiger Anhänger zurück, den Verein lieber zeitig aufzulösen, ehe er ganz verkam; vielmehr sann er auf eine neue Taktik, von welcher er sich bessere Erfolge versprach. Aber es war ihm nun einmal unmöglich, seinem persönliche Behagen Opfer aufzuerlegen, sei es auch um einer guten Sache willen, und wie oft hatte er in seinen Aufrufen und Reden versichert, daß nichts besser sei, als die Sache, welche er mit seiner Agitation verfechte!
Erst im October 1863 kehrte Lassalle nach Berlin zurück, um nochmals mit neuen, aber nicht reineren Waffen den ungleichen Kampf aufzunehmen, in dem bewegtesten und letzten Jahre seines Lebens.
[353]
Wir leben in einer Zeit rapiden Fortschritts. Wohin wir blicken, treten uns schlagende Beweise dafür entgegen. Wenige Länder aber haben sich mit ihrer politischen und commerciellen Entwickelung so sehr in den Vordergrund gedrängt, wie das ferne Australien, das für die nächsten beiden Jahre die Völker der Erde einladet zum friedlichen Wettstreit auf den Gebieten der Cultur, des Handels, der Industrie und der Kunst.
Sydney und Melbourne waren von jeher zwei unverbesserliche Rivalinnen. Neusüdwales nennt sich stolz die Muttercolonie; Victoria pocht auf seine größere industrielle und commerzielle Bedeutung – keine Colonie will der anderen nachstehen, keine zurückbleiben auf der eingeschlagenen Bahn gesteigerter innerer Entwickelung. Dieser Rivalität ist es zuzuschreiben, daß die Welt Einladungskarten zu zwei schnell auf einander folgenden Ausstellungen erhalten hat.
Es darf nicht geleugnet werden, daß man bei uns, selbst in sonst gut unterrichteten Kreisen, nur unklare Vorstellungen von Australien und der Bedeutung seiner Colonien hat. Man hat sich damit begnügt, es das Land der Gegensätze zu nennen, das eines ehrbaren Mannes Beachtung nicht würdig sei, weil, in Folge der dort aufgefundenen Goldlager, der Abschaum aller Nationen sich nach der Verbrechercolonie gewandt. Natürlich werde man seines Lebens und Eigenthums daselbst nicht sicher und froh – Alles in Allem sei das Land höchstens gut genug zur Besserungsanstalt für ungerathene Söhne und als Zufluchtsort für bankerotte Kaufleute.
Wie sehr hat man den armen Colonisten Unrecht gethan, die in der That eine günstigere Beurtheilung verdienen, denn sie haben in der kurzen Zeit von noch nicht hundert Jahren und unter den gegebenen Verhältnissen geradezu Unglaubliches geleistet.
Es war von jeher für England ein großes Problem, wohin es alle die Vielen schicken solle, welche alljährlich zum Wohle des Vaterlandes dieses Vaterland zu verlassen haben. Als Cook von seiner ersten Reise zurückkam und Banks sein charakteristisches Bild von der Botany-Bai und ihrer Nachbarschaft entwarf, verfiel man sofort auf den Gedanken, dort eine Deportationscolonie zu gründen. Der ungeheuere Raum zwischen dieser Küste und jeder anderen europäischen Colonie, sowie die bemitleidenswerthe Armuth und das tiefe Elend der Eingeborenen ließen diese Gegenden recht geeignet zu einer solchen Niederlassung erscheinen. Auch der Umstand, daß die öde, unfruchtbare Küste einen fast absoluten Mangel an eßbaren Früchten gezeigt hatte, wurde dem Unternehmen günstig ausgelegt; denn man sagte sich, das müsse den Verurtheilten jede Hoffnung auf das Gelingen eines etwaigen Fluchtversuchs benehmen – sie folglich auch von allen solchen Versuchen wirksam abhalten.
Neusüdwales, die älteste der australischen Colonien, ward also gegründet mit dem Abschaum der englischen Gesellschaft, mit Betrügern, Fälschern, Dieben und Vagabonden, die zu Hause nichts arbeiten wollten, und nun in ein fremdes, weit von allen civilisirten Gegenden entferntes Land geschickt wurden, um dort das Ungewohnte zu erlernen; in ein Land, das für den Hungernden kein Wild und keine Früchte und für den Durstigen oft nicht einmal einen Trunk labenden Wassers zu bieten vermochte; in ein Land endlich, dessen eingeborene Bewohner auf der niedrigsten Stufe menschlicher Gesinnung standen, die keine andere Beschäftigung kannten, als rast- und ruhelos von einem Platze zum andern zu ziehen, um nur die Nahrungsmittel zu gewinnen, welche zur Stillung des nagenden Hungers erforderlich waren.
Und welche Pflege wurde der Verbrechercolonie an den fernen Gestaden des südlichen Meeres von Seiten des Mutterlandes zu Theil? Man darf getrost sagen: wenigstens in den ersten Jahren keine. So wenig kümmerte man sich in England um die Strafcolonie in Neusüdwales, daß man zwei Jahre lang vergaß, Lebensmittel hinzuschicken, ja, daß man sich kaum die Mühe nahm, in Europa den wahren Namen der Niederlassung bekannt werden zu lassen; denn Botany-Bai hieß der Verbannungsort für Verbrecher nicht nur auf dem Continente, sondern auch in England selbst, obschon jetzt Jedermann weiß, daß niemals eine Colonie dort gegründet worden, sondern daß die Niederlassung gleich anfangs in dem heutigen Sydney angelegt wurde. Durch Hungersnoth, Militärrevolten und Verbrecheraufstände mußte sich die Colonie hindurcharbeiten, bis sie zu einigermaßen geregelten Verhältnissen gelangte.
Im Laufe von wenigen Jahrzehnten aber haben sich aus der einstigen Strafanstalt an Port Jackson vier blühende Reiche entwickelt, von denen jedes seinen eigenen Gouverneur und sein eigenes Parlament besitzt. Es sind dies Neusüdwales, seit 1788, Tasmanien, seit 1803 colonisirt und seit 1825 als selbstständige Colonie erklärt, Victoria, seit 1836 besiedelt und seit 1850 selbstständig, und Queensland, seit 1859 unter eigener Verwaltung. Außerdem sind aber in dem fünften Welttheile noch zwei englische Staaten entstanden, welche nicht von der Strafcolonie, sondern direct vom Mutterlande aus bevölkert wurden; diese sind: Westaustralien, die Colonie am Schwanenfluß, seit 1829, und endlich Südaustralien, im Jahre 1853 gegründet.
Alle diese Niederlassungen gedeihen; viele ihrer Einwohner sind zu Wohlstand, manche zu großen Reichthümern gelangt; die Wissenschaften werden eifrig gepflegt und gefördert; insbesondere werden große Anstrengungen für vollständige Erforschung des Binnenlandes gemacht, und menschliche Gesittung dringt unaufhaltsam weit vor in die Einöden und in die Wildnisse eines zum großen Theil noch unbekannten Continents.
Fragt man aber, durch welche Wundermittel diese Umwandlung eines Zuchthauses in blühende Staatswesen geschehen, wie eine so großartige und so ganz ohne Beispiel dastehende Eroberung für die Cultur der Menschheit vollbracht werden konnte, so läßt sich nur zur Antwort geben: durch die aufrichtig und rückhaltlos durchgeführte Selbstregierung, welche ihnen das Mutterland jederzeit gewährt hat.
Freilich hat an diesem Aufschwunge auch der bis vor fünfundzwanzig Jahren noch ungeahnte glückliche Umstand seinen großen Antheil, daß Australien bis jetzt das reichste Goldland der Welt ist. Indessen auch in den Gegenden, in welchen der Boden keine Schätze in Gestalt von Goldkörnern birgt, haben die Menschen auf dem Gebiete des Ackerbaues, der Industrie und des Handels durch redlichen Fleiß goldene Früchte geerntet, und die Südaustralier, die vor vierzig Jahren selbst nichts zu essen hatten, haben seitdem nicht nur alles Getreide, was sie brauchten, gebaut, sondern führten auch noch in jedem Jahre für viele Millionen Mark Weizen aus.
Ueberhaupt hat die Ausfuhr aus den australischen Colonien schon seit Jahren eine Höhe erreicht, die im Verhältniß zur Zahl ihrer Bewohner staunenswerth genannt werden muß. Queensland, Neusüdwales, Victoria, Südaustralien und Westaustralien hatten im Jahre 1876 nicht viel mehr als anderthalb Millionen Einwohner, in demselben Jahre aber wurden aus diesen fünf Colonien für 29 Millionen Pfund Sterling ausgeführt und die Einfuhr erreichte die Summe von über 26 Millionen Pfund Sterling.
Neben diesen enormen Zahlen, welche den australischen Handel repräsentiren, zeigt auch die Zahl der wichtigsten Hausthiere die außerordentlichen Fortschritte, welche die englischen Niederlassungen in Australien machen. Im Jahre 1825 gab es in ganz Australien 6142 Pferde, 134,515 Stück Rindvieh und 237,622 Schafe, 1876 zählte man aber in den oben genannten Colonien zusammen 859,066 Pferde, 6,737,215 Rinder und 51,898,925 Schafe.
Nur ein einziger trüber Zug stört dieses Bild: das ist das Schicksal der unglücklichen Eingeborenen des Landes, welche dem Untergange geweiht sind. Die hier zusammenwirkenden Ursachen sind sehr verschieden: der Branntwein und von Europäern mitgebrachte Krankheiten, wie die Pocken, haben dazu beigetragen, mehr noch der Umstand, daß die Ansiedelungen der Hirten große Räume Landes für die Heerden in Beschlag nahmen und ganze Stämme auf einmal ihrer Opossum- und Kängurureviere beraubt wurden. Das geschieht fort und fort, und wird an den Grenzen der Colonien stets von Neuem Veranlassung zu Conflicten geben, die erst mit dem Aussterben der Eingeborenen endigen werden. Denn nicht durch Vertrag und Kauf wird das Land erworben. Sobald irgend ein frischer Weideplatz zufällig oder durch danach [354] suchende Hirten entdeckt ist, brechen auch schon die Weißen mit ihren Heerden auf, ihn in Besitz zu nehmen. Die Regierung giebt Erlaubnißscheine; „Stationen“ werden erbaut und die Eingeborenen aus der Nachbarschaft verjagt. Das Wild wird von den Europäern zusammengeschossen, von ihren Hunden gehetzt und niedergerissen. Die Gräber der Vorfahren des vertriebenen Stammes tritt der Europäer rücksichtslos mit Füßen, und doch hängt der Australneger ebenso an dem Boden, den er Vaterland nennt, wie andere Menschen. Dadurch nun aber, daß ein Stamm von seinem Jagdgrunde vertrieben wird, geräth er in Feindschaft mit anderen Stämmen, in deren Gebiet er einzubrechen gezwungen wird, und so hat nun auch schon unter den verschiedenen Stämmen der Eingeborenen ein Vernichtungskrieg begonnen.
Das von den Söhnen der Wildniß geräumte Land wird Schritt für Schritt von den weißen Männern besetzt, und die europäische Cultur hält ihren Einzug in die Einöden Australiens. Ebenso weicht die einheimische Thierwelt vor der aus Europa eingeführten mehr und mehr zurück, und der Boden des Landes verliert mit jedem Jahre mehr von dem fremdartigen Aussehen, das er den ersten Besuchern des Continents darbot. Jetzt schon mag das Auge eines deutschen Landmannes mit demselben Wohlgefallen wie daheim auf den goldenen Weizenfeldern ruhen, und der Winzer vom Rhein kann der Trauben üppige Fülle bewundern, deren Weinertrag allerdings des Bouquets entbehrt, aber an Feuer und Süßigkeit noch über dem Capwein steht. Mandeln, Pfirsiche und Orangen gedeihen neben der Baumwollenstaude, dem indischen Zuckerrohre und dem Maulbeerbaume in demselben Boden, in dem nicht nur die uralten, riesigen Eukalypten, sondern auch die italienischen Pinien und die deutschen Eichen emporwachsen. Wo die Wildniß des Urwaldes über das Land gelagert war, da erheben sich jetzt blühende, gewerbreiche Städte, wo sonst der Fußpfad des Schwarzen durch die Gebüsche zog, jagt jetzt das Dampfroß auf eisernen Schienen dahin; wo der arme Eingeborene seinen schwachen Rindenkahn mit dem Speere fortruderte, da zieht stolz das Dampfschiff seine Furchen auf den schäumenden Wogen, und wo ein bedauernswürdiges Volk im harten Kampfe um’s nackte Leben untergeht, da gründet ein anderes Menschengeschlecht mächtige und freie Staaten.
Der größere Theil der arbeitenden Bevölkerung von Neusüdwales, welches nun fremde Gäste aus aller Welt nach Sydney geladen, hat sich bis jetzt allerdings mehr mit Gewinnung von Rohmaterial, besonders Gold und Wolle, als mit dessen Bearbeitung befaßt. Den jährlichen Wollertrag von 52 Millionen Schafen muß man auf mindestens 320 Millionen Zollpfund schätzen. Man sieht daraus, welche ungeheure Capitalien die Wollproduction nach Australien führen muß, andererseits aber auch, welche Gefahr der australischen Schafzucht durch die immer größere Dimensionen annehmende Production von Wolle in Peru, Ostindien, am Cap der guten Hoffnung, vorzugsweise aber in Südrußland droht.
Neben der Schafzucht wird aber auch in großartigem Maßstabe Rindvieh- und Pferdezucht betrieben. Bei der Rindviehzucht rechnet man auf die Häute, die Hörner und das Fett; die Pferde schafft man in großen Heerden nach Sydney oder Melbourne und verkauft sie mit 2 bis 10 Pfund Sterling das Stück, und zwar meist für den Transport nach Indien, wo diese muthigen und zum Ertragen der härtesten Strapazen geeigneten Thiere für die Cavallerie besonders gesucht sind. Zur Gewinnung des Fettes von Schafen und Rindern sind große Auskochanstalten, in neuester Zeit mit Dampf betrieben, in fast allen Weidedistricten eingerichtet. Das Vieh wird geschossen oder in der Viehbucht zusammengeschlagen, abgestreift, geviertheilt, in Stücke gehauen und darauf in große eiserne Kessel geworfen, welche 16 bis 24 Ochsen oder dreimal so viel Schafe auf einmal fassen.
In diesen wird der Talg ausgekocht, abgeschöpft und in Fässer gefüllt, welche alsdann nach England verschickt werden. Das bei dem Auskochen übrig bleibende Fleisch war früher völlig werthlos und ward höchstens als Dünger verbraucht; neuerdings hat man mit großem Erfolg präservirtes Fleisch nach Europa ausgeführt.
Die Goldgewinnung steht nicht mehr auf der Höhe früherer Jahre, sie erreicht indessen immer noch einen jährlichen Werth von 170 Millionen Mark.
Innerhalb der letzten Jahre haben auch Industrie und Gewerbe einen starken Aufschwung genommen, und man hat bereits in großer Maßstabe die Dampfkraft zur Hülfe herangezogen. Die Handwerker der Colonie können die erforderlichen Bedürfnisse schon ebenso gut und billig herstellen, wie dieselben von Europa oder Amerika bezogen werden; man zahlt in Neusüdwales zwar höhere Arbeitslöhne, bezieht dafür aber das Rohmaterial besser und billiger.
Die Fabriken, besonders für Leder, Schuhwerk, Kleider und Möbel, sind jetzt schon zahlreich und bedeutend. Außerdem bestehen Eisengießereien, mehrere Docks und Schiffswerften für die größten Schiffe, Fabriken für Seife und Tabak, Brauereien, Brennereien, große Anstalten für Fleischconserven u. dergl. m. Ausgeführt werden Wolle, Leder, Holz, Häute, Gold, conservirtes Fleisch und Fleischextracte, Thran etc.. Haupteinfuhrartikel sind Manufacte, Kaffee, Thee, Tabak, Glas und Porcellan, Eisenwaaren, Posamenten, Spielsachen, Bücher, Quincaillerien etc..
Im Jahre 1792 wurde es als ein Ereigniß von geschichtlicher Bedeutung angesehen, daß ein Handelsschiff in dem Hafen von Sydney ankerte. Im Jahre 1876 liefen 1145 Schiffe ein und 863 aus, und unter diesen 23 deutsche Fahrzeuge. Dampferlinien, durch 16 Gesellschaften vertreten, verbinden Sydney mit den Häfen der eigenen wie der anderen Colonien, ferner mit Honolulu, San Francisco, Point de Galle, Neucaledonien, den Fidschi-Inseln, Java und Singapur, England und Amerika.
Schon laufen Schienenstränge nach verschiedenen Theilen der Colonie, denen jährlich neue und bedeutende Strecken hinzugefügt werden. Eifrig wird an einer Verbindung mit der benachbarten Colonie Victoria gearbeitet; die Strecke von Sydney nach Melbourne soll im October des laufenden Jahres dem Verkehr übergeben werden.
Mit allen bedeutenderen Orten des Landes besteht telegraphische Verbindung, ebenso wie mit Brisbane, Melbourne, Adelaide, Port Darwin, Neuseeland. Telegramme von Europa und Amerika werden in den täglichen Zeitungen Sydneys veröffentlicht, sodaß die Colonisten oftmals vielleicht eher von dem Stande der Marktpreise und den Tagesneuigkeiten in Kenntniß gesetzt sind, als die Bewohner vieler kleiner europäischer Städte. Ich könnte die Liste der beachtenswerthen Leistungen von Neusüdwales und von den übrigen australischen Staaten noch weiter führen. Aus dem Gesagten aber ergiebt sich schon zur Genüge, wie wichtig für den Handel jene Colonien geworden sind.
Es hat neuerdings nicht an Aufforderungen gefehlt, die Ausstellungen in Sydney und Melbourne mit Erzeugnissen deutscher Industrie zu beschicken, um uns neue Absatzgebiete zu eröffnen, wie dies die Vereinigten Staaten bereits mit großem Erfolg gethan haben. Die deutsche Reichsregierung unterstützt diese Bestrebungen und entsendet einen eigenen Commissar zur Wahrung der Interessen der Aussteller.
Wir haben uns bei den Wettkämpfen der Völker nicht wieder sehen lassen, seit uns Reuleaux’s Ausspruch „billig und schlecht“ brandmarkte. Unter der Führung desselben Mannes soll uns jetzt Gelegenheit werden, den verlorenen Ruf wieder zu gewinnen; möge sie reichlich und zum Ruhme Deutschlands benutzt werden!
Unsere Wahl ist unser Schicksal. Und sind wir auch frei in unserer Wahl? Und gerade dort frei, wo diese Wahl für unser Leben von tief eingreifender Bedeutung und Bestimmung ist? Angeborene Charakteranlagen beeinflussen uns; Erlebnisse und Schicksale steigern diese; eine verlangende Stimmung, eine sehnsuchtsvolle Erwartung beherrscht unser Inneres, und da führt uns Zufall oder Geschick das entgegen, wonach wir ahnend ein dunkles Verlangen in uns tragen, und wir geben uns ohne Widerstreben dem süßen, mächtigen Zwange hin – unser Schicksal hat für lange, oft für immer, seine Richtschnur und sein Ziel
[355] gefunden. So geht es mit der Liebe – so geht es dem Dichter in seiner halb willenlosen Wahl eines dichterischen Stoffes, der über ihn kommt, ihn nicht mehr losläßt, ihn mächtig reizt und bezwingt, bis er selbst, in mehr oder minder qualvollem Schöpfungsdrange, ihn bezwungen hat.
Franz Grillparzer, der berühmte Wiener Dramatiker, hatte am 31. Januar 1817 seine erste Tragödie „Die Ahnfrau“ im Theater an der Wien zum Vortheile der Hofschauspielerin Sophie Schröder zur Aufführung gebracht.
Der Erfolg war ein außerordentlicher, mit einem Schlage war der Name des damals sechsundzwanzigjährigen Dichters zu hohem Ruhme gelangt; im Sturmschritte ging das erschütternde Trauerspiel über alle deutsche Bühnen; eine wahre Fluth sich widersprechender Urtheile wogte hin und her durch alle Journale, und Tolles und Absurdes, Gelehrtes und Schönes wurde über dieses Erstlingswerk geschrieben. Ein „Schicksalsdichter“, ein „Nachtreter Houwald’s, Werner’s und Müllner’s“ – das war die Signatur, die man dem verblüfften Dichter auf die Stirn drückte. Vergebens eiferte Grillparzer dagegen; vergebens erklärte er in der Vorrede, die er der ersten Ausgabe seines Stückes beigegeben, „die Schule nicht zu kennen, zu der man ihn zu zählen beliebe, und nicht zu wissen, mit welchem Rechte man einen Schriftsteller, der ohne Anmaßung und ohne Zusammenhang mit irgend einer Partei zum ersten Male im Publicum auftrete, Ungereimtheiten zur Last lege!“. Es half nichts. „Die Ahnfrau“ blieb eine Schicksalstragödie; er selbst gehörte dieser von ihm perhorrescirten dramatischen Richtung an, und um sich herum mußte er von Neid und Mißgunst, die den außerordentlichen Erfolg und den dichterischen Werth seines Erstlingswerkes nicht ableugnen konnten, die Ueberzeugung aussprechen hören, daß sein Talent wohl nur so weit reiche, um mit Räubern, Gespenstern und Knalleffecten eine Wirkung zu erzielen, daß aber, wenn er einen einfachen Stoff wählen und mit einfachen, wahrhaft menschlichen Conflicten arbeiten würde, die Unzulänglichkeit seines weit überschätzten Talentes sich gewiß unverkennbar herausstellen werde.
Grillparzer war eine leicht verletzbare, gegen Lob gleichgültige, bei niederm Tadel aber in seinem Selbstgefühle sich aufbäumende Dichternatur. So fühlte er sich durch die gedruckte und gesprochene Kritik alle Schaffensfreude verkümmert, und wie später in die dramatischen Werke der Spanier, so versenkte er sich jetzt, um die angethane Unbill zu vergessen, in die Welt der griechischen Dramatiker, unter welchen Euripides damals seinem Herzen am nächsten stand.
An einem Herbstabende 1817 schritt Grillparzer nachdenklich durch die Jägerzeile dem Prater zu. Seine Stimmung war eine verbitterte; er war mit sich selbst unzufrieden; sein ganzes Leben erschien ihm ziel- und zwecklos, und nichts lag ihm jetzt ferner, als die Idee, je wieder ein Drama für das deutsche Theater zu schreiben und auf’s Neue seine unbeschützte, für jeden Pfeilritz so empfindliche Brust den rücksichtslosen Angriffen einer seine Absichten verkennenden Kritik preiszugeben.
Da begegnet ihm ein Bekannter, der damals schon ältliche Dr. Joël, der sich ihm anschließt und ihm im Namen des Componisten Weigl den Vorschlag macht, für diesen einen Operntext zu schreiben. Dieser Vorschlag hatte für den Dichter nichts Lockendes. Wie nahe er auch der Musik stand, wie er auch die Tiefe und Schönheit der Tonkunst in seinen Gedichten feierte, einen Text zu liefern, den ein Tonmeister musikalisch illustrire, diesen Ehrgeiz fühlte er nicht in sich. Er hat in späteren Jahren es nur einmal versucht, aber der Meister, für den er es that, war sein vergötterter Beethoven; es war der Operntext „Melusine“, den er damals schrieb, ein, wie wir gleich hier ehrlich gestehen wollen, mangelhaftes Libretto. Beethoven, wie oft er auch daran gegangen zu sein versicherte, hat „Melusine“ niemals componirt.
So schüttelte denn Grillparzer Dr. Joël gegenüber verneinend den Kopf. Der gute Mann aber ließ sich nicht abweisen, redete dem Dichter, ihn bis in den Eingang der Praterallee begleitend, immer von Neuem zu und meinte: Er habe ein ganz passendes Sujet schon selbst gefunden.
„Und dieses Sujet wäre?“ fragte Grillparzer.
„Sappho, die unglückliche Dichterin,“ und nun setzte er ihm aus einander, wie die Einfachheit des Stoffes, die Concentrirung desselben auf eine einzige Leidenschaft: die Liebe, der opernhafte Abschluß mit dem Sprunge vom Leukadischen Felsen dieses Sujet für ein Opernlibretto so recht empfehle.
Und Grillparzer blieb einen Augenblick sinnend stehen; er sah den poetischen Rathgeber mit den eigenthümlichen blauen Augen, aus denen der Blitz der Begeisterung hervorbrach, an, und aus den Lippen, die fieberhaft vibrirten, stieß er die Worte hervor:
„Das ist kein Opernstoff; das ist der Stoff zu einer Tragödie.“
Die willenlose Wahl war getroffen; sein Herz glühte; Gestalten begannen sich in seinem Hirne zu regen, und ohne Wort, ohne Gruß ließ er den erstaunten Begleiter stehen und eilte in das unwegsame Waldesdickicht der Prater-Auen hinab.
Es war tiefe Nacht, als er in seine Wohnung zurückkehrte. Eine im Schottenhof wohnende alte Tante hatte ihm ein Zimmer, das sie nur den Tag über benutzte, zum Schlafen überlassen. Dahin schlich er; alles im Hause schlief bereits, und mit blasser Tinte, auf grobem Conceptpapier begann er mit fieberhafter Hast die ersten Scenen der „Sappho“ niederzuschreiben. Gedanken und Verse kamen von selbst; er hätte nicht schneller abschreiben können, als er diese Dichtung in schaffensfreudiger Begeisterung entwarf. Bis nahe dem Schlusse des ersten Actes wurde von ihm die Dichtung in einer einzigen Nacht gebracht. Am folgenden Morgen eilt er nach kurzem Schlafe, wie im Halbtraume, keines andern Gedankens fähig, in die Hofbibliothek.
Fünfzig Jahre später zeigte mir der Dichter in dem herrlichen, säulengeschmückten, mit den wunderbaren Fresken Graun’s gezierten großen Bibliotheksaale die Stelle, wo er damals gestanden und dem Bücherschranke eine griechische Anthologie entnommen, welche die Bruchstücke der muthmaßlich Sappho’schen Gedichte enthielt. Dort hatte er, wie er versicherte, aus dem Stegreife und mit zitternder Hand die schönen Verse übersetzt, welche den Schluß des ersten Actes seiner Tragödie bilden:
„Golden-thronende Aphrodite,
Listen ersinnende Tochter des Zeus,
Nicht mit Angst und Sorgen belaste,
Hocherhab’ne, dies pochende Herz!“ etc.
Grillparzer hat von seiner poetischen Begabung oft behauptet, sie komme ungerufen und verlasse ihn oft mitten in der Arbeit, wenn er ihrer am nothwendigsten bedürfe. So hat er sein „Goldenes Vließ“ erst nach langen Unterbrechungen beendigt; so lag der erste Act von. „Der Traum ein Leben“ jahrelang in seinem Pulte, ehe er die Stimmung fand, die weiteren Acte daran schließen zu können.
Diesmal aber kam in seine Schaffenslust keine Unterbrechung; wie ein tägliches Pensum absolvirte er Scene um Scene, und nach drei Wochen konnte er unter die Schlußworte seiner „ Sappho“:
„Es war auf Erden ihre Heimath nicht;
Sie ist zurückgekehret zu den Ihren!“
tief aufathmend, die Worte setzen. „Der Vorhang fällt. Ende.“
Das Stück wurde nun dem freisinnigen, mit dem Dichter innig befreundeten Leiter des Hofburgtheaters, Joseph Schreyvogel, übergeben und schnell zur Aufführung angenommen. Man ging an die Besetzung der Rollen. Wer sollte die Sappho spielen? Sophie Schröder, die Einzige, die dafür, wenn auch nicht durch äußere Erscheinung, so doch durch geistige Kraft, Macht der Leidenschaft und vollendete Gabe der Declamation wie geschaffen war, hatte wegen eines bei ihr periodisch wiederkehrenden Zerwürfnisses mit der Direction Wien verlassen, und Madame Löwe, an die man allein unter diesen Verhältnissen denken konnte, war wohl eine vortreffliche Schauspielerin, doch der Rolle der Sappho nicht gewachsen. Und dennoch hätte sie dieselbe spielen müssen, und wie hätte sich dann der Erfolg der ersten Aufführung, der meist für immer entscheidenden, gestaltet?
Aber ein glücklicher Stern leuchtete der unglücklichen Dichterin von Lesbos: Sophie Schröder kehrte nach Wien, der Stätte ihres künstlerischen Ruhmes, zurück; sie las die „Sappho“; sie erkannte, diese Rolle sei für sie „ein Adlerfutter“; sie war ganz Feuer und Flamme für Rolle und Stück und entflammte mit ihrer Begeisterung alle Anderen.
Wer aber sollte die Melitta darstellen, dieses anmuthige Naturkind, diese reine Mädchenknospe, die sich vor unseren Augen, unter dem Hauche der Liebe, zur Rose erschließt? – Grillparzer wählte sich für diese Rolle Madame Korn, eine Schauspielerin, weit über die Blüthe der ersten Jugend hinaus, vortrefflich als Soubrette im Lustspiele, in der versificirten Tragödie aber bis [356] dahin niemals verwendet. Diese Wahl des Dichters erregte große Verwunderung, und man versprach sich nichts Gutes davon. Es kam ein Augenblick, wo auch Grillparzer zu fürchten begann, daß seine Wahl eine unglückliche gewesen. Lassen wir uns dies vom Dichter selbst erzählen:
„Es war bei der dritten Probe … Ich saß im finsteren Parterre allein auf einem Sperrsitze … Da, zwischen dem vierten und fünften Acte, wo man mit Vorrichtungen für den Sturz vom Leukadischen Felsen längere Zeit hinbrachte, raschelt es plötzlich neben mir. Ein Frauenzimmer hat sich neben mich gesetzt; sie fängt an zu reden; es ist Madame Korn.
‚Sagen Sie mir doch,’ hebt sie an, ‚haben Sie sich denn die Melitta so gedacht?’
‚Aufrichtig gesagt,’ erwiderte ich: ‚Nein!’
‚Aber wie soll ich sie denn sonst spielen?’ fährt sie fort.
‚Ich glaubte, Sie würden sie spielen, wie Sie Ihre übrigen Rollen spielen.’
‚Aber mein Mann und die Schröder sagen, im griechischen Trauerspiel müsse Alles gehoben sein.’
‚Da haben Ihr Gemahl und die Schröder allerdings Recht, aber der Vers, die Umgebung – ich hätte hinzusetzen können, Ihr unvergleichliches Talent – werden schon die nöthige Hebung hineinbringen, ohne daß Sie sich deshalb besondere Mühe zu geben brauchen.’
‚Aber,’ sagt sie weiter, ‚das Stück wird morgen schon gegeben; wie soll ich denn die ganze Rolle umlernen?’
Das wußte ich freilich nicht, meinte aber, sie sollte wenigstens so viel wie möglich von ihrem natürlichen Tone hineinbringen. – Damit ging sie fort, warf über Nacht die ganze ihr aufgedrungene Ansicht der Rolle von sich und war bei der Aufführung so über alle Beschreibung liebenswürdig, daß sie die Krone des Abends davontrug.“
Am 21. April 1818 wurde Sappho zum ersten Mal am Burgtheater gegeben und erregte die größte Sensation.
Der Dichter selbst hatte sich nur ein einziges Mal sein Erstlingswerk: „Die Ahnfrau“ vom Zuschauerraum angesehen, aber der Eindruck der Vorstellung war für ihn ein unangenehmer, ja geradezu widerlicher gewesen, und er hatte sich fest vorgenommen, nie wieder dieser marternden Empfindung sich auszusetzen. Während der ersten Aufführung seiner Stücke schritt er von nun an, immer den Dialog, ohne es zu wissen, vor sich hin recitirend, hinter den Coulissen auf und ab und verließ auch zeitweilig, wenn seine Aufregung zu groß wurde, das Theater, sich in frischer Luft durch einen Spaziergang auf die Basteien zu erholen. Kehrte er dann auf die Bühne zurück, so war seine erste Frage: Wie es denn draußen gehe?
Die Mutter des Dichters saß am ersten „Sappho“-Abende auf einem Sitze in der dritten Gallerie; sie wurde erkannt, von Einigen aus dem Publicum umringt und ihr zu ihrem Sohne und zu seinem heutigen glänzenden Erfolge Glück gewünscht, sodaß die gute Frau, vor Freude weinend, ihrem Franz, den sie nach beendeter Vorstellung am Ausgange des Theaters erwartete, um den Hals fiel.
Der Eindruck, den die „Sappho“ machte, war ein großartiger. „Mit der Kritik,“ schreibt Grillparzer in seiner Selbstbiographie, „kam ich diesmal sehr gut zurecht. Höchstens meinten Einige, das Stück sei nicht griechisch genug, was mir sehr recht war, da ich nicht für Griechen, sondern für Deutsche schreibe.“
Aber auch im Publicum war die Wirkung eine durchschlagende. Aus den Papieren und Briefen, die sich im Nachlasse Grillparzer’s fanden, seien hier einige, bisher unveröffentlichte, sich an „Sappho“ knüpfende Documente mitgetheilt.
Die Dichterin Karoline Pichler, in deren Hause Grillparzer um diese Zeit oft musicirend seine Abende zubrachte, schreibt ihm unmittelbar nach der Aufführung:
„Mitten unter den glückwünschenden Freunden und Bekannten, die sich heute um Sie drängen und die Siegesfeier des gestrigen Abends durch ihre Bemerkungen und Lobeserhebungen wiederholen und verlängern werden, soll auch dies Blatt erscheinen und Ihnen die herzliche Theilnahme einiger Menschen bringen, welche zwar nicht so laut und stürmisch, aber darum nicht weniger tief Alles, was gestern die Menge fühlte und Ihnen zeigte, mitempfunden. Nehmen Sie von uns Allen die wärmsten Glückwünsche an! Mir haben Sie einen genußreichen, aber nicht frohen Abend gemacht, außer in so weit, als der rauschende Beifall des Publicums und das Anerkennen Ihrer hohen Talente mir Freude machen mußte. Ich war erstlich zu aufgeregt und unruhig durch Alles, was vorging im Theater, und dann – durch Sappho’s Schicksal und das gefolterte Dasein Melitta’s nach dem durch sie veranlaßten Tode ihrer Wohltäterin zu verstimmt, als daß selbst das Triumphgetöse, mit dem das Publicum Sie zu sehen verlangt hatte, jene Stacheln ganz hätte beschwichtigen können. Warum quälen Sie die Menschen so gerne, so anhaltend, so unheilbar? Ich hätte viel, viel mit Ihnen zu zanken. Mit Ihrer Sappho und Melitta waren Sie wohl ganz zufrieden? Die Korn hat ganz unübertrefflich gespielt, und in Schröder-Sappho sah ich Madame Staël, nach allen Individualitäten, die ich an dieser Frau weiß. Gut, menschlich, großmüthig, hingebend, leidenschaftlich, unbedacht in der Wahl ihrer Liebe, eifersüchtig und durch die Kunst dem Leben, wie der Weiblichkeit entfremdet, eine Frau, die, wie J. Paul sagt, ‚liebt wie ein Mann und geliebt sein will wie eine Frau.’ Melitta aber ist ein Himmelshauch, verkörpert in einer holden Mädchengestalt; so hat sie die Korn nach meinem Gefühle auch gegeben. Mit Phaon-Korn bin ich nicht zufrieden; er hat kalt, theilnahmlos, besonders im Anfange, gespielt. Leben Sie nun recht wohl! Ich sage nichts von Wiedersehen; jetzt gehören Sie der Kunst und nicht dem Leben und nicht denen, die gerne mit Ihnen sein möchten.“
Bereits am 22. April richtete die Direction des Burgtheaters nachfolgende Zuschrift an „Herrn von (sic) Grillparzer, Conceptspraktikanten der k. k. allgemeinen Hofkammer“:
„Die Anerkennung eines so ausgezeichneten Talentes, als der Verfasser der ‚Sappho’ beweiset, ist eine angenehme Pflicht für jeden Freund der Kunst; um so erfreulicher ist es mir, Ihnen für den seltenen Genuß, den ich bei der Darstellung dieses Trauerspiels mit allen Gebildeten theilte, zugleich im Namen des k. k. Hoftheaters danken zu können. Sappho hat die Erwartungen vollkommen gerechtfertigt, welche schon Ihre erste Arbeit von Ihren dramatischen Talenten erweckte, und Wien darf schon jetzt auf einen jungen Mitbürger stolz sein, den bald ganz Deutschland unter seine vorzüglichsten Dichter zählen wird. Es macht mir Vergnügen, Ihnen durch die nachträgliche Erhöhung des Honorars für die Sappho einen Beweis geben zu können, welchen hohen Werth die Direction auf dieses schöne Werk legt, und ich ersuche Sie hiermit, den desfälligen Betrag von 400 Gulden gegen Ihre Quittung an der k. k. Hoftheatercasse erheben zu lassen.“
Graf Stadion, der damalige Finanzminister, ein Gönner Grillparzer’s, darauf bedacht, die ökonomische Lage des jungen Dichters zu verbessern, veranlaßte, daß das Hoftheater einen für diesen überaus günstigen Vertrag mit ihm abschloß, in welchem ihm eine jährliche Bestallung von tausend Gulden Wiener Währung zugesichert wurde.
Auch mitten aus dem Publicum heraus sollte der Dichter einen werkthätigen Beweis erhalten, wie tiefgehend die Wirkung seiner Dichtung gewesen, wie sich die Theilnahme der Besten und Edelsten mit ihm beschäftigte.
Am 1. Mai jenes Jahres, einem wahren Glückstage seines Lebens, erhielt er folgendes Schreiben:
„Eine Gesellschaft dramatischer Kunstfreunde fühlt sich berufen, ihre Schuld für mehrere genußreiche Abende, welche Ihr vortreffliches Gedicht ‚Sappho’ ihr gewährte, thätiger als durch leeren Weihrauch der Bewunderung abzutragen. Selten sind himmlische und irdische Güter gleichmäßig vertheilt, und sie sollten sich stets schwesterlich die Hände reichen, um auszutauschen, was den Reiz des Lebens erhöhet. Ohne Scheu und Bedenken darf daher wahres, über Schmeichelei oder Spott erhabenes Verdienst ein Opfer inniger Verehrung annehmen, und als solches ist die Gesellschaft so frei, Ihnen die beiliegende Bankactie anzubieten. Möge dieses Schärflein Andere zum Wetteifer spornen, die Muße des Dichters zu sichern, jedes Wölkchen von Nahrungssorge zu zerstreuen, welches seine heitere Welt trüben könnte, und so die schönen Hoffnungen verwirklichen helfen, wozu sein hohes Talent berechtigt!“
Der Ruf der „Sappho“ verbreitete sich rasch über Deutschland, und die Theater beeilten sich mit deren Aufführung.
Noch im April schrieb der kunstsinnige Leiter des Berliner Hoftheaters, Graf Brühl, an den Dichter:
[357] [358] „Bei meiner Anwesenheit in Dresden ist mir Ihr neuestes Trauerspiel ‚Sappho’ durch den Herrn Hofrath Böttiger im Manuscript mitgetheilt. Ich habe dasselbe gelesen und bin von dem Inhalte der Dichtung so ergriffen, daß ich beschlossen habe, sie ohne Säumen zur Aufführung zu bringen. Gleich wie in Goethe’s ‚Iphigenie’ man den griechischen Tragödiendichter nicht verkennt, habe ich auch in Ihrer ‚Sappho’ denselben wiedergefunden, und es wird mit zu meinen schönsten Pflichten gehören, dem größern Publicum recht bald den Hochgenuß bereiten zu können, den ich schon beim Lesen gehabt habe.“
Neben so viel Auszeichnung und Anerkennung treten aber auch Neid und Mißgunst, die unzertrennlichen Nachfolger jedes großen theatralische Erfolges, bald genug an den Dichter heran.
Insbesondere war es eine Kritik Müllner’s, des Dichters der „Schuld“ in dem „Mitternachtsblatte“, welche über das Stück vom Anfange bis zum Ende den Stab brach, nachdem derselbe Verfasser, der hier so unbarmherzig über die Dichtung aburtheilte, erst kurz vorher in mehreren Briefen an Grillparzer sein feuriges Lob über die Mitte und das Ende dieser Dichtung niedergelegt und nur den Anfang als mißlungen erklärt hatte.
Grillparzer schreibt in seinem Lebensberichte: „Ich hätte nichts gebraucht, als seine (Müllner’s) früheren lobenden Briefe drucken zu lassen, um ihn durch sich selbst zu wiederlegen. Ich that es nicht, wie ich überhaupt auf Kritiken nie geantwortet habe, nicht aus Aengstlichkeit, sondern aus Verachtung.“
Das Letztere möchte denn doch nicht so ganz richtig sein. Grillparzer hatte wiederholt auf literarische Angriffe Antworten niedergeschrieben, die sich unter seinen Papieren vorgefunden. In seiner leidenschaftlichen, durch Tadel hervorgerufenen Aufregung warf er, um sich von seiner gereizten Stimmung zu befreien, die schärfsten und treffendsten Erwiderungen auf’s Papier. Hatte er aber durch das Aussprechen die Erleichterung gefunden, so vergrub er das Blatt unter seine Papiere; der nachhaltige Grimm, stark genug, den Gegner auch öffentlich anzugreifen, der Muth eine Zeitungspolemik hervorzurufen und ihr Stand zu halten, fehlte ihm.
Wie sehr er mitten unter den Lobeshymnen, die seiner „Sappho“ ertönten, ein feines, nur allzuempfindliches Ohr für jeden Tadel behielt, beweist die Vorrede, welche er für die Buchausgabe der Dichtung entworfen, aber seiner scheuen, jeden Eclat vermeidenden Natur gemäß nicht veröffentlicht hatte, und welche ich in der von mir und Dr. Heinrich Laube besorgten ersten Gesammtausgabe seiner Werke als Anhang der Selbstbiographie im zehnten Bande abdrucken ließ. Aus dieser an seinen Freund Schreyvogel gerichteten Dedication möge folgende Stelle hier Platz finden:
„Ich will kein Schriftsteller sein und heißen, will nicht zünftig werden in der ehrbaren Gilde, will mir keinen Namen bauen aus Correspondenzartikeln, Theaterberichten, und dann die Zähne blecken gegen Jeden, der das wackelnde Kartenhaus antastet, will nicht jedem Hämischen oder Narren Rede stehen, der gegen mich in einem Tageblatte zu Felde zieht.“
Grillparzer hat noch manches herrliche dramatische Werk geschaffen, aber etwas Harmonischeres, Gedankenreicheres, bei aller Einfachheit der Composition bis zur letzten Scene Fesselnderes, als seine „Sappho“ kaum. Jetzt, nach mehr als sechszig Jahren, ist diese Dichtung noch immer eine Zierde des deutschen Repertoires, insbesondere des Wiener Burgtheaters, wo sich in der Repräsentation der Titelrolle die berufensten Künstlerinnen ablösten. Der Sophie Schröder folgte Julie Rettich, und heute feiert die geniale Charlotte Wolter in dieser Rolle Triumphe.
Zum Schluß mögen hier die Aussprüche zweier bedeutender Männer über Grillparzer’s „Sappho“ einen Platz finden – Ludwig Börne’s und Lord Byron’s.
„Eine köstliche Frucht in goldener Schale“ ist dem Frankfurter Kritiker dieses dramatische Gedicht. „Soll ich noch sprechen von dem holden Zauber in allen Reden unseres Dichters?“ sagt er, „von dieser bald milden, bald glühenden Farbenpracht? Von der Tiefe und Wärme seiner Empfindungen? Dieser wundervolle, paradiesische Garten ist genug gepriesen, wenn ich ihm den Fruchtmarkt anderer neuen Dichter gegenüberstelle …“
Und Lord Byron schreibt in sein Tagebuch, Ravina, 12. Juni 1821:
„Mitternacht! – Ich las Guido Savelli’s italienische Uebersetzung der ‚Sappho’ Grillparzer’s. Grillparzer, ein teuflischer Name, doch man wird ihn aussprechen lernen müssen. – Grillparzer ist groß, antik, nicht ganz so einfach wie die Alten, doch sehr einfach für einen Neuen. Hier und da ein wenig zu Madame de Staëlisch, aber im Ganzen schreibt er erhaben und anziehend. Der Mann hat etwas Großes vollbracht, indem er dieses Stück schrieb. Und wer ist er? Ich kenne ihn nicht, doch die Zeiten werden ihn kennen.“
„Gestorben am 4. April 1879 Elisabeth Patterson-Bonaparte, vierundneunzig Jahre alt,“ so lautet heute die einfache Zeitungsannonce, die uns den Tod einer merkwürdigen, historischen Persönlichkeit mittheilt. Der Mitwelt war sie längst zur Tradition geworden. Still, unbeachtet, fast verschollen, führte sie zuletzt ein einsames Leben, und es schien, als habe der Sensenmann sie vergessen. Eine Greisin, beinahe ein Jahrhundert alt, hatte sie Generation nach Generation vor sich in’s Grab sinken sehen, und wie ein kahler, entlaubter Stamm auf der Höhe des Alters stehend, blickte sie entfremdet die Kinder unserer Zeit an, die sich mit anderen Problemen abmühten, als denen, die ihr ganzes Leben ausgefüllt.
Die traurige romantische Jugendgeschichte dieser modernen Hagar hat die „Gartenlaube“ ihren Lesern schon 1861 (Nr. 7) und 1870 (Nr. 24) geschildert; wir können uns hier an ein paar flüchtigen Rückblicken genügen lassen. Geliebt und verlassen von dem jungen wankelmüthigen Jerôme, der ihr, als man auf Napoleon’s Befehl sie nicht in Lissabon mit ihm landen lassen wollte, vorgespiegelt hatte, er reise nur nach Paris, um seines mächtigen Bruders Zustimmung zu der gegen dessen Willen abgeschlossenen Verbindung zu ertrotzen – war sie damals nach England geeilt, um dort die Rückkehr ihres Gatten und die Geburt des Kindes, das sie unter ihrem Herzen trug, zu erwarten.
Glaubend, hoffend und zukunftssicher kam sie in Camberwell an, und schon wob ihr ehrgeiziger junger Kopf die hochfliegendsten Pläne einstiger Größe. Ja – ihr erster Schritt war der, sich, wie das ihrem Range, als Schwägerin des größten Potentaten der Erde, der die Seinen mit Kronen schmückte, zukam, einen eigenen kleinen Hofstaat anzulegen.
Noch baute sie so sicher auf Jerôme’s Treue, daß ihr ein möglicher Verrath an ihr gar nicht in den Sinn kam. War sie doch erst seit kaum anderthalb Jahren die Seine, und war doch seine Liebe zu ihr in jeder Weise bewährt. Ja damals, als der Befehl seines Bruders ihn zuerst zur Rückkehr zwang, hatte er in Baltimore sofort darauf bestanden, daß ihr Bild gemalt werde, und zwar in drei verschiedenen Posen, damit, „wenn sie Amerika verlassen habe und später in Europa die Stellung einnehme, die ihrem Geiste und ihrer Schönheit gebühre, man auch hier nie vergesse, daß Elisabeth das schönste Weib ihres Vaterlandes gewesen sei“.
Dieses Bild befindet sich heute in den Räumen der historischen Gesellschaft von Maryland. Es ist in Medaillonform gemalt und zeigt uns in der Mitte das holde Antlitz en face, an den Seiten im halben und ganzen Profil; es hängt neben dem ihres jungen Gatten Jerôme, dessen hübsche, unbedeutende, sinnlich heitere Züge neben diesem Charakterkopfe keineswegs geistig ebenbürtig erscheinen. Wer Elisabeth’s Bild genau betrachtet, begreift, daß das Urbild dieser Anmuth, dieser Formenvollendung und dieser Jugendlieblichkeit alle ihre Zeitgenossinnen in den Schatten stellte. Ja, man ahnt zugleich, daß die Gedankenschärfe hinter der klaren gewölbten Stirn, der Geist und die Urtheilskraft, die dem dunklen Auge entstrahlen, vielleicht auch die Frauen des napoleonischen Hauses verdunkelt haben würde, wenn das Schicksal ihr einen Platz unter ihnen angewiesen hätte. Das edelgebildete Haupt ruht auf stolzem Nacken. Eine classische Stirn umspielt dunkler Locken Fülle; die Nase ist leicht gebogen, und um die fast hochmütig geschwungenen Lippen des kleinen Mundes spielen dennoch Grazie und feine Anmuth. Das Kinn ist fest und scharf, wie aus rosig durchädertem Marmor gemeißelt, trotz der zarten Rundung. Und dies Alles krönt ein so feuriges, dunkles Augenpaar, daß man bei seinem Anblicke begreift, wie selbst die Thränen eines halben Jahrhunderts ihren Glanz nicht ermatten und erlöschen konnten.
Sei es nun, daß Jerôme in seiner Charakterschwäche nicht wagte, Napoleon zu opponiren, sei es, daß sein wankelmüthiges Herz sich von den festen Zügeln, die sein charaktervolles Weib ihm angelegt hatte, ohne großen Kampf loslösen konnte – genug, er kehrte nicht zu Elisabeth zurück. Er kam auch dann nicht, als sein Sohn, Jerôme Bonaparte, am 7. Juli 1805 geboren wurde.
Umsonst wandte sich das schmählich betrogene, zu Tode gekränkte junge Weib an den Vater ihres Kindes um die Erfüllung seiner Gatten- und Vaterpflichten; umsonst flehte sie um Gerechtigkeit bei Napoleon dem Ersten selbst. Stumm und hart wie Stein blieb der große Kaiser; was galt ihm, der die Geschicke der Völker lenkte, das zertretene Glück eines der Politik geopferten Weibes? Und Jerôme? Nun, zuerst regte sich wohl sein Gewissen, und er vertröstete sie in seltenen Briefen auf die Zukunft – und dann folgte er herzlos dem Beispiel des Familienoberhauptes. Er schwieg und vergaß bei neuen Liebesgeschichten, bei Glanz und Genuß sein rechtmäßiges Weib, das ihm, dem Katholiken, [359] doch vom höchsten Würdenträger seiner Kirche in Amerika für das Leben angetraut war.
Elisabeth Patterson-Bonaparte begriff endlich ihr Geschick. Was ihr Herz dabei gelitten, hat die Welt nie erfahren. Wahrhaft königlich, obschon ihr Haupt nie die Krone, die ihr zukam, geschmückt hat, groß und stolz ertrug sie es; denn ihre Natur war königlich beanlagt, und für die Gemeinheit, die man ihr angethan, hatte sie nur Verachtung. Sie wandte sich für immer ab von dem großen Hause mit seiner gewissenlosen, erbärmlichen Staatsklugheit, die über Verbrechen zu ihrem Ziele schritt, und nie mehr hörte ihr Gatte oder irgend eines der anderen Glieder desselben wieder direct von ihr. Wohl vertrat sie später noch die Ansprüche und Rechte ihres Sohnes in französischen Gerichtshöfen, weil sie das für Mutterpflicht hielt, aber unnahbar und schroff wies sie jeden Compromiß, jede Entschädigung von sich, welche die Napoleoniden ihr selbst später zu verschiedenen Zeiten anboten. Ja, von der Stunde an, als ihr Sohn von seinem Vater ein bedeutendes Jahrgeld acceptirte, entfremdete das ihm selbst die stolze Mutter. Nicht Geld wollte sie – sie wollte ihr Recht; sie wollte ihren Sohn anerkannt und die kirchlich ungültige spätere Ehe Jerôme’s mit der Prinzessin Katharina von Württemberg auch staatlich annullirt sehen. Denn der Papst hatte sich trotz Napoleon’s Befehl nie dazu verstanden, Jerôme’s Verbindung mit der Amerikanerin aufzulösen.
Und so verließ denn die Verstoßene mit ihrem Ismael damals die Gestade Europas und kehrte nach Amerika heim, noch jung, noch schön und genußfähig, und doch verschmäht, vereinsamt und zukunftsarm. Für sie war das Leben fortan eine Wüste, und ihre Pilgerfahrt sollte, ohne Lebensfreudigkeit, ohne versöhnende Momente, noch über siebenzig Jahre währen – eine grausame Buße für die Sünde, kurze Monden einen Unwürdigen geliebt zu haben.
Die nächsten zwanzig Jahre widmete sie ganz der Erziehung ihres Sohnes, der – eine Schicksalsironie! – die frappanteste Aehnlichkeit mit seinem großen Ohm besaß, das heißt wohl nur äußerlich. Den Studien ergeben, lebte er, nachdem er Jurisprudenz studirt, nur der Verwaltung seiner Güter und theilte nicht die ehrgeizigen Pläne, welche noch immer und bis zum Ende das unruhige Hirn der Mutter füllten. Er starb 1872 am Halskrebs und hinterließ zwei Söhne, von denen der ältere in französische Kriegsdienste trat, während der jüngere Jurist in Baltimore ist.
Frau Elisabeth lebte still und zurückgezogen und so äußerst einfach, daß man sie hätte für arm halten können, wenn man nicht gewußt hätte, daß sie enorm reich sei. Anfangs nur wohlhabend durch Erbschaft, dankte sie es später der eigenen meisterhaften Verwerthung ihres Capitals, daß sie reich und immer reicher wurde. Niemand bewies mehr Scharfblick, pecuniäre Vortheile zu erzielen und sich billigen Grundbesitz anzueignen, der oft schon nach kurzer Zeit zum zehnfachen Werthe stieg, als sie. Allein sie widmete auch dieser Bereicherung ihre ganze Zeit – sie verwaltete ohne Agenten das ungeheure Vermögen. Ihr Finanzgenie wurde sprüchwörtlich. Man sagt, das Geld selbst sei ihr gleichgültig gewesen; sie habe stets nur geknausert und geschachert, um bereit zu sein, wenn das Schicksal endlich ihr die Revanche an den Napoleoniden biete, die sie fest erwartete, mit Glanz und Macht handeln zu können. So klug, so scharfsichtig diese Frau auch war, sie glaubte unumstößlich, daß ihrer Enkelsöhne einer berufen sei, sie zu rächen. „Denn,“ pflegte sie zu sagen, „Frankreich vergißt es nie, daß es dem ersten Kaiserreich seine größte ‚Gloire’ verdankt, und es strebt darum immer wieder nach der Herrschaft der Napoleoniden. Der europäische Zweig der Familie aber ist unmöglich geworden, und naturgemäß ist es denen, die eine republikanische Erziehung genossen haben, vorbehalten, die verschiedenen politischen Fractionen wieder unter ihrem Regime zu vereinen.“ Und geradezu zur Fatalistin machte sie der feste Glaube, daß sie selbst dies noch erleben würde. Uebrigens war sie, abgesehen von dieser Marotte, bis zu ihren letzten Tagen von einer Geistesfrische, einer Schärfe und Feinheit des Urtheils, daß Niemand, der sie kannte, es sonderbar fand, als die Gräfin vor einigen Jahren noch begann, ihre Memoiren zu schreiben und für den Druck vorzubereiten.
Mit vieler Spannung erwartete man deren Veröffentlichung. Allein der erste Band hielt keineswegs, was man sich von ihm versprochen. Wohl war er lesbar geschrieben, selbst hier und da sehr pikant, und enthielt scharfe Federzeichnungen über Menschen und Dinge, aber von der außergewöhnlichen Frau mit ihrer reichen Jugenderfahrung erwartete man eben mehr, als diese mit äußerster Vorsicht verfaßten Alltäglichkeiten. Indeß versöhnte sie den Leser zum Schluß, indem sie versprach, die eigentliche Geschichte ihrer Ehe, die Berichte aus dem geheimen Leben des Hauses Bonaparte und amtliche Mittheilungen verschiedener Art, sie zur gütlichen Beilegung ihrer Ansprüche zu bewegen etc. nach ihrem Tode folgen lassen zu wollen, da allerlei Rücksichten der „Lebenden“ Stillschweigen darüber geböten.
Ob sie ihr Versprechen gehalten, wird bald die Zukunft lehren.
Frau Patterson-Bonaparte hatte von der Schönheit ihrer Jugend nichts im späten Alter bewahrt, als die ewig unruhigen, geheimnißvoll lebendigen Augen, dunkel wie die Nacht. Ihre ganze Erscheinung sonst war wie ein unentwirrbarer Knäuel von Runzeln, Pergament und Knochen. Aus der weiland berühmten „Schönheit“ war das Urbild einer alten Hexe geworden. Mumienhaft zusammengeschrumpft, trug sie in geradezu abstoßendem Widerspruch mit den welken, lederfarbenen eingefallenen Zügen eine pechschwarze Perrücke, die noch immer das historische Topasenstirnband festhielt. Ihre Toilette war ebenfalls so unvortheilhaft wie möglich. Ein kurzer, kaum bis zu den Knöcheln reichender dunkler Rock und darüber eine alte graue Tuchjacke, die sie permanent gegen das Frösteln des Alters schützen sollte, bildeten ihre ewig unveränderte Kleidung im Hause. Die gelbe alte Spitze von Mecheln, welche ihren Hals umgab, zierte sie trotz der Echtheit ihres Gewebes nicht, denn sie war stets zerknittert und oft zerrissen; so erschien sie im Alter nur wie eine häßliche Carricatur ihrer Jugend.
Dazu war der Ausdruck ihres Gesichts nichts weniger als liebenswürdig. Sie war durch ihr Geschick verbittert und scharf geworden. Sanfte Weiblichkeit war nie ihr Theil gewesen. Schon als Kind hatte sie sich eigensinnig und störrisch gezeigt, und die Zeit der Triumphe ihrer Schönheit hatte sie nur noch verwöhnter und selbstwilliger, nicht aber demüthiger und gefügiger gemacht, wie das z. B. aus dem Testamente ihres eigenen Vaters, welches vor einigen Jahren veröffentlicht wurde, hervorgeht. Er hinterließ ihr bedeutend weniger als seinen anderen Kindern und begründete das in folgendem Satz: „Meiner Tochter Betsy, die mir stets durch ihren Eigenwillen und Trotz viel Kummer gemacht hat, vermache ich etc. etc.“
Unparteiisch beurtheilt war das zwar eine große Ungerechtigkeit von dem alten Patterson, denn gerade von ihm soll seine Tochter den Eigensinn geerbt haben. Man erzählt sich allerlei Unerhörtes über seinen Trotzkopf, von dem wir Folgendes unter Anderem verbürgen können: Seine Frau bat ihn einst unaufhörlich, ihr doch nach der Mode der damaligen Zeit eine Staatscarosse aus England kommen zu lassen. Lange widerstand er ihr, gab aber doch zuletzt nach, freilich mit diabolischem Lächeln. Nachdem endlich der heißersehnte Wagen eingetroffen war, blieb er ganz unbenützt bis nach seinem Tode in der Remise stehen, „da er ihr wohl die Kutsche, nicht aber die Pferde versprochen habe.“
Elisabeth Patterson war ein Charakter. Was sie unter anderen, günstigeren Lebensbedingungen geworden wäre, z. B. wenn Napoleon sie anerkannt hätte, unterliegt bei denen, die sie näher kannten keinem Zweifel. Napoleon würde sicher den Werth dieser starken, energischen Natur erkannt haben, wenn er Elisabeth nur einmal von Angesicht zu Angesicht gesehen hätte – allein seine eiserne Zähigkeit im Festhalten des „Einmalbeschlossenen“, dieser größte und gewaltigste Factor seines Erfolges, verweigerte das energisch und besiegelte damit ein Menschenschicksal, welches sich einsam und unbefriedigt vollendete, ohne seine volle Wirksamkeit erprobt und erschöpft zu haben.
Frau Elisabeth Patterson war seit einigen Wochen unwohl und leidend, allein ihre wahrhaft erstaunliche Lebenskraft ließ zuerst weder Andere an eine Gefahr denken, noch glaubte sie selbst ernsthaft an die Nähe ihres Lebensendes. Trotzdem ließ sie unlängst ihren Enkel, den Obersten Jerôme Bonaparte, telegraphisch auffordern an ihr Krankenbett zu eilen. Er schiffte sich sofort von Havre ein und erreichte in möglichst kurzer Zeit Baltimore. Frau Bonaparte’s Zustand hatte sich mittlerweile verschlimmert, und obschon kein acutes Leiden sie quälte – denn der Anfall von Bronchitis, welcher sie vor kurzer Zeit heimgesucht, war längst gehoben, so hatte doch eine bis zur Lethargie sie überwältigende Schwäche derart Besitz von ihr genommen, daß selbst die Ankunft ihres Lieblingsenkels sie nicht mehr aufzurütteln vermochte. Die Aerzte sahen endlich ein, daß die eminente Lebenskraft dieser Frau doch nahezu erschöpft sei, und sie selbst, die im Anfang ihrer Krankheit noch fest geglaubt, daß dieselbe vorübergehend sein und sie sicher das hundertste Jahr erleben würde, begann jetzt von ihrem herannahenden Ende zu reden. Zuletzt verfiel sie jedoch in einen Zustand, der weder Leben noch Sterben genannt werden konnte – es war, als kämpfe die wunderbare Lebenskraft dieser zähen Natur mit dem Tode durch jeden Athemzug. Langsam verließ der ruhelose Geist den müden Körper nach langem Ringen.
So lange die Geschichte über Napoleon den Ersten und seine Thaten richten wird, wird sie jenes dunkle Unrecht verurtheilen, das er an Elisabeth Patterson verübt hat, und jede ehrliche Menschenseele wird und muß dem Unglück dieser seltenen Frau Mitleid und Ehrfurcht zollen.
Baltimore, den 5. April.
Stierkampf auf dem ersten Weide-Austrieb. (Mit Abbildung S. 357.) Jemehr in wirthschaftlichen Kreisen die Stallfütterung als ausreichend anerkannt worden ist, desto häufiger hat man dem berechtigten Wunsch nachgegeben, die Weidegründe, welche vor einem halben Jahrhundert selbst die größten Stadtgemeinden noch besaßen, dem ertragreicheren Acker- und Gartenbau zu überweisen und die alte Weideberechtigung der Bürger als eine unzeitgemäße Institution aufzuheben. So rasch geht es zu Ende damit, daß es sich jetzt schon lohnen dürfte, den Lesern der „Gartenlaube“ an einem Beispiele das eigenthümliche Wesen dieser Institution darzulegen, da ein großer Theil derselben sie gar nicht, zum mindesten nicht aus eigener Anschauung, kennen dürfte. Was weiß die jüngere Generation einer Stadt wie Leipzig davon, daß hier vor dreißig Jahren im Sommer allmorgendlich das Vieh zahlreicher Bewohner durch die Straßen getrieben wurde? Leider geht mit dieser alten Sitte, wie mit so vielem Andern zugleich ein Stück Poesie zu Grunde, die Jeder in der Erinnerung noch nachempfinden wird, den in seiner Kindheit der Kuhhirt mit den langgezogenen Tönen seines Horns aus dem Morgenschlafe geweckt hat und in dessen Jugenderinnerungen noch das Stimmconcert der in der Frühe sich sammelnden und Abends sich wieder auflösenden Heerden von Kühen Schafen, Ziegen, Gänsen hineinklingt.
Vor einiger Zeit traten mir diese Erinnerungen wieder lebhaft vor die Seele, als ich in dem Städtchen Alfeld an der Leine, Provinz Hannover, gerade in den Tagen verweilte, da der alljährliche erste Austrieb der Rinder des Ortes auf die Gemeindeweiden stattfand.
[360] Die dortigen Hütewiesen – so theilte mir der Ortsbürgermeister, Herr Kaiser, mit – halten einige hundert Morgen und sind Eigenthum der weideberechtigten Bürger. Bei Erwerb dieser Gerechtsame, welche, vererblich nur auf Bürgerskinder, übrigens von den Berechtigten pachtweise abgegeben werden kann, wird in die Kämmereicasse eine Abgabe von 39 Mark gezahlt. Von jeder der berechtigten 291 Stellen darf nur eine Kuh getrieben werden. Uebt der Bürger sein Weiderecht so wenig selbst, wie durch Verpachtung aus, so wird ihm aus der Weidecasse eine Vergütung gezahlt, welche in den letzten Jahren auf 30 Mark normirt war. Die Zahl der wirklich auf die Weide getriebenen Kühe betrug seit einigen Jahren etwa 215 bis 230 Stück; sie ist durch Anwachsen von Gewerbe und Industrie in der Stadt allmählich so weit herabgeschmolzen.
Die Interessen der weideberechtigten Bürger werden durch den Magistrat und eine dem Bürgervorsteher-Collegium entnommene Weidecommission vertreten. Letztere beaufsichtigt den Hirten und bestimmt den Zeitpunkt des ersten Austriebes der Heerde in jedem Frühjahr, welcher in der Regel in die Mitte des Monats Mai fällt. Bis vor wenigen Jahren wurde der Hirt am ersten Tage des Austreibens von den jungen Mädchen, welche die Milch von der Weide holen, beschenkt und mit Kranz und bunten Bändern geschmückt. Die Stiere werden in der Regel von einem Alfelder Fleischer gegen eine aus der Weidecasse zu zahlende Vergütung für die Dauer des Weideganges hergeliehen und dann im Herbst zur Mastung gebracht. Im Jahre 1878 wurde für 5 Stiere 420 Mark Miethe bezahlt.
Der erste Austrieb der Rinderheerde hat in Alfeld, wie anderwärts, sein höchstes Interesse in einem bei dieser Gelegenheit regelmäßig stattfindenden Stierkampfe, zu dem an dem genannten Orte sonst alljährlich fast die ganze Bevölkerung hinauszuziehen pflegte. Ich war dem Zufall, der gerade kurz vor dem ersten Austrieb einen großen afrikanischen Thiertransport für den Thierhändler Reiche in Alfeld anlangen ließ, dankbar, daß er mir die Gelegenheit verschaffte, das interessante Schauspiel dieses Stierkampfes zu beobachten und für die Leser der „Gartenlaube“ im Bilde festzuhalten.
Schon am frühen Morgen rief mich das meisterhafte Peitschenknallen, womit der Hirt seine „breitgestirnten glatten“ Pflegebefohlenen aus den Ställen rief, zum schnellen Ausgang, und nun öffneten sich hier und dort und weiterhin die Thüren und Thore, um zum ersten Male den Kühen den Austritt zu gewähren. Es war ein lebendiges Schauspiel. Hier drei oder mehr Kühe, die entweder zum Theil oder alle den Weg von früher her noch kannten und sich von selbst den anderen anschlossen – dort die umständlichsten Anstrengungen, um einzelne, besonders neu gekaufte, Thiere auf den Weg zu bringen. Fast in allen Fällen hatte man sich bemüht, den Thieren zu ihrem ersten Auftreten ein gutes, besonders auch reinliches Aussehen zu geben. Auffallend war die erstaunliche Racenverschiedenheit. Groß und klein, in allen Farben und Formen, die der deutschen Kuh möglich, wandelten sie einher.
Gleich vor der Stadt breitet sich die zunächst benutzte Weide längs der Leine aus. Eine zahlreiche Zuschauerschaft wartete der Dinge, die da kommen sollten. Es waren Augenblicke höchster Spannung, als nun, indeß die Kühe längst schon ruhig grasten, in einzelnen Zwischenräumen die Stiere angetrieben wurden. Dumpf brüllend begrüßten sie zunächst die Heerde, und ihr mächtiger Tritt, der wuchtige Nacken ließ sie stets schnell aus den Kühen herausfinden. Vier waren es an diesem Tage, welche auf dem Schauplatz erschienen und bald ihre Kräfte maßen. Einige schwächere gaben den Streit bald auf und mieden von nun an die Nähe der anderen, zwei aber von ziemlich gleichen Kräften kämpften lange.
Im Gegensatze zu den Schafen, welche, erst rückwärts gehend, mit großer Gewalt auf einander losstürzen, oder den Ziegenböcken, welche, sich aufrichtend, gegen einander stoßen, kämpft der Stier mit seines Gleichen nicht in einzelnen getrennten Stößen, sondern durch ein Gegeneinanderdrängen der gewaltigen gehörnten Stirnen, wobei Jeder dem Andern in die Seiten, zunächst des Halses, zu kommen sucht. Dem Gegner immer die Stirn, als den widerstandsfähigsten Theil zu bieten, ist daher die Angriffs- und die Vertheidigungsmethode zugleich, und je mehr Energie, Kraft und Ausdauer die beiden Kämpen entwickeln, desto spannender und aufregender wird das Schauspiel. Hier war es ein fast einfarbig dunkelbrauner Stier, der an diesem Tag auch den letzten Gegner schlug und zur Flucht zwang, als denselben nach langem Kampf die Kräfte verließen. Und so schien denn der Braue zum Herrscher bestimmt, der sich seine Gesellschafterinnen nach Belieben suchen konnte, denn, wo er erschien, wichen die anderen. Aber es sollte anders kommen.
Als ich am nächsten Morgen schon früh auf der Weide war und mich mit dem Hirten unterhielt, verkündete ein dumpfes Brüllen die Ankunft eines neuen Stieres. Es war ein prächtiges Thier. Fast ganz schwarz, nur mit wenigen weißen Abzeichnungen, zwar nicht sehr groß, aber von einem für seine Gegner unglückverheißenden Knochen- und Muskelbau und selbstbewußter Haltung – so durchschritt er, ohne von den Kühen irgend Notiz zu nehmen oder dem üppigen Gras einen Blick zu widmen die Heerde, als wisse er schon, um was es sich zunächst handele. Die am vorigen Tage schon besiegten Stiere wichen ihm sofort aus; sie hatten auf allen Siegesruhm bereits verzichtet, nicht aber ihr Besieger, der Braune. Als er den herannahenden neuen Gegner, der ihn sehr bald gefunden hatte, erblickte, ging er ihm sofort entgegen, und mit dumpfem Ton krachten die gesenkten Köpfe gegen einander. Der Hirt und ich waren, und zwar mitten in der Heerde, die einzigen Zuschauer an diesem Tage, ich jedenfalls des mir neuen Schauspiels wegen der angeregteste.
Länger als am vorigen Tage dauerte der Kampf. Fast nie trennten sich die gewaltigen Köpfe der Kämpfer von einander; mit eingestemmten Beinen suchte jeder den andern zurückzudrängen und zugleich ihm in die Seite zu kommen, aber es war für den Sieger von gestern schon ein schlimmes Zeichen daß er mehrmals in die Kniee stürzte und nur durch schnellstes Aufraffen dem Einfallen des Gegners in die Flanke begegnen konnte. Ebenso bekundete sich sein Unterliegen schon im Voraus dadurch, daß er immer mehr zurückgedrängt wurde und offenbar an Kräften verlor. Aber noch wehrte er sich und dachte nicht an Flucht. So entfernten sie sich durch das dauernde Zurückdrängen immer mehr vom ursprünglichen Kampfplatze, sodaß die Kühe, welche nur mitunter einen gleichgültigen Blick für das Schauspiel hatten, das doch ihretwegen stattfand, mehrmals weichen mußten. Nur einer der jüngeren besiegten Stiere hatte sich inzwischen genähert und betrachtete sich, wie um Studien für künftige Fälle zu machen, die Kämpfenden. Da – eine schnelle Wendung des Schwarzen, und mit einem Sprunge stieß er dem Gegner die kurzen Hörner seitwärts gegen den Hals. Damit war sein Sieg entschieden. Denn jetzt wendete sich der Getroffene sofort zur Flucht, von dem Sieger nur wenige Schritte verfolgt. Dem jungen Stiere, der sich jetzt auch zurückzog, widmete der nunmehrige Herrscher kaum einen Blick, sondern schien zunächst sein Reich in Besitz nehmen zu wollen. Mit gehobenem Kopfe blickte er um sich, sein dumpfes Gebrüll ausstoßend und dabei mit den Vorderhufen den Boden aufreißend; an mehreren Stellen wiederholte er dies, wie um sich Allen in seiner Bedeutung anzukündigen.
„Der wird bös,“ sagte der Hirt und hetzte seinen kleinen Hund auf ihn, um ihm zu zeigen, daß Jemand Anderes hier herrsche. Der eben noch siegesbewußte, jede Gefahr herausfordernde gewaltige Stier ergriff vor einem kleinen Hunde die Flucht, und damit war die nothwendige Disciplin auch ihm gegenüber festgestellt.
Ein anderes Bild, mehr heiterer Natur, sollte bald folgen. In sauberer Kleidung, mit blanken, blitzenden Milcheimern nahten die jungen Mädchen der Stadt zum Melken der Kühe ihres Herrn oder Vaters, und heute, wo die Milchkühe noch nicht zusammengetrieben wurden, war es eine Hauptaufgabe, die richtige Kuh zu finden und zum Stehen zu bringen. Bei dem Herausfinden der eigenen Kuh bietet die große Racen- und Farbenverschiedenheit eine wesentliche Erleichterung, und nur sehr selten soll eine Verwechselung vorkommen. Hübscher noch war das Bild an den folgenden Tagen, wo alle milchenden Kühe vom Hirten auf einer Stelle vereinigt und nun gemeinschaftlich von der fröhlichen Mädchenschaar gemolken wurden.
„Chinesische Begräbnisse,“ schreibt uns eine deutsche Frau aus Singapore gelegentlich einer Schilderung des dortigen Lebens, „gehören bei der großen hier seßhaften Anzahl von Zopfträgern nicht zu den Seltenheiten; nicht oft aber findet ein solches mit mehr Pracht und Aufwand wie das der Prinzessin Tan Tock Seng statt, welchem ich beigewohnt habe. Der Trauerzug machte durchaus nicht den Eindruck eines solchen, weit eher rief er mit seinen zahllosen Fahnen seinen seltsam gekleideten Begleitern, seinen Figuren, Pfeifen und schrillen eintönigen Gesängen in mir die Erinnerung an eine Prozession zurück, wie solche in unseren katholischen Städten und Dörfern vorkommen. Prinzessin Tan Tock Seng war im Alter von siebenzig Jahren vor einem Monate schon gestorben; die Leiche, welche kostbare Ringe durch Nase, Mund und Ohren, an Zehen, Händen und Füßen trug, hatte einbalsamirt in dem seit Jahren schon bereit gehaltenen Sarge im Hause gelegen, bis ein den Chinesen als besonders glücklich geltender Tag gekommen war; an einem solchen – es war unser Charfreitag – wurde sie nun endlich nach ihrer letzten Ruhestätte gebracht. Die kräftigen Schultern von vierzig sich langsam fortbewegenden Chinesen stützten den auf einem Divan ruhenden Sarg, dem voran eine abschreckend häßliche Gestalt, den bösen Geist darstellend, getragen wurde. Alle Verwandten der Verstorbenen, in Sackleinwand gekleidet, viele Priester und Gelehrte, eine unabsehbare Menge Chinesen, Männer und Frauen in Weiß, ihrer Trauerfarbe, folgten dem Zuge; auch Europäer nahmen daran Theil, deren jeder zwei Stücke weißen Calico als Trauerflor erhalten hatte. Eine große Anzahl Fahnen, mit chinesischen Inschriften gegen den bösen Geist bedeckt, wurde mitgetragen, und schauerlicher Gesang, untermischt mit grellem Pfeifen, ertönte fortwährend. Endlich hatte der Zug den entfernt gelegenen Hügel erreicht, welcher schon Jahre zuvor von Gelehrten als glückliche Stelle für das Begräbniß bestimmt worden war; einige Priester umschritten, den Compaß in der Hand, das Grab, um genau die Lage der Leiche festzustellen – die Füße müssen direct nach Norden gerichtet sein. Hierauf ward das mitgebrachte Hauptscheusal nebst einigen kleinen Ungethümen, sämmtlich böse Geister repräsentirend, sowie den Fahnen am Grabe verbrannt, aus welchem man durch drohendes Gemurmel und wüthendes Umherschlagen gleichfalls etwa vorhandenes böses Geisterwesen zu bannen suchte. Endlich ließ man den Sarg hinab; in ihm befanden sich außer den drei Gewändern, mit denen die Leiche bekleidet war, noch vier bis fünf kostbare Anzüge, damit es der Prinzessin nicht an Toilette fehle, im Falle der Geist erwachen sollte; ferner wurde Reis auf den Grabhügel gestreut – jener soll auch Nahrung vorfinden. Die Hinterbliebenen nahmen eine mit Grabeserde gefüllte Urne mit. Eine Wache bleibt mehrere Monate lang bei dem Grabe; man mag wohl, wie einst die Aegypter, fürchten, die Schätze der Todten könnten ein Raub habgieriger Hände werden. In einiger Entfernung waren geschmackvolle Zelte mit Erfrischungen für die vornehmen Theilhaber, sowie bescheidenere Buden, in denen zahllosen Armen Essen verabreicht wurde, aufgeschlagen; meiner Schätzung nach muß dieses Begräbniß der Prinzessin Tan Tock Seng den hinterlassenen Söhnen, die zu den reichsten Chinesen der Insel zählen, viele tausend Pfund Sterling gekostet haben.“
Berichtigung. In dem Artikel „Der Arbeiter sonst und jetzt“ von Professor Karl Biedermann (Nr. 19) hat sich in Folge eines Versehens der Redaction ein Fehler eingeschlichen, den wir hiermit berichtigen. Man lese daselbst Seite 323, 1. Spalte, Zeile 21 von unten: Der rühmlichst bekannte Statistiker Professor Victor Böhmert, Director des Statistischen Bureaus in Dresden statt: des Polytechnicums.
Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
- ↑ Vergl. über Lassalle „Gartenlaube“ 1865 Seite 815, 1867 S. 376, 1872 S. 576, 1877 S. 67 und 688.