Kurzgefaßte Einleitung in die heiligen Schriften (11. Auflage)/Allgemeiner Teil (AT)

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Kurzgefaßte Einleitung in die heiligen Schriften (11. Auflage)
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Altes Testament.




I. Allgemeiner Teil.


Kap. 1.
Entstehung und Geschichte des Alttestamentlichen Kanon.
§ 1.

 Der Ursprung der h. Schriften des A. T.s ist nach ihrem Selbstzeugnis ein göttlich menschlicher. Der Gott der Offenbarung hat je und je selbst den Befehl gegeben, seine Offenbarungs-Worte und seine Offenbarungs-Thaten aufzuzeichnen und diejenigen, welche seinen Befehl ausrichteten, mit seinem Geist erfüllt. Die heiligen Menschen Gottes, aber haben sich mit ihren Gaben und Kräften Gotte zu Werkzeugen begeben.

 Vgl. Ex. 17, 14; 24, 4. Dt. 31, 9. 24. Jos. 24, 25. 26. I. Sam. 10, 25. Jes. 30, 8. Jer. 30, 2; 36, 27, 28. Hab. 2, 2, – aus welchen Stellen das oben Gesagte für einzelne Stücke der h. Schrift bewiesen wird; daß aber für das A. Testament als Ganzes dasselbe gilt, war jederzeit der Glaube der israelitischen Gemeinde, den die Zeugnisse des HErrn und seiner Apostel bestätigen. Vgl. Luc. 24, 44. Joh. 5, 39. Röm. 1, 2. 2. Tim. 3, 15–17. 1 Petri 1, 10–12. 2. Petri 1, 21 u. a.


§ 2.
 Wie der Gott der Heilsgeschichte die h. Schriften aufzeichnen ließ, so sorgte er auch für ihre Aufbewahrung. Den Anfang machte das Gesetzbuch, welches Mose neben der Bundeslade niederlegen ließ, Dt. 31, 24–26; diesem Beispiel folgte Josua, indem er den Akt der Bundeserneuerung in Sichem, Jos. 24, 25. 26, und Samuel,| indem er das Recht des Königtums dem Gesetzbuch im Heiligtum zufügte, 1 Sam. 10, 25.


§ 3.

 Das im Heiligtum aufbewahrte Gesetzbuch wurde, wie schon das Königsgesetz, Dt. 17, 18, 19 mit sich brachte, in Abschriften vervielfältigt. Die vielen direkten und indirekten Beziehungen in den Geschichtsbüchern und Hagiographen, besonders den Psalmen, beurkunden, daß das Gesetzbuch und namentlich das Deuteronomium im Volke bekannt und verbreitet war. Das Gesetzbuch war die Grundlage und blieb für alle Zeiten das Hauptbuch unter den heiligen Büchern Israels.

 Zu dem Gesetzbuche kamen aber im Laufe der Zeit hinzu einerseits die prophetischen Geschichtsbücher, welche die mit dem Tode Moses abbrechende Heilsgeschichte des Gesetzbuches fortführen, und die prophetischen Weissagungsbücher, welche die jedesmalige Gegenwart in das Licht der Gesetzesoffenbarung stellen und nach dem Geiste derselben richten, – andererseits solche Schriften, welche das durch die Offenbarung gewirkte Geistesleben widerspiegeln, wie die Psalmen Davids, die Schriften Salomos nebst denen ihrer Zeitgenossen. Auch diese Schriften verbreiteten sich als heilige Schriften im Volke Israel. Daß die Psalmen frühe gesammelt wurden, lehrt Ps. 72, 20, in welcher Stelle die sichere Spur einer früheren als der gegenwärtigen Psalmensammlung vorliegt; daß die Salomonischen Schriften gesammelt, verbreitet und bekannt waren, ersieht man aus Spr. 25, 1 und aus den Nachklängen derselben, besonders der Sprüche und des Buches Hiob, in den Propheten; daß endlich auch die Weissagungen der Propheten schriftlich vorlagen und in Abschriften verbreitet, als heilige Schriften geehrt wurden, zeigt die Wiederaufnahme der Worte älterer Propheten bei ihren Nachfolgern. Die prophetischen Weissagungsbücher bilden eine stetige Kette in einander greifender und sich wechselseitig Zeugnis gebender Glieder. So erkennen wir, wie allmählich eine große Zahl heiliger Schriften entstand, welche alle in der Thora ihre Grundlage hatten, aber gleichfalls als heilige Bücher galten, wie denn Jeremia für alle vorexilischen Propheten als Zeuge eintritt.

 Neben den im Kanon aufbewahrten h. Büchern gab es in alter Zeit| auch zwei Sammlungen national-religiöser Lieder und überhaupt Schriftdenkmäler, welche uns nicht erhalten geblieben sind, nämlich das Buch der Kriege des HErrn und das Buch des Frommen (vgl. Num. 21, 14. Jos. 10, 13).

 Eine lateinische Schrift über „Jeremia als Gewährsmann für alle älteren h. Schriften.“ (Jeremias vindex etc.) hat August Küper 1837 herausgegeben.


§ 4.

 Die Gesamtheit aller dieser Schriften nun nennen wir den Kanon, dessen einzelne Bestandteile, wie oben bemerkt, nur sehr allmählich im Laufe der heilsgeschichtlichen Entwickelung von Mose an bis zum Ausgang der Prophetie entstanden sind. Aber wer nun diese einzelnen Bestandteile zum Ganzen des Kanon zusammenfaßte, und warum er gerade diese und nur diese Schriften aufnahm, darüber ist uns etwas Sicheres nicht bekannt. Es finden sich zwar im A. T. Spuren einer auf die Sammlung der h. Schriften Israels gerichteten Thätigkeit, es ist auch zweifellos, daß Esra, der Schriftgelehrte und Reformator Israels, für die Sammlung der h. Schriften thätig gewesen; aber ob er oder die s. g. große Synagoge dieselbe zum Abschluß brachte, darüber fehlen verlässige Berichte.

 a. Die erste oder grundlegende Sammlung h. Schriften geschah durch Mose und die Ältesten, welche unmittelbar auf ihn folgten (vgl. § 25).

 b. Daß eine zweite Sammlung h. Schriften von Samuel ausgegangen und von seinen Schülern fortgesetzt worden sei, und zwar so, daß sie die Sammlung der ersten Propheten abschlossen und der Thora somit das Buch Josua, das Richterbuch mit Ruth und das erste Buch Samuelis bis Kap, 11, später noch den Schluß und das zweite Buch Samuelis hinzufügten, ist lediglich talmudische Überlieferung. Vgl. noch § 29, 2.

 c. Aus 2 Chron. 29, 25–30 schließen wir, daß in Hiskias Zeit die Psalmen Davids und Asafs für den Tempelkultus gesammelt und im Gebrauch waren. Sprüche 25, 1 heißt es, daß die „Männer des Hiskia“ Sprüche Salomos gesammelt haben. Ob diese Männer eine von Hiskia zum Zweck der Sammlung der h. Schriften niedergesetzten Kommission waren, mag dahingestellt bleiben, ist aber bei dem religiösen Interesse des Königs nicht unwahrscheinlich.

 d. Was den Abschluß der Sammlung heiliger Schriften betrifft, so ist uns von einem förmlichen Akte, durch welchen derselbe erfolgt wäre, nichts bekannt. Ja es ist ein solcher Akt gar nicht wahrscheinlich. Angenommen, Esra hat sich mit der Sammlung der h. Schriften seines Volkes beschäftigt, und zugegeben, daß niemand so wie er zu beurteilen vermochte, welche Schriften zu den heiligen zu rechnen seien, so wird ihm doch kaum der Abschluß des Kanons zugeschrieben werden dürfen. Esra konnte ja nicht wissen, daß nunmehr kein Prophet mehr auftreten werde. Es wird sich eben die Sammlung| von selbst geschlossen haben, indem nichts mehr zu ihr hinzukam. Unter der Voraussetzung aber solch einer thatsächlichen, nicht förmlichen, Schließung hat die jüdische Tradition, derzufolge die durch Esra und Nehemia ins Leben gerufene s. g. große Synagoge die Sammlung in die Hand nahm und zu Ende führte, vieles für sich.
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 Für sie spricht zum ersten der Kanon selbst. Die Redaktoren desselben haben bei der Zusammenstellung der heiligen Schriften zu einem Ganzen nicht nach chronologischen, sondern inneren sachlichen Motiven gehandelt. Die Thora als die Grundlage aller Offenbarung bildet einen Hauptteil für sich, und zwar den ersten. Im zweiten Hauptteile folgen zuerst die Bücher, welche in prophetischem Geiste die geschichtliche Entwicklung des Bundesverhältnisses bis zum Exile darstellen, sodann die Bücher, welche die Weissagungen vom Untergang des alten Reiches Israel und der Zukunft des Reiches Gottes enthalten. Eine so einheitliche Idee ergab sich für die dritte Hauptabteilung nicht. Doch fehlen auch hier nicht die sachlichen Gesichtspunkte. Das dem Pentateuch entsprechende fünfgliedrige Gebetbuch der Gemeinde (Psalter) eröffnet es, Bücher der Chokma oder sinnenden Betrachtung (Sprüche und Hiob) folgen, die fünf nach dem Festkalender geordneten Megilloth (Hoheslied, Ruth, Klagelieder, Prediger, Esther) reihen sich an, das apokalyptische Buch Daniel als das Buch der Geheimnisse sollte den Kanon offenbar abschließen. Kein Bestandteil dieses Urkanons reicht, wie die spezielle Einleitung zeigen wird, unter die Esra-Nehemianische Zeit herab. – Nun waren aber von der Hand des Esra und Nehemia selbst Aufzeichnungen über denkwürdige Begebnisse vorhanden, die der neukonstituierten Gemeinde von höchster Wichtigkeit waren. Sie wurden später ergänzt und sind namentlich die darin vorkommenden genealogischen Reihen bis zu der Zeit des Redaktors fortgeführt worden. Was geschah nun mit diesem Schriftwerk? Es ist dem Kanon nicht mehr organisch, d. h. etwa nach dem zweiten Königsbuche eingefügt, sondern am Schlusse, d. h. nach dem Buche Daniel, ganz äußerlich angefügt worden.[1] Denn wenn die Massora und die Handschriften spanischer Klasse im Unterschiede von den Handschriften deutscher Klasse die Chronik (getrennt vom Buche Esra und Nehemia) vor den Psalter stellen – vielleicht weil sie so viel von David erzählt und so als Einleitung zum Psalter Davids zu gehören schien – so war das nicht die ursprüngliche Stellung der Chronik. Unsere ältesten geschichtlichen Belege für die Stellung des Psalters im Kanon deuten darauf hin, daß er die dritte Hauptabteilung des Kanons eröffnete (mit Vorausgehen von Ruth), da man diese Abteilung nach ihm benannte, siehe 2 Makk. 2, 13, Luk. 24, 44, auch Philo. Die Chronik, Esra und Nehemia wurde also in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr.| einer schon bestehenden Sammlung heiliger Schriften noch angefügt, welche damals, in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts, bereits als ein unantastbares Heiligtum galt. Und wer sollte nun damals die Autorität gehabt haben, ein solches zu schaffen, wenn nicht Esra, der Mann, der überhaupt die religiösen Institutionen schuf, auf denen das neujüdische Gemeinwesen ruht?

 Ein zweiter Beweis, daß der Kanon um 300 v. Chr. längst als ein ehrwürdiges Heiligtum galt, das, keiner Erweiterung oder Veränderung fähig, lediglich als solches zu bewahren war, ist das Buch des Jesus ben Sira. So hoch dieses Buch von Anfang an und weiter gehalten wurde, so nahe es sich mit den Sprüchen Salomos und Koheleth berührte, es wurde nicht mehr in den Kanon recipiert. Also zur Zeit der Siraciden war der Kanon längst abgeschlossen, gehörte der Geschichte an. Nach der Meinung des einen Teils der Gelehrten ist das Buch des Jesus ben Sira um 300 v. Chr. entstanden. „Der Verfasser ist Zeitgenosse eines Hohepriesters Simon, den er c. 50 so lebendig schildert, wie nur ein Zeitgenosse es vermag. So besonnene Forscher, wie Winer, geben zu, daß hier nur von Simon dem Gerechten die Rede sein könne, der das Hohepriestertum von 310–291 bekleidete, da der Hohepriester Simon II., der von 219–199 im Amte stand, keinerlei Eindruck auf seine Zeitgenossen machte, der der Schilderung von c. 50 des Jesus Sirach entspräche. Wir wissen „eigentlich nichts“ von ihm, er hat kein Andenken bei seinem Volk zurückgelassen. Von anderen aber ist hiegegen eingewendet worden, daß Jesus Sirach c. 50 doch auch nach der Überlieferung könne geschildert haben und kein Zeitgenosse jenes Simon des Gerechten gewesen sein müsse. Es gebe Gründe dafür, daß er hundert Jahre später geschrieben habe. Sein Enkel, der das ursprünglich hebräische Buch in Ägypten ins Griechische übersetzte, sage nämlich im Prolog, er sei im 38. Jahre unter König Euergetes nach Ägypten gekommen. Dieses 38. Jahr sei das Regierungsjahr des Euergetes; es habe aber Euergetes I. nur von 247–222, also keine 38 Jahre lang regiert, während die Regierungszeit des Euergetes II. von 170–116 angesetzt werden kann. Der Enkel des Jesus ben Sira sei also erst 132 nach Ägypten gekommen, und der Großvater habe also etwa 200 v. Chr. geschrieben. Die Entscheidung ist schwierig. Gesetzt aber, das Buch stamme aus der Zeit um 200 v. Chr., so war also damals jedenfalls der Kanon längst abgeschlossen. (Die jüngst aufgefundenen hebräischen Originalhandschriften des Sirachbuches, welche bereits eine innerhebräische Geschichte des Werkes aufweisen, sprechen eher für ein noch höheres Alter dieses apokryphisch gebliebenen Buches.) Wo fänden wir nun aber in dem Zeitalter von 200–400 rückwärts die Autorität, die zur Herstellung einer im ganzen jüdischen Volke gültigen Sammlung normativer heiliger Schriften nötig war? Das 3. Jahrhundert besaß kein Synedrium, mit Simon dem Gerechten erlosch das zu Esras Zeit konstituierte Synedrium. Wir werden also auch aus inneren Gründen über das 4. Jahrhundert zurück, in die Esra-Nehemianische Restaurationsperiode verwiesen, und äußere geschichtliche Zeugnisse unterstützen diese Annahme.

|  Anmerkung 1. Ein wichtiges Zeugnis für die Herstellung des Kanons durch Esra und Nehemia aus späterer Zeit finden wir im 2. Makk. 2, 13 f. Es wird hier nämlich gesagt, daß Judas der Makkabäer dem Nehemia darin glich, daß er wie dieser sorgsam die alte Nationallitteratur sammelte und so rettete. Der Berichterstatter beruft sich in betreff Nehemias auf alte Akten und Gedenkbücher, welche erzählen, wie Nehemia, eine Bibliothek begründend, die mancherlei heiligen Schriften zusammenbrachte. In der Nennung derselben ist auch hier die Aufeinanderfolge der drei Hauptteile des Kanons erkennbar, selbstverständlich der Kanon vorausgesetzt.

 Anmerkung 2. Beachtenswert als Zeugnis späterer Zeit ist auch das Zeugnis des Josephus (contra Apionem I. § 8). Nachdem er gesagt hat, daß die schriftstellerische Thätigkeit im jüdischen Volke von jeher dem in reiner uralter Abfolge sich fortsetzenden Priesterstande und den durch göttliche Inspiration befähigten Propheten befohlen war, fährt er fort, daß das jüdische Volk nicht Myriaden sich widersprechender Bücher besitze, sondern nur 22, welche die gesamte alte Geschichte enthalten und mit Recht für göttliche gehalten werden. Jene 22 Bücher seien unverletzt überliefert und unantastbar; jeder Jude halte sie von Kindheit für Gottes eigenes Wort, stütze sich darauf und sei bereit, wo nötig, darob zu sterben. Er zählt hier 22 Schriften nach Zahl der Buchstaben des hebräischen Alphabets und, was von großer Wichtigkeit, er schließt die Apokryphen aus, obwohl er sich in seinen Citaten ebenso wie Philo, an die Septuaginta (s. § 18) anschließt. In Bestimmung der Grenze der kanonischen Schrift setzt er voraus, daß die Geschichte des Buches Esther unter Artaxerxes Longimanus falle, und daß die später erschienenen Schriften, besonders wegen des unterdes erloschenen Prophetentums, nicht auf gleiches Ansehen Ansprüche machen können.


§ 5.

 Der Kanon des A. T.s gliederte sich in drei Hauptteile: Thora (Gesetz), Nebiim (Propheten) und Ketubim (andere Schriften mannigfaltigen Inhalts). Für den dritten Teil finden wir auch den Ausdruck: „die Psalmen“, weil sie die dritte Abteilung beginnen (s. o.) oder „die anderen Bücher“. Nach diesen drei Hauptteilen wurde der Kanon auch bezeichnet.

 Soferne nun aber dieses Schriftganze die Schrift im einzigartigen Sinne war, nannte man es bald „das Buch“, „die Bücher“, oder auch „Mikra“ = das Buch, das man vorzüglich lesen soll, wie denn lesen in der Mischna geradezu heißt: die Schrift studieren; am häufigsten jedoch ist die Benennung: „die heiligen Schriften“. Diese Bezeichnungen finden sich oft im Talmud. – Die christliche Kirche aber benannte – nachweisbar seit Ende des II. Jahrhunderts –| die h. Schriften des Volkes Israel als die Schriften des A. Bundes oder kurzweg als den Alten Bund oder das Alte Testament, eine Benennung, die bis jetzt eine allgemeine in der Kirche geblieben ist, während die Juden sie Mikra, das Buch der Lesung (Anagnose), oder Tenach, d. i. T(hora), N(ebiim), Ch(etubim), oder nach der Zahl der Bücher die 24, oder das Buch der 24 heißen.


§ 6.

 Das Gesetz (Thora) besteht aus den fünf Büchern Moses und bildet ein Ganzes für sich; die Propheten sind teils „frühere“, teils „spätere“; jene sind die Geschichteschreibenden, diese die weissagenden. Die prophetischen Geschichtsbücher sind die Bücher Josua, Richter, Samuelis und der Könige. Die Weissagungsbücher zerfallen wieder in die großen und kleinen Propheten, welche letztere ein Buch für sich (das Zwölfprophetenbuch) bilden. Die übrigen Schriften werden der herrschend gewordenen Aufeinanderfolge nach im hebräischen Kanon folgendermaßen aneinandergereiht: Psalmen, Sprüchwörter, Hiob; Hoheslied, Klagelieder, Ruth, Prediger (Koheleth), Esther (welche fünf letzteren die Megilloth heißen); endlich Daniel, Esra, Nehemia, Chronik. – Die Zählung der Bücher des A. T.s ist verschieden. Die alexandrinische Übersetzung LXX (s. § 18) zählt 22 Bücher, parallel den 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets. So bezeugen es Josephus, Melito von Sardes, Origenes und noch Hieronymus. In den babylonischen Schulen aber zählte man 24, und diese Zählung wurde dann die unter den Juden bräuchliche. Esra und Nehemia gelten als ein Buch, Ruth wird in LXX zum Richterbuch, die Klagelieder werden zum Weissagungsbuch des Jeremia gefügt.


§ 7.
 Der Kanon ist in der Gestalt, welche er bei seinem letzten Abschluß hatte, unter den palästinischen Juden unverändert erhalten worden, wenn gleich darüber in den Schulen später gestritten ward, ob das Buch des Ezechiel, die Klagelieder, besonders das Hohelied, die Sprüche und Koheleth nicht dem öffentlichen Gebrauche zu entziehen seien. Dagegen hat die alexandrinische Übersetzung (s. § 18) der Vermischung von Kanonischem und Nicht-Kanonischem dadurch Vorschub geleistet, daß sie auch nachkanonische Schriften von großem| Ansehen, z. B. das Buch Sirach u. a., den kanonischen Büchern anfügte, ohne den Unterschied bemerklich zu machen.


§ 8.

 Aus der Synagoge ging der A.T.liche Kanon in die christliche Kirche über. Nach Christi und der Apostel Vorgang (s. o.) ehrte man die A. T.lichen Bücher als „von Gott eingegebene“ (2 Tim. 3, 16), „heilige (2 Tim. 3, 15. Röm. 1, 2) Schriften, als den „alten Bund“ (2 Kor. 3, 14), und las aus denselben in den öffentlichen gottesdienstlichen Versammlungen vor.

 Die christlichen Schriftsteller citieren sie als heilige Schriften, als Wort Gottes. Da aber nur wenige derselben die Grundsprache des A. T.s verstanden und übrigens die alexandrinische Übersetzung ein ungemein hohes Ansehen genoß, so beziehen sie sich auf die A.T.liche Schrift fast nur in der Gestalt, wie sie in dieser Übersetzung vorlag, bis der Verkehr mit Juden sie auf den Unterschied zwischen Original und Übersetzung aufmerksam machte. Schon Melito von Sardes, bei welchem uns zuerst die Benennung „A.T.liche Bücher“ begegnet, erkundigte sich in Palästina nach dem ursprünglichen Umfange des Kanon. Das Verzeichnis, welches er von da mitbrachte, schließt die Apokryphen aus. Origenes zählt gleichfalls nur 22 kanonische Bücher, nimmt jedoch die Apokryphen gegen Julius Afrikanus in Schutz. Aber die griechischen Verzeichnisse der kanonischen Schriften aus dem IV. Jahrhundert sondern bereits die Apokryphen von den kanonischen Schriften geflissentlich; Athanasius (im 39. Festbrief a. 367) unterscheidet von den kanonischen die nichtkanonischen: Weisheit Salomos, Sirach, Esther, Judith, Tobias, was nicht hinderte, daß dieselben als gute Privat-Leseschriften besonders für Katechumenen von ihm und anderen Vätern empfohlen wurden. Hiebei ist es in der griechischen Kirche verblieben, vgl. den an die Beschlüsse des Concils von Laodicea (360) später angefügten 60. Kanon.

 Aus der lateinischen Kirche haben wir Verzeichnisse der kanonischen Schriften von Hilarius, Rufinus und Hieronymus, welchen das Verzeichnis des Origenes oder des hebr. Kanon zu Grunde liegt. Dagegen wurde im Verzeichnis des Concils zu Hippo Regius in Numidien (393), bestätigt durch die 3. und 5. Karthagische Synode (397 und 419) und sanctioniert durch die römischen Bischöfe (405| und 494), kein Unterschied zwischen den kanonischen und apokryphischen Schriften gemacht, sondern im Anschluß an den Gebrauch der bedeutendsten Gemeinden beiden gleiches Ansehen beigelegt.

 Diese Beschlüsse waren für die kirchliche Praxis des Mittelalters maßgebend. Doch hat das Ansehen, in welchem die Schriften des Hieronymus standen, in den Gelehrten das Bewußtsein von dem Unterschied zwischen kanonisch und apokryphisch wach erhalten, denn Hieronymus hatte diesen Unterschied ebenfalls festgehalten.

 Zum endgültigen Austrag kam der Streit in der Reformationszeit. Die römische Kirche sanctionierte zu Trient 1546 den Gebrauch der abendländischen Kirche, hob also den Unterschied zwischen kanonischen und apokryphischen Büchern auf und erklärte sämtliche in der Vulgata enthaltenen Bücher als kanonisch; die protestantischen Kirchen aber halten nur diejenigen Bücher für kanonisch, welche der hebräische Kanon enthält. Die apokryphischen Bücher werden von der lutherischen Kirche nach des Hieronymus, Athanasius und anderer Vorgang für nützliche Schriften erklärt, aber den kanonischen nicht gleich geachtet. Die Reformierten verwerfen sie gänzlich.




Kap. 2.
Von der Grundsprache des Alten Testaments.
§ 9.

 Die Grundsprache des Alten Testaments ist die hebräische, nur in einigen wenigen Stücken: Dan. 2, 4–7, 28, Esra 4, 8–6, 18; 7, 12–26, Jer. 10, 11 die chaldäische (genauer aramäische).


§ 10.

 Die hebräische Sprache gehört der semitischen Sprachengruppe an. Sie ist unter den drei semitischen Hauptsprachen die Sprache der Mitte, wie das Aramäische die Sprache des Nordens und das Arabische die Sprache des Südens. Wie das Äthiopische sich an das Arabische anschließt, so das Phönizische an das Hebräische.


§ 11.
 Die Schrift bezeichnet einmal, Jes. 19, 18, die hebräische Sprache als die Sprache Kanaans. Sie ist also nicht den von jenseit des Euphrat eingewanderten Hebräern eigentümlich, sondern diese haben sich dieselbe von den Einwohnern Kanaans angeeignet; die Sprache| im Hause des Tharah, des Vaters Abrams, war die aramäische; dies lehrt Gen. 31, 47, in welcher Stelle Laban das Denkmal des geschlossenen Bundes mit aramäischen Worten benennt.

 Diese Sprache Kanaans, des mit dem Fluch belegten, ist als Organ der Offenbarung zur heiligen Sprache geworden und tritt uns bereits in der mosaischen Thora auf hoher Stufe der Ausbildung entgegen. Den Höhepunkt erreicht ihre Entwicklung in der davidisch-salomonischen Zeit, in welcher die dichterische, wie die gewöhnliche Redeweise (Poesie und Prosa) gleich ausgebildet waren. Einen zweiten Höhepunkt erreicht die Sprache in der Zeit der Propheten, unter denen besonders Jesaja, der größte aller A. T.lichen Propheten, sie mit königlicher Meisterschaft handhabt. Von da ab sinkt sie, bis sie allmählich im Exil ganz aufhört, die Verkehrssprache Israels zu sein, indem das Aramäische an ihre Stelle tritt (vgl. Neh. 8, 8?). Indes die heiligen Schriften wurden auch nach dem Exil mit den wenigen, oben angeführten Ausnahmen in der hebräischen Sprache abgefaßt, welche als die Sprache des Gesetzes und der Propheten allezeit als die heilige Sprache galt und, in steter Fortbildung begriffen, die vorherrschende Sprache des Gottesdienstes und der Schriftgelehrsamkeit bei den Juden geblieben ist.


§ 12.

 Die hebräische Sprache, wie sie uns als geheiligte Sprache der Offenbarung vorliegt, ist erhaben durch ihre Einfachheit, und doch auch fähig, den großen und reichen Inhalt, der ihr anvertraut ist, deutlich und würdig darzustellen. Denn so arm sie sich zeigt für die Dinge und Verhältnisse der Welt, so reich ist sie an Ausdrucksweisen für die Dinge und Verhältnisse des Reiches Gottes; so einfach der Bau der Sätze ist, so kann doch das Verhältnis der einzelnen Satzteile zu einander vollkommen genügend bezeichnet werden; so schlicht die Weise der Rede ist, wo Gottes sich selbst verherrlichende Thaten berichtet werden, so schwungvoll und ergreifend wird die Sprache, wo es gilt, in Lied oder Rede Gottes Offenbarungen zu verkünden oder zu preisen. Die hebräische Sprache ist ein würdiges Gefäß des göttlichen Offenbarungsinhalts, von Gott bereitet und in ihrer ursprünglichen Reinheit so lange erhalten, bis sie dem heilsgeschichtlichen Zwecke ihren Dienst geleistet hat.


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§ 13.

 Die Erhaltung der Kenntnis dieser Sprache verdanken wir der Schriftgelehrsamkeit, welche seit Esra im jüdischen Volke gepflegt ward. Während das Volk das Alt-Hebräische mehr und mehr vergaß, und in Palästina der aramäischen, unter den Griechen aber der griechischen Übersetzung bedurfte, bewahrten und förderten die Schriftgelehrten in ihren Schulen die Kenntnis der h. Sprache mit großem Eifer. Die bedeutendsten Schulen der Gelehrten waren bis zur Zerstörung Jerusalems in Jerusalem; dann wanderten sie aus nach Jamnia, Lydda und vorzugsweise Tiberias, während gleichzeitig mit der palästinischen Schriftgelehrsamkeit die unter den babylonischen Juden gepflegte wetteiferte. Als mit dem Sturze des Chalifats die babylonischen Schulen sich auflösten, verpflanzte sich die Sprache und Schriftkenntnis derselben nach Nordafrika und Spanien: aber auch die Massorethenschule in Tiberias übte einen tiefeingreifenden Einfluß.

 Innerhalb der Kirche waren Origenes und Hieronymus im Altertume fast die einzigen Träger hebräischer Sprachkunde. Im Mittelalter finden wir sie nur bei jüdischen Proselyten und wenigen ihrer Schüler; in der Reformationszeit aber zündeten Joh. Reuchlin und Seb. Münster, die Schüler jüdischer Lehrer, die Fackel hebräischer Sprachkenntnis für die gesamte Kirche an. Mit ihnen beginnt die Wissenschaft hebräischer Grammatik und Lexikographie, und die A.T.liche Schriftauslegung gewinnt die von Luther ersehnte grammatische Grundlage.




Kap. 3.
Von der hebräischen Schrift und der Überlieferung des Textes.
§ 14.
 Wie die Sprache, so hatten die Israeliten auch die Schrift mit den Völkern Kanaans, insonderheit den Phöniziern, gemein. Diese Schrift fanden die Patriarchen vielleicht schon vor, und ihre Kenntnis kann in der Patriarchenzeit zufolge Gen. 38, 18 mit Wahrscheinlichkeit, zur Zeit Moses aber mit voller Gewißheit vorausgesetzt werden. Man schrieb auf Steine, Metall, Holz und Tierhäute. Ps. 45, 2 deutet auf Schnellschreiber, was ebenso auf wohlbereitetes Material, als auf große Schreibfertigkeit hinweist. Diese ursprüngliche| Schrift, welche sich noch auf den Makkabäischen Münzen und alten Denkmälern findet, und von den Samaritanern noch heutigen Tages gebraucht wird, vertauschten die Israeliten im Exil mit der babylonischen, die nach ihrer Gestalt auch Quadratschrift genannt wird. Sie hat ebenso wie die ursprüngliche (phönizische) Schrift die Eigentümlichkeit, daß nur die Konsonanten geschrieben werden, während man die Vokale im Lesen hinzudenken muß.


§ 15.

 So lange die hebräische Sprache eine lebende war, hatte es keine Schwierigkeit, den vokallosen Text zu entziffern und die richtige Lesung im Volke fortzupflanzen. Als sie aber durch die aramäische verdrängt ward, wurde die Beschäftigung mit der Schrift und die Überlieferung des heiligen Textes Gegenstand einer besonderen Schriftgelehrsamkeit. Diese bewahrte die richtige Lesung des Textes und sorgte später auch, daß er mit Vokalen und Accenten versehen wurde, damit die Lesung ein für alle Male festgestellt wäre. Das herrschend gewordene Punktationssystem ist das der Schule zu Tiberias, welches wir bis ungefähr in das V. Jahrhundert zurück verfolgen können. Welche Bedeutung diese Vokalisation und Accentuation hat, ist demnach klar: sie ist nichts anderes als die Bezeichnung für die Textauffassung, wie sie in der jüdischen Überlieferung herrschend war. Da aber die Schriftgelehrten mit peinlicher Sorgfalt bedacht waren, den Text unversehrt zu erhalten und fortzupflanzen, und da auch der Text, der den ältesten Übersetzern vorlag, mit dem durch die Schriftgelehrten punktierten zusammenstimmt, so dürfen wir die Vokalisation für wesentlich richtig halten. Die Schriftauslegung braucht sich nur in seltenen Fällen Abweichungen zu gestatten, und das in dieser Textpunktation niedergelegte Schriftverständnis ist ein wahrhaft erstaunliches.

 Anmerkung: Sehr wichtig sind die strengen Vorschriften des Talmud für die Verfertigung von heiligen Handschriften; er verordnet Musterhandschriften und befiehlt strengste Sorgfalt in der Schrift. Später zählte man die Verse, Worte, ja Buchstaben. Auch dann veränderten die Schriftgelehrten den Text nicht, wenn sie an demselben Anstoß nahmen. Sie ließen den ursprünglichen Text (das Chetib = das Geschriebene) stehen und schrieben das Keri (d. h. wie sie meinten, daß gelesen werden müsse) an den Rand. Soferne die Schriftgelehrten den Text überlieferten, nennt man sie Massorethen, ihre Bemerkungen| aber heißen die „Massora“, und zwar ist die Gesamtheit derselben die große, ein Auszug aber, der an den Rand des Textes oder unter denselben geschrieben wird, die kleine Massora.


§ 16.

 Mit großer Wahrscheinlichkeit läßt sich auch annehmen, daß die A. T.lichen Schriftsteller ohne Wortabteilung geschrieben haben. Als man anfing die Worte zu trennen, geschah dies durch Punkte oder kleine Zwischenräume zwischen den Worten.

 Später als die Wortabteilung kam die Teilung des Textes in kleinere und größere Abschnitte auf. Zunächst unterschied man in den poetischen Büchern teils die zusammengehörenden parallelen Glieder eines Gedankens, teils die einzelnen Glieder selbst in der Schrift von einander, sei es durch neue Zeilen, sei es durch kleine Zwischenräume. Zur Zeit des Hieronymus waren diese Abteilungen in den griechischen, lateinischen und hebräischen Handschriften bemerklich gemacht. – Was die Thora und die Propheten betrifft, so erwähnt schon die Mischna Versabteilung (Pesukim). Die Verse waren zum Behuf des Lesens gemacht und wurden durch zwei Punkte bezeichnet. Zum Abschluß kam die Versabteilung durch die schriftliche Feststellung der Accentuation des Textes. Größere Abschnitte als die Verse sind die Paraschen, die schon in der Mischna erwähnt sind. Der Pentateuch zerfiel in 669 solche Paraschen, die für den Zweck der Vorlesung entstanden sein dürften. Von diesen Paraschen unterscheide man die Sabbatsparaschen, 54 an der Zahl. Auch die Propheten sind in Paraschen abgeteilt worden. Hievon unterscheide man aber die Haphtaren oder Schlußlektionen des Sabbats, die den Sabbatsparaschen entsprechen. Zur Zeit Jesu und der Apostel scheint es nach Luk. 4, 17 ff., A.Gesch. 13, 15 die jetzt feststehenden Sabbatsparaschen noch nicht gegeben zu haben. Aber die kleinen Paraschen gab es schon; sie trugen den Namen vom Inhalt, wie denn z. B. Röm. 11, 2 der Abschnitt 1. Kön. 19 der Abschnitt „Elia“ genannt wird.

 Unsere gegenwärtige Kapiteleinteilung ist christlichen Ursprungs und stammt aus dem 13. Jahrhundert, entweder von Hugo von St. Caro († 1263) oder Stephan Langton († 1226). Die Versabteilung ist die der Juden; diese haben jetzt hinwiederum von uns| die Kapiteleinteilung angenommen. Die Synagogenrollen haben weder Vers- noch Kapiteleinteilung.


§ 17.

 Bis zum 15. Jahrhundert wurde der hebräische Text handschriftlich fortgepflanzt. Die Schriftgelehrten der Juden haben mit einer geradezu peinlichen Sorgfalt darüber gewacht, daß der Text nicht verfälscht würde. Die Handschriften, die wir noch haben, reichen freilich nicht über das 9. Jahrhundert, beweisen aber durch ihre Übereinstimmung die Sorgfalt, mit der sie abgeschrieben wurden, und die wunderbare Zuverlässigkeit der Textesüberlieferung. Soferne sich dennoch Verschiedenheiten der Handschriften finden, sind sie nur von sehr unwesentlicher Bedeutung. In allem Wesentlichen ist uns durch die jüdischen Schriftgelehrten der ursprüngliche Text des Alten Testamentes treu überliefert worden. Die Erfindung der Buchdruckerkunst erleichterte dann die Fortpflanzung des Textes. Die erste vollständige Ausgabe des ganzen Alten Testaments erschien zu Soncino 1488; die zweite zu Brescia 1494, aus welcher Luther schöpfte; die dritte in der Polyglotte von Complutum (Alcala) 1514 bis 1517; die vierte in Venedig durch Daniel Bomberg 1518 und korrekter 1526. – Der Complutensischen und Bomberg’schen Ausgabe folgten dann die meisten späteren Drucke, welche durch die Vergleichung der Masora und der Handschriften immer größere Richtigkeit anstreben.




Kap. 4.
Von den Übersetzungen.
§ 18.

 Die älteste uns erhaltene Übersetzung des A. Testamentes ist die alte Griechische, die Alexandrinische oder „Septuaginta“ genannt, und gewöhnlich mit LXX bezeichnet. Den Namen Septuaginta verdankt sie der Sage von ihrer Entstehung, wornach der König Ptolemäus Philadelphus von Ägypten sie durch 70 palästinische Juden herstellen ließ.

 Es existiert nämlich eine Schrift, die ein gewisser Aristeas verfaßt haben will, der selbst an der Übersetzung teilgenommen hätte. Dieser Pseudo-Aristeas, wahrscheinlich ein Jude, der nicht lange vor Christo schrieb, erzählt, der König| Ptolemäus Philadelphus habe die Absicht gehabt, eine Sammlung von Gesetzbüchern anzulegen, und zu dem Zweck auch eine Übersetzung der jüdischen Gesetzbücher veranstalten wollen. Demgemäß habe er den Hohepriester in Jerusalem um Dolmetscher ersucht; dieser aber habe aus jedem Stamme sechs erwählt und nach Ägypten geschickt, ihnen auch einen mit goldener Schrift geschriebenen Kodex mitgegeben. Nunmehr hätten die 72 Dolmetscher auf der Insel Pharos in 72 Tagen das Alte Testament übersetzt, der König hätte sie dem versammelten Volk der Juden vorlesen lassen, welche sie als ein heiliges Werk erklärten. Diese Sage schmückt Philo ins Wunderbare aus; auch die Kirchenväter berichten Wunderbares von der Entstehung der Septuaginta, besonders Justinus Martyr, welcher sagt, die Dolmetscher hätten von einander getrennt gearbeitet und doch alle 70 jede Stelle mit denselben Worten übersetzt. – Die Schrift des Aristeas ist aber unecht, und die aus ihr geflossenen Berichte sind ungeschichtlich.

 Die Wahrheit ist, daß Ptolemäus Philadelphus (284–247) allerdings das Gesetzbuch Moses ins Griechische übersetzen ließ; die anderen Bücher des A. Testamentes aber wurden erst später und zwar von verschiedenen und in verschiedenen Zeiten und in bald besserer, bald schlechterer Weise, bald textgetreuer, bald freier ins Griechische übertragen. Die Übersetzer waren ägyptische Juden, welche nicht so gewissenhaft mit dem Urtext verfuhren, als die palästinischen, und sich manche Abänderungen, Erweiterungen und Zusätze erlaubten. Ihren Abschluß fand die griechische Übersetzung des A. Testamentes jedenfalls bis zum Jahre 130 v. Chr.

 Die Übersetzung der LXX ging in den allgemeinen Gebrauch erst der alexandrinischen, dann auch der palästinischen Juden über. Deshalb citieren auch die N.T.lichen Schriften das A. Testament gewöhnlich nach dieser Übersetzung. Die Juden gaben aber diesen Gebrauch der LXX vom zweiten Jahrhundert n. Chr. an wieder auf, und hielten sich seitdem entweder allein an den Urtext oder an die zum Teil im Gegensatz zur LXX entstandene, buchstäblich genaue Übersetzung des zum Judentum übergetretenen Griechen Aquila, welcher nach Mitte des 2. Jahrhunderts übersetzte. Um diese Zeit suchte auch Theodotion die LXX zu berichtigen; doch nahm man bloß seine Übersetzung des Buches Daniel in Gebrauch. Noch freier, aber auch verständlicher übersetzte später Symmachus das A. Testament ins Griechische. Die christliche Kirche behielt aber allein die LXX im Gebrauch; man hielt sie für inspiriert, so gut wie den| hebräischen Text, und bei Verschiedenheiten zwischen Urtext und LXX gab man dieser den Vorzug. Sie gilt noch jetzt als die authentische Übersetzung des A. Testaments in der griechischen Kirche.


§ 19.

Bis ins zweite Jahrhundert gebrauchte auch die lateinische Kirche nur die griechische Übersetzung des A. Testaments. Jetzt aber entstand in Nordafrika eine lateinische Übersetzung sowohl des Alten, als des Neuen Testaments. Es wurde ihr der Text der LXX zu grunde gelegt. Da sich diese lateinische Übersetzung im ganzen Abendlande verbreitete, so wurde sie in dem Gebrauche in den verschiedenen Kirchen sehr verändert. Dies ist die altlateinische Übersetzung, welche Augustin in der Gestalt, die sie in Italien trug, kennen lernte und Itala nannte.

Eine neue lateinische Übersetzung des A.T. fertigte (c. 390–405) Hieronymus, und zwar unmittelbar aus dem hebräischen Texte, um dem Bedürfnisse solcher abzuhelfen, welche in den Disputationen mit den Juden wissen wollten, was der hebräische Text wirklich enthalte und was nicht. Diese Übersetzung, obwohl sie, wo nur immer möglich, an die LXX sich anschloß, fand doch nur unter heftigen Widersprüchen sehr langsam in der abendländischen Kirche Eingang. Seit dem 7. Jahrhundert aber hatte sie im Abendlande allgemeine kirchliche Geltung und hieß deswegen die Vulgata. Sie war es wert, kirchliche Übersetzung zu werden, denn sie ist im ganzen treu, ohne daß die Treue in der Wiedergabe des Urtextes der Angemessenheit der Sprache Eintrag thut. Das Konzil von Trient hat die Vulgata, für die authentische Übersetzung des Alten Testaments erklärt.


§ 20.
Auch die Juden haben, nachdem sie sich von der LXX abgewendet hatten, authentische Übersetzungen des A. T. angenommen, nämlich die Targume. Es sind dies Übersetzungen oder Umschreibungen der A.T.lichen Bücher aus der hebräischen Grundsprache in die Sprache, welche vor und nach Christi Geburt bei den Juden in Palästina und Babylonien die eigentliche Volks- und Landessprache war. Wir besitzen solche Targume über sämtliche Bücher des A. T. mit Ausnahme des Daniel, Esra und Nehemia; über den Pentateuch drei und das Buch Esther zwei verschiedene. Sie| dienten ursprünglich gottesdienstlichem, später nur noch privatem Gebrauche. Über die Entstehung dieser Targume sind die geschichtlichen Nachrichten meist sehr unsicher. Die ältesten Targume sind, wenigstens ihrer Grundlage nach, die des Onkelos zum Pentateuch und die des Jonathan, Sohn Usiels, zu den Geschichtsbüchern und Propheten. Onkelos saß als Mitschüler des Apostels Paulus zu den Füßen Gamaliels, und Jonathan, der Sohn Usiels, gehört der Schule Hillels an. Die Übersetzung des Onkelos ist verhältnismäßig treu und schließt sich eng dem Grundtexte an; Jonathan ist schon freier und umschreibt oder erklärt, anstatt zu übersetzen. Von Wert für uns sind die Targume, weil sie (implicite) die Schriftauslegung jener Zeit darstellen. – Ganz anderen Charakter tragen das Targum Jeruschalmi und das Targum des Pseudo-Jonathan zum Pentateuch, sowie die Targume zu den Hagiographen, alle aus talmudischer und nachtalmudischer Zeit. Sie verweben die ganze religiöse Sage (Haggada) mit dem Texte, wozu sich freilich schon bei Jonathan, Sohn Usiels, Anfänge finden.


§ 21.

 Unmittelbar aus dem Grundtexte mit Benützung der LXX und der Targume floß auch die syrische Übersetzung. Von ihrer Einfachheit und Treue heißt sie Peschitto, die einfache (wörtliche). Ihre Urheber sind christliche Syrer, Judenchristen, welche sie nicht später als im 2. Jahrhundert zum kirchlichen Gebrauch anfertigten. Sie hat stets in großem, wohlberechtigtem Ansehen gestanden, obwohl später noch eine andere, eng an die LXX sich anschließende syrische Übersetzung entstand.

 Hier mag auch erwähnt sein, daß, als der Islam und mit ihm die arabische Sprache sich ausbreitete, auch arabische Übersetzungen des A. T. entstanden. Bekannt ist die des Rabbi Saadia Gaon († 942).


§ 22.

 Neue Übersetzungen des A. T. aus dem Grundtexte brachte das Zeitalter der Reformation. Wir nennen besonders die deutsche von Luther (1522–34) und die slavische von einigen Gelehrten der böhmischen Brüderkirche, gefertigt auf dem Schlosse Kraliz und deshalb die Kralizer Bibel genannt.


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Kap. 5.
Von der Auslegung des A. Testaments.
§ 23.

 Bei der Auslegung der h. Schrift kommt es hauptsächlich an

1. auf Erforschung des Wortsinns (grammatische Auslegung);
2. auf das Verständnis des biblischen Buches oder einer biblischen Stelle aus der Erwägung aller historischen Umstände, unter welchen der Verfasser schrieb (historische Auslegung);
3. auf Erkenntnis der göttlichen Heilswahrheit, welche sich auf dem Wege der Inspiration mit dem menschlichen Worte der heiligen Schriftsteller verband (theologische Auslegung).

 Wenn die h. Schrift so ausgelegt wird, daß nur eines von den genannten drei Stücken vernachlässigt wird, so entsteht Verdunkelung des Sinnes. Die Geschichte der Kirche liefert dazu vielfältigen Beweis. Insonderheit muß die Inspiration der h. Schrift auch hinsichtlich des Alten Testamentes dem Ausleger feststehen; der gesamte Kanon will als vollendetes Werk des h. Geistes erkannt sein, in welchem jedes einzelne Buch, wie am Leibe jedes einzelne Glied, im organischen Zusammenhange steht und dem Zwecke der gesamten göttlichen Heilsoffenbarung dient.


§ 24.
 Die kirchliche Auslegung schloß sich anfangs eng an die allegorisierende Weise der Alexandriner an. Origenes, der Vater der altkirchlichen Exegese, unterschied den buchstäblichen, psychischen und pneumatischen Sinn der Schrift. Dagegen trieb man in der antiochenischen Schule (Theodor v. Mopsveste) die grammatisch-historische Weise der Auslegung hie und da bis zum Extrem. Die Mitte halten einigermaßen Theodoret und in der abendländischen Kirche Hieronymus, obwohl auch bei ihnen die historische und mystische Auslegung unvermittelt neben einander stehen. – Das Mittelalter hat keine selbständige Auslegung, sondern excerpiert die Exegesen der Kirchenväter (Glossa ordinaria von Walafried Strabo 842), soweit ihm nicht durch Verkehr mit Juden einiges grammatisch-historische Verständnis ermöglicht ist (Postilla von Nikolaus von Lyra 1341). Die Reformation bricht wenigstens dem Grundsatze nach mit dem Allegorisieren; Grammatik und die aus den klaren Stellen geschöpfte| Glaubensanalogie werden die Mittel der Auslegung, doch wird die Glaubensanalogie häufig mit dem theologischen System verwechselt. Durch die Reaktion des Pietismus und Rationalismus bricht sich die grammatisch-historische Auslegung Bahn, die sich in unserer Zeit durch die theologische zu ergänzen und so zu vollenden strebt.

 Anmerkung. Hauptgrundsatz: Sacra scriptura sui ipsius interpres, d. i. die heilige Schrift legt sich selbst aus. Wichtigkeit der Parallelen. Sach- und Wort-Parallelen. Konkordanz.





  1. Anmerkung. Die alte Reihenfolge der Bücher der Bibel war folgende: Pentateuch, Josua, Richter, Samuelis, Könige; Jeremia, Ezechiel, Jesaja; Ruth, Psalter, Hiob, Sprüche, Prediger, Hoheslied, Klagelieder, Daniel, Esther, Esra mit Nehemia, Chronika.
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