Predigten für die festliche Hälfte des Kirchenjahres/Am Sonntag Sexagesimä 1836

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Predigten für die festliche Hälfte des Kirchenjahres
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Am Sonntag Sexagesimä.
(Altdorf 1836.)


Luk. 1, 32. 33. ER wird groß und ein Sohn des Höchsten genannt werden, und Gott der HErr wird Ihm den Stuhl Seines Vaters David geben, und ER wird ein König sein über das Haus Jakob ewiglich, und Seines Königreichs wird kein Ende sein.

 Nachdem wir von dem Prophetentume und dem Priestertume Christi gepredigt haben, reden wir heute von dem dritten Amte, dem Königtums JEsu Christi. Einen Teil dessen, was zu diesem Amte gehört, habe ich bereits voriges Jahr, am Namenstage unserer Königin, abgehandelt, den vor allen, daß ER ein König sei. Heute soll nun das Übrige vorgenommen werden. Zu diesem unserm Vorhaben paßt vortrefflich unser Text, in welchem der Engel Gabriel schon vor der Geburt JEsu Christi ansagt, daß ER ein König sein werde ewiglich über das Haus Jakob. Der HErr verleihe nun, daß, was wir reden werden, zu Seines Namens Preis und eurer Seelen Seligkeit ausschlagen möge. Amen.




I.

 Eine zwar sehr müßige, aber der Vernunft leicht auffällige Frage wäre zuerst zu beseitigen, nämlich die: „Wenn Christus ein König ist, welcher alles thun kann, was ER will, wozu braucht ER denn erst für uns zu bitten, was ER uns geben will?“ Antwort:

 1. Da ER nicht allein König, sondern auch Priester ist, wie das die heilige Schrift auf das deutlichste lehrt; so muß| ER seine beiden Ämter auch üben, wie geschrieben ist: „wer ein Amt hat, der warte des Amts.“ Da nun Sein Priestertum es mit sich bringt, daß ER auch Fürbitte thun muß, so herrscht ER nicht allein, sondern ER bittet auch für uns.

 2. Ob ER wohl König ist, und thun kann, was ER will, so muß ER dennoch für uns bitten, auf daß erkannt werde, daß Sein Königtum auf Seinem Priestertum beruht. Hätte ER das große Opfer nicht für die Welt vollbracht, hätte ER sie nicht mit Seinem Blute gereinigt, so wäre die Welt niemals ein Reich JEsu Christi und Gottes geworden, sondern des Teufels Reich geblieben. Nur um des ewigen Opfers willen sind wir ein Reich Gottes – nur, weil der Hohepriester einmal mit seinem eignen Blute zu Gott einging und für uns bittet, darf Er die Ihm übergebene königliche Gewalt zu unserm Heil anwenden. Ein Priester hat mit einem Opfer und Seiner Fürbitte das Reich gegründet – und wie ER’s gegründet hat, so wird’s erhalten – durch Fürbitte. So gehen Priestertum und Königtum zusammen.

 3. Endlich darfst du dir den ewigen Fürbitter nicht denken, wie einen Bettler vor der schönen Thür des Tempels – Seine Fürbitte nicht so niedrig und klein, wie ER etwa in den Tagen Seines Fleisches nach Hebr. 5, 7 Gebet und Flehen mit starkem Geschrei und Thränen geopfert hat zu dem, der Ihm von dem Tode konnte aushelfen. Schon das Wort Fürbitte ist zu gering für das, was eigentlich gemeint ist – es steht im Grundtext ein gewaltiges, der majestätischen Handlung angemessenes Wort. Nach Röm. 8, 34 sitzt ER, während ER für uns Einsprache thut und uns vertritt auf Seinem ewigen Throne zu Gottes Rechten. Es läßt sich nichts Prachtvolleres denken, als wenn der ewige König Seines erlösten Volkes Sache vor dem ewigen Richterstuhl als der höchste Beistand führt. Etwas davon ahnt man schon, wenn ER Joh. 17, 24 so bestimmt und kräftig in der Nacht, da ER verraten ward, spricht: „Vater, Ich will, daß, wo Ich bin, auch die bei Mir seien, die Du Mir gegeben hast, auf daß sie Meine Herrlichkeit sehen.“ Wir werden es völlig und mit Erstaunen sehen, wenn wir durch Seine Fürbitte zum Anschauen Seiner| Herrlichkeit gekommen sein werden. Da wird uns unser Auge überzeugen, was das Unaussprechliche ist, daß unser ewiger König uns vor Gott vertritt.


II.
 Wenn wir nun weiter von dem König Christus reden, so reden wir nicht davon, daß Christus Seiner göttlichen Natur nach ein König über alles sei; denn das ist nichts Sonderliches, daß Gott König der Welt ist. Wir lehren aber das, daß Christus um seiner Vereinigung mit der Gottheit willen auch als Mensch ein ewiger König war und ist und sein wird. Um dieser Vereinigung mit der Gottheit willen ist ER schon in Mutterleib ein König gewesen über alle Dinge – ER ist in Purpur und Krone geboren, obgleich in der Krippe Ihm niemand solche hohe Würde angesehen hat. Wohl war von Seiner Empfängnis an göttliche Gestalt Sein Eigentum – ER hätte ebensogut mit himmlischem Prangen als ein König geboren werden können, als auf andere Weise; aber ER wollte nicht Sein göttliches Wesen, welches ER in Vereinigung mit der göttlichen Natur teilhaftig geworden war, vor aller Augen zeigen, wie einen Raub: ER erniedrigte sich selbst. Wenn von seiner Erniedrigung gesprochen wird, so meint man damit nicht, daß der Sohn Gottes die Macht an sich nahm, ein Mensch ward; denn ein Mensch ist ER auch jetzt noch im Stande Seiner Herrlichkeit und ewig: – man redet da von seinem erbärmlichen Zustand, welchen ER sich nach der Menschwerdung auf sein Leben in der Zeit erwählt hat zu unserm Besten, welcher nach Seiner Auferstehung aufgehoben wurde, – daß er nämlich ein Leben führte, wie ein Knecht, Knechtsgestalt annahm, an Gebärden wie ein anderer Mensch war, da ER doch durch Seine Vereinigung mit der Gottheit der hochgeborenste der Menschen und über alle Menschen erhaben war, daß ER in heiligem Gehorsam Sein Leben lang dem Kreuz nachjagte, bis ER’s auf Golgatha fand und für uns erlitt. – So niedrig ER aber auch war auf Erden, ein Bettler, von Almosen und der Weiber Gaben lebend und am Kreuze einem Wurm gleich geworden; so war ER dennoch| von Geburt an ein König, und aus aller Seiner tiefen Niedrigkeit blickt dennoch diese Seine königliche Würde unverkennbar überall hervor. ER kam in Sein Eigentum, in Sein Reich, arm und klein, – und die Seinen nahmen Ihn nicht auf; aber hie und da gab es dennoch eine Seele voll heiliger Einfalt, eine Nathanaelsseele, welche glaubte und erkannte, daß ER der König Israels war. ER ging als ein Verbannter und Geächteter in Seinem Reiche herum und suchte Seine Krone, Sein Scepter: als ER aber auf Golgatha Krone und Scepter gefunden hatte, da ließ ER bald den Schleier fallen, schüttelte den Staub der Niedrigkeit von den Füßen, that sich mit ewiger Klarheit an und sprach: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden.“ „Ich fahre auf zu Meinem Vater und zu eurem Vater.“ Dorthin hat ER sich geschwungen, im Stande Seiner Herrlichkeit lebte ER, ein König dort wie hier, nur mit dem Unterschied, daß ER sich hier des Gebrauchs von Krone und Scepter enthielt, dort aber nicht mehr. Nun herrscht ER, und obwohl Seine Majestät ein Glaubensartikel ist, so ist doch der Glaube an die Majestät eine ewige Gewißheit, und einmal wird sich Glaube in Schauen verwandeln. ER wird wiederkommen, und alle Augen und alle Könige werden inne werden, daß ER auf Seinem Haupte viele Kronen hat, daß ER ist ein Fürst aller Könige auf Erden, des Name ist: Treu und wahrhaftig und richtet und streitet mit Gerechtigkeit! Halleluja! (Offb. 1, 5. 9, 11 ff.)


III.

 Das Reich aber, welches JEsus Christus hat, ist dreifach:

 1. Das Reich der Natur. Unter Natur versteht sich alles, was geschaffen ist. Denn so weissagte von Christo der heilige Sänger Ps. 8, 6 ff.: „Du hast Ihn lassen eine kleine Zeit von Gott verlassen sein, aber mit Ehren und Schmuck hast Du Ihn gekrönet. Du hast Ihn zum HErrn gemacht über Deiner Hände Werk; alles hast Du unter Seine Füße gethan“, – und St. Paulus Ephes. 1, 20 ff. predigt gewaltig von der Erfüllung: „Er hat Ihn von dem Tode auferweckt und| gesetzt zu Seiner Rechten im Himmel über alles Fürstentum, Gewalt, Macht, Herrschaft und alles, was genannt mag werden, nicht allein in dieser Welt, sondern auch in der zukünftigen – und hat alle Dinge unter Seine Füße gethan und hat Ihn gesetzt zum Haupt der Gemeine über alles, welche da ist Sein Leib, nämlich die Fülle des, der alles in allem erfüllet.“
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 So ist denn JEsus Christus, der da ist Gott und Mensch in einer Person, König der Welt, in allen ihren Winkeln gegenwärtig, alle Notdurft aller Wesen wissend, mächtig und willig, allem Bedürfnis und Mangel abzuhelfen. ER, der Mensch JEsus Christus, führt Zügel und Ruder der Welt: ER erhält den ganzen Bau der Welt, die Erde und ihren Mond und ihre Sonne und ihre Lichter und Sterne allzumal und den Himmel, erhält das Große, und die Mücke im Sonnenstrahl lebt auch von Seiner Gnade, und wie lange die Schneeflocken unzerschmolzen liegen, das ist von Ihm geordnet. ER, der HErr Christus, der da Gott ist und Mensch und in des Vaters Schoß und Fülle sitzt, versorgt alle Dinge; ER spendet der Sonne das Licht, daß sie ferner leuchten kann, – und, wie einst das kranke Weib durch Anrühren des Saumes JEsu genas, so geht von Ihm aus Kraft, daß die Erde vom Winter geneset zu jugendlicher Pracht des Frühlings, JEsu Hände schmücken Berg und Thal, auf Sein Gebot wächst Korn und Most und Öl, und Gras zum Futter für das Vieh, JEsus Christus gedenkt des Walfisches, der im Meere brauset, und des Elefanten, ER des Raben im Winter und des hungernden Sperlings, daß sie nicht verhungern: ER ist der Brotschaffer aller Millionen, und die Mücklein im Sonnenstrahl leben von Seinen Brosamen. ER beschirmt die Welt, daß nicht von oben her ein Unglück ihr nahe ohne Seinen besonderen und weisen Willen, ER behütet sie, daß nicht in ihrer Mitte verderbte Dinge aufkeimen wider Seinen Rat, ER bewahrt sie, daß nicht von außen her irgend ein Übel sich nahe. ER ist ein guter Hirte aller Wesen und regiert sie freundlich und lieblich bis zu dem Ziele, welches ER samt Vater und Geist von Ewigkeit bestimmt hat. ER ist ein frommer König, ER herrscht von einem Meer bis| ans andere und von dem Wasser an bis zur Welt Ende Ps. 72, 8. Zach. 9, 10. Sein Ausgang ist von Anfang und von Ewigkeit her, und Sein Königreich hat kein Ende. Dan. 7, 14.

 O lieben Brüder! wie gut ist es, daß JEsus Christus ewiger König der Natur ist, und daß alle unsere Wege von Ihm geleitet werden! ER ist selbst ein Mensch und war einst niedrig und elend, mehr als wir. ER weiß, wie es dem Menschen zu Mute ist; Seine Hand ist mitleidig, und was ER uns zuschickt, muß das sein, was uns das Beste ist. Es fällt ohne Ihn kein Sperling vom Dach und kein Haar vom Haupt: wie sollte ohne Ihn Seinen geliebten Bruder im Elend, den Menschen, etwas treffen können? „Es kann mir nichts geschehen, als was ER hat versehen.“ In so verwandte, liebevolle Hände kann man sich getrost ergeben, und wenn sie uns ins Grab führen, soll das Grab für uns gut sein – und wir müssen im Frieden hinabsteigen können. Wohl uns, daß ER regiert! – Und dann, Brüder, weil denn Seine liebevolle Hand uns versorgt und über uns wacht: wie können wir nun so leicht thun, was ER sagt, wenn auch die Welt erzürnt wird über uns: sie ist ja unter Ihm, und was sie uns thut, thut ER uns, und dann ist’s gut! Nun kann ein Christ getrost der Welt völlig absagen, wie Christus gebietet; es kann ihm ja nicht schaden, es ist das Gebot der Liebe JEsu voll, der kein Gebot giebt zum Unheil der Seinen! Ja, ewiger König und Bruder, auf Dein Gebot will ich mein Netz auswerfen und Segen fangen, auf Dein Gebot will ich die Netze verlassen und mit Dir in die Wüste gehen, wo Du aus Wenigem 5000 Mann Speise bereitest, auf Dein Gebot bin ich in die Welt gegangen, und wenn Du es sagst, gehe ich wieder weg! Alles an Deiner Hand, nach Deiner Fügung, ewiger König!


IV.
 Das zweite Reich, welches JEsus Christus hat, ist das Reich der Gnaden. Dies Reich der Gnaden ist nichts anderes, als die hier auf Erden streitende Kirche, zu welcher alle die gehören, welche in heiliger Abgeschiedenheit von der Welt,| Ihm leben und Ihm sterben, welche Gottes reine Lehre bekennen und die heiligen Sakramente nach unverkümmerter Einsetzung Christi genießen. Für diese Seine Kirche ist Christus einst gestorben, hat sie mit dem teuern Lösegeld Seines Blutes erkauft von der Gefangenschaft der Sünde, des Todes und des Teufels, hat sie erworben mit saurer Arbeit und blutigem Schweiß, wie ein Landmann mit harter Arbeit Seine Gabe erwirbt, hat sie gewonnen im harten Kampf und Strauß mit Darangabe seines Leibes und Lebens, als ein edler Held. Sie ist Sein rechtmäßiges Eigentum, und nun auf Gottes Throne nimmt ER, was ER gewonnen hat, was Sein ist, in Empfang.
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 ER sammelt seine auserwählten Schafe aus allen Völkern. Die Schafe, die ER gewonnen hat mit Seiner Kreuzesarbeit, sind überall zerstreut; da geht ER, der unsichtbare, aber allgegenwärtige König, wie ein Hirte, täglich aus, sie zu suchen. „Siehe, spricht ER, Ich will Mich Meiner Herde selbst annehmen und sie suchen. Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will Ich Meine Schafe suchen, und will sie erretten von allen Örtern, dahin sie zerstreut waren zur Zeit, da es trübe und finster war. Ich will sie von allen Völkern ausführen, und aus allen Ländern versammeln, und will sie in ihr Land führen, und will sie weiden auf den Bergen Israels, und in allen Auen und auf allen Angern des Landes. Ich will sie auf die beste Weide führen, und ihre Hürden mitten auf die hohen Berge in Israel setzen; daselbst werden sie in sanften Hürden liegen und fette Weide finden auf den Bergen Israels. Ich will selbst Meine Schafe weiden, und Ich will sie lagern, spricht der HErr HErr. Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte wiederbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache warten.“ Ezech. 34, 16. Ja, ER, und Seine Diener, unablässig suchen sie, sammeln die Lämmer in Seine Arme, dann trägt ER die Lämmer in Seinem Busen und die Schafmütter führt ER (Jes. 40, 11). Und, Brüder, wenn irgend einer gesammelt ist in wahrhaftigem Glauben zur Herde, zur Menge und Kirche der Gläubigen, der bete an und| danke; diese Wohlthat hat ihm kein anderer Mensch, hat ihm der Menschensohn, der ewige König Christus selbst gethan.
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 ER sammelt sie aber nicht nur, sondern wenn sie zu Seiner Herde gekommen sind, so leitet ER sie auch und erhält sie auf Seinen Wegen und bei Seiner Herde. Ach, wir haben gar wenig Weisheit, selbst den Weg zum ewigen Heil zu finden; niemand ist angefochtener, als wer auf JEsu Wegen geht: wo der Geist des HErrn geschäftig ist, etwas Gutes zu wirken, da ist die Welt und der Teufel desto geschäftiger, es zu verhindern. Wer hat mehr Lockung und Reizung zum Bösen abzuweisen und aufzuweisen, als die, welche zum Guten eilen, und was kann man in einer Welt voll Bosheit schwerer behalten, als das Gute? Wie weit ist’s vom Anfang des christlichen Lebens bis zur Vollendung, wie lange dauert der Kampf, bis der Sieg erfolgt? Wie lange wird einem oft die Zeit des Wartens, und wie oft ertötet die Gewohnheit dieses Lebens den heiligen Eifer, die Sehnsucht nach oben, wie lahm wird man oft in den irdischen Geschäften! Wie bange wird manchmal der Seele um ihre Seligkeit, wie fürchtet sie sich oft, das Ziel zu verfehlen, und berufen, nicht auserwählt zu sein; wenn dann die Knie wanken, die Hände zittern, die müde Seele zagt, die Augen weinen: wer soll da helfen? wer tröstet? Der König, der ewige, der Sieger JEsus Christus! Der uns berufen hat, der wird’s thun, der erhält uns! Der Anfänger unseres Glaubens ist auch der Vollender, daß wir unseres Glaubens Ende, der Seelen Seligkeit gewinnen! ER weiß die Wege und führt sie uns, bei Tag und Nacht, es mag uns helle oder finster dünken; wer nur auf Seine Stimme hört und Ihm vertrauend folgt, wohin sie lockt, verirrt nicht! ER hat Adlerflügel, und wenn Mut und Kraft gebricht, trägt ER mit ihnen, wie ER Sein Volk Israel vierzig Jahre nach Seiner eigenen Aussage auf Adlerflügeln getragen hat! ER nimmt die Müden auf Seine Achsel und trägt sie durch Wasser und Feuer; kein Strom ersäuft, keine Hitze verzehrt sie! Niemand kann Ihm Seine Schafe aus den Händen reißen. ER kämpft für uns, und wir sind stille, und endlich, endlich bringt ER uns zur Ruhe;| denn wie Josua das Volk Israel in ein Land brachte, wo Milch und Honig floß, so führt uns unser Josua in ein leidloses Land; denn es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volke Gottes, und ER, der Herzog unserer Seligkeit, ruht nicht, bis ER Seine ganze aus allen Völkern gesammelte Herde hindurchgebracht hat bis zu der Thür der Ewigkeit, der ewigen Ruhe, wo alles ruht von seiner Arbeit, wie Gott von Seiner!

 Ist ein Herz, das einen Anfang des Glaubens hat, dem wegen der Vollendung bange ist? Getrost: der ewige König siegt; Sein ausgestreckter starker Arm führt hindurch! Preiset Ihn!


V.

 Das dritte Reich unsers HErrn JEsu ist das Reich der Herrlichkeit. Dies Reich der Herrlichkeit fängt an mit dem Ende des Gnadenreiches, fängt an am jüngsten Tage. ER, JEsus Christus, das von der Welt allzeit verachtete, aber von Gott und Seiner Kirche hochgeehrte Lamm Gottes, wird am Ende Seine königliche Macht und Ehre vor jedermann männiglich beweisen. Darauf, auf die selige Erscheinung des großen Gottes und Heilandes JEsu Christi, wartet die heilige Kirche. Er wird beweisen Seine königliche Herrlichkeit:

 1. in der Auferweckung der Toten. ER hat Macht über alle! über die, welche Ihn geliebt haben, noch ehe sie Ihn gesehen, und über die, welche Ihn und Seine heilige Lehre und ein gottseliges Leben gehaßt, verlacht, verspottet und verspeiet haben. Auf Sein königliches Machtgebot werden aus ihren Gräbern gehen, die da gern und die ungern kommen, die, welche gern der Zeit noch schnellere Flügel gönnen möchten, daß sie Ihn bald schauen könnten, und die, welche den tiefsten Schlund der Hölle dem Anschauen der königlichen Pracht dessen vorzögen, den sie auf Erden, so viel an ihnen lag, noch einmal gekreuzigt und getötet hätten? Sie werden schauen, in welchen sie gestochen haben, daß ER König ist, daß Seine Aussage vor Pilato, daß die Überschrift am Kreuz wahr gewesen! Meine Seele sei nicht im Rate der Verächter, daß sie nicht mit ihnen ausgetilgt werde.

|  2. Seine königliche Weise wird sich ferner zeigen, wenn er über die versammelte Macht Gericht hält. Denn der Vater hat alles Gericht dem Sohne übergeben. Nicht wird ER richten, die sich hier selbst in Reue und Buße gerichtet haben, die sich selbst für verdammenswürdig erkannt und deshalb um Gnade Ihn angerufen haben! nicht wird ER richten, die ihre weinende Seele durch den Glauben an Sein Verdienst getröstet hatten, die ihn zur Ruhe angenommen haben und zum Troste auf Erden, die der HErr verflucht hat; denn wer an Ihn glaubt, der wird nicht gerichtet; er ist bereits vom Tode zum Leben hindurchgedrungen!

 Nicht allein wird ER richten, die hier in groben offenbaren Sünden die Gnadenzeit vergeudet haben, nicht allein die Hurer, Ehebrecher, Knabenschänder, Weichlinge, nicht allein die, welche der Augenlust und Hoffart gefrönt haben, nicht allein die Spieler und die Säufer, die Diebe, Betrüger und Räuber, sondern auch die ehrbaren Leute, die in Achtung vor ihren Mitbürgern gewandelt und gestanden haben, aber ihre Seele, die Buße und Reinigung der Sünden, den Glauben und den Kampf des Glaubens und die Heiligung des Herzens vergessen haben, ohne welche niemand den HErrn sehen kann; auch die frommen Heuchler, die da Werke thun, auf daß sie gesehen werden, und die Sprache brauchen, um das Innere zu verhüllen! Ja! sie werden erkennen, daß vor Ihm alles offenbar ist, daß ER das Herz ansieht, daß vor Ihm nichts gilt, als die Neugeburt, die neue Kreatur, der Glaube, der in Liebe thätig ist!

 3. Seine königliche Majestät wird sich ferner zeigen, wenn ER mit der Schar der erlösten Menschheit zu dem ewigen Ort durch die Lüfte sich erhebt, woselbst Seine Herrlichkeit ausgebreitet sein wird, wenn ER voran, die Menge der Seligen hinter Ihm her unter ewigen Lobgesängen und unter dem Donner der zusammenstürzenden Welt, unter dem Lodern des Weltbrandes sich zum ewigen Thron erhebt, um aus den Leichen der Welt eine neue, schönere zu bauen, wenn ER nach neugeschaffnem Himmel, neuer Erde zurückkehrt mit den Seinen auf die neue Erde, in dem neuen Paradiese ein neues und| ewiges Regiment zu beginnen! Zeigen wird sich dann, wie ER ein König aller Könige ist und bleibt!


VI.

 O wohl denen, die da glauben! selig sind die, welcher Glaube nicht als tot, sondern als lebendig erfunden wird! Selig die, welche im Reiche der Gnade unter JEsu Christo wahrhaftig aufgenommen sind und in Eintracht mit der pilgernden Gemeinde, stehend in Hoffnung, die himmlische Stadt suchend, die einen Grund hat, von Gott erbaut! Wohl denen, die von Tag zu Tage mehr der Welt sich entreißen und sich leiten, regieren, strafen, läutern lassen durch den Geist des HErrn! Wohl den tapferen Streitern, den Überwindern in Hoffnung! Schön ist’s schon unter JEsu Scepter im Gnadenreiche, mitten im Jammer und Streit, im tiefsten Leide schöner, als in der Welt; aber schöner doch wird sein das Reich der Herrlichkeit! Und dieses Reich der Herrlichkeit, den Überwindern ist es verheißen! Ja, wer überwindet in seinem Leben, der überlebt das Gnadenreich, der wird aufbehalten fürs Reich der Herrlichkeit, stirbt ewig nicht! ER wird ihren nichtigen Leib verklären an jenem Tage, daß er ähnlich werde Seinem verklärten Leibe; ER wird sie machen zu Priestern und Königen vor Gott und Seinem Vater, ER hat ihnen aufbehalten nach Seiner Verheißung ein Kleid der Unschuld, ein weißes, reines, eine schöne Krone, die sie empfangen werden aus Seiner Hand, sie werden mit Ihm sitzen auf Seinem Stuhl, sie werden mit Ihm herrschen! Sie werden sein wie ER! Sie werden Miterben JEsu sein bei dem Vater ewiglich!

 Aber ach, die meisten überwinden nicht, die meisten werden Seine Herrlichkeit nicht schauen! Denn ein großer Teil, trotz aller Einladung, trotz aller Berufung, mögen nicht in den Streit; sie mögen nicht anfangen, wie sollen sie vollenden? Sie fürchten das Kreuz, wie sollen sie die Krone erlangen? Sie lieben die Erde, wie sollen sie teilhaben am Königreich, das nicht von der Welt? O daß ich euch berufen könnte kräftiglich, daß ihr kämet, es wagtet, kämpftet! Brüder!| daß ihr’s thätet, daß ihr einen Anfang des Streites machtet, damit eine Aussicht, eine Hoffnung auf Vollendung, auf Überwindung wäre!

 Viele fangen an, freilich, sie legen die Hand an den Pflug, aber sie sehen wieder zurück: es reut sie der Anfang! Viele beginnen, aber es geht nach dem Worte JEsu: „Viele haben’s thun wollen, aber sie haben’s nicht vermocht.“ Warum? Sie haben die Weisheit verlassen, die sie im Anfang hatten. Ihr Anfang war Buße und Glauben, ihr Anfang war Christus, sonst keiner; nun aber sie angefangen, bleiben sie stehen in der Buße, meinen genug gethan zu haben, fertig zu sein. Da, wehe, bricht der Faden ihres geistlichen Lebens ab. Denn die Buße, die Demut, muß fortgehen lebenslang, und lebenslang hat man an der Buße zu lernen, an der Demut. Ihre einzige Hülfe anfangs war Christus; den hielten sie im Glauben, den Tilger ihrer Sünden; nun aber wissen sie wohl, daß ohne Heiligung niemand den Herrn sehen kann; da fangen sie an, selbst auf Heiligung zu denken, ohne daß Gottes Geist sie treibt, statt nur an JEsu zu bleiben, statt nur alle Tage Vergebung zu holen, statt nur in Ihm zu ruhen, statt nur Ihn walten zu lassen, der sie zum Lebensbrunnen führt! Da werden sie werkheilig, und wehe, was ist’s nun: Werkheiligkeit ist Stolz, Stolz ist die größte Sünde, der gewaltigste Feind des Glaubens: da hat man mit einemmal nur einen Maulglauben an Christum, man ist sich selbst ein Christus geworden, unter christlichem Schein, unter Verleugnung Seiner Kraft, in Anstrengung eigener Kraft läuft man dem Kleinod nach, wird müde, matt und lau, ist in Gefahr, ausgespieen zu werden aus des HErrn Mund!

 O wenn in einem unter euch der heilige Geist das Werk der Buße begonnen hat, so bleibt in der Buße, teure Brüder, bleibet; lasset euch durch Schmerz, durch Demut nicht bitter werden; denn wohl dem Weinstock, auf den die Hippe des Weingärtners acht hat ohne Ende! Und wenn einer unter euch an sich selbst nichts mehr Gutes spürt, wenn ihn der Geist treibt, auszugehen von sich selbst zu JEsu Christo, zu dem Tilger seiner Sünden und in Ihm seine einzige Rettung,| seine einzige Gerechtigkeit zu suchen: dann, Brüder, haltet, was ihr habt! Ihr seid auf dem rechten Wege, auch wenn er euch lang werden sollte, und des Glaubens Kraft und Tugend nicht allzeit für euren wankelmütigen Gedanken klar sein sollte! Wer glaubt, wird ewiglich bleiben, wer glaubt, wird selig werden: das ist Gottes Wort! Bleibt ihr in Buße und Glauben, dann seid ihr Pflanzen Gottes guter Hoffnung, dann seid ihr getrost, harret des HErrn und seid unverzagt, harret des HErrn! ER wird ja den Müden Kraft geben, ER wird ja Wort halten, der da spricht: „Fürchte dich nicht, Ich bin bei dir!“ ER wird ja Sein Wort hinausführen, und wie meint ihr, wie wir sein werden, wenn es hinausgeführt ist? „Wenn der HErr die Gefangenen Israels erlösen wird, dann werden sie sein wie die Träumenden.“ Wie werden wir uns wundern nach dem letzten Kampf, dem letzten Augenblick, wenn man über uns auf Erden klagt, als über Tote, daß wir leben, daß Gottes Engel Freudenlieder singen, daß wir gekommen sind zu dem Berge Zion, zum König JEsu, ins verborgene Reich, zum stillen Frieden? wie werden wir danken dem Gott, der Wunder thut! an uns gethan hat und den Menschen von Staub ein ewiges Leben gegeben, und den Sünder zum Heiligen erklärt hat! O dies Wunder geschehe an unser vielen! O JEsu, JEsu! Amen.




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