2) Die Zeit absolut, im Gegensatz zu αἰών, der Zeit mit gewisser Relation, vgl. Anth. Pal. ΙX 51 (v. Wilamowitz Herakles II² 155. 179f.). Zunächst bei Pherekydes von Syros (Stellen bei Welcker Gr. G.-L. I 143, 2. Gruppe Gr. Kulte und M. I 654, 46), besonders aber in orphischer Lehre als Weltprincip, vgl. besonders Damask. π. ἀρχ. 380ff. Kopp. Creuzer Symb. III² 292ff. Lobeck Aglaoph. 470ff. Zeller Philos. d. Gr. I² 64ff. Gruppe a. a. O. 632ff. Kern De Orphei Epimenidis Pherecydis theog. 1888. Susemihl De theog. Orph. forma antiquiss., Ind. schol. Gryphisw. 1890. Gomperz Gr. Denker I 70ff. 75ff. 430f. Es erscheint da (vgl. die θεολ. ἡ κατὰ τ. Ἱερώνυμον φερομένη καὶ Ἑλλάνικον) Χ. oder Ἡρακλῆς mit Ἀνάγκη oder Ἀδράστεια, die ,nimmer alternde Zeit‘, in der Gestalt eines geflügelten Drachen mit Antlitz eines Gottes zwischen Stier- und Löwenkopf (Damask. 381 K.), und es liegt nahe, auf diesen Ch. jene monströse Bildung zu deuten, die seit Zoega gewöhnlich als Aion (s. d.) bezeichnet wird: ein schlangenumwundener geflügelter Mann mit Löwenkopf, Müller-Wieseler D. d. a. K. II 967. Baumeister D. d. kl. Alt. I 32, Abb. 34); Deutung auf Mithras: Dieterich Abraxas 53f. In den späten orphischen Hymnen trifft man Ch. als Sohn der Mene (= Selene) (IX [VIII] 5) oder des Herakles (XII [XI] 11), in einem orphischen Fragment als Vater des Eros und der Πνεύματα (Schol. Apoll. Rhod. III 26; vgl. Orph. Arg. 12ff.).
,Seit Pherekydes von Syros, Herakleitos und den Pythagoreern hatte man sehr viel über die Zeit nachgedacht, und Pindar, Sophokles, Euripides personificieren sie oft und sinnreich‘ (v. Wilamowitz Herakl. II² 174). Pind. Ol. II 17 Bgk. heisst Ch. ὁ πάντων πατήρ, und Simonides von Keos redet wie wir vom ,Zahn der Zeit‘ (frg. 176), Euripides vom ,Fuss der Zeit‘ (frg. 43 N.); letzterem ist in dieser Personification Sophokles vorangegangen, El. 179 (Χ. γὰρ εὐμαρὴς θεός), ὁ πάνθ’ ὁρῶν χ., Oid. T. 1213 (vgl. Eur. El. 952) und frg. 280 N., vgl. auch Anth. Pal. VII 245. Eur. Herakl. 900 heisst Aion Χρόνου παῖς, wohl in Anlehnung [2482] an orphische Vorstellung, wie der Dichter Herakl. 777f. dem Ch. die Keule, die Herakleswaffe, gegeben zu haben scheint; vgl. v. Wilamowitz Anal. Eur. 230ff.; Her. II² 173ff. (ῥόπαλον f. τὸ πάλιν). Auch Dike heisst Tochter des Ch.: Eur. frg. 223 N. (frg. 150 παῖς Διός), wie denn bei Nonnos die Horen als Töchter des Ch. erscheinen, Dion. XII 15. 96, vgl. auch III 197. Stob. ecl. I 1, 31 a (p. 39, 5 Wachsm.), vgl. auch Eur. Suppl. 787f. (Χ. πατὴρ ἁμερᾶν). Nonnos lässt ferner Zeus auf dem geflügelten Wagen des Ch. einherfahren, II 422, nach Quint. Sm. (XII 194f.) hatte Aion des Zeus ehernen Wagen gefertigt, vgl. auch Nonn. Dion. XXXVI 422f. Man dachte sich Ch. etwa altersgrau (πολιός), Anth. Pal. IX 499, ein πολιὸς τεχνίτης wird er von Diphilos gescholten, frg. 83 Kock (vgl. auch γέροντος χρόνου, Luk. am. 12). Inschriftlich bezeichnet sieht man Ch. in der Reliefdarstellung der sog. ,Apotheose Homers‘; als geflügelter Genius steht er hinter dem rechtshin thronenden Dichterfürsten, in jeder Hand eine Rolle haltend, um so mit Oikumene anzudeuten, dass der Ruhm von Ilias und Odysseia unvergänglich und überallhin verbreitet sei, Müller-Wieseler II 742. 968.
Schon aus dem Altertum stammt die naheliegende Gleichsetzung von Χρόνος und Κρόνος (s. d.; vgl. Plut. de Is. et Osir. 32; quaest. Rom. 11. 12 [Kronos oder Ch. als Vater der Aletheia, wozu vgl. Gell. N. A. XII 11. 7], Weiteres bei Buttmann Myth. II 32. Creuzer Symb. II² 439. Lobeck Agl. 470); sie wurde neuerdings vertreten durch Buttmann (a. a. O. 31ff.) und Welcker (Gr. G.-L. I 140ff.; vgl. auch Braun Gr. G.-L. § 52), scheint aber heute allgemein aufgegeben, hauptsächlich aus sprachlichen Gründen (Curtius Grundz.⁵ 154f. 200. Brugmann Grundr. d. vgl. Gramm. d. idg. Spr. II 142f.; vgl. Preller-Robert Gr. M. I 51, 1. E. Curtius Arch. Jahrb. IX (1894) 42* und auch Ges. Abh. II 189. M. Mayer in Roschers Lexikon II 1526ff. 1546ff.). Doch wenn κρόνος κρήματα geschrieben wurde, nur wo ein Schriftzeichen für die Aspirata fehlte, so nennt uns umgekehrt eine Inschrift von Elateia, wohl noch dem 5. Jhdt. angehörend, Poseidon als Χρόνου υἱός, Bull. hell. X (1886) 367ff.; auch ist festzuhalten, dass Kronos ausserhalb der Götterwelt steht, die wir mit Homer betreten, und dass der Mythos vom Verschlingen der eigenen Kinder trotz allem nicht schlecht passt auf die schaffende und wieder zerstörende Zeit (vgl. Io. Lydus de mens. I 1 [p. 2 Roether], auch III 11 [p. 110 R.]. Isid. Etym. VIII 11, 31).