ADB:Lavater, Johann Caspar
*): Johann Kaspar L., kein großer Mann, aber von bedeutendem Einfluß auf seine Zeit und auf die größten seiner Zeitgenossen, bei manchen Fehlern und Schwächen ein guter Mensch, wurde am 15. November 1741 zu Zürich geboren, wo sein Vater Johann Heinrich L. (December 1697 bis 4. Mai 1774), als Arzt und Mitglied der Regierung thätig war. Geistig bedeutender als der Vater war die Mutter, eine geborene Regula Escher (7. Juli 1706 bis 16. Januar 1773). Kaspar war ihr zwölftes Kind. Der Anfangs schüchterne und träge, später leichtsinnige und zwar eifriger, doch flüchtig und planlos arbeitende Knabe machte in der deutschen wie in der lateinischen Schule nur langsame Fortschritte. Zu beharrlicherer und erfolgreicherer Arbeit raffte er sich erst 1754 bei seinem Uebertritt in das Collegium humanitatis auf. Hier wirkten Bodmer und Breitinger als Lehrer; hier schloß L. den Bund der Freundschaft mit Heinrich Füßli, der sich nachmals als Maler auszeichnete, mit den Brüdern Felix, Jakob und Heinrich Heß. Zum Studium der Theologie machte ihn der [784] fromme Gottesglaube, der im elterlichen Hause herrschte, von vorn herein geneigt. Definitiv hatte er sich schon 1751, durch einen Zufall angeregt, dazu entschlossen. Zu Ende des Jahres 1759 konnte er in die theologische Klasse eintreten. Nachdem er diese absolvirt hatte, wurde er im Frühling 1762 ordinirt oder, wie man in Zürich sagte, ins Ministerium aufgenommen.
LavaterDoch verharrte er vorläufig nur kurze Zeit in dieser Stellung. Im Verein mit Füßli war er (im Herbst 1762) erst anonym, dann offen mit einer Anklage gegen Junker Felix Grebel, den Schwiegersohn des regierenden Bürgermeisters, aufgetreten, der als Züricher Landvogt der Herrschaft Grüningen (1755–1761) sich zahlreiche Ungerechtigkeiten hatte zu Schulden kommen lassen. Trotz der ungewöhnlichen und ungesetzlichen Form ihres Verfahrens bestanden die beiden Freunde siegreich mit ihrer Klage, und ihre Kühnheit machte ihren Namen über die Grenzen ihres Vaterlandes hinaus berühmt. Dennoch schien es gerathen, daß sich die kühnen Vorkämpfer für das Recht auf einige Zeit von Zürich fern hielten. Auf Bodmer’s und Breitinger’s Rath begaben sie sich daher zusammen mit Felix Heß im März 1763 zu Johann Joachim Spalding (1714–1804), dem Verfasser der vielgelesenen „Betrachtung über die Bestimmung des Menschen“, nach Barth in Schwedisch-Pommern. Professor Johann Georg Sulzer, der eben von einem Besuch des heimathlichen Winterthur nach Berlin zurückkehrte, begleitete sie und vermittelte ihre Bekanntschaft mit Ernesti, Gellert, Christian Felix Weiße, Zollikofer, Oeser in Leipzig, mit Gleim in Magdeburg, mit Moses Mendelssohn, Ramler, dem Hofprediger Sack und anderen in Berlin. Glückliche Tage verlebte L. in Barth. Seine theologisch-philosophischen Kenntnisse, seine poetische Anlage, sein Zeichentalent wurden gleichmäßig genährt. Namentlich aber pflanzte der innige Umgang mit einem Theologen, dessen Ansichten über das Christenthum so vielfach von den seinigen abwichen, in ihm jenen Sinn der religiösen Toleranz, den er sich immer wahrte, wie sehr er sich auch bemühte, Andersgläubige zu seiner Anschauung herüberzuziehen. Auch die Anfänge seiner schriftstellerischen Thätigkeit fielen in jene Zeit. Anonym ward er ein eifriger Mitarbeiter der „Ausführlichen und kritischen Nachrichten von den besten und merkwürdigsten Schriften unserer Zeit nebst anderen zur Gelehrtheit gehörigen Sachen“ (Lindau, Frankfurt und Leipzig 1763). Ebenfalls anonym rügte er in zwei schneidigen Briefen die Schamlosigkeit Karl Friedrich Bahrdt’s, der, damals noch in den Banden der Orthodoxie befangen, in seiner angeblich verbesserten Ausgabe von Martin Crugot’s „Christen in der Einsamkeit“ (1763) das Werk eines noch lebenden Verfassers eigenmächtig umgeändert und dessen Grundsätze verfälscht und verketzert hatte. Nach schwerem Abschied von dem väterlichen Freunde traten die drei Jünglinge am 1. März 1764 den Rückweg nach der Schweiz an. In Quedlinburg suchten sie Klopstock, in Halberstadt Gleim, in Braunschweig den Abt Jerusalem, Gärtner, Ebert und Zachariä, in Göttingen Michaelis und Kästner, in Frankfurt a. M. Karl Friedrich v. Moser auf.
Sittlich und geistig gereift kam L. zurück. Sein ernstes Streben ging jetzt dahin, im litterarischen und im bürgerlichen Leben sich eine feste Stellung zu gewinnen. Auch die Begründung eines eignen Hauswesens sollte dazu beitragen. Heinrich Heß führte ihm die Braut zu, Anna Schinz (geb. am 8. Juli 1742, † am 24. September 1815), die Tochter eines angesehenen Züricher Kaufmannes, ein einfaches, bescheidenes Mädchen von gutem Verstand und redlichem Wollen, an Mildherzigkeit und stiller Frömmigkeit Lavater’n ähnlich und durch ihr sanftes, schmiegsames Wesen gleichsam bestimmt, seine nervöse Reizbarkeit zu beschwichtigen. Nach kurzem Brautstand wurde am 3. Juni 1766 zu Greifensee bei Zürich die Hochzeit gefeiert.
[785] Am 7. April 1769 wurde L. endlich als Diaconus an der Waisenhauskirche seiner Vaterstadt angestellt, 1775 zum Pfarrer daselbst befördert. Eine eigentliche Gemeinde erhielt er erst 1778 durch seine Wahl zum Diaconus der St. Peterskirche in Zürich. Von ihr vermochte ihn auch ein ehrenvoller Ruf zum dritten Prediger an der St. Ansgariuskirche in Bremen (Mai 1786) nicht zu trennen. Noch zu Ende desselben Jahres wurde er darauf zum Pfarrer bei St. Peter befördert. Sein Eintritt in das Züricher Consistorium war damit verbunden. In dieser Stelle hielt er bis an seinen Tod aus. Nie bereute er es, daß er dem Ruf in die Fremde nicht gefolgt war.
Mächtig wirkte er namentlich durch seine Predigten, zu denen die Hörer schaarenweise herbeiströmten. Viele seiner Kanzelreden wurden mit oder ohne seinen Willen einzeln gedruckt, bis schließlich eine Reihe von Sammlungen derselben, großentheils durch ihn selbst, veranstaltet wurden. Ganz und gar praktischer Natur, der jeweiligen Gelegenheit angemessen waren diese Predigten. L. lehrte, was er gerade für ein Bedürfniß der Zeit hielt. Aber im Grunde mahnte er doch nur immer aufs neue zum Glauben an Jesus Christus, „unser Alles und Einziges“. Das „emporbrausende christusleere Christenthum“ bekämpfte er noch mehr als die „vernunftlose Schwärmerei“. Durchaus stellte er sich in einen Gegensatz zu den rationalistischen Predigern. Man warf ihm, zwar nicht ganz mit Recht, vor, er predige nur immer das Evangelium, nicht die Moral. Auf das rein dogmatische Gebiet begab er sich so gut wie nie; auf theologische Streitfragen ging er grundsätzlich nicht ein. Er suchte durchweg populär zu sein, wenn er gleich bisweilen Gegenstände behandelte, die über den Gedankenkreis des gemeinen Mannes hinauslagen. Bedeutend trat das lyrische Element bei ihm hervor. Stets trachtete er die religiöse Empfindung anzuregen. Seine persönliche Subjectivität prägte sich in allen Predigten stark aus. Mit Aufgebot der mannigfachsten rhetorischen Mittel suchte er auf Sinn und Gemüth seiner Hörer zu wirken, selbst auf die Gefahr hin, daß er ermüdend breit wurde. Und über der Macht seines Wortes vergaß man sogar seinen schweizerischen Dialekt.
Noch früher jedoch als der Ruhm des Kanzelredners breitete sich der des religiösen Erbauungsschriftstellers und des Dichters aus. Schon auf der Schule, dann wieder während seines Aufenthaltes zu Barth hatte L. mehrere geistliche Lieder verfaßt. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz ging er mit erneutem Eifer an diese Thätigkeit, die ihm während zweier Jahrzehnte eine der ernstesten und wichtigsten blieb. Seit 1765 veröffentlichte er so zunächst poetische Paraphrasen verschiedener Bibelstellen in sogenannten christlichen Hand- oder Jahrbüchlein, dann einzelne geistliche Gedichte in Sonderdrucken, endlich seit 1771 mehrere Hundert „Christliche Lieder“ in zahlreichen Sammlungen. Von den älteren geistlichen Poeten scheint am meisten Gellert’s Vorbild auf L. gewirkt zu haben. Aber an die Stelle der Gellert’schen Reflexion trat bei ihm die unmittelbare Empfindung. Auch der Inhalt seiner geistlichen Lieder war zuvörderst das Evangelium und erst in zweiter Linie die Moral. Schwächer und allgemeiner waren die Anklänge an Brockes und einige Dichter des 17. Jahrhunderts, die sich hie und da in Lavater’s Liedern fanden. An einfachem, naiv-volksthümlichem Ausdruck, auch an natürlicher Frische und Innigkeit fehlte es diesen Liedern keineswegs, wol aber oft an kühnem poetischen Schwung. Von prosaischen Bildern und Redewendungen sind sie nicht sorgfältig genug gesäubert. Diction und Rhythmus ist überhaupt nachlässig behandelt.
Einige der ältesten und nicht die schlechtesten dieser Lieder erschienen in dem „Erinnerer“, einer Monatsschrift, welche L. 1765–1767 nach dem Muster der moralischen Wochenschriften speciell für seine liebe Vaterstadt begründet hatte. Hier gab er auch die erste Kunde von seiner patriotischen Poesie. Durch [786] einen Vorschlag des Professors Planta aus Graubünden angeregt, veröffentlichte er Anfangs 1767 in Bern seine „Schweizerlieder. Von einem Mitgliede der helvetischen Gesellschaft zu Schinznach“. Das Vorbild, dem er hier nachstrebte, Gleim’s „Grenadierlieder“ mit ihrer Frische und originellen Kraft, erreichte L. keineswegs. Gleichwol wurden diese Gedichte in der Schweiz mit enthusiastischem Beifall aufgenommen und fanden wegen ihrer natürlichen Einfalt und reinen Gesinnung bald Eingang in die verschiedenen Schichten des Volks.
Weit über die Grenzen seines engeren Vaterlandes hinaus trug bald darauf den Namen des Dichters ein anderes, eigenartigeres Werk, die „Aussichten in die Ewigkeit“ (in drei Bänden 1768–1773, denen 1778 ein vierter Theil mit Zusätzen, Anmerkungen und Berichtigungen folgte). Das Buch erwuchs aus Briefen an Johann Georg Zimmermann über den Plan eines (nie ausgeführten) Gedichts von der Seligkeit der verklärten Christen. Im Anschluß an die Aussprüche der heiligen Schrift legte L. darin seine Vermuthungen über das zukünftige Leben dar, durchaus auf christlichem Fundamente fußend. Die wahrhaft große Grundanschauung, von der er dabei ausging, vermochte er jedoch auf die Dauer nicht festzuhalten. Vielmehr verlockte ihn die Sucht auch über alle Besonderheiten des Lebens nach dem Tode seine Ansichten auszukramen, bald völlig in die Abgründe einer unfruchtbaren Mystik.
Vielfach stand er dabei unter dem Einfluß eines französischen Werkes, der „Palingénésie philosophique ou idées sur l’état passé et sur l’état futur des êtres vivants“von Charles Bonnet (Genf 1769). L. sah in dem Buche zugleich die beste philosophische Untersuchung der Beweise für das Christenthum und entschloß sich daher es in seine Muttersprache zu übertragen und mit Anmerkungen zu versehen (2 Theile, Zürich 1769–1770). Den zweiten Theil seiner Uebersetzung widmete er Mendelssohn. Zugleich beschwor er diesen in wohlmeinender Absicht, aber mit tadelnswürdiger Verkennung aller bestehenden Verhältnisse bei dem Gott der Wahrheit, Bonnet’s Beweise öffentlich zu widerlegen oder zu thun, „was Sokrates gethan hätte, wenn er diese Schrift gelesen und unwiderleglich gefunden hätte“. Mendelssohn wehrte mit richtigem Tacte das peinliche Ansinnen überhaupt ab. Mild urtheilte er über L., der nun auch privatim und öffentlich seine Uebereilung zugestand. Nicht so die Zeitgenossen, die es an plumpem Spott (Lichtenberg’s „Timorus“) und sogar an unredlichen Angriffen auf den Züricher Diaconus nicht fehlen ließen.
Beinahe noch mehr Aufsehen erregte dieser durch seine Exegese der Schriftstellen, die von der Kraft des Glaubens und Gebetes und von den Gaben des heiligen Geistes handeln. Er glaubte fest, daß die augenscheinlichen Wunderkräfte, welche dort den Gläubigen verheißen werden, keineswegs auf gewisse Personen, Umstände oder Zeiten eingeschränkt seien. Brieflich berieth er sich darüber mit zahlreichen gelehrten Theologen, ohne zu einem befriedigenden Resultate zu gelangen. Auch als er darauf 1774 im ersten Bändchen seiner „Vermischten Schriften“ noch einmal seine Bedenken den „Mitforschern der Wahrheit“ vorlegte, kam er dem Ziele nicht näher, obgleich mehrfache Gegenschriften gegen seinen Aufsatz erschienen. Außer poetischen Versuchen und mehreren Stücken und Auszügen aus Briefen, Predigten und kleineren Aufsätzen Lavater’s brachten die „Vermischten Schriften“ namentlich noch das „Denkmal auf Felix Heß“, den früh (1768) verstorbenen Jugendfreund. Ziemlich zur nämlichen Zeit entstand (1769) die kurze Lebensbeschreibung des Züricher Antistes und Pfarrers zum großen Münster Johann Konrad Wirz (1688–1769) und (1771) die „Historische Lobrede auf Johann Jakob Breitinger, ehemaligen Vorsteher der Kirche zu Zürich“.
Für Freunde stellte L. im J. 1770 verschiedene in allen Details ausgearbeitete [787] Stücke aus seinem Tagebuch von 1768 zusammen. Einer dieser Freunde veränderte nun die äußeren Daten des Textes so weit, als er es für nöthig hielt, um den Verfasser unkenntlich zu machen, und sandte das so umgewandelte Manuscript an den Schweizer Theologen Zollikofer in Leipzig, der dasselbe ohne viel Bedenken zum Druck beförderte. So erschien Anfang 1771 anonym der erste Theil des „Geheimen Tagebuchs, von einem Beobachter seiner selbst“. Lavater’s Autorschaft blieb nicht lange ein Geheimniß. Er bekannte sich daher bald zu der Schrift und ließ 1773 einen zweiten Theil nebst einem Schreiben an den Herausgeber folgen, diesmal ächte Fragmente seines Tagebuchs vom November 1772 bis in den Juni 1773. Das Werk fand zahlreiche Leser. Auch Nachahmer stellten sich bald ein; es wurde eine Zeit lang wieder Mode, moralische Tagebücher zu halten. Gleichwol urtheilte man nicht selten zu herb über Lavater’s zwar übertrieben strenge und weitschweifige, doch aufrichtige und ungeheuchelte Selbstkritik. Noch energischer setzte dieser seine Selbstanklage vor Gott in dem 1770 entworfenen, 1771 gedruckten Schriftchen „Nachdenken über mich selbst“ fort.
Die ängstliche Sorgfalt, mit welcher L. an seiner eigenen Person den geheimsten Regungen des menschlichen Geistes und Herzens nachforschte, übertrug er zur gleichen Zeit auf sein Studium des menschlichen Körpers. Immer hatte er gern Porträts gezeichnet. Allmählich stieg ihm dabei der Gedanke auf an einen tieferen Zusammenhang zwischen den äußeren Formen und dem inneren Wesen des Charakters. Zimmermann, dem er davon Nachricht gab, bestärkte ihn in diesen Ideen, äußere Erfahrungen schienen sie zu bestätigen, und so ließ sich L. immer tiefer in die physiognomische Wissenschaft ein. Eine Abhandlung darüber, die er in der naturforschenden Gesellschaft in Zürich vorlas, gelangte ohne sein Wissen in die Hände Zimmermann’s, der sie sogleich im „Hannöverschen Magazin“ vom Februar 1772 und unmittelbar darauf selbständig zu Leipzig drucken ließ („Von der Physiognomik“).
Die gesammten Anschauungen Lavater’s von der Physiognomik, die er später in umfangreichen Bänden darlegte und illustrirte, waren im Keim bereits in jenem dünnen Büchlein enthalten. Er ging von dem Grundsatz aus, „daß jedes Ding in der Welt eine äußere und innere Seite habe, welche in einer genauen Beziehung gegen einander stehen“. Indem er diesen allgemeinen Satz auf den Menschen speciell anwandte, ergab sich ihm der Schluß, daß die Physiognomie des Menschen, das ist „sein ganzes Aeußerliches, insofern es an seinem Körper haftet“, nicht willkürlich oder blos zufällig, sondern daß alles Große und Kleine an dem menschlichen Körper bedeutend sei, daß man also wirklich den Charakter des Menschen im weitläufigsten Verstande aus seinem Aeußerlichen erkennen könne. Entschieden protestirte er gegen die abgeschmackte oder betrügerische Kunst der Chiromantie und Stirndeuterei; aber eben so sicher war er von der Untrüglichkeit und dem Nutzen der ächten, wissenschaftlichen Physiognomik überzeugt. Die allgemeinen Grundregeln der letzteren glaubte er durch fortgesetztes Beobachten und Vergleichen von lebenden Menschen wie von Gemälden zu finden; das Ideal eines Physiognomisten aber, dem die Geheimnisse dieser Wissenschaft sich völlig enträthseln, wuchs ihm mit dem Ideal des Menschen überhaupt zusammen: nur wer mit den nöthigen natürlichen Anlagen, wissenschaftlichen Kenntnissen und technischen Fertigkeiten ein sanftes, heiteres, von menschenfeindlichen Leidenschaften freies Herz verbindet, schien ihm dazu fähig und würdig. Denn er erwartete von dem richtigen Gebrauch der neuen, aus der Physiognomik strömenden Erkenntniß vornehmlich sittlichen, ja selbst religiösen Vortheil für die Menschheit.
Jenem ersten Vortrag von der naturforschenden Gesellschaft in Zürich ließ L. nach wenigen Monaten einen zweiten folgen, den er nun selbst im Juli 1772 [788] zum Druck beförderte. Er versuchte darin eine „Einleitung zum Plan der Physiognomik“ zu liefern, ein schnell hingezeichnetes, selbst als Entwurf nicht reif ausgearbeitetes Schema von den wichtigsten Capiteln und Abschnitten der neuen Wissenschaft, das gleichwol bewies, daß L. nichts, was am Menschen ist oder in irgendwelcher Beziehung zu ihm steht (wie die Verhältnisse der Religion, des Standes, der Nationalität etc.), nichts, was er im wachenden oder schlafenden Zustande thut, außer Acht bei seinen physiognomischen Studien ließ. Auch hier vereinigten sich seine religiösen und seine naturphilosophischen Bestrebungen: als das Ideal der Physiognomik erschien ihm ein Gemälde „des vollkommensten Menschen oder Jesu Christi“.
Von nun an blieb Lavater’s Interesse dauernd der physiognomischen Forschung zugewandt. Namentlich eine Badereise, die er auf Zimmermann’s Rath im Sommer 1774 nach Ems unternahm, brachte ihm dafür mannigfachen Gewinn. Er konnte zahlreiche Gemäldegallerien besuchen; er wurde mit vielen, oft bedeutenden Menschen neu bekannt; er schloß den Freundschaftsbund mit Goethe, der thätigen Antheil an jenen Studien nahm. So begann er denn nach der Rückkehr aus Ems, von einigen Freunden unterstützt, eifriger als zuvor seine physiognomischen Beobachtungen zu sammeln und zu ordnen. Rasch ging es an den Druck des großartig angelegten Werkes, und im Frühling 1775 erschien, dem Markgrafen Karl Friedrich zu Baden gewidmet, der „erste Versuch“ der „Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe“, ein stattlicher Quartband, mit vielen, zum Theil vortrefflichen Kupfern geziert. Schon im Februar 1776 folgte ein „zweiter Versuch“, der jungen Herzogin Luise von Weimar zugeeignet, 1777 und 1778 ein „dritter“ und „vierter Versuch“.
Ueber das, was in den beiden vorbereitenden Abhandlungen gesagt war, ging namentlich der erste Band des großen Werkes im Wesentlichen nicht hinaus; L. wies die dort verkündigten Theorien hier nur an zahlreichen praktischen Beispielen nach. Auch in den drei späteren „Versuchen“ führte er nur weiter aus, was er im ersten gesagt hatte, antwortete auf kritische Einwände, die man ihm gemacht hatte, und bestätigte seine Lehre durch eine Fülle neuer Beispiele. Allmählich kehrte er auch die unmittelbar praktische Seite des Unternehmens mehr hervor. Fingerzeige und Winke wurden jetzt für den bildenden Künstler, für den Porträtmaler eingestreut; bisweilen – und gegen den Schluß immer häufiger – fanden sich sogar Ansätze zu bestimmten physiognomischen Regeln. Weiter und weiter, auch auf die Betrachtung von Thierschädeln, dehnte er seine Untersuchung aus. Eine kurze kritische Musterung der ihm bekannten früheren Schriften zur Physiognomik, die er im vierten Bande anstellte, ließ klar erkennen, wie sehr L. in allen wesentlichen Fragen dieser Wissenschaft der Anfänger und Begründer war. Dennoch war er sich der Unvollständigkeit seiner Arbeit wohl bewußt. Er selbst sah in diesen „Fragmenten“ bloß den Anfang eines Werkes, dessen Ende unmöglich sei. Nur den Plan dazu hoffte er künftig noch zu entwerfen. Allein er kam nicht einmal dazu, wie angelegentlich er sich auch noch fernerhin mit dem physiognomischen Studium beschäftigte. Die „Fragmente“ selbst aber haben der Wissenschaft der Zukunft den Gewinn nicht gebracht, den man von ihrem in der That höchst werthvollen Gehalt erwarten durfte. Daran war ihre halbpoetische Form schuld, der man den Autor der Sturm- und Drangperiode allzu sehr anmerkte. L. erging sich viel lieber in einem enthusiastischen und empfindsamen Betrachten, als daß er an ein logisches Zergliedern dachte. Allerdings erwarb ihm auch diese Art der Darstellung viele Anhänger, die aber durch ihren stümperhaften Uebereifer den Spott der Gegner erst recht nachdrücklich hervorriefen. Lichtenbergs Polemik führte zu einer litterarischen Fehde über die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Physiognomik überhaupt, an der sich [789] Männer wie Mendelssohn, Zimmermann, Wieland betheiligten. Aber durch die Polemik ward der Einfluß von Lavater’s Lehre nur verstärkt. Billigere Auszüge aus dem kostspieligen großen Werk machten sie auch den weniger Bemittelten zugänglich; Uebersetzungen in die meisten Sprachen Europas trugen sie erfolgreich weithin ins Ausland. Die ersten Männer Deutschlands, Goethe, Herder, Hamann, bewunderten Lavater’s physiognomisches Genie, und viele, die er nicht oder nur halb überzeugen konnte, versagten wenigstens dem Werke, welches überall ungesucht weite und fruchtbare Ausblicke auf alle geistigen Gebiete eröffnete, nicht ihren Beifall.
Doch Lavater’s geschäftiger Eifer ließ sich nie an Einer Thätigkeit genügen. So erledigte er auch in den Jahren, da er ganz dem physiognomischen Studium hingegeben zu sein schien, daneben noch die verschiedenartigsten Aufgaben. Er schickte wiederholt Sammlungen von Predigten und geistlichen Liedern in die Druckerei, trat – auch litterarisch – mit allen Kräften für Basedow’s neue Erziehungsmethode ein und verfaßte allein oder gemeinschaftlich mit Freunden eine erkleckliche Anzahl kleinerer pädagogischer und religiös-ascetischer Schriften. Dazu kamen die anstrengenden Pflichten des Berufes und die ausgebreitete Thätigkeit, in die L. durch die beispiellose Ausdehnung seines persönlichen und brieflichen Verkehrs verwickelt wurde. Aus den verschiedensten Gegenden Deutschlands, ja Europa’s, wandten sich Männer und Frauen jedes Alters, jedes Standes, jeder Religion, Bekannte und Fremde, die sogar ihren Namen ihm verheimlichten, an ihn als den Vertrauten und Berather ihres Herzens. Seit Luther hatte kein Deutscher eine ähnliche Correspondenz geführt. Da er sich nicht im Stande fühlte, jedem besonders zu schreiben, verfiel er auf den Ausweg, seine „Vermischten Gedanken“ religiösen Gehaltes in kleinen Heften von Zeit zu Zeit als Manuscript drucken zu lassen und so nur an seine Freunde zu versenden. Allein nach wenigen Monaten (Januar bis Mai 1774) mußte er dies wieder aufgeben, da die Empfänger jene Blätter nicht geheim genug hielten.
Auch mancherlei Angriffe hatte er in jenen Jahren auszuhalten. Die gröbsten gingen von Zürich und zwar von einem jungen Amtsgenossen Lavater’s, Johann Jakob Hottinger, aus. Der letzte Grund derselben war der Kampf gegen die Rationalisten und Aufklärer, dem Lavater’s ganzes Leben galt. Der allzeit muthige Gottesstreiter gerieth aber dabei nahe an das äußerste Ende des entgegengesetzten Lagers. Religiöse Schwärmer und angebliche Wunderthäter flößten ihm stets großes Interesse ein, obschon er Anfangs ihr Thun fast mit Mißtrauen betrachtete und redlich untersuchte, bevor er glaubte. Allein seine Ansicht von den außerordentlichen Gnadenwirkungen des heiligen Geistes setzte ihn der Gefahr einer Täuschung stärker als jeden anderen aus. So war er lange überzeugt, daß Swedenborg von Gott inspirirt sei. Die Wundercuren des katholischen Priesters Johann Joseph Gaßner beschäftigten ihn Jahre lang (1774–78). In Cagliostro erblickte er eine Gestalt, wie die Natur nur alle Jahrhunderte Eine forme. Am tiefsten und nachhaltigsten aber wirkte (seit 1785) Franz Anton Meßmer, der Begründer des Magnetismus, auf ihn ein. Er selbst versuchte mehrfach magnetische Curen. Die neu entdeckte Kraft des Menschen ließ er allerdings durchaus nur als natürlich, nicht als wunderbar gelten, indem er sie zugleich als „den heiligen Strahl der alles in allen wirkenden Gottheit“ verehrte.
Es war zu erwarten, daß seine Gegner diese Theilnahme an den mysticistischen Bestrebungen der Zeit mit ihrem Tadel und Spott nicht verschonen würden. Aber ihre Vorwürfe waren nur zu oft auch ganz grundlos und unwahr. Bloße Vermuthungen gaben nicht selten zu den heftigsten Beschuldigungen Anlaß. So das irrige Gerücht, das seit 1783 wiederholt auftauchte, L. sei heimlicher [790] Katholik, ja gar ein Werkzeug des Jesuitenordens. Im Allgemeinen antwortete L. nicht gern auf die Verleumdungen seiner Feinde und suchte sogar seine Freunde davon abzuhalten. Auch jetzt schwieg er lange; als aber die Anschuldigungen von Seiten der Aufklärer immer mehr überhand nahmen, gab er 1786 seine für vorurtheilslose Leser überzeugende „Rechenschaft an seine Freunde“ heraus, zwei „Blätter“, das erste über sein Verhältniß zu Mesmer, Cagliostro und ihren Lehren, das zweite über die Richtigkeit jener Sage von seinem heimlichen Katholicismus.
In derselben Zeit entwickelte sich auch Lavater’s poetische Thätigkeit am fruchtbarsten. Jetzt begann er seine vermischten Gedichte zu sammeln. 1781 gab er zu Leipzig zwei Bände reimfreie „Poesien“ heraus, „den Freunden des Verfassers gewidmet“ und wegen ihres allzu individuellen Charakters auch nur für diese recht verständlich und genießbar, meistens religiöse Gelegenheitsgedichte, die den Einfluß Klopstock’s verrathen. Im folgenden Jahre begann er sogar ein poetisches Wochenblatt, den „Christlichen Dichter“ (Mai 1782 bis April 1783) herauszugeben, dessen vornehmsten Inhalt gereimte geistliche Lieder, zum Theil wohlgelungen, bildeten.
1785 sammelte er, wieder für seine Freunde, seine „Vermischten gereimten Gedichte vom Jahr 1766 bis 1785“, soweit sie nicht schon in früheren Sammlungen enthalten waren. Auf künstlerische Bedeutung konnten sie zu einer Zeit, wo das deutsche Volk sich bereits an Goethe’s Jugendlyrik entzückt hatte, keinen Anspruch mehr erheben. Ihrem ästhetischen Charakter nach gehörten sie vorwiegend einer längst vergangenen Zeit an, der Periode unmittelbar vor Klopstock’s Auftreten. Nur der einfachere, natürlichere Ausdruck seines mehr innigen als leidenschaftlich tiefen Gefühls verrieth den Sohn eines späteren Jahrzehnts.
Aber auch mit größeren dramatischen und epischen Versuchen trat L. jetzt hervor. Seit einigen Jahren schon beschäftigte ihn die Arbeit, die er 1776 unter Goethe’s Beistand veröffentlichte, „Abraham und Isaak, ein religiöses Drama“. Der moralische Nutzen galt ihm auch hier, wie bei all seiner Poesie, mehr als die künstlerische Schönheit. Klopstock’s „Tod Adams“ war sein Vorbild gewesen. Zwar eignete sich sein Sujet, die Opferung Isaaks, unvergleichlich besser zur dramatischen Behandlung als das seines Vorgängers; auch gelang ihm die Charakteristik der auftretenden Personen bis zu einem gewissen Grade: dennoch mußten öfters redselige Betrachtungen nicht nur die Handlung, sondern auch die Empfindung ersetzen.
Vom religiösen Drama wandte sich L. zum biblischen Epos. Nach den Fragmenten eines „Adam“ (1779 entworfen) versuchte er eine poetische Paraphrase der Apokalypse, die im Spätsommer 1780 unter dem Doppeltitel „Jesus Messias oder die Zukunft des Herrn“ (in 24 Gesängen) erschien. Strenger schloß er sich in den erzählenden und in den weissagenden Stellen an die Urschrift an; die rein lyrischen Partien hingegen führte er unsäglich breit aus. Wiederholt unterbrach er da seine Hexameter durch freie Rhythmen und hielt seiner endlosen dithyrambischen Begeisterung alles für möglich und erlaubt.
Die kühle Aufnahme der Dichtung schreckte L. nicht ab, ein ähnliches, nur größeres und schwierigeres Werk, das er seit vielen Jahren geplant hatte, jetzt auszuführen. 1783–86 veröffentlichte er vier stattliche Octavbände „Jesus Messias oder die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen“. Er bekannte selbst, daß ohne Klopstock’s Messiade seine Schrift „wol nie veranlaßt worden, nie möglich gewesen“ wäre. In der That war er überall, im Größten wie im Kleinsten, von jenem Werke abhängig. Und doch war es seine Absicht gewesen, eine Messiade zu schreiben, die „historischer, planer, vollständiger, wahrer, weniger neuchristlich und mehr altisraelitisch“ wäre als der Versuch Klopstock’s, [791] eine dichterische Messiade, „wie die vier Evangelien und die Apostelgeschichte eine historische sind“. Sein Werk sollte „mehr gemeinnütziges Erbauungsbuch für cultivirte Leser sein, die an der malenden Dichtkunst Gefallen haben“. Dem epischen Dichter nachzufliegen, wollte L. sich nicht vermessen; er wollte durch die Sache allein wirken, durch den bloßen Stoff, den er getreu, wie der Historiker ihn ihm überlieferte, in mittelmäßige Hexameter brachte. Vor dieser engherzigen Tendenz mußten alle künstlerischen Rücksichten verschwinden. Was war natürlicher, als daß auch das lesende Publicum, einzelne persönliche Freunde und Gesinnungsgenossen des Verfassers ausgenommen, mit dem mißglückten Werke nichts zu thun haben wollte?
Um so mehr beschäftigte sich Publicum und Kritik mit den 4 Bänden des „Pontius Pilatus oder die Bibel im Kleinen und der Mensch im Großen“ (1782–85). Seit Weihnachten 1779 arbeitete L. daran, angeregt durch ein Wort Hamanns. Der Magus aus dem Norden hätte sich auch mit der Auffassung des Buches im ganzen einverstanden erklären können; die Darstellung jedoch war von seiner Vortragsweise grundverschieden. Denn L. wollte so populär als möglich schreiben. Klarheit und Ausführlichkeit waren daher die hauptsächlichen Vorzüge, nach denen er strebte. Streng folgte er einer äußerlichen, durch den Verlauf der Geschichte vorgezeichneten Ordnung. Dabei machte er aber oft die kecksten Seitensprünge und knüpfte an jedes Wort des biblischen Textes weitschweifige Betrachtungen an, theils lehrhafte Predigten, theils überschwängliche Gefühlsergüsse. In Pilatus erblickte er einen „Universal-Ecce-homo“, den „Menschen in allen Gestalten“, den glücklichsten und unglücklichsten, den gerechtesten und ungerechtesten, den allgemeinsten und einzigsten Menschen, der als Richter des Richters der Welt, als Vollstrecker des ewigen Rathschlusses der Gottheit die größte aller Rollen gespielt hat. Die Geschichte des Pilatus, um so mehr, als sie zugleich die Geschichte der Passion Christi ist, wurde ihm so zu einer „Bibel im Kleinen“, zu einer „Geschichte der Menschheit“, einer „Darstellung der Höhe und Tiefe, der Würde und des Verfalls der menschlichen Natur“. Sein Werk sollte somit „ein Menschenbuch“ werden, „eine Schrift zur Schande und Ehre unseres Geschlechtes, lesbar für Christen, Nichtchristen, Unchristen, Antichristen“. Allein dem Buche fehlte es durchaus an Methode. Es war vielleicht Lavater’s eigenthümlichste Schrift, eben darum aber, wie er selbst einsah, ohne das Medium seiner Individualität eine im ganzen ungenießbare Speise, die nur seinen Herzensfreunden durchaus munden konnte. Alle andern mußten sich von dem zwar gehaltreichen, aber enthusiastischen Product eher abgestoßen fühlen. Für Goethe bedeutete das Erscheinen dieses Werkes den ersten, unheilbaren Riß im Bunde der ehemaligen herzlichen Freundschaft.
Weiteren Kreisen als mit dem „Pontius Pilatus“ suchte L. mit seinen „Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien“ nützlich zu werden (2 Bde. 1783–90). Ihnen ließ er unmittelbar darauf (1790) ein „Evangelisches Handbuch für Christen oder Worte Jesu Christi“ folgen. Gleichzeitig entstand „Nathanael oder die ebenso gewisse als unerweisliche Göttlichkeit des Christenthums, für Nathanaele, das ist für Menschen mit geradem, gesundem, ruhigem, truglosem Wahrheitssinn“ (1786). Keineswegs, um das Unerweisliche zu beweisen, sondern vielmehr um darzuthun, daß jeder Beweis überflüssig sei, stellte L. daselbst die vornehmsten Aussprüche der Apostel und Gläubigen über das Christenthum aus dem neuen Testament zusammen und knüpfte daran predigtartige Betrachtungen. Auf Bekehrung der Ungläubigen oder Zweifler hatte er es auch jetzt wieder abgesehen; die Vorrede richtete sich „an einen Nathanael, dessen Stunde noch nicht gekommen ist“ (an Goethe?).
Dazu gesellte sich in diesen und in den folgenden Jahren wieder eine Fülle [792] kleinerer Schriften. Es wurde für L. jetzt geradezu Regel, seine vermischten, meist religiös-ascetischen Gedanken, bald zu kleineren Aufsätzen verarbeitet, bald nur als Sentenzen ausgesprochen, zu sammeln und davon ein Heft um das andere seinen Freunden vorzulegen. So gab er unter anderem 1784 „Herzenserleichterung oder Verschiedenes an Verschiedene“ heraus, 1787 „Vermischte unphysiognomische Regeln zur Selbst- und Menschenkenntniß“, 1788 eine „Handbibel für Leidende“, 1790 einen Theil seiner Correspondenz unter dem Titel „Antworten auf wichtige und würdige Fragen und Briefe weiser und guter Menschen“ (2 Bände zu je 6 Stücken), 1790–94 die „Handbibliothek für Freunde“ (4 Jahrgänge zu je 6 Bändchen), an welche sich vier weitere Monatsschriften von kürzerer Dauer anschlossen, 1796 „Freundschaftliche Briefe“, ferner Stücke aus seinem Tagebuch als „Vermächtniß an seine Freunde“ (2 Bändchen) etc. Mehrere solche Sammlungen von Sentenzen (z. B. „Noli me nolle“ 1787) blieben Manuscript; die bedeutendste derselben war seine sogenannte „Gedankenbibliothek“. Aus alphabetisch geordneten Zettelchen, worauf er jeden Gedanken, der ihm zu Hause, auf Spaziergängen, in weniger anregenden Sitzungen einfiel, in hexametrischer Form aufzeichnete, wuchs diese allmählich bis auf ungefähr 60 Quartbände an.
Den Anfang der „Handbibliothek“ bildete ein größeres Gedicht in sechs Gesängen, „Das menschliche Herz“, das L. bereits 1788 auf den Wunsch des Prinzen Eduard von England für dessen Mutter, die Königin Charlotte, verfaßt hatte. Das Gedicht betrachtete er selbst als „das liebste seiner Werke, ein Schoßkind seines Herzens“. Unter dem Beistand seiner Freunde feilte er noch in den folgenden Jahren sorgfältig an demselben, um es erst 1798 verbessert in den eigentlichen Buchhandel zu geben. Mit der ganzen Inbrunst seiner Seele besang L. das menschliche Herz, aber nur von seiner guten Seite. Den trocknen Verstandeston des eigentlichen Lehrgedichtes schlug er selten oder nie an; sein persönliches Empfinden war zu mächtig ergriffen. Aber aller Enthusiasmus und alles Pathos vermochte nicht den völligen Mangel an poetischer Anschauung und Gestaltungskraft, an Handlung und Entwicklung zu ersetzen.
Arm an Handlung blieb auch Lavater’s letztes episches Gedicht „Joseph von Arimathäa“ (1794). Die kleine biblische Episode, wie sich Joseph den Leichnam Jesu von Pilatus erbittet und im eigenen Grabe bestattet, war zum Ziel- und Angelpunkt eines Gedichtes von sieben Gesängen geworden, welches die ganze Passion Christi, aber wie sie sich in ihrer Wirkung auf Joseph darstellte, zum Inhalt hatte. Das Ganze durfte füglich als eine breit ausgesponnene Idylle gelten, in welcher dem erbaulichen Moment mindestens ebenso viel Bedeutung zugestanden war, als dem künstlerischen. -
Kleinere, fast alljährliche Ausflüge in die Nachbarschaft abgerechnet, lebte L. bei aller Geschäftigkeit doch meist in ungestörter Ruhe an den Ufern des Züricher Sees. Nur zweimal hatten ihn größere Reisen auf längere Zeit daraus aufgescheucht, im Sommer 1786 eine Fahrt zu den Freunden in Bremen, 1793 zu denen in Kopenhagen. Wieder ward er überall mit herzlicher Verehrung und Liebe aufgenommen. Freilich verschonten auch die Gegner sein Thun und Reden in der Fremde mit ihrem Spotte nicht; und manchmal (so durch die Herausgabe seines entsetzlich weitschweifigen Tagebuchs der Reise nach Kopenhagen) bot L. selbst ihnen dazu nicht unbegründeten Anlaß.
Unruhiger gestaltete sich sein Leben gegen den Schluß des Jahrhunderts. Den Ausbruch der französischen Revolution hatte er mit Wonne begrüßt. Aber schon die Ereignisse des Jahres 1792 stimmten ihn vollständig um. An der welthistorischen Bedeutung der Revolution jedoch machten sie ihn nicht irre. Er wollte deshalb die wirklichen Errungenschaften des Freiheitskampfes nicht aufgeben; aber vor allem lag ihm an einer friedlichen Entwicklung des neuen Zustandes [793] aus den alten Verhältnissen auf gesetzmäßigem Wege. Vermittelnd stand er daher zwischen den Parteien, als 1795 auch im Kanton Zürich Unruhen ausbrachen. Und als 1798 der Umsturz der Verfassung erfolgte und zugleich die Franzosen in die Schweiz eindrangen, offenbarte sich erst recht die Energie seines Handelns. Er trat sogar mit unvergleichlicher Kühnheit den französischen Unterdrückern seines Landes in voller Person entgegen. Am 10. Mai 1798 faßte er in dem „Wort eines freien Schweizers an die große Nation“ alle Anklagen zusammen, die er als Patriot und Diener der Wahrheit gegen die Franzosen erheben konnte, und sandte sie entschlossenen Muthes an den Director Rewbell[WS 1]. Als er nach Ablauf eines Monates eine aus Sophismen zusammengesetzte officielle Antwort aus dem Directorium erhielt, erneuerte er seinen Protest. Nur mühsam entging er den Verlegenheiten, die ihm namentlich der französische Obergeneral in der Schweiz, Schauenburg, deßwegen bereitete. Trotzdem ließ er sich nicht abschrecken, die widerrechtliche Deportation der angesehensten ehemaligen Mitglieder des Rathes von Zürich (seit dem 2. April 1799) unablässig mit Wort und That, im Gespräch, auf der Kanzel, durch Briefe und Eingaben an die Regierung zu bekämpfen. Jede Warnung war vergebens. Anfangs schien das helvetische Directorium ihn mit Nachsicht zu behandeln; einige Wochen darauf aber, am 16. Mai, als er eben zum Gebrauch einer Badecur gegen heftigen Rheumatismus in Baden angelangt war, wurde auch er nach Basel deportirt. Die Haft wurde ihm durch die Milde des dortigen Regierungsstatthalters so leicht als möglich gemacht. Seine Familie, seine Freunde und seine Gemeinde verwandten sich dringend für seine Loslassung; zwei Verhöre erwiesen seine Unschuld. So wurde er am 10. Juni 1799 wieder in Freiheit gesetzt. Aber der französisch-österreichisch-russische Krieg, dessen Schauplatz die Schweiz indessen geworden war, verhinderte die augenblickliche Rückkehr nach Zürich. Nach manchen abenteuerlichen Kreuz- und Querzügen kam L. endlich am 16. August in der Heimath an. Bald darauf, am 26. September, als Massena nach der zweiten Schlacht von Zürich die Stadt einnahm, wurde er von einem französischen Soldaten, den er einige Minuten zuvor mit Speise und Trank erquickt hatte, dicht unter der Brust schwer verletzt.
Unermüdlich thätig blieb er auch auf dem Krankenbette. Unter anderem verfaßte er jetzt die „Freimüthigen Briefe über das Deportationswesen und seine eigene Deportation nach Basel“ (2 Bde., 1800–1801). Kaum fühlte er sich im December 1799 etwas besser, als er den Pflichten seines Berufes wieder in ihrem vollen Umfang oblag. Aber schon Ende Januars verboten es ihm seine neuerdings zunehmenden Leiden. Umsonst brauchte er die Bäder von Baden und Schinznach. Auch ein Sommeraufenthalt zu Erlenbach bei Zürich brachte nur wenig Erleichterung. Im September trieb ihn die Sehnsucht nach seiner Gemeinde in die Stadt zurück. Nach unsäglichem Leiden, das gleichwol die Klarheit seines Geistes nicht zu trüben vermochte, starb er am 2. Januar 1801 in den Armen der Seinen. Sein Tod erregte weit über Zürichs Grenzen hinaus schmerzliche Theilnahme. Seiner Leiche gaben (am 5. Januar) auch die französischen Truppen, die in der Stadt lagen, das Geleite. Aus seinem Nachlaß theilte alsbald [1801–2) sein Tochtermann, Georg Geßner, zahlreiche Gedichte, Predigten, religiöse, politische und physiognomische Briefe und Aufsätze in fünf Bänden mit. –
- Georg Geßner’s „Lebensbeschreibung“ seines Schwiegervaters in 3 Bänden (Winterthur 1802–3). – Ferdinand Herbst, „Lavater nach seinem Leben, Lehren und Wirken“, Ansbach 1832. – Friedrich Wilhelm Bodemann unter demselben Titel, Gotha 1856. – J. C. Mörikofer, „Schweizerische Literatur [794] des achtzehnten Jahrhunderts“ (Leipzig 1861). – Franz Muncker, Johann Kaspar Lavater. Eine Skizze seines Lebens und Wirkens (Stuttgart 1883).
[783] *) Zu S. 83.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Jean François Reubell (Rewbell) (1747-1807), französischer (elsässischer) Jurist und Revolutionär, war 1795-1799 Mitglied des Direktoriums.