Zum Inhalt springen

ADB:Raeder

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Raeder“ von Paul Schlenther in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 27 (1888), S. 119–122, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Raeder&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 23:54 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Rader, Matthäus
Band 27 (1888), S. 119–122 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
OFF in der Wikipedia
GND-Nummer 138403732
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|27|119|122|Raeder|Paul Schlenther|ADB:Raeder}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=138403732}}    

Raeder. Eine Schauspielerfamilie, deren Begründer Christian R. am 29. October 1742 zu Wismar geboren wurde. 1764 schloß er sich der Wandertruppe des kleinen Harlekin Leppert an und blieb bei ihr, bis sie sich 1770 in Straßburg i. E. auflöste. Dann folgte er der Seyler-Ekhof’schen Gesellschaft und übernahm 1782 zu Prag in dem vom Grafen Nostiz daselbst neuerrichteten Theater die Regie der Oper. Von 1784–91 wirkte er am deutschen Theater in Petersburg. Nach kürzeren Aufenthalten in Berlin, Neustrelitz, Hannover war er von 1802–15 in Breslau thätig. Er starb am 8. December 1817 zu Würzburg. Man weiß von ihm, daß er in Prag „große Bediente, Bauern und dumme Rollen“ gespielt hat; es wurde ihm eine lispelnde, schnarrende Sprache, Mangel an Munterkeit und ein allzu nachlässiges Spiel vorgeworfen. Dagegen wußte man seine verständige Kunst zu rühmen, die manchen Naturfehler ausgleiche, und knüpfte (Gothaisches Theater-Journ. 1783–84) daran das für einen Schauspieler zweideutige Lob, daß er ein guter Theoretiker sei. Sehr anerkannt wird jedoch von anderer Seite sein maßvolles Spiel. Er war zweimal verheirathet. Seine erste Frau

Katharina Johanna Juliana R. geb. Lucius, eine Verwandte Leppert’s, war 1744 zu Dresden geboren. 1764 ließ sie sich zu Kassel in die Gesellschaft ihres Vetters aufnehmen, wo sie ihren Gatten kennen lernte, mit dem sie von der Vermählung ab bis zum Tode zusammenwirkte. Sie spielte jugendliche Rollen ernster und heiterer Art. In Wetzlar entzückte sie Gotter und Goethe. Gotter feierte sie in gutgemeinten Jamben als Voltaire’s Zayre und pries vor allem „ihrer Stimme Zauberklang“ und ihren tragischen Schritt. Als die Seyler’sche Gesellschaft im October 1771 zu 21/2jährigem Aufenthalt an den Hof von Weimar kam und ruhigere Tage erleben sollte, waren Madame Raeder’s Tage gezählt. Sie starb in Weimar am 22. Juni 1772. Man betrauerte ihren frühen Tod lebhaft und lange. Schmidt aus Gießen nannte sie eine Actrice fürs Herz. Angesichts eines Bildes ihrer Pamela rühmt Reichard die holde Sanftmuth in Blick und Zügen, und als vier Jahre später Charlotte Ackermann starb, denkt ein Nekrolog noch vergleichend an die „Asche der Räder“. Ihr Wittwer ging 1774 eine zweite Ehe ein:

Amalie R. geb. Niebuhr, eine Nichte der Madame Seyler-Hensel, erwarb sich in den ersten Jahren ihrer Ehe besonders in Dresden und Leipzig, wo die Seyler’sche Gesellschaft, der sie schon 1769 angehörte, am festesten Fuß gefaßt hatte, durch ihre muntere Soubrettenlaune zahlreiche Verehrer. Auch in Prag fand sie mehr Beifall als ihr Gatte. Man lobte ihr Feuer, ihre Lebhaftigkeit, ihr munteres und natürliches Spiel, das jedem Theater willkommen sei, ermahnte sie aber zum bessern Lernen ihrer Rollen und warnte sie vor Liebhaberinnen und vor dem Tragischen, „denn dann ist sie Soubrette im Reifrock, und will sie sich zeigen, so wird sie steif! Aber Soubrette, che gusto!“ Ihr und ihres Mannes erstes Auftreten in Prag fand 1782 in dem damaligen Zugstück „Nicht mehr als sechs Schüsseln“ statt. Ihren Mann begleitete sie nach Petersburg, und auf der Durchreise traten sie am Berliner Nationaltheater in Lessing’s „Minna von Barnhelm“ als Just und Franciska auf. Später ging sie in das Fach der komischen Alten über und starb 1832 in Posen an der Cholera. Aus dieser Ehe stammt

Karl Friedrich Balthasar R., geb. zu Leipzig am 15. Mai 1781. Schon als Kind trat er in Petersburg und Neustrelitz neben den Eltern auf die Bühne. Seine Tenorstimme, welcher Anmuth und Ausdauer nachgerühmt wird, führte ihn zur Oper und er fand vor allem in Breslau und Hamburg ein dankbares Publicum. Dort kam er mit K. M. v. Weber und Ludwig Devrient, hier mit F. L. Schröder in nähere Berührung. Seine Glanzpartien waren Tamino, [120] Octavio, der Freischütz, die er mit edlem, „nicht zu gekünsteltem“ Vortrag gesungen haben soll. Etwa 50 Jahre alt, zog er sich von der Bühne zurück, erblindete später und starb zu Dresden am 17. August 1861. 1809 hatte er sich, von L. Devrient zum Altar geführt, in Breslau mit der Schauspielerin Florentine Gildner (geboren 1790) verheirathet, welche gleichzeitig mit ihrem Gatten der Kunst entsagte und am 23. November 1865 zu Wiesbaden starb. Dieser Ehe entsproß der hervorragendste Bühnenkünstler seines Namens.

Gustav R. wurde am 22. April 1810 zu Breslau geboren. Er begann als Naturbursch in Oper und Schauspiel. Sein erstes Auftreten fand Mitte der zwanziger Jahre zu Altenburg als Masetto im „Don Juan“ statt. Damals bereiste der Kammerherr v. Lichtenstein die kleinen thüringischen Residenzen mit einem Thespiskarren, zu dem gerade vier Räder gehörten: Großmutter, Eltern und Sohn. Der altenburgische Kunstgönner Freiherr v. Seckendorff erinnerte sich noch 1868 der greisen Amalie als trefflicher komischer Alten, des Vaters Karl als eines schon „passirten“ Tenors, der Mutter Florentine als einer sehr braven Heldenliebhaberin; und dem jugendlichen Gustav rühmte er eine völlig ungekünstelte vis comica nach. Ins eigentliche Komikerfach aber gelangte dieser erst in Stralsund unter Leitung des Grafen Karl Hahn. Gleich seinen Vorfahren führte er anfangs ein wechselndes Wanderdasein. Auch im Königstädtischen Theater zu Berlin hielt er neben Schmelka und Spitzeder nur zwei Jahre (1831–33) aus. Dann kam er zum alten Lebrun nach Hamburg, wo er sich mit der Tochter des Bassisten Woltereck vermählte, und am 16. Juli 1838 hielt er am Hoftheater zu Dresden als Mengler in Albini’s Lustspiel „Endlich hat er’s doch gut gemacht“ sein erstes Probegastspiel ab. Sowol in dieser Rolle wie auch als Valentin (Raimund’s Verschwender) und als Bartolo (Rossini’s Barbier von Sevilla) gefiel er den Dresdnern ungemein. L. Tieck befürwortete sein Engagement; und so trat er am 1. April 1839 für Lebenzeit eine Stellung an, mit welcher er freilich oft genug unzufrieden war, in der er Kabalen ertrug und wol auch stiftete, die ihn aber doch ein Menschenalter hindurch zum erklärten Liebling einer großen Residenzstadt machte.[1] Auch Rob. Proelß, der ihm mit kritischer Kühle gegenüber steht, muß seine ganz außergewöhnliche Kraft anerkennen. R. hat diese nach drei Richtungen hin verwerthet: als Sänger, als Schauspieler und als Bühnenschriftsteller. Als Sänger stimmte sein Naturell am besten zu den eben aufgekommenen Spielopern Lortzing’s. Seine Glanzleistung war der klug’ und weise Bürgermeister in „Czar und Zimmermann“; aber auch als Schulmeister im „Wildschütz“, als „Waffenschmied“ bewährte sich sein Baß. Sehr gelegen kam ihm in späterer Zeit das Gedeihen Offenbach’s, für den er im Dresdener Hoftheater einen so breiten Spielraum durchsetzte, daß die Anhänger würdevollerer Richtungen, z. B. die Vorkämpfer Richard Wagner’s, ungehalten wurden und den bedeutenden Einfluß des Komikers auf das Repertoire als unheilvoll anfochten. Die Gegner, die er sich dadurch in der Presse und unter den Kunstgenossen schuf, befehdeten dann auch den Schauspieler in ihm. R. Proelß klagt über die Aeußerlichkeit und bloße Körperlichkeit seiner Komik und hebt seinen zunehmenden Hang zum Uebertreiben hervor. Er bezweifelt zwar nicht seine Fähigkeit, wol aber seine Neigung zur tieferen Auffassung und durchgeführten Entwicklung eines Charakters. Günstiger stellten sich zu ihm producirende Bühnenautoren. Es war die Zeit, wo Gutzkow und Laube ihre Litteraturstücke abfaßten. Gutzkow, der damalige Dramaturg des Dresdener Theaters, soll den Sergeanten Mack (Königslieutenant) und den Krämer Mathieu (Urbild des Tartüffe) auf Raeder’s Eigenart hin gemünzt haben; und Laube hat in der Vorrede zu „Gottsched und Gellert“ sein Wohlgefallen an dem Diener Schladitz Raeder’s ausgesprochen, den er mit Gern [121] gleichstellte. Für einen großen Theil seiner Leibrollen sorgte R. mit eigener Feder. Schon 1847 erschienen unter dem Titel „Komus“ zwei Possen, von denen die eine „Der Weltumsegler wider Willen“ frei bearbeitet ist nach dem „Monsieur Jovial“ von Théauton und Decourcy, die andere „Der artesische Brunnen“ sich als eine originale Zauberposse darstellt. R. knüpfte an die Wiener Richtung der Bäuerle und Raimund an, ohne freilich, wie diese, aus dem kindischen Spiel einen tiefern Sinn hervorleuchten zu lassen. Auch bei ihm mischt sich in menschliche Schicksale eine Welt der Berggeister und Erdmännchen ein, die bald foppt, bald straft, bald zum Heile führt. Dazu kommt ein starker parodistischer Zug, welcher hauptsächlich von der zeitgenössischen Opernproduction ausgeht. Schon Raeder’s wirksamste und dauerhafteste Posse „Robert und Bertram oder die lustigen Vagabunden“ weist dem Titel nach auf Meyerbeer’s „Robert der Teufel“ hin. In einem andern Stück parodirt ein Schlittschuhläufertanz die bekannten Scenen aus dem „Propheten“, welcher auch zur Posse „Ein Prophet oder Johannes Leiden und Freuden“ die Veranlassung gegeben hat. Freilich beschränkt sich das Parodistische nur auf Aeußerlichkeiten. Es treten drei geheimnißvolle Gestalten unter dem Namen Knipper, Doll, Ling auf und der Held, ein Schneider, geräth in den Verdacht, ein Betrüger zu sein. Die eigentliche Handlung aber weicht völlig von der Oper ab und ist eine Posse für sich, mit einer sehr lustigen Verwicklung; der Berggeist erfüllt dem Schneider drei Wünsche: alle Weiber verlieben sich in ihn, er wird ein Nabob und er soll 300 Jahre leben. Das bringt ihn aber in die bösesten Umstände und er ist schließlich froh, den Fluch dieser eitlen Wünsche los zu sein. R. fürchtet sich nicht vor drastischen Situationen, ohne aber frivol und zweideutig zu werden. Auch politische und andere Tendenzen liegen ihm fern. Sein liebstes Motiv hat er sich aus Nestroy’s „Lumpaci Vagabundus“ geholt. Ein paar durchtriebene Tangenichtse schlagen sich wohl oder übel mit weitem Gewissen, leerem oder stibitztem Beutel, aber stets guter Laune singend und zechend durch die Welt. Bald sind sie in einem Einacter die Stubenkameraden „Luchs und Fuchs“, welche der Wirthin die Miethe schuldig bleiben, bald heißen sie im Anschluß an das Taglioni’sche Ballet „Flick und Flock“, bald „Robert und Bertram“. Auf künstlerische Gestaltung hielt R. nicht viel, er wollte ein dankbares, leicht zum Lachen aufgelegtes Publicum belustigen, und das ist ihm gelungen. Von 1841 bis 1862 gingen von ihm, meist zum Fasching, über das Dresdener Hoftheater 21 Possen, unter denen fünf einen großen, anhaltenden Erfolg hatten. Außer den schon erwähnten waren es „Aladin oder die Wunderlampe“, ein aus Tausend und eine Nacht geschöpftes Zaubermärchen, und „Purzel in Spanien“. Die Figur Purzel’s, welche auch im „Weltumsegler“ vorkommt, erinnert an den Wiener Staberl. Von anderen Stücken seien noch erwähnt „Graf Bukskin“, „Signor Pescatore“, „Drei Schwestern oder der verwunschene Freier“, „Die verwunschene Prinzessin“, „Don Quixote“, „Ella“, „Jupiter’s Reiseabenteuer“. Die meisten wurden auch auf andern norddeutschen Bühnen heimisch, und wenn Räder’s Ruhm auch vergänglich ist, so wäre es doch nicht unerfreulich, wenn ein Menschenalter nach seinem Tode die deutsche Posse in Bezug auf Geschlossenheit der Handlung nur auf seinem Niveau stände.

Seine jüngere Tochter Marie R., geb. am 27. März 1844 in Dresden, ging 1861 als Soubrette zur Bühne, war in Hannover, Kassel, Wiesbaden, Petersburg, seit 1871 im Leipziger Stadttheater engagirt und starb am 1. November 1885, nachdem sie schon vorher der Kunst entsagt hatte.

E. Kneschke, Das deutsche Lustspiel. Leipzig 1861, S. 433 ff. – R. Gottschall, Die deutsche Nationallitteratur des 19. Jahrhunderts. 3IV, S. 130. – Rob. Proelß, Geschichte des Dresdener Hoftheaters. S. 473 und [122] 602. – Blum-Herloßsohn-Marggraff, Allg. Theaterlexikon. – Deutsche Schaubühne, herausgegeb. von Wehl und Perels 1868, Heft 9. – Mittheilungen aus der Familie.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. Raeder, Gust. XXVII 120 Z. 23 v. u. l.: machte. R. † 16. Juli 1868 in Teplitz. [Bd. 56, S. 398]