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ADB:Reichard, Heinrich August Ottokar

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Artikel „Reichard, Heinrich August Ottokar“ von Albert Schumann in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 27 (1888), S. 625–628, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Reichard,_Heinrich_August_Ottokar&oldid=- (Version vom 18. Dezember 2024, 05:00 Uhr UTC)
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Band 27 (1888), S. 625–628 (Quelle).
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Reichard: Heinrich August Ottokar R., ein durch vielseitige litterarische Thäligkeit bekannter Schriftsteller, geboren am 3. März 1751 in Gotha, war das einzige Kind des Oberconsistorial- und Oberpolizeisecretärs Friedrich August R. und der Marie Charlotte geb. Bube. Kaum vier Jahr alt verlor er den Vater, gewann aber in dem Geh. Regierungsrathe Rudloff, mit dem seine noch sehr jugendliche Mutter eine zweite Ehe schloß, einen treuen Freund und Berather. Von diesem sehr sorgfältig und zweckmäßig erzogen, empfing er bei dem damaligen übeln Zustande des Gymnasiums häuslichen Unterricht durch einen Candidaten der Theologie, der ihn in die vorbereitenden Wissenschaften, namentlich in die alten Sprachen einführte. Die griechischen und römischen Geschichtschreiber zogen ihn unter den Eindrücken des Siebenjährigen Krieges mehr als sonst wohl an: er schwärmte für Aristides, versetzte sich im Geiste nach Marathon und Platää, las gern Beschreibungen jener Gegenden und faßte überhaupt eine ihm stets gebliebene Neigung für das classische Alterthum. Das Französische, die Umgangssprache des Hofes und der gebildeten Welt, lernte er bei einem geborenen Franzosen, der ihn in seinen Kenntnissen bedeutend förderte, aber auch mit der Aufklärungslitteratur vertraut machte. Einen unter deren Einfluß entstandenen Versuch: „Voyage dans le pays de la superstition“ hatte der jugendliche Verfasser die Kühnheit an Voltaire nach Ferney zu übersenden. Daneben las er den Robinson, die Märchen der Tausend und Einen Nacht und die neueren deutschen Dichter, unter denen ihn Gleim und Geßner gleichfalls zur Nachahmung anregten. – Schon im 16. Altersjahre bezog er die Hochschule und widmete sich von 1767–71 in Göttingen, Leipzig und Jena der Rechtswissenschaft, ohne jedoch derselben überall mit stetem Fleiße obzuliegen. Vielmehr betheiligte er sich lebhaft an dem studentischen Treiben, trat zu Leipzig in den Amicistenorden, gründete in Jena einen Zweigverein desselben, stand öfters auf der Mensur und hielt sich auch nicht von Liebeshändeln fern, wobei ihn aber der gesunde sittliche Kern seines Wesens vor Verirrungen bewahrte. Als er dann aus dem geräuschvollen Studentenleben wieder in das stillere Gotha zurückgekehrt war, gedachte er wohl vorübergehend daran, sich dem Soldatenstande zu widmen, fühlte sich aber in der geselligen und viefach anregenden Stadt bald heimisch und beschäftigte sich vorerst damit, seine bisher entstandenen litterarischen Versuche zu veröffentlichen. K. W. Ettinger, damals Factor der Dieterich’schen Buchhandlung, übernahm gegen Erlegung der Druckkosten den Verlag dieser meist poetischen Kleinigkeiten, welche 1772 und 1773 ohne Namen des Verfassers erschienen: „Amor vor Gerichte, eine Nouvelle aus den Götter-Annalen“, „Nonnen-Lieder mit Melodien“, „Geschichte meiner Reise nach Pirmont“, „Launen an meinen Arzt, als er mir die Diaet empfahl“, „Kleinere Poesien von mir“, „Der Hügel bei Kindleben“, „Launen und Einfälle“, „Pot-Pourri“ und außerdem zwei Uebersetzungen aus dem Französischen. Damit trat er in eine litterarische Thätigkeit ein, die an Fruchtbarkeit ihres Gleichen sucht und eigentlich [626] erst mit seinem Tode endigte; auch gewann er durch sie nah und fern zahlreiche Bekannte und Freunde. In Gotha knüpfte sich ein engerer Verkehr mit den jüngeren Genossen Fr. W. Gotter, Schack Herm. Ewald, H. Bertuch und dem älteren Chr. Eman. Klüpfel; auswärtige Verbindungen schloß er allmählich mit L. A. Unzer in Wernigerode, Mauvillon in Braunschweig, F. J. Bertuch in Weimar, Bertram in Berlin, v. Göckingk in Ellrich, J. J. Engel, v. Matthisson, v. Salis u. A. An der zu Anfang 1773 durch Gotter begründeten Privatbühne bethätigte er sich in der Rolle eines ersten Liebhabers. Zwar endete dieses vielversprechende Unternehmen nicht ohne Reichard’s Schuld bald wieder, war aber insofern von Bedeutung, als es den Schauspielern Abel Seyler’s und dem späteren Hoftheater die Wege bahnte. Jene kamen von Weimar, wo sie seit 1771 gespielt hatten, infolge des Schloßbrandes nach Gotha und traten hier am 8. Juli 1774 in Chr. Fel. Weisse’s Trauerspiel „Richard III.“ zum ersten Male auf. R. bezeigte seinen lebhaften Antheil durch fleißigen Besuch, durch die Bearbeitung mehrerer französischer Operetten zum Zwecke der Aufführung und durch die Herausgabe seines für die Geschichte der deutschen Schaubühne so bedeutsamen „Theater-Kalenders“ (1775–1800), welchem er dann seit 1777 noch das in 22 Heften bis 1784 fortdauernde „Theater-Journal für Deutschland“ folgen ließ. Als dann mit dem Ablaufe von Seyler’s Contract (2. September 1775) die Gefahr nahe trat, das liebgewonnene Theater wieder verlieren zu müssen, beschloß R., eine Anzahl zum Bleiben williger Schauspieler womöglich auch ferner an Gotha zu fesseln. Ein von ihm entworfener Plan erlangte durch Klüpfel’s Fürsprache die Genehmigung des Herzogs, so daß nun die besten Kräfte der Seyler’schen Truppe, darunter Ekhof, Böck und Frau, Koch und Frau, die Mecour u. a., zu einem dauernden Zusammenspiel unter dem Namen eines herzoglichen Hoftheaters vereinigt wurden. Die Oberleitung der von auswärts noch ergänzten Gesellschaft übernahm auf fürstlichen Befehl der Obermarschall Hans Adam v. Studnitz, Ekhof die Leitung des Schauspieles, R. diejenige des litterarischen Faches und der Kasse. Am 2. October 1775 erfolgte die Eröffnung der neuen Bühne mit des Letzteren Gelegenheitsstück „Das Fest der Thalia“ (Musik von A. Schweizer) und dem Trauerspiele „Zayre“ nach einer alten von Ekhof verbesserten Uebersetzung. Sie bestand von da an bis zum 24. September 1779, wo sie nach einer fast vierjährigen Dauer mit der Vorstellung der „Medea“ und von „Rache für Rache“ schloß, nachdem nach und nach 48 Schauspieler und Schauspielerinnen auf ihr thätig gewesen und 176 Schau- und Singspiele in 847 Vorstellungen zur Aufführung gelangt waren. Im Unmuth über die steten Zänkereien und Eifersüchteleien des Künstlervolkes hatte der Herzog die Auflösung der Gesellschaft befohlen. Für R. knüpften sich an die Verbindung mit dem Theater verschiedenartige Folgen: denn wenn er sich einerseits durch seine Unerfahrenheit im Rechnungswesen bedeutende Geldverluste zuzog, so verschaffte sie ihm andererseits den Titel eines Bibliothekars und das Wohlwollen und die Freundschaft des trefflichen Herzogs Ernst II. Derselbe ehrte ihn dadurch, daß er ihm 1780 die Verwaltung seiner Privatbibliothek anvertraute, ihm 1785 den Titel eines Rathes, 1799 die Stelle eines Kriegscommissärs mit Sitz und Stimme im Kriegscollegium verlieh und ihn 1801 zum wirklichen Kriegsrath beförderte. Auf seinen Wunsch trat R. am 24. October 1775 auch in die von Ekhof gestiftete Freimaurerloge ein, zu deren Mitgliedern außer dem Herzog dessen Bruder Prinz August, der Freund Goethe’s, Herder’s und Wieland’s, F. W. Gotter, Klüpfel, R. Z. Becker, J. G. Geißler und andere hervorragende Männer gehörten. Er widmete sich dem Bunde mit besonderem Eifer und stieg bald zu höheren Graden empor; auch verfaßte er eine Anzahl maurerischer Schriften: so in Gemeinschaft mit dem Obersten, späteren [627] Generalmajor Chr. G. v. Helmolt († am 21. April 1805) einen Almanach nach englischem Vorbilde: „Sammlung für die freien und angenommenen Maurer in Deutschland“ (1776), feierte festliche Anlässe durch Gedichte und Reden und gab noch zur 50jährigen Jubelfeier der Loge am 21. October 1824 den „Versuch einer Geschichte d. g. u. v. (der gerechten und vollkommenen Loge) Ernst zum Kompaß und ihrer älteren Schwestern im Orient von Gotha“ heraus. Ebenso wurde er auf Veranlassung des Herzogs Mitglied des Illuminatenordens, in welchem er den Namen „Wiklef“ führte; doch vermochte er sich für diesen Geheimbund nicht recht zu begeistern und zog sich nach einigen Jahren völlig zurück. Unterdessen setzte er seine schriftstellerische Thätigkeit emsig fort und veröffentlichte die „Bibliothek der Romane“ (21 Bde., 1773–94), gab mit L. Chr. Lichtenberg, dem Pagenhofmeister J. W. Dumpf und Schack Herm. Ewald die „Gothaischen Gelehrten Zeitungen“ (1774–1804) und unter Klüpfel’s Auspicien den „Nouveau Mercure de France“ (1775) heraus, der mit M. v. Grimm’s Beihülfe unter wechselnden Namen, als „Journal de Lecture“, „Cahiers de Lecture“ und „Nouveaux Cahiers de Lecture“, bis 1796 erschien; er redigirte die Vierteljahrsschrift „Olla Potrida“ (22 Jahrgge., 1778–1800) und die Zeitschrift „Aus den Papieren einer Lesegesellschaft“ (3 Bde., 1787–89), übersetzte zahlreiche Werke, namentlich Reisebeschreibungen, aus dem Französischen, besorgte seit 1779 eine Reihe von Jahrgängen des „Gothaischen Hofkalenders“, lieferte zahlreiche Beiträge in verschiedene Musenalmanache, schönwissenschaftliche und gelehrte Zeitschriften und verfaßte, nachdem er zu diesem Zwecke allerhand Notizen gesammelt und sich durch verschiedene Reisen dazu vorbereitet hatte, seine vielbenutzten, zum Theil oft aufgelegten Reisehandbücher, so das „Handbuch für Reisende aus allen Ständen“ (1784), den „Guide des Voyageurs en Europe“ (1793), den „Passagier auf der Reise in Deutschland und einigen angrenzenden Ländern“ (1801) und den Auszug aus dem letzteren, das „Itinéraire de poche de l’Allemagne et de la Suisse“ (1809). – Damals stand er in seinem Hause schon längst nicht mehr allein; denn am 3. Februar 1786 hatte er die kluge und anmuthige Amalie Seidler, eine Tochter des weimarischen Oberconsistorialrathes J. W. Seidler und Schwägerin Ettinger’s, als Gattin heimgeführt. Sie gebar ihm in neunzehnjähriger glücklicher Ehe zwei Kinder: eine nachmals mit dem gothaischen Kammerherrn K. E. Konstantin v. Goechhausen vermählte Tochter Charlotte (1788–1873) und einen Sohn Ernst (1795–1863), der als sächsischer Officier den russischen Feldzug und die deutschen Befreiungskriege mitmachte und schließlich bis zum Range eines Generallieutenants emporstieg. Schon auf einer Reise, die er im Sommer 1786 mit seiner jungen Gattin nach der Schweiz und von da über Lyon nach Paris unternahm, waren ihm hier die drohenden Vorzeichen eines gewaltsamen Umsturzes nicht entgangen; der drei Jahre später ausbrechenden Revolution stand er zwar schon anfangs nicht ganz gleichgültig gegenüber, „aber er fühlte auch nicht den mindesten Trieb, sich dafür oder dagegen zu erklären“. Diese Zurückhaltung gab er jedoch mit den fortschreitenden Ereignissen bald auf; denn als mit dem Schlusse des Jahres 1790 die französischen Umtriebe in der Schweiz immer mehr zunahmen, veranlaßte ihn seine Vorliebe für dieses Land zu den Flugschriften: „Zuruf eines Deutschen an patriotische Schweizer. Deutschland 1790“ und „An den gesunden Menschenverstand der Schweizer. Februar 1799“; und je länger die Revolution dauerte, desto entschiedener trat er auf die Seite ihrer Gegner. Ein Ausfluß dieser Gesinnung waren mehrere Flugblätter, wie der „Aufruf eines Deutschen an seine Landsleute am Rhein, sonderlich an den Nähr- und Wehrstand“ (1792), namentlich aber der seit 1793 erscheinende „Revolutions-Almanach“, welcher die deutschen [628] Franzosenfreunde mit Ernst und Laune angriff, aber seinem Herausgeber auch viele Anfeindungen, Verunglimpfungen und Drohungen eintrug. Gleichwohl setzte er den Almanach unerschrocken bis 1803 fort, nahm jedoch an den letzten Jahrgängen einen weniger lebhaften Antheil als vorher. – Mit dem neuen Jahrhundert zogen schwere Wetterwolken über ihn herauf. In der Nacht vom 20. auf den 21. April 1804 starb sein fürstlicher Freund, Herzog Ernst II., der ihn beim Herannahen des Todes noch zu sich berufen und beim Ordnen des Nachlasses sich seiner Hülfe bedient hatte. Das am Sterbebette gethane Gelöbniß, dem Dahingeschiedenen auf schweizerischer Erde eine einfache Gedächtnißtafel stiften zu wollen, führte er noch im gleichen Jahre aus, indem er eine Marmorplatte mit pietätvoller Inschrift an einer Felswand des Rigi oberhalb des Klösterli’s anbringen ließ. Noch blutete diese Wunde, als ihm der Tod am 21. Juli 1805 seine Gattin nach schwerer Krankheit entriß. Er bettete sie, wie sie es gewünscht, auf dem Friedhofe des nahen Dorfes Siebleben, wo auch zwei Jahre später M. v. Grimm seine letzte Ruhestätte wählte. Er erlebte dann die französische Fremdherrschaft, welche das Herz des patriotischen Mannes schwer bekümmerte, und die Befreiungskriege, welche er in der Erwartung einer besseren Gestaltung der deutschen Verhältnisse lebhaft begrüßte. Noch vor dem Ende des Krieges arbeitete er 1814 mit jugendlicher Begeisterung als Commissär an der Einrichtung des Landsturmes mit und sah in der folgenden Friedenszeit abwechselnd freundliche und trübe Tage erscheinen. 1818 ward er durch den Herzog August zum Geh. Kriegsrath, 1821 durch den König Friedrich August von Sachsen zum Ritter seines Verdienstordens ernannt; am 25. Juli 1825 feierte er sein 50jähriges Dienst- und am 25. October sein 50jähriges Maurerjubiläum und empfing am 21. August des nämlichen Jahres von der Gesammtregierung der Herzogthümer Sachsen-Gotha und Altenburg den Titel eines Kriegsdirectors; aber er mußte auch noch die letzten Herzoge August und Friedrich IV. von Gotha dahinscheiden und die Theilung des Landes sich vollziehen sehen. Noch immer geistig frisch und bis zu den letzten Tagen seines Lebens mit litterarischen Entwürfen und der Aufzeichnung seiner erst lange nachher (1877) herausgegebenen Denkwürdigkeiten beschäftigt, führte ihn endlich infolge eines Nervenschlages ein sanfter Tod am 17. October 1828 „ins stille Land“ hinüber.

H. A. O. Reichard (1751–1828). Seine Selbstbiographie überarbeitet und herausgeg. von Herm. Uhde. Stuttg. 1877 (VI, 553 S.). – Vgl. auch Meusel, G. T. – Heinr. Cramer, H. A. O. Reichard in: Zeitgenossen. Ein biogr. Magazin für die Geschichte unserer Zeit. 3. Reihe. Herausgeg. von Fr. Chr. Aug. Hasse. 2. Bd. Leipzig 1830. Nr. XI, S. 1(3)–43. – N. Nekr. 6. Jahrg., 1828, 2.Thl., S. 749–752. – Aug. Beck, Ernst II., Herzog zu Sachsen-Gotha und Altenburg. Gotha 1854. S. 137 f., 211 f., 325, 439 f. und 441.