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ADB:Strauß, David Friedrich

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Artikel „Strauß, David Friedrich“ von Eduard Zeller in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 36 (1893), S. 538–548, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Strau%C3%9F,_David_Friedrich&oldid=- (Version vom 21. Dezember 2024, 18:28 Uhr UTC)
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Band 36 (1893), S. 538–548 (Quelle).
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Strauß: David Friedrich St. wurde am 27. Januar 1808 in der kleinen württembergischen Residenz- und Garnisonsstadt Ludwigsburg geboren. Sein Vater, ein Kaufmann, verband mit einer geistigen Begabung und Bildung, welche über das Durchschnittsmaaß hinausging, ein leicht aufbrausendes Temperament und eine Neigung zu religiöser Mystik, die mit den Jahren zunahm. In seinem Geschäft hatte er keine glückliche Hand und sein Wohlstand ging mit der Zeit empfindlich zurück. Mehr aber, als vom Vater, hatte St., in seiner geistigen Individualität wie in seinen Gesichtszügen, von der Mutter geerbt: einer kleinen, lebhaften, verständigen, an Kopf und Herz kerngesunden Frau, welcher eine einfache, praktische Frömmigkeit genügte, und welche mit dem Sohne, der ihr sein Bestes zu verdanken bezeugt, bis an ihr Ende aufs innigste verbunden war. Seinen ersten Unterricht erhielt St. in den Schulen seiner Vaterstadt; im Herbst 1821 wurde er dem „niederen Seminar“ in Blaubeuren übergeben, einer von den vier Klosterschulen des Landes, in denen seit dem 16. Jahrhundert der größere Theil seiner protestantischen Kirchendiener auf das Studium der Theologie vorbereitet wird. Die vier Jahre, welche er hier zubrachte, waren für ihn von entscheidender Bedeutung und vom vortheilhaftesten Einfluß auf seine Entwicklung. In dem alten Benedictinerkloster, das in einem schönen Gebirgsthal an der Südseite der schwäbischen Alb gelegen ist, hatten sich etwa fünfzig Knaben zusammengefunden, um in einem genau vorgeschriebenen Studiengang, unter sorgfältigster Beaufsichtigung durch die Lehrer, in den damals üblichen Gymnasialfächern unterrichtet zu werden; und unter diesen befanden sich eben damals ungewöhnlich viele fähige, nicht bloß mit guten Schulkenntnissen, sondern auch mit eigenartigen Talenten reich ausgestattete Köpfe, von denen auch mehrere, wie außer St. Friedrich Vischer, Gustav Pfizer, Wilhelm Zimmermann, Christian Märklin, sich in der Folge auf verschiedenen Gebieten rühmlich bekannt gemacht haben. Und diesen Schülern hatte eine seltene Gunst des Schicksals gerade für die wichtigsten Unterrichtsfächer zwei so vortreffliche Lehrer gegeben, wie dies Baur und Kern, die späteren Tübinger Theologen, [539] nach dem einstimmigen Zeugniß ihrer damaligen Zöglinge, jeder in seiner Art, gewesen sind. So entwickelte sich hinter den grauen Klostermauern und in den Schranken einer halb klösterlichen, stellenweise auch wirklich zu engherzigen Disciplin ein Leben und Treiben, dessen jugendliche Munterkeit und phantasievollen Humor uns St. und Vischer ebenso, wie seine geistig und gemüthlich befruchtende Wirkung, noch nach langen Jahren in den frischesten Farben geschildert haben. St. gehörte zu denen, welche sich sowol am Unterricht als an dem geselligen Leben der jungen Leute aufs eifrigste betheiligten, und zu dem idealen Gehalt und der poetischen Färbung des letzteren am meisten beitrugen, welche aber auch von beiden den reichsten Ertrag für sich selbst gewannen. Schon bei der Aufnahme in das Seminar hatte er sich als einer der kenntnißreichsten unter den Zöglingen erwiesen; beim Austritt aus demselben hatte er alle andern entschieden überflügelt. Als er in die Anstalt eintrat, war er ein scheuer, vom Heimweh geplagter, körperlich etwas schwächlicher Knabe gewesen; als er im Herbst 1825 auf die Universität überging, auf der ihn das theologische Seminar, das bekannte „Stift“ aufnahm, war er nach der Schilderung Vischer’s ein stolz aufgeschossener Jüngling, mit ansprechendem länglichem Gesicht, großen dunkeln Augen, bedeutender Stirn und schönem, hellbraunem altdeutschem Haar; und hätte man auch, wie Vischer weiter bemerkt, in diesem Johanneskopf den künftigen Kritiker nicht vermuthet, so machte doch sein ganzes Wesen, trotz der mädchenhaften Schüchternheit, die ihm Unbekannten gegenüber sein Leben lang nachging, den Eindruck einer geistigen Bedeutung, die seinen Lehrern Achtung einflößte und die Bewunderung seiner Altersgenossen hervorrief. Ausgereift war er freilich noch lange nicht; gerade auf der Universität hatte er vielmehr noch eine folgenreiche Entwicklung durchzumachen, ehe er den Schwerpunkt seines geistigen Lebens gefunden hatte. In der Philosophie, der die zwei ersten Studienjahre vorzugsweise gewidmet sein sollten, fand sich St. mit seinen Freunden von dem akademischen Unterricht wenig befriedigt. Sein eigenes Studium führte ihn zunächst Schelling in die Arme, und von ihm auch zu J. Böhme, an dessen theosophische Offenbarungen er in jener Zeit wie an ein Evangelium glaubte. Gleichzeitig schloß er sich, von dem gewöhnlichen studentischen Treiben nicht angezogen und die burschenschaftlichen Illusionen ironisch ablehnend, einem Kreis an, der um Eduard Mörike geschaart den Cultus der Poesie, und insbesondere den der Romantik, mit schwärmerischer Begeisterung betrieb. Und die Hoffnung, mit einer höheren Welt in unmittelbare Verbindung zu kommen, veranlaßte ihn zu einem Besuch bei Justinus Kerner und seiner „Seherin von Prevorst“, aus dem für ihn als bleibende Frucht eine lebenslängliche Freundschaft mit dem liebenswürdigen Dichter hervorging. Erst in seinem dritten Universitätsjahr, als er bereits zum Studium der Theologie vorgerückt war, begann St. aus dem Banne dieser philosophisch-poetischen Mystik sich herauszuarbeiten; von Kerner’s Geisterglauben hat er sich, dem Magnetismus gegenüber noch allzu befangen, 1830 in seiner ersten litterarischen Arbeit (jetzt Charakterist. und Kritik. 390 ff.) losgesagt. Den entscheidenden Anstoß zu diesem geistigen Läuterungsproceß gab ihm Schleiermacher’s Glaubenslehre, die in ihren philosophischen Voraussetzungen seinem Schellingianismus nahe genug stand, aber durch ihre ganze Methode vorzüglich geeignet war, die enthusiastischen Anschauungen des jungen Philosophen in scharf umgrenzte Begriffe umzuprägen, und eine unbewußt in ihm schlummernde Kraft, seine ungewöhnliche dialektische Begabung, zu entbinden. In der gleichen Richtung wirkte der Unterricht Baur’s, des einzigen unters Strauß’ theologischen Lehrern, von dem er einen nachhaltigen Einfluß erfuhr. Hatte auch dieser große Forscher, als ihn St. in Tübingen hörte (1827–30), zu den Werken, die seinen Namen in der Geschichte der protestantischen Theologie [540] verewigt haben, erst einzelne Bausteine zuzurichten begonnen, so konnte doch die Gründlichkeit seiner gelehrten Arbeit, die Weite seines historischen Blickes, der große Stil und rein wissenschaftliche Sinn, in dem er alles behandelte, seines Eindrucks auf den empfänglichen Geist talentvoller Schüker nicht verfehlen; seine Vorlesungen über Apostelgeschichte und Korintherbriefe brachten schon die ersten, allerdings noch schüchternen Ansätze zu Baur’s neutestamentlicher Kritik; und seine Beurtheilung Schleiermacher’s führte bereits 1827 zu dem Ergebniß, daß es auch seinem Scharfsinn nicht gelungen sei, den idealen Christus mit dem historischen zur Deckung zu bringen. Mit dem Studium Schleiermacher’s verband aber St. in seinen letzten Semestern auch das Hegel’s, dessen Name auf den Lehrstühlen der schwäbischen Landesuniversität damals noch kaum genannt wurde. Er las mit einigen Freunden die Phänomenologie, und wurde von dem genialen Werke immer tiefer in die Gedankenkreise seines Verfassers hineingezogen. Als er im Herbst 1830 sein Universitätsstudium mit einer glänzenden Prüfung abschloß, war er ein entschiedener Anhänger der Hegel’schen Philosophie, war aber bereits auch auf die Wichtigkeit des Punktes aufmerksam geworden, an welchen die weitere Entwicklung seiner theologischen Kritik zunächst anknüpfte: der Frage nach dem Verhältniß der religiösen Vorstellung und des speculativen Denkens und nach den Folgerungen, die sich aus Hegel’s Bestimmung dieses Verhältnisses für die Theologie ergaben.

Nach seinem Abgang von der Universität wurde St. einem Prediger auf dem Lande, nahe bei Ludwigsburg, als Vicar zugetheilt, und neun Monate später mit der Vertretung eines abgegangenen Professors an der Klosterschule zu Maulbronn beauftragt. In der ersten von diesen Stellungen fanden seine Predigten und Katechisationen durch ihre Faßlichkeit und die Frische seines Auftretens bei seiner ländlichen Zuhörerschaft, wie später bei der anspruchsvolleren in Tübingen, vielen Beifall; daneben ließ ihm aber das Amt an der kleinen Gemeinde ausreichende Muße für die Fortsetzung seiner eigenen Studien. In Maulbronn allerdings nahm ihn der Unterricht in Latein, Hebräisch und Geschichte, welchen er den Zöglingen unmittelbar vor ihrem Uebergang auf die Universität zu ertheilen hatte, vollauf in Anspruch. Die Lebendigkeit und Klarheit seines Unterrichts, sein Geist und seine Liebenswürdigkeit im persönlichen Verkehr, machten ihn bei seinen Schülern allgemein beliebt. Indessen dauerte dieser Lehrauftrag nur drei Monate; bald nach Ablauf desselben, im October 1831, machte sich St., nunmehr Dr. phil., auf den Weg nach Berlin, um seinen wissenschaftlichen Bildungsgang unter Hegel’s und Schleiermacher’s persönlicher Leitung zum Abschluß zu bringen. Das Schicksal war diesem Vorhaben nicht günstig. Am 3. November traf St. in Berlin ein; am 14. wurde Hegel von der Cholera weggerafft, nachdem St. noch seine ersten Vorlesungen gehört und ihn in seinem Haus aufgesucht hatte. Schleiermacher aber verhielt sich gegen den Hegelianer kühl und ablehnend. Seine Vorlesungen hörte St., und von der (damals nicht gehaltenen) über das Leben Jesu verschaffte er sich Nachschriften, deren Studium, hauptsächlich durch den Widerspruch, zu dem es ihn veranlaßte, nicht wenig dazu beitrug, seine eigenen Ansichten über den Gegenstand zu klären. Von den Mitgliedern der Hegel’schen Schule wurde ihr schwäbischer Gesinnungsgenosse mit offenen Armen aufgenommen; in ein besonders nahes Verhältniß kam er zu Vatke, und im Verkehr mit diesem gelehrten und scharfsinnigen Manne nahm der Plan eines Werkes, mit dem er sich schon seit einiger Zeit getragen hatte, die Gestalt an, aus der wenige Jahre später das „Leben Jesu“ hervorging. Er hatte zuerst an eine Dogmatik gedacht, in der nicht bloß die Entstehung der kirchlichen Dogmen, sondern auch ihre Auflösung durch Aufklärung und Kritik dargestellt, und dann erst ihre [541] Wiederherstellung durch den Begriff vollzogen werden sollte, um so eine genauere Einsicht in das Verhältniß des Historischen und des Speculativen im Christenthum zu gewinnen. Jetzt beschloß er, zunächst die evangelische Geschichte nach diesem Plan zu bearbeiten, der aber in der Folge, als es zur Ausführung kam, noch eine wesentliche Aenderung und Beschränkung erfuhr. – Nach seiner Zurückkunft von Berlin trat St. (Mai 1832) als „Repetent“ an dem theologischen Seminar in Tübingen ein, wo er in rastloser wissenschaftlicher Arbeit und heiterem, von sprudelnder Jugendlust erfülltem Zusammenleben mit den alten Universitätsfreunden drei glückliche Jahre zubrachte. Sofort begann er auch mit den Vorlesungen, die besonders von seinen Maulbronner Schülern sehnsüchtig erwartet worden waren. Er trug mit glänzendem Erfolge Logik und Metaphysik, Geschichte der neueren Philosophie, Plato’s Gastmahl, Geschichte der Moral vor. Die erste von diesen Vorlesungen war eine sehr geschickte Wiedergabe und Erläuterung des Hauptinhalts der Hegel’schen Logik, welche damals in Tübingen noch fast unbekannt war; eine größere Selbständigkeit bethätigte sich in den anderen. Indessen zog sich der gefeierte Lehrer schon nach drei Semestern von dieser akademischen Thätigkeit wieder zurück, um sich ganz dem kritisch-historischen Werke zu widmen, zu dem er schon in Berlin den Plan gefaßt hatte. Dieser Plan hatte ihn neben seinen Vorlesungen fortwährend beschäftigt und immer festere Gestalt gewonnen; jetzt arbeitete er in ihm so gewaltig, daß das ganze Werk, mit Ausnahme der Schlußabhandlung, 1400 Druckseiten, binnen Jahresfrist im Manuscript fertiggestellt wurde. In welchem Geist es gehalten sein werde, hatte schon 1834 die scharfsinnige Kritik einiger Schriften über das Matthäusevangelium (jetzt Charakterist. u. Krit. 235 ff.) gezeigt. Aber weder diese noch einige andere kleine Arbeiten, die seit 1830 erschienen waren, hatten die Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf sich gezogen, und so war Strauß’ Name den meisten noch ganz unbekannt, als „Das Leben Jesu kritisch bearbeitet“ (Tüb. 1835, 2 Bde.) ihn mit einem Schlage zu einem von den berühmtesten und gefürchtetsten in der zeitgenössischen Litteratur machte. Die epochemachende Bedeutung dieses Werkes beruht auf der grundsätzlichen Entschiedenheit, mit der sein Verfasser den herrschenden Auffassungen der evangelischen Geschichte eine neue entgegenstellte, der Kühnheit und Folgerichtigkeit, der dialektischen Gewandtheit und schriftstellerischen Meisterschaft, womit er seinen Standpunkt an dem Gegenstand seiner Untersuchung durchführte. Hatten Supranaturalisten und Rationalisten bis dahin an dem streng historischen Charakter der biblischen Erzählungen festgehalten und ihr Gegensatz sich darauf beschränkt, daß die Wunderberichte von jenen als solche stehen gelassen, von diesen ins Natürliche umgedeutet wurden; war auch Schleiermacher in der Hauptsache nicht über die rationalistische Exegese, die Hegel’sche Schule, nach dem Vorgang ihres Meisters, nicht über eine unklare Gleichsetzung des Historischen und Speculativen hinausgekommen, und hatte selbst die weitgehendste Kritik höchstens in den Außenwerken der evangelischen Geschichte einzelne sagenhafte Zuthaten anzuerkennen gewagt, so führte St. mit einer in alles Einzelne eingehenden Gründlichkeit den Beweis, daß ein großer Theil der evangelischen Erzählungen nicht aus geschichtlichen Berichten, sondern aus Dichtungen bestehe, und er behauptete dies insbesondere von allen Wundergeschichten, das Hauptwunder der Auferstehung miteingeschlossen, von den Reden Christi im vierten Evangelium und von der ganzen ihm eigenthümlichen Schilderung seiner Person und Geschichte. Jene Dichtungen erklärte er aber nicht für das bewußte Werk bestimmter Personen, sondern für ein Erzeugniß des christlichen Gemeingeistes, für eine mythische Umbildung der Geschichte, bei der sich die religiöse Phantasie, ohne sich dessen bewußt zu sein, von einem doppelten Motiv habe leiten lassen: einerseits von [542] dem Bestreben, den Stifter des Christenthums in immer zunehmendem Maaße zu verherrlichen, andererseits von dem Bedürfniß, in ihm die Erfüllung der messianisch gedeuteten alttestamentlichen Aussprüche und Vorbilder, überhaupt alle die Züge nachzuweisen, aus denen sich das Messiasbild jener Zeit zusammensetzte, und zu denen namentlich auch die Aehnlichkeit mit Moses und seiner Geschichte gehörte. St. hat später selbst anerkannt, daß diese Erklärung des Ungeschichtlichen in den evangelischen Berichten nur theilweise genüge; aber an der Berechtigung seines Angriffs auf ihre Geschichtlichkeit hat er jederzeit entschieden festgehalten. Was er mit diesem kühnen Angriff gewagt hatte, und wie tief er damit in die Ueberzeugungen der Zeit einschnitt, zeigte sich sofort an der Bewegung, die derselbe hervorrief. Kein theologisches Werk, seit den Wolfenbüttler Fragmenten, hat gegen seinen Urheber einen solchen Sturm entfesselt, wie das „Leben Jesu“. Die wissenschaftliche Arbeit der protestantischen Theologen drehte sich Jahre lang fast nur um dieses Buch. Hunderte von Entgegnungen jedes Umfangs erschienen, von allen Standpunkten und in allen Tonarten, in der Regel aber mit leidenschaftlicher Gehässigkeit, wurde es bestritten; und wenn St. im Vorwort seines ersten Bandes seine Leser auf die Schlußabhandlung vertröstet hatte, welche den dogmatischen Gehalt des Lebens Jesu als unversehrt nachweisen werde, so konnte diese doch mit ihrem Endergebniß, daß nur die Menschheit, aber kein Einzelner, das Subject der Prädicate sein könne, welche die Kirche dem Gottmenschen beilegt, solchen, denen gerade an der Einzelpersönlichkeit des Gottmenschen alles gelegen war, selbstverständlich nur als ein weiterer schlagender Beweis für die Gefährlichkeit des Kritikers und der Schule, aus der er hervorgegangen war, erscheinen. Die württembergischen Staats- und Kirchenbehörden warteten den Abschluß des Werkes nicht ab, ehe sie über den Verfasser desselben eine Maßregel verhängten, welche in seinen Lebensgang tief eingriff. Alsbald nach dem Erscheinen des 1. Bandes wurde St. seiner Repetentenstelle in Tübingen enthoben und als Professoratsverweser auf ein Schulamt in seiner Vaterstadt versetzt, das weder seinen Fähigkeiten noch seinen Wünschen entsprach. Er hielt es jedoch nicht über ein Jahr darin aus: im Herbst 1836 gab er es auf und verlegte seinen Wohnsitz für sechs Jahre nach Stuttgart. Er wohnte hier allein in einem kleinen Gartenhause innerhalb der Stadt und führte, in seine Arbeiten vergraben, ein zurückgezogenes Gelehrtenleben, in welches neben dem Verkehr mit näheren Freunden nur Kunstgenuß und ab und zu eine kurze Reise einige Abwechslung brachte. An Veranlassung zu litterarischer Arbeit fehlte es ihm nicht. Schon wenige Monate nach der Vollendung seines Werkes hatte sich eine neue Auflage desselben nothwendig gezeigt, welche im Herbst 1836 erschien. Da aber St. derselben nur einzelne Bemerkungen zur Vertheidigung, Erläuterung oder Berichtigung seiner früheren Darstellung beigefügt hatte, beschloß er jetzt, sich mit den namhafteren von seinen Gegnern in eigenen Erörterungen auseinanderzusetzen; und er that dies in jenen „Streitschriften“, welche sich durch das Schlagende ihrer Polemik, die Gewandtheit ihrer Dialektik, die Schärfe ihrer Beweisführung, die Durchsichtigkeit und Lebendigkeit ihrer Darstellung, wie durch den Nachdruck, mit dem das Recht der freien Forschung vertheidigt wird, Lessing’s Beantwortung der Angriffe von Göze und Genossen ebenbürtig zur Seite stellen. Drei Hefte dieser Streitschriften erschienen 1837; da aber inzwischen eine dritte Auflage des Lebens Jesu nöthig geworden war, zog es St. vor, jene Erörterungen abzubrechen und das, was er auf Einwürfe zu erwidern hatte, in kürzerer Form seinem Hauptwerk einzuverleiben. Indessen zeigte die neue, 1838 erschienene Auflage des letzteren, daß der Widerspruch, auf den St. gestoßen war, in seiner Einstimmigkeit doch einen tieferen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Er räumte in derselben nicht allein (wie schon Streitschr. III, 87 f.) die Möglichkeit mancher [543] außerordentlicher Vorgänge auf allzu unsichere Analogieen (des Hellsehens u. s. f.) hin ein, sondern er wagte auch seine Einwürfe gegen die Glaubwürdigkeit und Echtheit des Johannesevangeliums nicht mehr mit der gleichen Entschiedenheit geltend zu machen, wie früher. Gleichzeitig und im Zusammenhang damit suchte er in den Selbstgesprächen über „Vergängliches und Bleibendes im Christenthum“ (1838, wiederabgedruckt in „Zwei Friedliche Blätter“, Altona 1839) für die geschichtliche Persönlichkeit Christi eine größere Bedeutung zu gewinnen, als die Schlußabhandlung des Lebens Jesu sie übrig gelassen hatte. Schien ihm auch Schleiermacher’s absolute Sündlosigkeit und Urbildlichkeit des Erlösers fortwährend das Maaß der menschlichen Natur zu überschreiten, so fand er es doch denkbar und sonstigen Analogieen entsprechend, daß er ein Größtes in seiner Art, derjenige religiöse Genius gewesen sei, über den die Menschheit auf diesem Gebiete des geistigen Lebens niemals hinauskommen werde. St. hat diese Zugeständnisse an die gewöhnliche Auffassung des Christenthums in der Folge wieder zurückgenommen: in der vierten und letzten Ausgabe des ersten Lebens Jesu (1840) stellte er in allem wesentlichen die erste wieder her, und die „Selbstgespräche“ führt er (Ges. Schr. I, 13) auf eine krankhafte Stimmung zurück. Zunächst aber ließ ihn die versöhnlichere Wendung, die seine Stellung zur positiven Religion genommen hatte, hoffen, daß es ihm möglich sein werde, auch in dem Fache der Theologie, in dem seine Neigung und der bisherige Gang seiner Studien ihn doch noch immer seinen eigentlichen Lebensberuf suchen ließen, als Universitätslehrer den Wirkungskreis zu finden, nach dem er sich so lebhaft sehnte und für den er so vorzüglich befähigt war. Ihm einen solchen in Zürich zu verschaffen, hatte Ferdinand Hitzig, noch ohne ihn persönlich zu kennen, in Verbindung mit Kaspar Orelli, sich seit 1836, zunächst vergeblich, bemüht; im Januar 1839 gelang es ihnen, mit Hülfe des Bürgermeisters Hirzel seine Berufung auf den erledigten Lehrstuhl der Dogmatik durchzusetzen. Diese Berufung rief jedoch in der Bevölkerung des Kantons eine Aufregung hervor, die mit allen, auch den verwerflichsten Mitteln eines erbitterten Parteikampfes genährt wurde, und die um so gefährlicher anwuchs, da sich derselben sofort die politischen Gegner der radicalen Regierung für ihre Zwecke bemächtigten. Die Regierung sah sich außer Stande, ihren Beschluß aufrechtzuerhalten: sie nahm ihn in der Form zurück, daß der Neuberufene noch vor dem Antritt seines Amtes pensionirt wurde; was sie allerdings vor dem Schicksal nicht bewahrte, ein Halbjahr später von einem Haufen bewaffneter Bauern, nicht ohne Blutvergießen, gestürzt zu werden. Die ihm gesetzlich zustehende Pension nahm St. an, verwandte sie aber zunächst zu einer wohlthätigen Stiftung. Den Anlaß zu dieser gab der Tod seiner Mutter, die noch während der Züricher Wirren, im März 1839, andauernder Kränklichkeit erlag. Zwei Jahre später verlor St. auch seinen Vater.

Neben den bisher besprochenen Schriften hatte St. von 1835–39 noch eine Reihe von Beiträgen für Zeitschriften verfaßt; der bedeutendste derselben ist die werthvolle Studie über Schleiermacher und Daub, welche er 1839 mit Anzeigen von Schriften aus dem Gebiete der Theologie, des thierischen Magnetismus und der schönen Litteratur in den „Charakteristiken und Kritiken“ vereinigte, während gleichzeitig eine reizende Schilderung Justinus Kerner’s aus den Hall. Jahrbüchern (1838) in die „Friedlichen Blätter“ überging. Indessen nahm der unermüdliche Gelehrte sofort wieder eine umfassendere Aufgabe in Angriff. Um sich für die Züricher Lehrstelle vorzubereiten, hatte er eingehende dogmengeschichtliche Quellenstudien betrieben; als die Aussicht auf jene sich zerschlug, ging aus denselben sein zweites theologisches Hauptwerk hervor, das 1840–41 in zwei starken Bänden erschien: „Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft“. St. wollte [544] in diesem Werke, mit dem er an einen älteren Plan (s. o.) anknüpfte, wie er sagt, die Bilanz unseres dogmatischen Besitzstandes ziehen; er wollte feststellen, was und wieviel von dem christlichen Glauben sich auf dem Standpunkt der modernen Wissenschaft noch festhalten lasse; es sollte eine Kritik jenes Glaubens von diesem Standpunkt aus sein. Die allgemeine Voraussetzung dieser Untersuchung und den Maaßstab für das, was die „moderne Wissenschaft“ fordert, bildete Hegel’s Philosophie und im besondern seine Religionsphilosophie, bzw. das, was der Kritiker als ihrem Sinn und Geist entsprechend erkannte. Mit ihr theilte sie auch die einseitig theoretische Auffassung der Religion: sie war weniger eine Kritik der christlichen Religion als der christlichen Dogmatik. Es wurde für jedes Hauptstück derselben zunächst die biblische Lehre in ihren mannichfaltigen Verzweigungen dargestellt; es wurde gezeigt, auf welchem Wege sich diese zum kirchlichen Dogma entwickelte; es wurden die Widersprüche, mit denen sie behaftet war, die Schwierigkeiten, welche ungelöst blieben, hervorgehoben und die allmähliche Zersetzung der Dogmen, wie sie sich mit der zunehmenden Erkenntniß jener Schwierigkeiten unaufhaltsam vollzog, an der Hand der Geschichte verfolgt; und es wurde nun gefragt, ob die kirchlichen Lehren oder auch nur die von neueren Dogmatikern festgehaltenen Bestandtheile derselben, jenen Einwürfen gegenüber, ohne eine unzulässige Umdeutung ihres Sinnes, vor der Wissenschaft unserer Zeit noch bestehen können. Wenn nun die Antwort auf diese Frage nur verneinend ausfiel, so war dies allerdings schon durch die Fragestellung bedingt. Was untersucht werden soll, ist nur die Vereinbarkeit der überlieferten religiösen Vorstellungen mit unsern wissenschaftlichen Begriffen, nicht die Frage, ob die religiösen Bedürfnisse und Lebenserfahrungen, welche in jenen Vorstellungen den ihrer Zeit angemessenen Ausdruck gefunden haben, auch auf unserem Standpunkt noch als berechtigt anerkannt werden müssen, und welche Sätze uns hiefür den gleichen Dienst leisten würden, den die kirchlichen Dogmen der Vorzeit geleistet haben. Um sich seine Aufgabe so zu stellen, hätte St. grundsätzlich über die Hegel’sche Religionsphilosophie hinausgehen müssen, innerhalb derselben war er zunächst auf die Kritik der Dogmen angewiesen; und als solche betrachtet, ist seine Glaubenslehre eine Leistung, welche hinter dem Leben Jesu nicht bloß nicht zurücksteht, sondern dasselbe als wissenschaftliches Kunstwerk noch übertrifft. Das gleiche Aufsehen konnte sie dennoch nicht hervorbringen, so bedeutend auch immerhin ihr Erfolg war.

Mit seiner Glaubenslehre gab St. der Theologie für viele Jahre als Schriftsteller den Abschied, und betheiligte sich auf diesem Gebiete nur noch als Zuschauer an den Arbeiten seiner Freunde. Wenn aber zugleich auch in seiner litterarischen Thätigkeit überhaupt eine längere Pause eintrat, so hing dies mit der Gestaltung seiner persönlichen Verhältnisse zusammen. St. verheirathete sich im August 1842 mit Agnese Schebest, einer gefeierten Sängerin, welche den kunstsinnigen und feinfühligen Mann schon seit Jahren, so oft sie als Gast in Stuttgart erschien, durch ihre Schönheit und Anmuth, die classische Vollendung ihres Spiels und ihres Gesanges, immer aufs neue entzückt hatte; und er verlegte nunmehr seinen Wohnsitz erst nach Sontheim bei Heilbronn, dann in diese Stadt selbst, in der es ihm an alten und neuen, nahen und entfernteren Freunden nicht fehlte. Aber die Ehe war nicht glücklich: ohne daß gesetzliche Scheidungsgründe vorgelegen hätten, wurde seine Lage für St. so unerträglich, daß er eine thatsächliche Trennung von seiner Frau herbeiführte. Diese zog nach Stuttgart, wo sie am 22. December 1870 gestorben ist. Ihre beiden Kinder, ein Mädchen und ein Knabe, wurden erst der Obhut der Mutter, 1851 der des Vaters übergeben. – Diesen häuslichen Nöthen kaum entronnen, wurde St. in die politische Bewegung des Jahres 1848 hineingezogen. Die Ludwigsburger wollten ihren [545] berühmten Mitbürger als Vertreter nach Frankfurt in die Paulskirche entsenden; als die Stimmen der ländlichen Wähler einem pietistischen Fanatiker den Sieg über ihn verschafften, entschädigten sie ihn durch ein Mandat für die württembergische Abgeordnetenkammer. Er selbst hatte sich die Bedenken nicht verborgen, welche bei seiner Individualität in einer Zeit hochgehender politischer Erregung der Annahme der ihm angebotenen Candidaturen entgegenstanden, und sich nur zögernd dazu entschlossen; und der Erfolg bewies nur zu sehr, wie vielen Grund er dazu gehabt hatte. Ein Feind aller doctrinären Allgemeinheiten und aller politischen Phrasen, kam er mit seiner nüchternen Beurtheilung und seiner maaßvollen Behandlung der Dinge sofort nach dem Zusammentritt der Ständeversammlung (September 1848) zu dem Radicalismus, welcher in dieser immer mehr um sich griff, und auch zu vielen von seinen Wählern in einen Gegensatz, der sich von Tag zu Tag verschärfte; er sah sich vereinzelt und zum zeitweiligen Zusammengehen mit solchen gezwungen, deren Conservatismus von dem seinigen weit ablag; und nach mehreren für ihn unangenehmen Auftritten nahm er am 23. December 1848 von einem unverdienten Ordnungsruf Veranlassung, sein Mandat, unter Verzicht auf die Diäten, niederzulegen. Sechs Volksreden, die er aus Anlaß der Wahl für Frankfurt hielt (jetzt Ges. Schr. I, 237 ff.), eine ungemein lichtvolle Darstellung gesunder politischer Ansichten, wurden der Oeffentlichkeit übergeben.

Nach der Trennung seiner Ehe und dem Ende seiner politischen Thätigkeit lebte St. erst (Januar 1849 bis Herbst 1851) allein in München, dann mit seinen Kindern in Weimar und in Köln, dem Wohnort seines Bruders, seit dem Herbst 1854 in Heidelberg; und hier blieb er sechs Jahre, welche ihm durch die Schönheit der Gegend, durch das Zusammenleben mit seiner Tochter, die dort in Pension war, durch den freundschaftlichen Verkehr mit geistig hochstehenden Männern und feingebildeten Frauen und durch eigene fruchtbare Arbeit verschönert wurden. 1860 war er wegen eines Augenleidens einige Monate in Gräfe’s Behandlung in Berlin und kehrte dann mit seinen Kindern nach Heilbronn zurück; nach der Verheirathung seiner Tochter (1864) hielt er sich kürzere Zeit in Berlin, Heidelberg und anderen Orten auf, und siedelte im Herbst 1865 nach Darmstadt über; hier blieb er mit Ausnahme eines Winters, den er in München zubrachte (1867/68), bis zum Herbst 1872, der ihn in seine Vaterstadt Ludwigsburg zurückführte. Um den Anfang dieser 25jährigen Periode begann auch seine litterarische Productivität wieder aufzuleben welche seit der Vollendung der Glaubenslehre, erst über der Begründung, dann über der traurigen Gestaltung seines Hausstandes, ins Stocken gerathen war. Die ersten Anzeichen der wiedererwachenden Schaffenslust waren zwei kleinere Arbeiten aus dem Jahr 1847: das Lebensbild seines Freundes, des 1846 verstorbenen Dichters Ludwig Bauer, mit dem er eine Sammlung Bauer’scher Schriften einführte (Ges. Schr. II, 199 ff.), und die geistvolle, tiefeinschneidende Satire auf König Friedrich Wilhelm IV., welche den Inhalt der kleinen Schrift: „Julian der Abtrünnige“ (ebd. I, 175 ff.) bildete. Bereits hatte er aber auch eine größere Arbeit begonnen. Eine Sammlung von Briefen des Dichters Schubart, welche ihm Fr. Vischer überließ, veranlaßte ihn, sie durch weitere Erwerbungen zu ergänzen und aus ihnen durch Hinzufügung einer biographischen Einrahmung und Verbindung eine Geschichte des ihm sympathischen, und von Jugend auf auch durch mündliche Ueberlieferuug wohlbekannten Mannes herzustellen, welche meisterhaft ausgeführt 1849 in zwei Bänden erschien. Damit eröffnete er die Reihe jener biographischen Werke, denen seine Feder von da an für eine Reihe von Jahren fast ausschließlich gewidmet war. Als im Herbst 1849 sein vertrautester Freund [546] von einer Krankheit jählings weggerafft wurde, setzte er ihm in seinem „Christian Märklin“ (1850) ein schönes, auch für die Kenntniß seines eigenen Wesens und Lebens werthvolles Denkmal. Die kühle Aufnahme, welche diese Schrift in jenem für sie so ungünstigen Zeitpunkt fand, nahm ihrem Verfasser zunächst die Lust zum Verkehr mit dem Publicum; und auch als 1855 aus dem mühseligen und augenverderbenden Studium zahlloser Acten und Drucke ein gründliches und umfangreiches Werk: „Leben und Schriften des Dichters und Philologen Nicodemus Frischlin“ hervorging, fand es fast nur in Gelehrtenkreisen Beachtung. Um so größer war der Erfolg seines fesselnd geschriebenen, auf eingehendstem Studium beruhenden „Ulrich v. Hutten“ (1. Aufl. 1858. 2 Bde.; 2. Aufl. 1871, 1 Bd.), dem 1860 als 3. Theil der 1. Ausgabe eine Uebersetzung von Hutten’s Gesprächen folgte. Von den Biographieen deutscher Dichter, die St. nach dem Hutten in Angriff nahm, sind nur zwei Capitel der ersten, Klopstock betreffenden (jetzt Ges. Schr. X, 1–173) fertig geworden, denen ein Vortrag über Lessing’s Nathan (1861; a. a. O. II, 43 ff.) sich anschließt. Andere kleine Arbeiten aus diesen und den folgenden Jahren sind Ges. Schr. II, S. XI verzeichnet. St. vereinigte dieselben, nachdem die Mehrzahl einzeln oder in Zeitschriften erschienen war, 1862 und 1866 in den zwei Bänden seiner „Kleineren Schriften“. – Schon in Strauß’ biographischen Werken läßt sich indessen, auch abgesehen von dem „Märklin“, erkennen, daß das theologische Interesse in ihm keineswegs erloschen war. Schubart erscheint ihm nicht bloß als das Opfer des fürstlichen Despotismus, sondern auch als das eines ungesunden und unfruchtbaren Dogmenglaubens; im Hutten hält er den Vorkämpfer protestantischer Geistesfreiheit im 16. Jahrhundert zugleich dem neunzehnten als mahnendes Vorbild entgegen; und Hutten’s Gespräche hat er mit einer Vorrede eingeführt, welche die kritischen Ergebnisse seines Lebens Jesu lebhaft in Schutz nimmt, und die Frage, ob wir uns heutzutage noch Christen nennen dürfen, so scharf stellt, daß wir bereits an Strauß’ letztes Werk erinnert werden. Mit seiner Schrift über „H. S. Reimarus“ (1861; Ges. Schr. V, 229–409), den bedeutendsten Vorläufer seiner Evangelienkritik aus dem 18. Jahrhundert, wandte sich St. wieder einem theologischen Thema zu, und 1863 folgte ihr in dem „Leben Jesu für das deutsche Volk bearbeitet“, statt der nöthig gewordenen neuen Auflage seines gleichnamigen früheren Werkes eine neue Bearbeitung des Gegenstandes. Von der älteren, deren kritische Ergebnisse in allem wesentlichen festgehalten werden, unterscheidet sich diese neue nicht allein durch ihre gemeinverständlichere Darstellung und die möglichste Vermeidung aller nur dem Fachgelehrten zugänglichen Erörterungen, sondern auch durch eine sehr erhebliche Erweiterung ihrer Aufgabe. Der Kritik der evangelischen Erzählungen, welche die zweite Hälfte der Schrift ausmacht, geht eine Untersuchung über unsere Evangelien, in der sich St. namentlich auch hinsichtlich des vierten die Ergebnisse Baur’s und seiner Schüler aneignet, und eine Darstellung alles dessen voran, was sich, wie er glaubt. über die Persönlichkeit, das Leben, die Lehre und die Wirksamkeit Jesu mit geschichtlicher Wahrscheinlichkeit ausmitteln läßt. Auch dieses Werk hatte großen Erfolg. 1865 erschienen zwei Nachträge zu demselben: „Der Christus des Glaubens und der Jesus der Geschichte“, eine schlagende Kritik der eben veröffentlichten Schleiermacher’schen Vorlesungen über das Leben Jesu, und „Die Halben und die Ganzen“, eine mit wissenschaftlicher Ueberlegenheit und schriftstellerischer Virtuosität abgefaßte Streitschrift gegen Hengstenberg und Schenkel, in der aber St. den ihm näher stehenden Vermittlungstheologen viel schonungsloser behandelt als den orthodoxen Fanatiker. In die sieben Jahre, die St. 1865–72 in Darmstadt verlebte, fallen außer der zweiten Sammlung seiner „Kleinen Schriften“ die drei Arbeiten, welche den Abschluß seiner Schriftstellerlaufbahn bezeichnen: [547]Voltaire“ (1870); „Krieg und Friede“ (1870; Ges. Schr. I, 297 ff.); „Der alte und der neue Glaube“ (1872). Die erste von diesen Schriften ist der Prinzessin, späteren Großherzogin Alice von Hessen [WS 1] gewidmet, welche ebenso wie ihre Schwester, Kaiserin Friedrich[WS 2], den geistvollen Gelehrten durch verständnißvolle Theilnahme und persönlichen Verkehr auszeichnete; sie besteht aus Vorträgen, welche vor ihr gehalten wurden, und sie gibt uns in denselben keine so lebendige, naturgetreue und anziehende Schilderung von der Persönlichkeit, dem Lebensgang und der vielseitigen Thätigkeit ihres Helden, daß sie durch ihre künstlerische Vollendung selbst unter Strauß’ Werken dieser Gattung hervorragt; und so hatte sie sich auch, wie dieß ihre vielen, rasch aufeinanderfolgenden Auflagen beweisen, einer ungewöhnlichen Anerkennung zu erfreuen. Keinen geringeren Beifall fanden die zwei Sendschreiben an Renan („Krieg und Friede“), worin St. Deutschlands Recht auf Elsaß-Lothringen und auf eine von fremder Einmischung unabhängige Ordnung seines nationalen Lebens gegen die französischen Anmaßungen und Sophismen mit großem Geschick, unwiderleglicher Logik und patriotischer Wärme vertheidigte. Indessen beschäftigten ihn bereits die Vorstudien für eine (nach Ges. Schr. I, 61 f.) schon lange geplante Schrift, in der er sich selbst und der Welt über die Stellung Rechenschaft ablegen wollte, welche die Wissenschaft unserer Tage den von ihr Gebildeten zur Religion und zum Christenthum anweise. Diese Schrift, die sich selbst in ihrem Titel „ein Bekenntniß“ nennt, ist „Der alte und der neue Glaube“. Nachdem St. hier seine Einwürfe gegen die christlichen Dogmen und die ihnen zu Grunde liegenden Erzählungen in der knappsten und durchsichtigsten Form, in der Sache mit seinen früheren kritischen Erörterungen übereinstimmend, dargelegt hat, wendet er sich zur Beantwortung der zwei Fragen: „sind wir noch Christen?“ „haben wir noch Religion?“ Die erste derselben, deren Bejahung St. noch in den „Halben und Ganzen“ wenigstens dann für möglich gehalten hatte, wenn das Christenthum „sich auf seine Wahrheit zusammenziehe“, wird jetzt entschlossen verneint, die zweite nur für den Fall bejaht, daß auch das aus einer pantheistischen Weltansicht hervorgehende Gefühl der Abhängigkeit, der Ergebung und der inneren Freiheit noch Religion genannt werde. In der positiven Darstellung seiner Ansichten über die Welt und die Lebensaufgabe des Menschen bemüht sich St., die Anschauungen, die er ursprünglich der Philosophie verdankte, mit den Ergebnissen der neueren Naturwissenschaft in Einklang zu bringen; verbirgt sich aber nicht, daß hier noch manches der genaueren wissenschaftlichen Fassung und Begründung bedürfe. – Auch dieses letzte Werk des kühnen Kritikers erregte ein außerordentliches Aufsehen; wie weit es auch in andere Kreise als die der Gelehrten eindrang, zeigten die sich rasch folgenden neuen Auflagen (1877 bereits die neunte). In der Presse ließen sich aber fast nur gegnerische Stimmen, und nicht immer in dem Tone vernehmen, der einem so edeln und bedeutenden Geist gegenüber jedenfalls geboten gewesen wäre; während Strauß’ Freunde theilweise doch auch deshalb schwiegen, weil sie von seinen Ausführungen nicht in jeder Beziehung befriedigt waren. Zum Zweck der Verständigung fügte St. der vierten Auflage seiner Schrift (Januar 1873) ein schönes, mild und versöhnlich gehaltenes Nachwort bei. Auf eine weitere Betheiligung an den Verhandlungen über sein Werk mußte er verzichten. Bald nachdem er im Herbst 1872 seinen Wohnsitz von Darmstadt nach Ludwigsburg verlegt hatte, machten sich die Anzeichen eines Uebels bemerklich, das durch eine Kur in Karlsbad nicht gebessert, und als dessen Ursache schließlich ein bösartiges Geschwür in den Gedärmen erkannt wurde. Von einer alten Dienerin seines Hauses treu gepflegt, von seinem Sohne, der als Arzt in dem nahen Stuttgart lebte, sorgfältig behandelt, ertrug er die schweren Leiden seiner Krankheit mit der frommen Ergebung und inneren Heiterkeit [548] eines Weisen; liebenswürdig, wie immer, gegen Freunde, die ihn besuchten, in lebhaftem geistigen und so lange wie möglich auch schriftlichem Verkehr mit den abwesenden, unter denen Tochter und Enkel obenan standen, bis ans Ende voll warmer Theilnahme für die vaterländischen Angelegenheiten. Am 8. Februar 1874 entschlief er. Im Anschluß an eine von ihm selbst hinterlassene Anweisung erschienen 1876–78, in 12 Bänden die „Gesammelten Schriften von D. F. Strauß eingeleitet … von E. Zeller“, welche mit Ausnahme des „Frischlin“ und weniger kleiner Stücke alles enthalten, was St. nach seiner Glaubenslehre veröffentlicht hat; außerdem, bis dahin ungedruckt, die höchst interessanten „Litterarischen Denkwürdigkeiten“, welche Bd. 1 eröffnen, und die Gedichte, welche den Inhalt des 12. Bandes ausmachen. Die letzteren begleiten, von den ersten Proben aus der Universitätszeit bis zu den ergreifenden Liedern vom Krankenlager, den ganzen Lebensgang des Verfassers, und sie lassen uns neben dem Genuß, den die meisten durch ihre Formvollendung, ihren poetischen Gehalt und heitern Humor gewähren, in sein Geistes- und Gemüthsleben einen tiefen Blick werfen. Noch manches weitere enthält das „Poetische Gedenkbuch“, welches Strauß’ Sohn schon 1876 als Manuscript für Freunde drucken ließ. – Die Quellen der vorstehenden Darstellung bildeten neben persönlicher Erinnerung und zahlreichen Briefen von St. seine Schriften, namentlich Ges. Schr. I, 1–152 und „Chr. Märklin“; Fr. Vischer, Krit. Gänge I, 2 ff. Altes und Neues 250 ff.; E. Zeller, D. F. Strauß (Bonn 1874); A. Hausrath, D. F. Strauß und die Theologie seiner Zeit (2 Bde. Heidelb. 1876, 1878), wo neben fleißig gesammeltem gedrucktem, für einzelne Partieen auch ungedrucktes Material benützt ist; H. Benecke. W. Vatke (Bonn 1883). An diesen Orten findet sich auch näheres über die meisten von den Personen, mit denen St. in Beziehung stand, und die auf ihn und seinen Lebensgang eingewirkt haben.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Prinzessin Alice von Großbritannien und Irland; Mitglied der britischen Königsfamilie und durch Heirat Großherzogin von Hessen
  2. Victoria von Sachsen-Coburg und Gotha; ebenfalls Mitglied der britischen Königsfamilie; die Witwe des Kaiser Friedrich III., nannte sich nach dessen Tod Kaiserin Friedrich.