Zum Inhalt springen

Die Edda (Simrock 1876)/Ältere Edda/Hâvamâl

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
<<< Hâvamâl >>>
Des Hohen Lied
aus: Die Edda (Simrock 1876)
Seite: {{{SEITE}}}
von: [[{{{AUTOR}}}]]
Zusammenfassung: 6. Lied der Göttersagen in der „Älteren Edda“
Anmerkung: {{{ANMERKUNG}}}
Bild
[[Bild:{{{BILD}}}|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
[[Index:{{{INDEX}}}|Wikisource-Indexseite]]
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
[37]
6. Hâvamâl.
Des Hohen Lied.
1
Der Ausgänge halber   bevor du eingehst

Stelle dich sicher,
Denn ungewiss ist,   wo Widersacher
Im Hause halten.

2
Heil dem Geber!   der Gast ist gekommen:

Wo soll er sitzen?
Athemlos ist,   der unterwegs
Sein Geschäft besorgen soll.

3
Wärme wünscht   der vom Wege kommt

Mit erkaltetem Knie;
Mit Kost und Kleidern   erquicke den Wandrer,
Der über Felsen fuhr.

4
Waßer bedarf,   der Bewirthung sucht,

Ein Handtuch und holde Nöthigung.
Mit guter Begegnung   erlangt man vom Gaste
Wort und Wiedervergeltung.

5
Witz bedarf man   auf weiter Reise;

Daheim hat man Nachsicht.
Zum Augengespött   wird der Unwißende,
Der bei Sinnigen sitzt.

6
Doch steife sich Niemand   auf seinen Verstand,

Acht hab er immer.
Wer klug und wortkarg   zum Wirthe kommt
Schadet sich selten:

[38]

Denn festern Freund   als kluge Vorsicht
Mag der Mann nicht haben.

7
Vorsichtiger Mann,   der zum Male kommt,

Schweigt lauschend still.
Mit Ohren horcht er,   mit Augen späht er
Und forscht zuvor verständig.

8
Selig ist,   der sich erwirbt

Lob und guten Leumund.
Unser Eigentum   ist doch ungewiss
In des Andern Brust.

9
Selig ist,   wer selbst sich mag

Im Leben löblich rathen,
Denn übler Rath   wird oft dem Mann
Aus des Andern Brust.

10
Nicht beßre Bürde   bringt man auf Reisen

Als Wißen und Weisheit.
So frommt das Gold   in der Fremde nicht,
In der Noth ist nichts so nütze.

11
Nicht üblern Begleiter   giebt es auf Reisen

Als Betrunkenheit ist,
Und nicht so gut   als Mancher glaubt
Ist Äl den Erdensöhnen,
Denn um so minder   je mehr man trinkt
Hat man seiner Sinne Macht.

12
Der Vergeßenheit Reiher   überrauscht Gelage

Und stiehlt die Besinnung.
Des Vogels Gefieder   befing auch Mich
In Gunlöds Haus und Gehege.

13
Trunken ward ich   und übertrunken

In des schlauen Fialars Felsen.
Trunk mag taugen,   wenn man ungetrübt
Sich den Sinn bewahrt.

[39]
14
Schweigsam und vorsichtig   sei des Fürsten Sohn

Und kühn im Kampf.
Heiter und wohlgemuth   erweise sich Jeder
Bis zum Todestag.

15
Der unwerthe Mann   meint ewig zu leben,

Wenn er vor Gefechten flieht.
Das Alter gönnt ihm   doch endlich nicht Frieden.
Obwohl der Sper ihn spart.

16
Der Tölpel glotzt,   wenn er zum Gastmal kommt,

Murmelnd sitzt er und mault.
Hat er sein Theil   getrunken hernach,
So sieht man welchen Sinns er ist.

17
Der weiß allein,   der weit gereist ist,

Und Vieles hat erfahren,
Welches Witzes   jeglicher waltet,
Wofern ihn selbst der Sinn nicht fehlt.

18
Lange zum Becher nur,   doch leer ihn mit Maß,

Sprich gut oder schweig.
Niemand wird es   ein Laster nennen,
Wenn du früh zur Ruhe fährst.

19
Der gierige Schlemmer,   vergißt er der Tischzucht,

Schlingt sich schwere Krankheit[WS 1] an;
Oft wirkt Verspottung,   wenn er zu Weisen kommt,
Thörichtem Mann sein Magen.

20
Selbst Heerden wißen,   wann zur Heimkehr Zeit ist

Und gehn vom Grase willig;
Der Unkluge   kennt allein nicht
Seines Magens Maß.

21
Der Armselige,   Übelgesinnte

Hohnlacht über Alles
Und weiß doch selbst nicht   was er wißen sollte,
Daß er nicht fehlerfrei ist.

[40]
22
Unweiser Mann   durchwacht die Nächte

Und sorgt um alle Sachen;
Matt nur ist er,   wenn der Morgen kommt,
Der Jammer währt wie er war.

23
Ein unkluger Mann   meint sich Alle hold,

Die ihn lieblich anlachen.
Er versieht es sich nicht,   wenn sie Schlimmes von ihm reden
So er zu Klügern kommt.

24
Ein unkluger Mann   meint sich Alle hold,

Die ihm kein Widerwort geben;
Kommt er vor Gericht,   so erkennt er bald,
Daß er wenig Anwälte hat.

25
Ein unkluger Mann   meint Alles zu können,

Wenn er sich einmal zu wahren wuste.
Doch wenig weiß er   was er antworten soll,
Wenn er mit Schwerem versucht wird.

26
Ein unkluger Mann,   der zu Andern kommt,

Schweigt am Besten still.
Niemand bemerkt,   daß er nichts versteht
So lang er zu sprechen scheut.
Nur freilich weiß   wer wenig weiß
Auch das nicht, wann er schweigen soll.

27
Weise dünkt sich schon   wer zu fragen weiß

Und zu sagen versteht;
Doch Unwißenheit mag   kein Mensch verbergen,
Der mit Leuten leben muß.

28
Der schwatzt zuviel,   der nimmer geschweigt

Eitel unnützer Worte.
Die zappelnde Zunge,   die kein Zaum verhält,
Ergellt sich selten Gutes.

[41]
29
Mach nicht zum Spott   der Augen den Mann,

Der vertrauend Schutz will suchen.
Klug dünkt sich leicht,   der von Keinem befragt wird
Und mit heiler Haut daheim sitzt.

30
Klug dünkt sich gern,   wer Gast den Gast

Verhöhnend, Heil in der Flucht sucht.
Oft merkt zu spät,   der beim Male Hohn sprach,
Wie grämlichen Feind er ergrimmte.

31
Zu oft geschiehts,   daß sonst nicht Verfeindete

Sich als Tischgesellen schrauben.
Dieses Aufziehn   wird ewig währen:
Der Gast grollt dem Gaste.

32
Bei Zeiten nehme   den Imbiß zu sich,

Der nicht zu gutem Freunde fährt.
Sonst sitzt er und schnappt   und will verschmachten
Und hat zum Reden nicht Ruhe.

33
Ein Umweg ists   zum untreuen Freunde,

Wohnt er gleich am Wege;
Zum trauten Freunde   führt ein Richtsteig
Wie weit der Weg sich wende.

34
Zu gehen schickt sich,   nicht zu gasten stäts

An derselben Statt.
Der Liebe wird leid,   der lange weilt
In des Andern Haus.

35
Eigen Haus,   ob eng, geht vor,

Daheim bist du Herr,
Zwei Ziegen nur   und dazu ein Strohdach
Ist beßer als Betteln.

36
Eigen Haus,   ob eng, geht vor,

Daheim bist du Herr.
Das Herz blutet Jedem,   der erbitten muß
Sein Mal alle Mittag.

[42]
37
Von seinen Waffen   weiche Niemand

Einen Schritt im freien Feld:
Niemand weiß   unterwegs wie bald
Er seines Spers bedarf.

38
Nie fand ich so milden   und kostfreien Mann,

Der nicht gerne Gab empfing,
Mit seinem Gute   so freigebig Keinen,
Dem Lohn wär leid gewesen.

39
Des Vermögens,   das der Mann erwarb,

Soll er sich selbst nicht Abbruch thun:
Oft spart man dem Leiden   was man dem Lieben bestimmt;
Viel fügt sich schlimmer als man denkt.

40
Freunde sollen mit Waffen   und Gewändern sich erfreun,

Den schönsten, die sie besitzen:
Gab und Gegengabe   begründet Freundschaft,
Wenn sonst nichts entgegen steht.

41
Der Freund soll dem Freunde   Freundschaft bewähren

Und Gabe gelten mit Gabe.
Hohn mit Hohn   soll der Held erwiedern,
Und Losheit mit Lüge.

42
Der Freund soll dem Freunde   Freundschaft bewähren,

Ihm selbst und seinen Freunden.
Aber des Feindes   Freunde soll Niemand
Sich gewogen erweisen.

43
Weist du den Freund,   dem du wohl vertraust

Und erhoffst du Holdes von ihm,
So tausche Gesinnung   und Geschenke mit ihm,
Und suche manchmal sein Haus heim.

44
Weist du den Mann,   dem du wenig vertraust

Und hoffst doch Holdes von ihm,
Sei fromm in Worten   und falsch im Denken
Und zahle Losheit mit Lüge.

[43]
45
Weist du dir Wen,   dem du wenig vertraust,

Weil dich sein Sinn verdächtig dünkt,
Den magst du anlachen,   und an dich halten:
Die Vergeltung gleiche der Gabe.

46
Jung war ich einst,   da ging ich einsam

Verlaßne Wege wandern.
Doch fühlt ich mich reich,   wenn ich Andere fand:
Der Mann ist des Mannes Lust.

47
Der milde, muthige   Mann ist am glücklichsten,

Den selten Sorge beschleicht;
Doch der Verzagte   zittert vor Allem
Und kargt verkümmernd mit Gaben.

48
Mein Gewand   gab ich im Walde

Moosmännern zweien.
Bekleidet dauchten   sie Kämpen sich gleich,
Während Hohn den Nackten neckt.

49
Der Dornbusch dorrt,   der im Dorfe steht,

Ihm bleibt nicht Blatt noch Borke.
So geht es dem Mann,   den Niemand mag:
Was soll er länger leben?

50
Heißer brennt   als Feuer der Bösen

Freundschaft fünf Tage lang;
Doch sicher am sechsten   ist sie erstickt
Und alle Lieb erloschen.

51
Die Gabe muß   nicht immer groß sein:

Oft erwirbt man mit Wenigem Lob.
Ein halbes Brot,   eine Neig[WS 2] im Becher
Gewann mir wohl den Gesellen.

52
Wie Körner im Sand   klein an Verstand

Ist kleiner Seelen Sinn.
Ungleich ist   der Menschen Einsicht,
Zwei Hälften hat die Welt.

[44]
53
Der Mann muß   mäßig weise sein,

Doch nicht allzuweise.
Das schönste Leben   ist dem beschieden,
Der recht weiß was er weiß.

54
Der Mann muß   mäßig weise sein,

Doch nicht allzuweise.
Des Weisen Herz   erheitert sich selten
Wenn er zu weise wird.

55
Der Mann muß   mäßig weise sein,

Doch nicht allzuweise.
Sein Schicksal kenne   Keiner voraus,
So bleibt der Sinn ihm sorgenfrei.

56
Brand entbrennt an Brand   bis er zu Ende brennt,

Flamme belebt sich an Flamme.
Der Mann wird durch den Mann   der Rede mächtig:
Im Verborgnen bleibt er blöde.

57
Früh aufstehen soll   wer den Andern sinnt

Um Haupt und Habe zu bringen:
Dem schlummernden Wolf   glückt selten ein Fang,
Noch schlafendem Mann ein Sieg.

58
Früh aufstehen soll   wer wenig Arbeiter hat,

Und schaun nach seinem Werke.
Manches versäumt   wer den Morgen verschläft:
Dem Raschen gehört der Reichtum halb.

59
Dürrer Scheite   und deckender Schindeln

Weiß der Mann das Maß,
Und all des Holzes,   womit er ausreicht
Während der Jahreswende.

60
Rein und gesättigt   reit zur Versammlung

Um schönes Kleid unbekümmert.
Der Schuh und der Hosen   schäme sich Niemand,
Noch des Hengstes, hat er nicht guten.

[45]
61
Zu sagen und zu fragen   verstehe Jeder,

Der nicht dumm will dünken.
Nur Einem vertrau er,   nicht auch dem Andern;
Wißens dreie, so weiß es die Welt.

62
Verlangend lechzt   eh er landen mag

Der Aar auf der ewigen See.
So geht es dem Mann   in der Menge des Volks,
Der keinen Anwalt antrifft.

63
Der Macht muß   der Mann, wenn er klug ist,

Sich mit Bedacht bedienen,
Denn bald wird er finden,   wenn er sich Feinde macht,
Daß dem Starken ein Stärkrer lebt.

64
Umsichtig und verschwiegen   sei ein Jeder

Und im Zutraun zaghaft.
Worte, die Andern   anvertraut wurden,
Büßt man oft bitter.

65
An manchen Ort   kam ich allzufrüh;

Allzuspät an andern.
Bald war getrunken   das Bier, bald zu frisch;
Unlieber kommt immer zur Unzeit.

66
Hier und dort   hätte mir Labung gewinkt,

Wenn ich des bedurfte.
Zwei Schinken noch hingen   in des Freundes Halle,
Wo ich Einen schon geschmaust.

* * *

67
Feuer ist das Beste   dem Erdgebornen,

Und der Sonne Schein;
Nur sei Gesundheit   ihm nicht versagt
Und lasterlos zu leben.

68
Ganz unglücklich ist Niemand,   ist er gleich nicht gesund:

Einer hat an Söhnen Segen,
Einer an Freunden,   Einer an vielem Gut,
Einer an trefflichem Thun.

[46]
69
Leben ist beßer,   auch Leben in Armut:

Der Lebende kommt noch zur Ruh.
Feuer sah ich des Reichen   Reichtümer freßen,
Und der Tod stand vor der Thür.

70
Der Hinkende reite,   der Handlose hüte,

Der Taube taugt noch zur Tapferkeit.
Blind sein ist beßer   als verbrannt werden:
Der Todte nützt zu nichts mehr.

71
Ein Sohn ist beßer,   ob spät geboren

Nach des Vaters Hinfahrt.
Bautasteine[WS 3]   stehn am Wege selten,
Wenn sie der Freund dem Freund nicht setzt.

72
Zweie gehören zusammen   und doch schlägt die Zunge das Haupt.

Unter jedem Gewand   erwart ich eine Faust.

73
Der Nacht freut sich   wer des Vorraths gewiss ist,

Doch herb ist die Herbstnacht.
Fünfmal wechselt   oft das Wetter am Tag:
Wie viel mehr im Monat!

74
Wer wenig weiß,   der weiß auch nicht,

Daß Einen oft der Reichtum äfft;
Einer ist reich,   ein Andrer arm:
Den soll Niemand narren.

75
Das Vieh stirbt,   die Freunde sterben

Endlich stirbt man selbst;
Doch nimmer mag ihm   der Nachruhm sterben,
Welcher sich guten gewann.

76
Das Vieh stirbt,   die Freunde sterben,

Endlich stirbt man selbst;
Doch Eines weiß ich,   daß immer bleibt:
Das Urtheil über den Todten.

[47]
77
Volle Speicher sah ich   bei Fettlings Sproßen,

Die heuer am Hungertuch nagen:
Überfluß währt   einen Augenblick,
Dann flieht er, der falscheste Freund.

78
Der alberne Geck, gewinnt er etwa

Gut oder Gunst der Frauen,
Gleich schwillt ihm der Kamm,   doch die Klugheit nicht;
Nur im Hochmuth nimmt er zu.

79
Was wirst du finden,   befragst du die Runen,

Die hochheiligen,
Welche Götter schufen,   Hohepriester schrieben?
Daß nichts beßer sei als Schweigen.

* * *

80
Den Tag lob Abends,   die Frau im Tode,

Das Schwert, wenns versucht ist,
Die Braut nach der Hochzeit,   eh es bricht das Eis,
Das Äl, wenns getrunken ist.

81
Im Sturm fäll den Baum,   stich bei Fahrwind in See,

Mit der Maid spiel im Dunkeln:   manch Auge hat der Tag.
Das Schiff ist zum Segeln,   der Schild zum Decken gut,
Die Klinge zum Hiebe,   zum Küssen das Mädchen.

82
Trink Äl am Feuer,   auf Eis lauf Schrittschuh,

Kauf mager das Ross   und rostig das Schwert.
Zieh den Hengst daheim,   den Hund im Vorwerk.

83
Mädchenreden   vertraue kein Mann,

Noch der Weiber Worten.
Auf geschwungnem Rad   geschaffen ward ihr Herz,
Trug in der Brust verborgen.

84
Krachendem Bogen,   knisternder Flamme,

Schnappendem Wolf,   geschwätziger Krähe,
Grunzender Bache,   wurzellosem Baum,
Schwellender Meerflut,   sprudelndem Keßel;

[48]
85
Fliegendem Pfeil,   fallender See,

Einnächtgem Eis,   geringelter Natter,
Bettrede der Braut,   bruchigem Schwert,
Kosendem Bären   und Königskinde;

86
Siechem Kalb,   gefälligem Knecht,

Wahrsagendem Weib,   auf der Walstatt Besiegtem,
Heiterm Himmel,   lachendem Herrn,
Hinkendem Köter   und Trauerkleidern;

87
Dem Mörder deines Bruders,   wie breit wär die Straße,

Halbverbranntem Haus,   windschnellem Hengst,
(Bricht ihm ein Bein,   so ist er unbrauchbar):
Dem Allen soll Niemand   voreilig trauen.

88
Frühbesätem Feld   trau nicht zu viel,

Noch altklugem Kind.
Wetter braucht die Saat   und Witz das Kind:
Das sind zwei zweiflige Dinge.

89
Die Liebe der Frau,   die falschen Sinn hegt,

Gleicht unbeschlagnem Ross   auf schlüpfrigem Eis,
Muthwillig, zweijährig,   und übel gezähmt;
Oder steuerlosem Schiff   auf stürmender Flut,
Der Gemsjagd des Lahmen   auf glatter Bergwand.

90
Offen bekenn ich,   der beide wohl kenne,

Der Mann ist dem Weibe wandelbar;
Wir reden am Schönsten,   wenn wir am Schlechtesten denken:
So wird die Klügste geködert.

91
Schmeichelnd soll reden   und Geschenke bieten

Wer des Mädchens Minne will,
Den Liebreiz loben   der leuchtenden Jungfrau:
So fängt sie der Freier.

92
Der Liebe verwundern   soll sich kein Weiser

An dem andern Mann.
Oft feßelt den Klugen   was den Thoren nicht fängt,
Liebreizender Leib.

[49]
93
Unklugheit wundre   Keinen am Andern,

Denn Viele befällt sie.
Weise zu Tröpfen   wandelt auf Erden
Der Minne Macht.

* * *

94
Das Gemüth weiß allein,   das dem Herzen innewohnt

Und seine Neigung verschließt,
Daß ärger Übel   den Edeln nicht quälen mag
Als Liebesleid.

95
Selbst erfuhr ich das,   als ich im Schilfe saß

Und meiner Holden harrte.
Herz und Seele   war mir die süße Maid;
Gleichwohl erwarb ich sie nicht.

96
Ich fand Billungs Maid   auf ihrem Bette,

Weiß wie die Sonne,   schlafend.
Aller Fürsten Freude   fühlt ich nichtig,
Sollt ich ihrer länger ledig leben.

97
„Am Abend sollst du,   Odhin, kommen,

Wenn du die Maid gewinnen willst.
Nicht ziemt es sich,   daß mehr als Zwei
Von solcher Sünde wißen.“

98
Ich wandte mich weg   Erwiedrung hoffend,

Ob noch der Neigung ungewiss;
Jedennoch dacht ich,   ich dürft erringen
Ihre Gunst und Liebesglück.

99
So kehrt ich wieder:   da war zum Kampf

Strenge Schutzwehr auferweckt,
Mit brennenden Lichtern,   mit lodernden Scheitern
Mir der Weg verwehrt zur Lust.

100
Am folgenden Morgen   fand ich mich wieder ein,

Da schlief im Saal das Gesind;
Ein Hündlein sah ich   statt der herlichen Maid
An das Bett gebunden.

[50]
101
Manche schöne Maid,   wers merken will,

Ist dem Freier falsch gesinnt.
Das erkannt ich klar,   als ich das kluge Weib
Verlocken wollte zu Lüsten.
Jegliche Schmach   that die Schlaue mir an
Und wenig ward mir des Weibes.

102
Munter sei der Hausherr   und heiter bei Gästen

Nach geselliger Sitte,
Besonnen und gesprächig:   so schein er verständig,
Und rathe stäts zum Rechten.

103
Der wenig zu sagen weiß   wird ein Erztropf genannt,

Es ist des Albernen Art.



104
Den alten Riesen besucht ich,   nun bin ich zurück:

Mit Schweigen erwarb ich da wenig.
Manch Wort sprach ich   zu meinem Gewinn
In Suttungs Saal.

105
Gunnlöd schenkte mir   auf goldnem Seßel

Einen Trunk des theuern Meths.
Übel vergolten   hab ich gleichwohl
Ihrem heiligen Herzen,
Ihrer glühenden Gunst.

106
Ratamund ließ ich   den Weg mir räumen

Und den Berg durchbohren;
In der Mitte schritt ich   zwischen Riesensteigen
Und hielt mein Haupt der Gefahr hin.

107
Schlauer Verwandlungen   Furcht erwarb ich,

Wenig misslingt dem Listigen.
Denn Odhrörir   ist aufgestiegen
Zur weitbewohnten Erde.

108
Zweifel heg ich   ob ich heim wär gekehrt

Aus der Riesen Reich,
Wenn mir Gunnlöd nicht half,   die herzige Maid,
Die den Arm um mich schlang.

[51]
109
Die Eisriesen eilten   des andern Tags

Des Hohen[WS 4] Rath zu hören
In des Hohen Halle.
Sie fragten nach Bölwerkr,   ob er heimgefahren sei
Oder ob er durch Suttung fiel.

110
Den Ringeid, sagt man,   hat Odhin geschworen:

Wer traut noch seiner Treue?
Den Suttung beraubt’ er   mit Ränken des Meths
Und ließ sich Gunnlöd grämen.



Loddfafnis-Lied.
111
Zeit ists zu reden   vom Rednerstuhl.

An dem Brunnen Urdas
Saß ich und schwieg,   saß ich und dachte
Und merkte der Männer Reden.

112
Von Runen hört ich reden   und vom Ritzen der Schrift

Und vernahm auch nütze Lehren.
Bei des Hohen Halle,   in des Hohen Halle
Hört ich sagen so:

113
Dieß rath ich, Loddfafnir,   vernimm die Lehre,

Wohl dir, wenn du sie merkst.
Steh Nachts nicht auf,   wenn die Noth nicht drängt,
Du wärst denn zum Wächter geordnet.

114
Das rath ich, Loddfafnir,   vernimm die Lehre,

Wohl dir, wenn du sie merkst.
In der Zauberfrau Schooß   schlaf du nicht,
So daß ihre Glieder dich gürten.

115
Sie bethört dich so,   du entsinnst dich nicht mehr

Des Gerichts und der Rede der Fürsten,
Gedenkst nicht des Mals   noch männlicher Freuden,
Sorgenvoll suchst du dein Lager.

[52]
116
Das rath ich, Loddfafnir,   vernimm die Lehre,

Wohl dir, wenn du sie merkst.
Des Andern Frau   verführe du nicht
Zu heimlicher Zwiesprach.

117
Das rath ich, Loddfafnir,   vernimm die Lehre,

Wohl dir, wenn du sie merkst.
Über Furten und Felsen   so du zu fahren hast,
So sorge für reichliche Speise.

118
Dem übeln Mann   eröffne nicht

Was dir Widriges widerfährt:
Von argem Mann   erntest du nimmer doch
So guten Vertrauns Vergeltung.

119
Verderben stiften   einem Degen sah ich

Übeln Weibes Wort:
Die giftige Zunge   gab ihm den Tod,
Nicht seine Schuld.

120
Gewannst du den Freund,   dem du wohl vertraust,

So besuch ihn nicht selten,
Denn Strauchwerk grünt   und hohes Gras
Auf dem Weg, den Niemand wandelt.

121
Das rath ich, Loddfafnir,   vernimm die Lehre,

Wohl dir, wenn du sie merkst.
Guten Freund gewinne dir   zu erfreuender Zwiesprach;
Heilspruch lerne so lange du lebst.

122
Altem Freunde   sollst du der erste

Den Bund nicht brechen.
Das Herz frißt dir Sorge,   magst du keinem mehr sagen
Deine Gedanken all.

123
Das rath ich, Loddfafnir,   vernimm die Lehre,

Wohl dir, wenn du sie merkst.
Mit ungesalznem   Narren sollst du
Nicht Worte wechseln.

[53]
124
Von albernem Mann   magst du niemals

Guten Lohn erlangen.
Nur der Wackere   mag dir erwerben
Guten Leumund durch sein Lob.

125
Das ist Seelentausch,   sagt Einer getreulich

Dem Andern Alles was er denkt.
Nichts ist übler   als unstät sein:
Der ist kein Freund,   der zu Gefallen spricht.

126
Das rath ich, Loddfafnir,   vernimm die Lehre,

Wohl dir, wenn du sie merkst.
Drei Worte nicht sollst du   mit dem Schlechtern wechseln:
Oft unterliegt der Gute,
Der mit dem Schlechten streitet.

127
Schuhe nicht sollst du   noch Schäfte machen

Für Andre als für dich:
Sitzt der Schuh nicht,   ist krumm der Schaft,
Wünscht man dir alles Übel.

128
Das rath ich, Loddfafnir,   vernimm die Lehre,

Wohl dir, wenn du sie merkst.
Wo Noth du findest,   deren nimm dich an;
Doch gieb dem Feind nicht Frieden.

129
Das rath ich, Loddfafnir,   vernimm die Lehre,

Wohl dir, wenn du sie merkst.
Dich soll Andrer   Unglück nicht freuen;
Ihren Vortheil laß dir gefallen.

130
Das rath ich, Loddfafnir,   vernimm die Lehre,

Wohl dir, wenn du sie merkst.
Nicht aufschaun sollst du   im Schlachtgetöse:
Ebern ähnlich wurden   oft Erdenkinder;
So aber zwingt dich kein Zauber.

[54]
131
Willst du ein gutes Weib   zu deinem Willen bereden

Und Freude bei ihr finden,
So verheiß ihr Holdes   und halt es treulich:
Des Guten wird die Maid nicht müde.

132
Sei vorsichtig,   doch seis nicht allzusehr,

Am meisten seis beim Meth
Und bei des Andern Weib;   auch wahre dich
Zum dritten vor der Diebe List.

133
Mit Schimpf und Hohn   verspotte nicht

Den Fremden noch den Fahrenden.
Selten weiß   der zu Hause sitzt
Wie edel ist, der einkehrt.

134
Laster und Tugenden   liegen den Menschen

In der Brust beieinander.
Kein Mensch ist so gut,   daß nichts ihm mangle,
Noch so böse,   daß er zu nichts nützt.

135
Haarlosen Redner   verhöhne nicht:

Oft ist gut was der Greis spricht.
Aus welker Haut kommt   oft weißer Rath;
Hängt ihm die Hülle gleich,
Schrinden ihn auch Schrammen,
Der unter Wichten wankt.

136
Das rath ich, Loddfafnir,   vernimm die Lehre,

Wohl dir, wenn du sie merkst.
Den Wandrer fahr nicht an,   noch weis ihm die Thür:
Gieb dem Gehrenden[WS 5] gern.

137
Stark wär der Riegel,   der sich rücken sollte

Allen aufzuthun.
Gieb einen Scherf[WS 6];   dieß Geschlecht sonst wünscht
Dir alles Unheil an.

138
Dieß rath ich, Loddfafnir,   vernimm die Lehre,

Wohl dir, wenn du sie merkst:
Wo Äl getrunken wird,   ruf die Erdkraft an:

[55]

Erde trinkt und wird nicht trunken.
Feuer hebt Krankheit,   Eiche Verhärtung,
Ähre Vergiftung,
Der Hausgeist häuslichen Hader.
Mond mindert Tobsucht,
Hundbiß heilt Hundshaar,
Rune Beredung;
Die Erde nehme Naß auf.



Odhins Runenlied.
139 (1)
Ich weiß, daß ich hing   am windigen Baum

Neun lange Nächte,
Vom Sper verwundet,   dem Odhin geweiht,
Mir selber ich selbst,
Am Ast des Baums,   dem man nicht ansehn kann
Aus welcher Wurzel er sproß.

140 (2)
Sie boten mir   nicht Brot noch Meth;

Da neigt’ ich mich nieder
Auf Runen sinnend,   lernte sie seufzend:
Endlich fiel ich zur Erde.

141 (3)
Hauptlieder neun   lernt ich von dem weisen Sohn

Bölthorns, des Vaters Bestlas,
Und trank einen Trunk des theuern Meths
Aus Odhrörir geschöpft.57

142 (4)
Zu gedeihen begann ich   und begann zu denken,

Wuchs und fühlte mich wohl.
Wort aus dem Wort   verlieh mir das Wort,
Werk aus dem Werk   verlieh mir das Werk.

143 (5)
Runen wirst du finden   und Rathstäbe,

Sehr starke Stäbe,
Sehr mächtige Stäbe.
Erzredner ersann sie,   Götter schufen sie,
Sie ritzte der hehrste der Herscher.

[56]
144 (6)
Odhin den Asen,   den Alfen Dain,

Dwalin den Zwergen,
Alswidr aber den Riesen;   einige schnitt ich selbst.

145 (7)
Weist du zu ritzen?   weist du zu errathen?

Weist du zu finden?   weist zu erforschen?
Weist du zu bitten?   weist Opfer zu bieten?
Weist du wie man senden,   weist wie man tilgen soll?

146 (8)
Beßer nicht gebetet   als zu viel geboten:

Die Gabe will stäts Vergeltung.
Beßer nichts gesendet   als zu viel getilgt;
So ritzt’ es Thundr   zur Richtschnur den Völkern.
Dahin entwich er,   von wannen er ausging.

147 (9)
Lieder kenn ich, die kann   die Königin nicht

Und keines Menschen Kind.
Hülfe verheißt mir eins,   denn helfen mag es
In Streiten und Zwisten   und in allen Sorgen.

148 (10)
Ein andres weiß ich,   des Alle bedürfen,

Die heilkundig heißen.

149 (11)
Ein drittes weiß ich,   des ich bedarf

Meine Feinde zu feßeln.
Die Spitze stumpf ich   dem Widersacher;
Mich verwunden nicht Waffen noch Listen.

150 (12)
Ein viertes weiß ich,   wenn der Feind mir schlägt

In Bande die Bogen der Glieder,
So bald ich es singe   so bin ich ledig,
Von den Füßen fällt mir die Feßel,
Der Haft von den Händen.

151 (13)
Ein fünftes kann ich:   fliegt ein Pfeil gefährdend

Übers Heer daher,
Wie hurtig er fliege,   ich mag ihn hemmen,
Erschau ich ihn nur mit der Sehe.

[57]
152 (14)
Ein sechstes kann ich,   so Wer mich versehrt

Mit harter Wurzel des Holzes:
Den Andern allein,   der mir es anthut,
Verzehrt der Zauber, Ich bleibe frei.

153 (15)
Ein siebentes weiß ich,   wenn hoch der Saal steht

Über den Leuten in Lohe,
Wie breit sie schon brenne,   Ich berge sie noch:
Den Zauber weiß ich zu zaubern.

154 (16)
Ein achtes weiß ich,   das allen wäre

Nützlich und nöthig:
Wo unter Helden   Hader entbrennt,
Da mag ich schnell ihn schlichten.

155 (17)
Ein neuntes weiß ich,   wenn Noth mir ist

Vor der Flut das Fahrzeug zu bergen,
So wend ich den Wind   von den Wogen ab
Und beschwichtge rings die See.

156 (18)
Ein zehntes kann ich,   wenn Zaunreiterinnen

Durch die Lüfte lenken,
So wirk ich so,   daß sie wirre zerstäuben
Und als Gespenster schwinden.

157 (19)
Ein eilftes kann ich,   wenn ich zum Angriff soll

Die treuen Freunde führen,
In den Schild fing ichs,   so ziehn sie siegreich
Heil in den Kampf,   heil aus dem Kampf,
Bleiben heil wohin sie ziehn.

158 (20)
Ein zwölftes kann ich,   wo am Zweige hängt

Vom Strang erstickt ein Todter,
Wie ich ritze   das Runenzeichen,
So kommt der Mann und spricht mit mir.

159 (21)
Ein dreizehntes kann ich,   soll ich ein Degenkind[WS 7]

In die Taufe tauchen,
So mag er nicht fallen   im Volksgefecht,
Kein Schwert mag ihn versehren.

[58]
160 (22)
Ein vierzehntes kann ich,   soll ich dem Volke

Der Götter Namen nennen,
Asen und Alfen   kenn ich allzumal;
Wenige sind so weise.

161 (23)
Ein funfzehntes kann ich,   das Volkrörir der Zwerg

Vor Dellings Schwelle sang:
Den Asen Stärke,   den Alfen Gedeihn,
Hohe Weisheit dem Hroptatyr.

162 (24)
Ein sechzehntes kann ich,   will ich schöner Maid

In Lieb und Lust mich freuen,
Den Willen wandl ich   der Weißarmigen,
Daß ganz ihr Sinn sich mir gesellt.

163 (25)
Ein siebzehntes kann ich,   daß schwerlich wieder

Die holde Maid mich meidet.
Dieser Lieder,   magst du, Loddfafnir,
Lange ledig bleiben.
Doch wohl dir, weist du sie,
Heil dir, behältst du sie,
Selig, singst du sie!

164 (26)
Ein achtzehntes weiß ich,   das ich aber nicht singe

Vor Maid noch Mannesweibe
Als allein vor ihr,   die mich umarmt,
Oder sei es, meiner Schwester.
Beßer ist   was Einer nur weiß;
So frommt das Lied mir lange.

165 (27)
Des Hohen Lied ist gesungen

In des Hohen Halle,
Den Erdensöhnen noth,   unnütz den Riesensöhnen.
Wohl ihm, der es kann,   wohl ihm, der es kennt,
Lange lebt, der es erlernt,
Heil Allen, die es hören.


Anmerkungen (Wikisource)

Siehe auch Anmerkungen des Übersetzers zu diesem Lied

  1. Vorlage: „Kranheit“
  2. Neige – Rest, Bodensatz in einem Gefäß (DWB)
  3. Bautasteine – schmale, hohe Denksteine in Skandinavien
  4. Vorlage: „hohen“ (klein geschrieben).
  5. Gehrende – fahrende Leute, Bettler (Deutschen Rechtswörterbuch).
  6. Scherf – kleinste Münze (DWB).
  7. Degenkind – Kind männlichen Geschlechts (Deutschen Rechtswörterbuch).