Die Gartenlaube (1858)/Heft 41

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1858
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[581]

No. 41. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Ein Kirchhofsgeheimniß.
Mitgetheilt vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“
(Fortsetzung.)


Was ich von dem Wirth erfahren, hatte mir wenigstens eine bestimmte Richtung angezeigt, in welcher ich weiter nachforschen konnte. Und nachforschen mußte ich. Meine Begierde, das Räthsel zu lösen, das mir so seltsam, so nahe entgegengetreten war, war eine zu brennende gewesen, als daß ich nicht die möglichen Versuche zu seiner Lösung hätte machen sollen. Ich konnte diese nur im Amte selbst finden.

Die Aemter zu besuchen, mich mit den Beamten zu unterhalten, das war übrigens gerade der Hauptzweck meiner Reise; dadurch lernte ich am besten, am gründlichsten meine künftige Domaine kennen. Sodann konnte vielleicht der Amtmann mir Auskunft über Nettchen Thalmann, die Freundin meiner Mutter, geben.

Ich machte mich auf den Weg zum Amte.

Vor allen Dingen mußte ich mir bei hellem Tage genau den Schauplatz meines Nachtabenteuers ansehen. Ich ging denselben Weg zurück, den ich gestern Abend gekommen war; so konnte ich mich am besten wieder hinfinden.

Das Amt, das ehemalige Kloster, lag einige hundert Schritte vor dem Städtchen. Es bestand aus mehreren weitläufigen Gebäuden; den Mittelpunkt bildete das alte Klostergebäude selbst. Es war ein langes, dreistöckiges Gebäude mit unzähligen Fenstern und einem hohen, spitzen Schieferdache. Ihm gegenüber lag eine alte, verfallene Kirche, auf der ein dicker, noch wohl erhaltener Thurm stand. Rechts vom Kloster lagen einige Wirthschaftshäuser, hinter ihm ein ziemlich großer Garten. Die sämmtlichen Gebäude waren mit einer hohen, grauen Mauer umgeben. Sie umschloß nur nicht den Garten, der von einer lebendigen Taxushecke eingefaßt war, und nicht die Kirche, die nach außen ganz frei lag. Diese äußere, freie Seite der Kirche stieß unmittelbar auf den Kirchhof. Das Ende des Kirchhofes war durch die Taxushecke von dem Ende des Klostergartens getrennt.

Der Kirchhof war wüst und verfallen, wie ich ihn schon in der Nacht gesehen hatte. Er war schon seit vielen Jahren nicht mehr gebraucht. Auf den alten, hohen Gräbern wuchsen Nesseln und anderes Unkraut, manche waren ganz eingefallen; Dornen und wildes Strauchwerk aller Art wucherte und rankte überall zwischen den Gräbern umher.

Ich suchte vergeblich irgend eine Stelle, an der ich mich in der Nacht befunden haben möchte. Ich war in zu großer Dunkelheit dagewesen und jede Stelle des Kirchhofs war beinahe wie die anderen; überall Gräber, Nesseln, Strauchwerk.

Mein eigentliches Abenteuer hatte ich in der Nähe einer Mauer gehabt. Es war nur jene Einfassungsmauer des Klosters da. Sie lief eine weite Strecke an dem Kirchhofe entlang bis zu der Taxushecke des Gartens. Ich verfolgte sie hin und her, sie lief immer gerade, ich konnte aber nirgends, weder an ihr selbst, noch in ihrer Nähe, auf dem Kirchhofe einen Platz finden, von dem ich nur mit Wahrscheinlichkeit hätte sagen können, gerade dort sei das Wehklagen gewesen, sei der Schatten an mir vorübergehuscht, sei der Schließer mit seinem Hunde mir erschienen.

Am auffallendsten war mir, daß die Mauer keinen einzigen Ein- oder Ausgang hatte. Woher waren der Schließer und sein Hund auf den Kirchhof gekommen, daß sie schon so bald nach meinem Rufen und so plötzlich, wie aus der Erde hervorgeschossen, hatten vor mir stehen können?

Sie konnten aus der Kirche gekommen sein, denn diese hatte zwei Thüren nach dem Kirchhofe hin, ein großes Portal und eine kleinere Seitenthür. Aber das Portal – ich besichtigte es genau – war überall mit Spinnengeweben umhangen, als ob es seit einem halben Jahrhundert nicht geöffnet worden sei, und das Seitenpförtchen, wahrscheinlich zu der alten Sacristei der Kirche führend, war, obwohl verschlossen, zum Ueberfluß noch mit Bretern vernagelt. Abgesehen davon, hatte ich in der Nacht nicht das geringste Geräusch des Oeffnens einer Thür vernommen.

Es blieb die Gartenhecke. Ich besichtigte auch diese genau, fand aber keine Thür darin. Die Zweige des Taxus waren überall dicht verschlungen. Aber die Stämme standen dennoch mitunter weit genug von einander, daß Jemand einen Weg durch die Hecke hätte finden können; daher konnte der Schließer gekommen sein. Unerklärlich blieb dann freilich, daß ich sein Näherkommen nicht früher vernommen hatte, als bis er schon dicht vor mir war. Der Weg von der Hecke war von Hunderten wilder und rankender Dornen und Brombeersträucher durchschnitten.

Es blieb Alles für mich räthselhaft, wie es gewesen war.

Und ein neues Räthsel kam hinzu.

Ich war an der Taxushecke des Gartens ein paar Mal auf- und abgegangen, sinnend, manchmal stehen bleibend. Ich schritt noch einmal an ihr entlang und diesmal kehrte ich nicht an ihrem Ende um, sondern ging weiter. Ich war rasch gegangen und stand auf einmal jenseits ihres letzten Stammes, als ich plötzlich ein sonderbares Bild vor mir sah.

Mit der Taxushecke ging dort auch der Kirchhof zu Ende. Die Hecke lief in einen kleinen, scharfen Winkel, und in demselben befand sich ein Pförtchen, aus dem Amts- oder Klostergarten auf [582] den Kirchhof führend. An dem Pförtchen standen zwei Personen. Die eine war ein junges Mädchen von dreizehn bis vierzehn Jahren, ihrer Kleidung nach den höheren Ständen angehörend. Sie war das Bild eines schönen Kindes in jenem so nahe an der Jungfrau stehenden Alter. Aber die schönen, feinen, sanften Züge bedeckte Blässe und in den großen, blauen Augen lag unverkennbar eine tiefe Trauer. Bei ihr war ein junger Mensch. Seine Kleidung war sehr einfach, wenngleich nicht geradezu ärmlich. Er konnte sechzehn, vielleicht auch siebzehn Jahre zählen. Es war eine jener unglücklichen, langen, schmalen Gestalten mit eingefallener Brust, die in dem genannten Alter plötzlich in die Höhe geschossen sind, meist, um früh nach wenigen Jahren ineinander zu knicken und in das Grab zu sinken. Dem entsprach auch sein Gesicht. Es war fahl, die Augen waren hohl, der Blick war matt; über dem Ganzen lag überhaupt eine tiefe Melancholie. Kannte der junge Mensch das traurige Schicksal, das ihm bevorstand? Oder was machte ihn sonst so traurig?

Die beiden jungen Leute hatten sich tief in den Winkel gedrückt, als ich auf einmal vor ihnen stand. Sie erschraken sichtlich, als sie mich bemerkten; sie wurden verlegen und wußten nicht, wohin sie ihre Blicke wenden sollten. Ihr Erschrecken und ihre Verlegenheit that sich in einer Weise kund, daß es mir nicht zweifelhaft blieb, daß ich von ihnen schon vorher beobachtet worden sei, und gerade, daß sie mich beobachtet hatten, sollte ich nicht gewahr werden.

Auf einmal schoß es mir wie eine Ahnung, dann wie eine dunkle Erinnerung, dann wie ein klarer, fertiger Gedanke durch den Kopf: der junge Mensch war der lange, hagere Schatten, der in der vergangenen Nacht auf dem Kirchhofe an mir vorüber geflogen war. Auch er hatte mich erkannt und seiner Begleiterin von mir erzählt; Beide hatten mich mit ihren neugierigen Blicken verfolgt und, als ich mich ihnen nahete, sich eilig in den Winkel geflüchtet; sie erschraken auf den Tod, als ich sie dort plötzlich ertappte.

Woher mir das Alles gewiß war? Ich hatte in der Dunkelheit der Nacht keinen Zug eines Gesichtes wahrnehmen, sondern nur flüchtig einen Schatten sehen können. Wie konnte ich den jungen Menschen wieder erkennen? Ich wußte es nicht, aber daß er es war, stand fest in mir, fest, wie so manche Ueberzeugung, für die wir uns eben nur auf unseren Glauben berufen können. Es ist uns gewiß, wir können uns gar nicht denken, daß es möglicher Weise anders sein könne, und doch ist es eben nur unser Inneres, unser innerer Glaube, der es uns versichert.

Aber was hatte den jungen Menschen in der Nacht auf den Kirchhof geführt? Was hatte er dort gethan? Warum war er vor mir geflohen? Warum erschrak er auch jetzt so heftig, als er mich, als ich ihn wiedersah? Warum war auch das Mädchen an seiner Seite so erschrocken?

Wer waren sie? Warum waren sie Beide so traurig? Die bloße Neugierde macht sonst nicht traurig.

Ich war ohne Antwort auf meine Frage, wie ich in der Nacht vorher meine vielen Fragen mir nicht hatte beantworten können. Ich verließ Beide, denn ich konnte sie ohne Zudringlichkeit und Unhöflichkeit nicht anreden.

Ich ging zum Kloster oder „auf das Amt“, wie man im Städtchen gesagt hatte; dort mußte ich der Auflösung des Räthsels, oder der Räthsel, näher kommen. Kam sie mir nicht von selbst entgegen, so mußte ich sie suchen, gerades Weges oder auf Umwegen, wie es sich traf. Hatte ich nicht gar eine Verpflichtung, selbst eine beamtliche Verpflichtung dazu? Der Gedanke an die Gefängnisse des Amtes wollte mich nicht verlassen. Wie, wenn das Geheimniß mit einem Verbrechen, mit einem amtlichen Verbrechen zusammenhing? Ich machte meinen Plan des Forschens. Ich ließ mich bei dem Amtmann, dem Chef des Amtes, melden.

Wie war ein solcher Amtmann in jener Zeit ein ganz anderer Mann, als gegenwärtig der Director eines Gerichtes! Er war wie ein Souverain, wie ein Autokrat in seinem Amtssprengel. Justiz und Verwaltung waren verbunden, aber nur erst in seinen Händen; die Behörden über ihm waren andere für die Justiz, andere für die Verwaltung. So konnte jeder seiner Vorgesetzten ihn nur theilweise controliren. Eigentlich gar nicht; denn wo hörte in einer und derselben Hand die Verwaltung auf, wo fing die Justiz an? Zudem war damals die Zeit der amtlichen Controlen noch nicht; von oben controlirte daher in der That Niemand. Wer von oben nicht controlirt wurde, konnte nach unten hin thun und nicht thun, was er wollte. Was halfen Beschwerden von unten ohne Controle von oben? Und wer wollte sich auch über den gestrengen Amtmann beschweren, der, als Justizamtmann angeklagt, die Anklage zehn Mal als Rentamtmann entgelten ließ, und umgekehrt?

Der Amtmann in Z. war ein vornehmer, strenger Mann; das zeigten seine stolzen, ruhigen, strengen Mienen, seine sorgfältige Kleidung und seine gemessenen Bewegungen.

Ein paar Säckchen unter den Augen, eine feine Röthe auf den nicht mehr ganz festen Wangen, eine trotz aller Gemessenheit hervorblickende Leichtigkeit des Benehmens schienen aber auch anzuzeigen, daß er früher ein Lebemann gewesen war, daß er es zu Zeiten vielleicht noch jetzt war.

Er empfing mich mit jener verbindlichen und doch zurückhaltenden, etwas herablassenden Höflichkeit des gebildeten und humanen höheren Beamten, gegenüber dem jüngeren, dem er dadurch ausspricht: Du stehst zwar jetzt noch weit unter mir, allein du bist ein wissenschaftlich gebildeter Mensch, ganz wie ich, und du kannst künftig noch einmal mein College, gar mein Vorgesetzter werden.

Indeß diesem vornehmen, kalten und gemessenen Manne durfte ich nicht von einer Rundreise in meiner künftigen Domaine sprechen.

„Herr Amtmann,“ sagte ich zu ihm, „ich benutze die Gerichtsferien zur Befriedigung eines lange gehegten Wunsches. Die Theorie allein macht nicht einen praktischen Beamten. Einseitigkeit in der praktischen Ausbildung macht nur einen einseitigen Praktiker. Ich wünsche daher für meinen künftigen Beruf mich dadurch mehr auszubilden, daß ich soviel als möglich den Geschäftsgang der Behörden in allen Theilen unseres Landes kennen zu lernen suche. Hätten Sie die Güte, mir zu gestatten, daß ich mich von den geschäftlichen Einrichtungen informiren darf, die Sie an dem hiesigen Amte getroffen haben?“

Er ging mit großer Bereitwilligkeit auf meine Bitte ein, führte mich selbst durch die Geschäftszimmer und zeigte und erläuterte mir den Mechanismus, den er in den einzelnen Geschäftszweigen eingeführt hatte.

Ich fand überall eine strenge, musterhafte Ordnung. Wäre er Monate lang auf die umständlichste amtliche Geschäftsrevision eines Vorgesetzten vorbereitet gewesen, die Ordnung hätte nicht größer, nicht strenger sein können. Jedes Aktenstück war auf seinem Platze; kein Journal, keine Liste zeigte einen Rest an und jeder Beamte war in seiner Thätigkeit.

In dem Gange vor einer Terminstube stand ein Mensch, der zu warten schien.

„Was macht Ihr hier?“ redete ihn der Amtmann an.

„Ich habe einen Termin bei dem Herrn Assessor.“

„Auf welche Zeit seid Ihr bestellt?“

„Zu neun Uhr.“

„Es ist jetzt ein Viertel über neun.“

„Der Herr Assessor habe noch andere Geschäfte, wurde mir gesagt.“

Der Amtmann öffnete die Thür des Terminzimmers.

„Herr Assessor, Sie haben den Mann auf neun Uhr bestellt?“

Der Assessor wurde verlegen.

„Ich war gerade bei einer dringenden Arbeit, die ich nicht unterbrechen mochte.“

„Der Mann hat vielleicht eine noch dringendere Arbeit unterbrechen müssen, um zur bestimmten Zeit hier zu sein. Die Eingesessenen sind nicht um der Beamten willen, die Beamten sind um der Eingesessenen willen da.“

Der Assessor mußte auf der Stelle den Mann abfertigen.

In dem Cassenzimmer hatte der Rendant Streit mit einem Landmanne, Der Mann wollte eine Zahlung leisten und der Beamte wollte sie nicht annehmen, weil sie erst nach den Ferien fällig sei.

„Aber ich müßte dann nochmals einen Weg von drei Meilen machen,“ sagte der Landmann.

„Aber ich habe das Reglement für mich,“ sagte der Beamte.

In diesem Augenblicke trat der Amtmann ein.

„Sie nehmen die Zahlung an,“ befahl er kurz dem Rendanten. „Auf das Reglement darf der Beamte zu seiner Bequemlichkeit sich nie berufen.“

In einem anderen Zimmer verlangte ein Bauer von dem Beamten, sofort mit einer Klage gegen seinen Nachbar zu Protokoll vernommen zu werden.

[583] Der Beamte bedeutete ihn, er müsse nach den Ferien wiederkommen.

Der Amtmann sah den Bauer an.

„Ihr seid ein täglicher, unnützer Querulant am Gerichte; mit Euch wird nach der Strenge verfahren. Fort!“

Der Bauer ging.

Das waren kleine, an sich unbedeutende Züge, aber sie zeigten die strenge und zugleich gerechte Herrschaft des Amtmanns. Niemand hatte gewagt, seinen stets eben so kurzen wie entschiedenen Befehlen auch nur die Miene eines Widerspruches entgegenzusetzen. Es folgte ihnen stets ein sofortiger, unbedingter Gehorsam.

Desto mehr sollte ein anderer Vorfall mich überraschen.

Wir kamen in die Kanzleistube des Gerichts. Die Schreiber saßen emsig beim Schreiben; kein Platz an den langen Tischen war leer. Im Hintergrunde saß an seinem Bureau der Actuarius, der Inspector der Kanzlei. Er saß auf einem erhöhten Platze, so daß er stets die sämmtlichen Schreiber und ihre Thätigkeit überwachen konnte.

Unter den Schreibern fiel mir gleich beim Eintritt in das Zimmer ein Gesicht auf; es war lang, blaß, hohl, kränklich. Es war der junge Mensch, den ich eine halbe Stunde vorher in Gesellschaft des schönen jungen Mädchens an der Taxushecke neben dem Kirchhofe gesehen hatte, von dem ich überzeugt war, daß er in der vergangenen Nacht in so räthselhafter Weise mit mir auf dem Kirchhofe gewesen sei.

Er schrieb emsig, wie die Anderen, als ich eintrat. Als er sich dann aber, ebenfalls gleich den Anderen, mit einer natürlichen Neugierde halb scheu nach den Eintretenden umgesehen und mich erblickt hatte, wurde sein Gesicht plötzlich fahler und die Feder in seiner Hand wollte auf dem Papiere nicht mehr vorwärts gleiten; die Hand schien ihm zu zittern. Es fiel mir auf. Ich war indeß nicht der Einzige, der es bemerkt hatte; auch der wachsame Actuar sah es.

Dieser Mann war ein sonderbares Männchen, noch ziemlich jung, klein, rund, mit rothen Haaren, mit noch rötherem Gesicht, mit fliegenden und stechenden Augen, mit dem Ausdrucke des steten ärgerlichen, verdrießlichen, verbissenen Keifens.

Er war mit großer Ehrerbietung aufgestanden, als der Amtmann mit mir eintrat. Er hatte mit der ehrfurchtsvollsten Dienstfertigkeit die Journale, Listen und Bücher herbeigeholt, die der Amtmann mir zeigen wollte. Er hatte aber dabei keine Secunde lang die Schreiber aus den Augen gelassen, und es war ihm also auch nicht entgangen, daß der blasse, kränkliche junge Mensch nicht mehr schrieb. Sein Gesicht wurde röther, seine Lippen bissen sich fester aufeinander; lange konnte er seinen Aerger, seinen Ingrimm nicht in sich verschließen.

Während der Amtmann die Bücher mit mir durchging, trat er an den Schreibertisch zu dem jungen Manne.

„Warum schreibst Du nicht?“ sagte er zu ihm, leise, aus Respect vor dem Vorgesetzten, obwohl zitternd vor Zorn.

„Mir ist unwohl,“ antwortete der kränkliche Mensch mit einer kränklichen Stimme.

„Unwohl? Ja, ja, ich glaube es. Wenn man die Nacht herumläuft, dann kann man auch des Morgens nicht zur rechten Zeit in der Schreibstube sein.“

In das blasse Gesicht des jungen Menschen schoß eine dunkle Röthe; nur einen Augenblick lang, dann war es blasser, als vorher.

Ich war aufmerksamer geworden. Der Gescholtene war in der Nacht herumgelaufen! War das nicht eine Bestätigung seiner Anwesenheit auf dem Kirchhofe?

Er hatte dem Actuar nicht geantwortet. Dieser fuhr fort:

„Aber es soll anders mit Dir werden. Ich werde Dich zur Anzeige bringen, und ich muß es, mein Gewissen fordert es von mir, der Dienst.“

Er hatte seinem Gewissen, dem Dienste schon Genüge geleistet. Er hatte, wohl absichtlich, lauter gesprochen. Der Amtmann hatte die Worte gehört.

„Was gibt es da?“ fragte er, aber nicht mit der Strenge, die ich von dem gemessenen, strengen Manne erwartet hatte; seine Stimme hatte vielmehr etwas Zurückhaltendes, das mir auffiel.

Der zornige Actuar aber hielt nicht zurück.

„Herr Amtmann,“ sagte er eifrig, „der Brunner gibt mir wieder viele Veranlassung zu Klagen. Auch heute ist er wieder zu spät zur Arbeit gekommen, erst wenige Minuten, bevor der Herr Amtmann eintraten, und geschrieben hat er seitdem fast noch nichts.“

Durch das Gesicht des Amtmanns flog ein sichtbarer Unmuth. Er blieb aber vollkommen ruhig, und wiederum sprach er ohne Strenge, sogar mit einem gewissen, obgleich ernsten Wohlwollen, diesmal zu dem blassen jungen Menschen:

„Ich hoffe, Carl, ich höre keine fernern Klagen über Dich.“

Der Actuar aber wurde eifriger.

„Er will immer unwohl sein, Herr Amtmann. Ja, er ist es auch. Aber ist es ein Wunder? Auch heute Nacht ist er wieder nach Mitternacht nach Hause gekommen. Der Schließer hat es mir gesagt. Wo hat er sich herumgetrieben? Er will keine Rede darüber stehen, auch nicht, warum er jetzt wieder über eine halbe Stunde zu spät gekommen ist. Der Herr Amtmann behandeln ihn mit so vieler Güte, er verdient es nicht.“

Der Amtmann runzelte doch die Stirn, und ein wenig strenger sprach er zu dem jungen Schreiber:

„Carl, der Herr Actuar ist Dein nächster Vorgesetzter, und Du wirst ihm Auskunft darüber geben, warum Du die Zeit versäumt hast.“

Er wollte sich damit wieder zu mir wenden, aber ein sonderbarer Zufall hielt ihn zurück.

Der junge Schreiber hatte sich nicht gerührt. Er hatte fortwährend still vor sich hingeblickt auf den Bogen Papier, der vor ihm lag, an dem er geschrieben hatte, nicht genug nach der Meinung des diensteifrigen Actuars. Auf einmal fielen dicke, langsame Thränen aus seinen Augen auf das Papier. Man konnte sie fallen hören.

Unmittelbar vorher aber war plötzlich und hastig eine Seitenthür aufgerissen, und in der Thür stand ein schönes Mädchen von dreizehn bis vierzehn Jahren, mit hochgeröthetem Gesichte, mit blitzenden, funkelnden Augen. Es war die Gefährtin des kränklichen jungen Mannes an der Taxushecke. Sie stand mitten in der Thür. Rasch, wie sie diese aufgerissen, wollte sie in das Zimmer stürzen. Da sah sie mich. Ihr Schritt hemmte sich unwillkürlich, aber nur einen Augenblick. Was sie vorhatte, wozu ihr Inneres mächtig, unwillkürlich sie drängte, auch die Gegenwart des Fremden konnte sie nicht davon zurückhalten.

Sie stürzte in die Stube, und ging auf den Amtmann zu. Ihr vom Zorn geröthetes Gesicht bekam zugleich den Ausdruck eines zwar heftigen, aber doch noch mehr edlen Stolzes.

„Vater,“ sagte sie zu dem Amtmann, „ich habe Alles gehört. Ja, ich habe gehorcht“ – sie erhob ihr schönes Gesicht stolzer –; „Carl war bei mir, ich habe ihn zurückgehalten. Und ich weiß auch, wo er heute Nacht gewesen ist. Nun weißt Du Alles.“

Nun weißt Du Alles!

Der Amtmann schien in der That Alles zu wissen. Eine Blässe flog über sein Gesicht. Eine Verlegenheit machte seinen Blick ungewiß, freilich kaum eine Secunde lang. Er wußte sich augenblicklich zu beherrschen.

Aber seine Verwirrung kam mir doch so sonderbar vor. Eine bloße Verlegenheit des Vaters, des Beamten, der durch die Heftigkeit seines Kindes in seinem Amte compromittirt wurde, war es nicht. Es lag ein anderer, ein tieferer Grund vor.

Das junge Mädchen, nachdem sie die flüchtigen Worte zu dem Vater gesprochen hatte, wollte sich wieder entfernen. Da sah sie, wie der junge Schreiber weinte, Seine Thränen fielen nicht mehr langsam, sie fielen schneller, dichter auf das Papier.

Sie ging nicht zu der Thür; sie flog auf ihn zu und nahm seine Hand.

„Weine nicht, Carl!“

Dann flog sie zu ihrem Vater zurück.

„Vater, darf ich ihn mitnehmen? Er ist so krank, ich weiß es.“

Sie schien Alles von dem jungen Menschen zu wissen.

Der Amtmann runzelte wohl wieder die Stirn, aber er sagte doch, obwohl diesmal mit mehr Ernst als Wohlwollen:

„Carl, Du kannst gehen.“

„Ich danke Dir, Vater!“ rief das Mädchen.

Sie flog wieder zu dem jungen Manne.

„Komm, Carl!“

Sie ergriff seine Hand, und verließ mit ihm das Zimmer. Ihre Augen standen voll Thränen, während die des jungen Mannes sich trockneten.

Es war ein sonderbarer Zwischenfall gewesen. Dieser heftige muthige Stolz des schönen jungen Mädchens, dessen körperliche Entwicklung noch lange nicht die Jungfrau, noch vollkommen ein Kind [584] zeigte; dieser Stolz, der sich nicht um Formen und um Dienst, nicht um einen Fremden, nicht um die Schreiber kümmerte; dieser ungestüme Eifer, den jungen Freund zu beschützen, zu befreien; diese liebevolle, innige, hingebende Zärtlichkeit, die jeder Blick, jede Bewegung der Tochter des gestrengen Herrn Amtmanns für den kränklichen jungen Schreiber aussprach, das Alles war sehr seltsam, es war aber auch sehr ergreifend.

Und der Vater, der gestrenge und strenge Amtmann, unterwarf sich fast gehorsam den Forderungen, den Launen, den Eingriffen der Tochter! Welche eigenthümliche Verhältnisse lagen hier vor? Zwischen dem Mädchen und dem Schreiber! Zwischen dem Amtmann und den Beiden! –

Der Amtmann war taktvoll und vornehm genug, nach der Entfernung der Beiden kein Wort weiter über den Vorfall zu sprechen. Der Actuar kehrte etwas abgekühlt auf seinen Platz zurück.

Meine Besichtigung in der Kanzlei war zu Ende. Noch hatte ich für meinen besondern Zweck nichts gethan. Der kleine Zwischenfall hatte das Verlangen, ihn zu erreichen, lebendiger in mir gemacht. Ich mußte näher an ihn herantreten.

„Dürfte ich bitten, Herr Amtmann, mir auch die Gefängnisse des Amtes zeigen zu lassen? Ich interessire mich besonders für Criminal- und Gefängnißwesen.“

Er zeigte auch hier dieselbe Bereitwilligkeit.

„Ich freue mich, jenes Interesse von Ihnen zu vernehmen,“ sagte er. „Unsere Juristen überhaupt vernachlässigen die Criminalrechtspflege; besonders die jüngeren. Der Richter und Advocat können in Civilsachen mehr Scharfsinn und mehr Rechtskenntnisse geltend machen, sagen sie. Als wenn Richter und Advocaten nur darum, und nicht zum Schutze des Rechtes Aller, wie jedes Einzelnen, da wären, und als wenn nicht gerade die Strafrechtspflege den Schutz der höchsten Güter des Menschen zu ihrem unmittelbaren Zwecke hätte!“

Er ließ durch einen Diener, der uns begleitete, den Schließer herbeirufen, um uns in die Gefängnisse zu führen.

„Haben Sie viele Gefangene?“ fragte ich ihn unterdeß.

Er wußte die Zahl genau. Er nannte sie mir. Es waren einige dreißig.

„Sind schwere Verbrecher darunter?“

„Zur Zeit, Gott Lob, nicht. Die meisten sind kleine Diebe, Vaganten und dergleichen.“

„Es sitzt also auch wohl keiner von ihnen seit längerer Zeit?“

„Länger als ein halbes Jahr keiner.“

Es kam mir doch vor, als hätte ich bei der Antwort hinten in seinem Auge eine leise Spur von Mißtrauen gewahrt, das meine Frage geweckt haben mußte.

„Die verurtheilten Gefangenen,“ fuhr ich fort, „verbüßen ihre Strafe hier?“

„Mit Ausnahme schwerer Zuchthausstrafen.“

Ich mußte meinem Ziele näher kommen.

„Ich habe,“ sagte ich, „aus Ihrer Aeußerung vorhin geschlossen, daß Sie der Criminalrechtspflege ein besonderes Interesse widmen.“

„Gewiß,“ antwortete er. „Sie verdient es aus so manchen Ursachen. Von der Wichtigkeit der Güter, die sie schützt, sprach ich schon. Noch wichtiger ist mir der wohlthätige Einfluß, den der Criminalrichter auf den Verbrecher ausüben kann, wenn er sich daran gewöhnt, in diesem nicht mit der Menge einen verworfenen und verlorenen Bösewicht, sondern einen Unglücklichen zu sehen, den menschliches Behandeln, Mitleiden, Trösten und Belehren wieder aufrichten, wieder mit seinem Gotte, also auch wieder mit den Menschen versöhnen können.“

Er sprach das mit so wahrem und warmem Gefühle, daß ich mich beinahe der Umwege schämte, auf denen ich bei einem Manne von so edlen Gesinnungen zum Ziele kommen wollte. Aber jene Spur von Mißtrauen in seinen Augen hatte mich stutzig gemacht.

„Sie haben Recht,“ sagte ich, „darin liegt eine erhabene Seite des Berufes des Criminalrichters. Und dagegen kommt allerdings nur in untergeordneten Betracht ein anderes Interesse, das ich noch hervorheben möchte, Ich meine das psychologische.“

„O,“ entgegnete er; „es ist kein untergeordnetes. Nur der Criminalrichter wird seinem Berufe genügen können, der das menschliche Herz zu seinem Hauptstudium macht.“

Auf diesen Gegenstand hatte ich kommen wollen.

„Sie haben Wohl manche interessante psychologische Erfahrungen in Ihrer Praxis gemacht?“

„Welcher beobachtende Criminalrichter macht sie nicht!“

„Freilich wohl meist betrübende, der Heuchelei, der Simulationen aller Art, selbst des Wahnsinns –“

„Auch solche.“

„Auch des wirklichen Wahnsinns, von dem Verbrechen erzeugt?“

„Auch ihn habe ich kennen gelernt.“

„In neuerer Zeit?“

Die rasche Frage hatte ihn überrascht. Ich gewahrte wieder jenes Mißtrauen in seinem Auge. Ich war freilich etwas plump herausgeplatzt. Es wäre daher völlig verfehlt gewesen, wenn ich jetzt mein nächtliches Kirchhofsabenteuer hätte vorbringen wollen; ich mußte vielmehr für den Augenblick den Gegenstand des Gesprächs fallen lassen und konnte erst später wieder darauf zurückkommen.

Auch er hielt ihn nicht fest.

Mir fiel mein zweiter Zweck wieder ein, der Auftrag meiner Mutter. Ich fand kein Bedenken, die Frage nach der verschollenen Dame sofort vorzubringen, zumal da ich nicht die geringste Beziehung derselben auf den eben besprochenen Gegenstand sah.

„Darf ich mir eine völlig nicht hierher gehörige Frage erlauben?“ begann ich.

„Ich bitte.“

„Meine Mutter hatte mir den Auftrag gegeben, mich nach einer Jugendfreundin von ihr zu erkundigen, die hier wohnen soll. Im Städtchen konnte man mir keine Auskunft über sie ertheilen. Nettchen Thalmann ist ihr Tauf- und Geburtsname.“

Welche plötzliche Veränderung war mit dem ruhigen, kalten, gemessenen Manne vorgegangen! Sein Gesicht war leichenblaß geworden, seine Augen glanzlos. Aber welche Gewalt hatte der Mann über sich!

Mein Auge hatte die Veränderung seines Gesichtes kaum mit einem flüchtigen Blicke auffassen können, da stand er schon wieder in seiner vollen Ruhe und Kälte und Gelassenheit da.

„Ich erinnere mich des Namens ebenfalls nicht,“ antwortete er mit fester und gleichgültiger Stimme.

„Sie soll hier an einen Mechanikus verheirathet gewesen sein.“

Noch einmal schien es leise in ihm zu zucken; aber ruhig, wie eben, fragte er:

„Der Name des Mannes?“

„Er war eben meiner Mutter entfallen. Die beiden Eheleute sollen vor einigen zwanzig Jahren hierher gezogen sein.“

„Ich bedauere, Ihnen durchaus keine Auskunft geben zu können; ich bin seit mehreren zwanzig, seit beinahe dreißig Jahren hier und habe keine Erinnerung, welche paßte.“

In dem Augenblicke trat der herbeigerufene Schließer zu uns. Das Gespräch wurde dadurch unterbrochen. Ich hätte es ohnehin kaum fortsetzen können. Der Amtmann wollte offenbar meinen Fragen nach Nettchen Thalmann nicht Rede stehen; und er konnte es eben so offenbar. Welches Geheimniß lag da wieder vor? Welches, das ihn so heftig ergreifen konnte, daß der besonnene Mann so völlig, wenn auch nur auf einen Augenblick, die Herrschaft über sich verloren hatte? Und stand dieses neue Geheimniß mit jenem des Kirchhofes in Verbindung? Ich mußte es unwillkürlich denken. Die Phantasie bringt so gern Geheimnißvolles mit Geheimnißvollem in Verbindung.

Der Schließer war der riesige, baumstarke, alte Mann in dem weiten Kamisol und der Pelzmütze, den ich in der Nacht auf dem Kirchhofe gesehen hatte; ich erkannte ihn auf der Stelle wieder. Auch er erkannte mich. Ich hatte ihn erwartet, er mich nicht.

Sein erster Blick, als er mich erkannte, fiel auf den Amtmann, forschend, fragend, Alles mit einer gewissen Aengstlichkeit. Als er den Amtmann völlig ruhig sah, wurde auch er es wieder. Zugleich mußte er schnell einen Plan gefaßt haben.

„Schließer Kraus,“ sagte der Amtmann zu ihm, „führt uns in die Gefängnisse.“

„Zu Befehl, Herr Amtmann, Aber ich habe dem gnädigen Herrn Amtmann vorher eine Meldung zu machen.“

Ein von mir ungesehener Wink mußte diese Worte begleitet haben.

(Fortsetzung folgt.)




[585]
Eine seltene Frauenfreundschaft.
Von Ludwig Storch.

Louise Dorothee, Herzogin von Gotha.


Die geschriebene Geschichte ist keineswegs so gerecht und unparteiisch, als sie von phrasenreichen Schriftstellern geschildert wird. Wie könnte sie sonst oft von hervorragenden Persönlichkeiten, die der Fortbildung der Menschheit gerade durch die Pflege des Geistes förderlich gewesen sind, und von seltenen edlen und der Bewunderung würdigen Verhältnissen so wenig Notiz nehmen, daß diese fast im reißenden Strome der Ereignisse verschwinden? Die Aufzeichnungen der Geschichtsbücher sind eben auch ein unvollkommenes Menschenwerk.

Nie drängte sich mir diese Wahrheit schmerzlicher auf, als wenn ich in der allgemeinen Geschichte des vorigen Jahrhunderts die Würdigung einer deutschen Fürstin und ihres merkwürdigen Freundschaftsverhältnisses mit einer adligen Dame vermißte und in der speciellen Geschichte des kleinen Landes, dem sie im eigentlichen Sinne des Wortes als regierende Frau angehörte, nur so obenhin erwähnt fand, die es doch mehr als hundert Kriegs- und Staatsmänner verdiente, ausführlich besprochen und gewürdigt zu werden, weil sie und ihre Freundin hochedle, leuchtende Geistesträger waren, und ihr Freundschaftsverhältniß in der Geschichte hochgestellter Frauen kein Gegenstück hat.

Diese Fürstin war die Gemahlin des Herzogs Friedrich III. von Gotha und Altenburg, welcher von 1732 bis 1772 regierte, ihr Name: Louise Dorothee. Ihre Freundin war ihre Oberhofmeisterin Franziska von Buchwald, geborene Freiin von Neuenstein.

Die großartige Freundschaft dieser beiden Frauen erinnert in Bezug auf äußere Lebensstellung und innere hohe Begabung und Tüchtigkeit ungemein stark an die etwas spätere des Herzogs Karl August von Weimar und Goethe’s; denn man kann die Herzogin Louise Dorothee mit Fug und Recht einen weiblichen Karl August nennen, ebenso Frau von Buchwald einen weiblichen Goethe, wenn sie auch nicht als Schriftstellerin aufgetreten ist. Und merkwürdiger Weise war die Herzogin von Gotha die Pflegemutter und Erzieherin ihres früh verwaisten Cousins, des Erbprinzen Ernst August Constantin von Weimar, des schon im Jünglingsalter verstorbenen Vaters Karl August’s, und übte entscheidenden Einfluß auf die Wahl seiner Gattin, der ihr geistig so sehr ähnlichen Prinzessin Anna Amalia von Braunschweig. Frau von Buchwald aber war die Gönnerin Goethe’s, und er hat als junger Mann in Gesellschaft Herder’s und Wieland’s den Weg von Weimar nach Gotha oft gemacht, um im traulichen Zimmer der von ihm hochverehrten Oberhofmeisterin ihr und einem kleinen auserwählten Kreise, zu welchem der Dichter Gotter gehörte, seine jüngsten Geisteswerke vorzulesen, deren scharfsinnige Bewundererin sie war.

Auch trifft die merkwürdige Parallele auf überraschende Weise bis in die Details zu. Frau von Buchwald war auch um mehrere Jahre älter, als die Herzogin, und auch sie überlebte die fürstliche Freundin eine Reihe von Jahren und erreichte dasselbe Alter wie Goethe. Und ihre gesellschaftliche Stellung am gothaischen Hofe und in der Stadt Gotha in ihrem Greisenalter war ganz dieselbe, wie die des greisen Goethe am weimarischen Hofe und in der Stadt Weimar.

Louise Dorothee war als Tochter des regierenden Herzogs Ernst Ludwig I. von Sachsen-Meiningen am 10. August 1710 zu Coburg, welche Stadt damals zum Herzogthum Meiningen gehörte und wo ihr Vater mehrere Jahre residirte, geboren, von vier Geschwistern die einzige Prinzessin. Ihre Mutter, die Herzogin Dorothee Maria, eine Tochter des Herzogs Friedrich I. von Sachsen-Gotha und Altenburg und eine Schwester des Nachfolgers desselben, des durch seine Prachtliebe ausgezeichneten Herzogs Friedrich II., verlor sie schon in ihrem vierten Lebensjahre, worauf sich ihr Vater [586] 1714 mit einer Tochter des großen Kurfürsten von Brandenburg, Elisabeth Sophie, anderweitig vermählte.

Diese Fürstin war schon zwei Mal Wittwe, erst vom Herzog Friedrich Kasimir von Kurland und dann vom Markgrafen Christian Ernst von Brandenburg-Kulmbach (Bayreuth), und sie wurde es 1724 zum dritten Male vom Herzog Ernst Ludwig von Sachsen-Meiningen. Als die Prinzessin Louise Dorothee ihren Vater verlor, zählte sie erst vierzehn Lebensjahre, und wie ihre Erziehung schon seit zehn Jahren von ihrer Stiefmutter geleitet worden war, so hatte die beklagenswerthe Vater- und Mutterwaise sich auch ferner dem Willen dieser Dame zu fügen.

Was das für eine Erziehung gewesen sein muß, geht am besten aus der drastischen und pikanten Charakterschilderung der verwittweten Herzogin von Meiningen hervor, welche die geistreiche Markgräfin Friederike Sophie Wilhelmine von Bayreuth[1] von dieser Fürstin, ihrer Großtante, in ihren Memoiren entworfen hat.

Die Bildung fürstlicher Kinder war im vorigen Jahrhundert ausschließlich eine sogenannte französische, d. h. enge, kümmerliche und pedantische. Lehrer und Gouvernante, in der Regel geborene Franzosen von ungenügendem Wissen, verstanden nur das Eine gut, ihre Oberflächlichkeit durch steife Förmlichkeit und künstlichen Schliff zu verdecken. Auch die Herzogin von Meiningen kannte nichts Höheres und war drauf und dran, ihre Stieftochter in der herkömmlichen Weise abrichten zu lassen. Aber ein Glücksstern stand zu Häupten der Prinzessin und eine ungemein günstige Fügung des Geschickes führte ihr trotz aller Verkehrtheiten ihrer Stiefmutter eine gesunde Geistes- und Herzensnahrung zu und machte sie frühzeitig mit den echten Perlen und Edelsteinen des Schatzes der französischen Literatur bekannt.

Ihre Stiefmutter war auf ihre Abstammung vom großen Kurfürsten und auf ihre nahe Verwandtschaft mit dem mächtig aufstrebenden preußischen Königshause stolz und überragte an Bildung die meisten fürstlichen Frauen der kleineren Häuser, aber sie ließ auch Beides im persönlichen Umgange mit ihrem Schauspieltalente fühlen. Sodann gehörte die verwittwete Herzogin, wie das ganze brandenburgische Fürstenhaus, der reformirten Kirche an; die sächsisch-ernestinischen Häuser hielten aber um so strenger am reinen lutherischen Glauben, als ihr Ahnherr, der Kürfürst Johann Friedrich der Großmüthige zum Märthyrer desselben geworden war, und die albertinische Linie in ihren vornehmsten Gliedern sich wieder zur katholischen Kirche bekehrt hatte. Seit den verunglückten Versuchen des Königs Friedrich Wilhelm I. von Preußen, die beiden protestantischen Kirchen zu vereinigen, war die Entfremdung zwischen ihren Bekennern nur noch stärker geworden. Besonders zeigt sich die orthodoxen Lutheraner als die abgesagtesten Gegner der Calvinisten, und der Spruch: „lieber türkisch, als calvinistisch!“ galt als ihr Grundsatz. Es war natürlich, daß die Calvinisten ihnen einen gleichen Trotz entgegensetzten. An mehr als einem thüringischen Hofe hatte sich der fromme lutherische Glaubenseifer zum hallischen Pietismus niedergeschlagen, aber die Spener-Franke’sche Lehre von der innerlichen Gnadenwirkung war in diesen Fürstenconventikeln zum verschwommenen, hochmüthig weinerlichen Separatismus ausgeartet, welchem der demüthig stolze, oberflächliche, innerlich hohle und geistesarme Bekehrungseifer des damals noch jungen Grafen Zinzendorf sehr willkommen kam. Noch nicht Gegner seiner Lehrer, der Hallenser, sang und betete er in den Nachbarstädten Saalfeld, Rudolstadt und Jena mit höchsten und hohen, mit niederen und niedrigsten Personen. Eigentlich hatte er aber doch schon an dem Kunststück zu laboriren begonnen, wie er die ihrem innersten Wesen nach demokratische Christuslehre mit ihren einfach erhabenen Gestalten, welche die Reformation von ungebührlichem Prunke befreit und auf ihre ursprünglich einfache, sittliche Größe zurückgeführt hatte, in eine aristokratische Puppenstube verwandele.

In Gotha donnerte Cyprian als strenger Orthodox, wie in Leipzig Carpzov, in Dresden Löscher, in Hamburg Neumeister, eben so gegen den Calvinismus, wie gegen den Pietismus. – Der alten Herzogin von Meiningen war dagegen der Dogmatismus ebenso ein Gräuel, wie der Pietismus; sie verachtete die Privatandächtelei und den Gnadendurchbruch an den einen Höfen nicht minder, wie die gelehrte, auf die symbolischen Bücher fundirte Theologie an den anderen. Dafür wurde sie, die den strengsten Calvinismus zur Schau trug, der aber in Wahrheit das Bayreuther Silberservice, mit guten Speisen gefüllt, lieber war, als alle Religion, in demselben Grade, wenn nicht noch mehr, von ihren pietistischen und symbolgläubigen thüringischen Verwandten gehaßt und angefeindet. Es war also natürlich, daß man sie möglichst vermied, zumal sie als Wittwe eines kleinen Fürsten, dem sie nicht einmal Kinder geboren, in den Familienangelegenheiten nicht befragt wurde. Ihr beleidigter Stolz zog sich in eine abgeschlossene Stellung zurück, und ihre junge Stieftochter theilte selbstverständlich das Schicksal der Vereinsamung mit ihr.

Endlich lebte das meininger Herzogshaus schon seit Jahren in den verdrießlichsten Erbschaftsstreitigkeiten mit den übrigen von Herzog Ernst dem Frommen von Gotha und Altenburg abgezweigten Dynastien, und diese Streitigkeiten verzogen sich bis zu Louise Dorothee’s Mündigkeit.

Solche verschiedenartige Antipathien herrschten zwischen zahlreichen, hundertfach verwandten thüringischen Höfen.

Unter so deprimirenden Einflüssen verlebte Louise ihre stille Jugend in der kleinen, damals noch häßlichen Stadt Coburg. Aber diese abgeschlossenen und beschränkten Verhältnisse begünstigten die Ausbildung ihres reichen Geistes und Herzens und hielten jede schädliche Einwirkung wie eine schützende Mauer von ihr fern. Keine ungesunde Hoflust verdarb entfaltende köstliche Blüthe. Und diese Jugend war nicht freudenlos. Ihrem Genius hatte sich ein zweiter zugesellt, welcher ihm die höchsten und reinsten Schätze bot, die der hingebenden Liebe und aufopfernden Freundschaft. Kurz vor dem Tode ihres Vaters kam vom herzoglich würtembergischen Hofe zu Stuttgart ein jähriges Fräulein calvinistischen Glaubens als Hofdame der alten Herzogin von Meiningen nach Coburg, ein in jeder Hinsicht ausgezeichnetes und liebenswürdiges Wesen.

Juliane Franziska Freiin von Neuenstein war die älteste Tochter des Freiherrn Philipp Jakob von Neuenstein aus dem Kanton Ortenau im Elsaß und der einem altfranzösischen Adelsgeschlecht entsprungenen Dame Jeanne Marguerite de Moysen de la Rochelogerie und wurde 1707 zu Paris geboren, wo ihr Vater Oberjägermeister des Herzogs von Bouillon, ihre Mutter Hofdame von Herzogin Charlotte Elisabeth von Orleans, Gemahlin des Philipp I. von Orleans und Mutter des nachherigen Regenten von Frankreich, war. Aber schon in ihrem vierten Jahre zog Franziska von Neuenstein mit ihren Eltern, welchen als Hugenotten durch die Glaubensverfolgungen des von Jesuiten und Maintenon gemißbrauchten alten und schwachsinnig gewordenen Königs Ludwig XIV. der Aufenthalt in Paris verleidet war, nach Stuttgart, wo der Vater Oberjägermeister des Herzogs Eberhard Ludwig von Würtemberg wurde. Die hochgebildete Mutter wurde die Lehrerin der Tochter, die sich auf überraschende Weise entfaltete. Franziska hatte von ihrem Vater die deutsche Gründlichkeit, von ihrer Mutter den französischen Enthusiasmus. Zu einer Zeit, wo in Deutschland die Kenntnisse des schönen Geschlechts der höheren Stände, selbst an den Höfen, selten über Gebetbuch und Katechismus hinausgingen, war Fräulein von Neuenstein in ihrem sechzehnten Jahre in allen schönen Wissenschaften bewandert. Und dabei besaß sie ein Herz, welches mit Recht ein Juwel genannt werden durfte.

Die jugendliche Prinzessin von Meiningen hatte gerade die rechte Empfängniß für ein Wesen, wie Franziska. Welch’ ein Leben begann nun für diese beiden keuschen, hochbegabten Seelen im einsamen coburger Schlosse! Wie ergänzten sie sich in einander und fluthend und flammend! Was kümmerte sie die widrige Sittenverderbniß an den meisten deutschen Höfen? Was die ärgerlichen Glaubenszänkereien? Sie lebten nur sich, der Kunst, der Poesie, der Natur. Es waren fünf selige Jahre, welche die beiden Freundinnen auf diese Weise genossen; es war das Paradies ihrer Jugend, und gerade die Abhängigkeit, in welcher sie von der dicken, stets im hohen Styl sprechenden Herzogin standen, erhöhte den Reiz ihres Lebens und wurde ihnen zur unerschöpflichen Quelle von Heiterkeit und Genuß.

Im Sommer 1729 wurde Louise Dorothee die Gemahlin des Erbprinzen Friedrich von Gotha und Altenburg, ihres Geschwisterkindsvetters.[2] Ihr Herz war bei dieser Wahl nicht befragt [587] worden. Der Erbprinz war ein gutmüthiger, für höhere sittliche Eindrücke nicht unempfänglicher Herr, fast zwölf Jahre älter als seine Gemahlin, von gewöhnlicher Begabung und ohne tiefere Bildung. Einen solchen Gatten konnte die geniale Fürstin nicht mit der Gluth und Schwärmerei lieben, deren ihre Seele fähig war, ja zu welcher sie das Bedürfniß hatte. Aber sie war ihm eine treue Gattin. Nie ist der reine Spiegel ihrer Tugend von einem leidenschaftlichen Hauche getrübt worden. Sie wachte streng über ihrem Herzen und hatte, so jung, so geistreich, so gefühlvoll und lebensfroh sie war, doch die größte sittliche Gewalt über sich. Aber die Kämpfe, die ihr das gekostet haben mag, konnten nicht ohne Einfluß auf ihr späteres Leben und ihren Charakter bleiben, und der dunkle Schatten, der auf das Leben ihres Sohnes, des Herzogs Ernst fiel, und das trübe, fast unheimliche Erlöschen des Fürstenhauses herbeiführte, hat in ihnen gewiß seine erste Wurzel. Für den Erbprinzen und das Land war diese Wahl vorerst vom reichsten Segen. Friedrich war eine lenksame Natur, und erkannte den hohen Werth seiner Gemahlin.

Die Trennungsstunde war für die beiden Freundinnen eine schwere. Die Erbprinzessin hatte ihrer Stiefmutter den Wunsch an’s Herz gelegt, das Fräulein von Neuenstein mit nach Gotha nehmen zu dürfen, aber die alte Herzogin konnte sich nicht entschließen, zugleich beide ihr theuern Wesen von sich zu geben. Oft flogen nun Briefe zwischen Gotha und Coburg hin und her, voll der reinsten und zärtlichsten Herzensergüsse, und kein Jahr verging, daß die Freundinnen sich nicht umarmten.

Schon im Frühling 1732 starb der Herzog Friedrich II. von Gotha und Altenburg erst im höheren Mannesalter, und Friedrich III. trat die Regierung der beiden Fürstenthümer an. Die schöne und fruchtbringende Wirksamkeit der Herzogin Louise Dorothee begann. Ihr Geist hatte nun die volle Reife und Festigkeit erlangt. Sie war das herrlichste und genialste Weib nicht allein des Landes, welches sie als Herrin verehrte. Vielleicht hatte das deutsche Reich keine zweite Frau, welche alle hohen und edlen Eigenschaften des Geistes und Herzens in so vollendeter Weise mit den anmuthigsten körperlichen Reizen vereinigte. Wer hätte in ihre Nähe kommen können, ohne von ihr entzückt und bezaubert zu sein! Um ihren Mund spielten die neckischen Götter süßer Schalkhaftigkeit und edlen Frohsinns; aus ihren Augen leuchtete vom Lichte der Jugend und Freude verklärtes Selbstbewußtsein; auf ihrer Stirn thronte die göttliche Majestät des Genies, und diese entfernte die Nebel der Unwissenheit, des unsittlichen Stolzes, der forcirten Frömmigkeit und des nüchternen Glaubenseifers, von welchen die Schlösser der Großen erfüllt waren, aus ihrer Nähe. Sie wollte die Sonne der Wissenschaft über ihrem Haupte rein glänzen sehen, und ihr Land davon erleuchtet und erwärmt wissen, und das Gestirn strahlte über Gotha, wie die Sonne des Geistes siegend aus dem Auge seiner Fürstin glänzte.

Als Herzogin wiederholte sie die Bitte um Franziska von Neuenstein bei ihrer Stiefmutter, aber mit nicht mehr Glück als früher, und erst im Jahre 1735, als sie zum ersten Male Mutterhoffnungen fühlte, erreichte sie das Ziel ihrer Wünsche. Erst nach sieben Jahren wurden die schönsten Wünsche des Fürstenpaares und des Landes erfüllt, aber nun erwachte auch die Sehnsucht nach der Jugendfreundin mit einer Stärke in Louise Dorothee’s Seele, deren stürmischem Verlangen die Herzogin-Wittwe von Meiningen nicht länger widerstehen konnte. Franziska siedelte als erste Hofdame nach Gotha über.

Von jenem Tage der Wiedervereinigung begann ein neues und höheres Leben am gothaischen Hofe, ein ideelles und spirituelles Wirken und Schaffen, wie es kein deutscher Hof weiter aufzuweisen hatte. Die beiden Freundinnen haben sich nicht mehr getrennt; in treuer Liebe sind sie zusammengestanden 32 Jahre lang, eng vereint bis zum Tode der Herzogin 1767, und sie haben Herrliches vollbracht; denn die glänzende Bildung und Humanität Gotha’s zu Ende des vorigen Jahrhunderts war allein ihr Werk. Diese Culturperiode ist freilich gänzlich abgeblüht, und ein unparteiisches Urtheil darüber zum Spruche gereift. Niemand wird die öffentliche Anerkennung der Verdienste dieser beiden Frauen heute eine Schmeichelei zu nennen wagen, und mit ehrfurchtsvollem Staunen darf sich das Auge zurück auf diesen einzigen Freundschaftsbund der beiden Frauen und ihre Größe richten.

Auch Franziska kam reif und gefestigt nach Gotha. Kein adliger Mann hatte es verstanden, ihr Herz zu gewinnen. Alle, mit welchen sie in Berührung gekommen, waren rohe und raffinirte Lüstlinge gewesen, hohle Puppen, bemüht, die sittliche Fäulniß ihres Wesens, an welcher die höhere Gesellschaft krank lag, mit Essenzen und Pomaden zu überduften, oder in ein Bußgewand zu stecken; Bacchus- und Nimrodsbrüder, oder weinerliche Frömmler oder galante lustige Betbrüder. Das waren keine Männer für ein Weib wie Franziska von Neuenstein. Und doch brachte sie ein lebhaftes Interesse für einen jüngeren Mann, als sie selbst war, mit an den Hof nach Gotha, und theilte dieses auch der fürstlichen Freundin mit. Dieser Mann war aber ein Fürst, dessen Gattin Franziska von Neuenstein nicht werden konnte: es war der Kronprinz Friedrich von Preußen.

Die Herzogin von Meiningen stand mit dem ihr blutsverwandten preußischen Hofe in enger Verbindung. Der König Friedrich Wilhelm I. war ihr Neffe. Das Familienunglück, welches die Jugend des Kronprinzen Friedrich verdüsterte, ging ihr nah. Noch innigern Antheil nahm ihre geniale Hofdame daran. Wenn die Augen von ganz Europa sich nach Potsdam und Berlin richteten, als die Flucht des Kronprinzen mißglückt war, durch welche er sich der Tyrannei seines Vaters hatte entziehen wollen, so zitterte in Coburg das Herz dieser Hofdame für das Leben dieses Prinzen; denn sie wußte aus den Familienbriefen, welche ihre Gebieterin empfing, wie sehr dasselbe gefährdet war. Bald nachdem dieser bedrohliche Sturm am Haupte des Kronprinzen vorübergegangen war, reisete die Herzogin von Meiningen mit ihrer Hofdame nach Berlin zur Vermählungsfeier der königlichen Prinzessin Friederike Sophie Wilhelmine mit dem Erbprinzen von Bayreuth (1731), und hier sah Franziska zuerst und unerwartet den vom König begnadigten neunzehnjährigen Friedrich, der sie seiner besonderen Aufmerksamkeit würdigte, und von dessen künftiger Größe eine Ahnung in ihrer Seele aufging. Sie überzeugte sich in einigen Unterredungen mit ihm, daß er nicht nur ein genialer Mensch, sie fand auch, daß er ein ausgezeichneter Tänzer sei. Sie hatte die Freude, mit ihm Schwäbisch zu tanzen, worin sie als naturalisirte Schwäbin alle Damen des Berliner Hofes übertraf.

(Schluß folgt.)




Meine liebsten Hausheilmittel.

Auch wenn ein Stoff nicht aus der Apotheke stammt, so kann er doch ein ganz vortreffliches Heilmittel sein, ja man wagt wirklich nicht zu viel, wenn man behauptet, daß die meisten Apothekenmittel eigentlich gar keine und am allerwenigsten vortreffliche Heilmittel sind. Daß aber alle Mittel der homöopathischen Apotheken, sogar die mit lebensmagnetischer Kraft zusammengeschüttelten und dadurch wirksamer gemachten homöopathischen Mittel der Lutze’schen Hausapotheken (mit 135 Mitteln für 2 und 60 Mitteln für 1 Louisd’or, mit 80 Mitteln für 7 und mit 40 Mitteln für 2 Thaler) in homöopathischer Gabe = 000 d. h. gleich ganz und gar Nichts sind, versteht sich von selbst. – Naturgemäße Hausmittel, passend angewendet, die sind es, welche in den allermeisten Fällen von Kranksein die wahren Heilmittel abgeben, obschon ihnen fast stets, vom Kranken wie vom Arzte, ganz ungerechter Weise ihre Heilmacht abgesprochen und irgend einem gleichzeitig angewendeten, aber mittels Receptes aus der Apotheke herbeigeholten, übrigens ganz unnützen Arzneistoffe zugesprochen wird. Es verhält sich dies ganz so wie mit den Bädern und Mineralwässern; was geistige und gemüthliche Ruhe, vernünftige körperliche Bewegung, Licht und Luft, Wasser und Nahrung in den Bädern Gutes am Kranken thun, das wird dem Bischen Arzneistoffe (Salzen, Schwefel, Eisen, Kohlensäure u. s. w.) oder wohl gar dem Brunnengeiste im Mineralwasser zugeschrieben. Weil dies aber von den Meisten geschieht, und das Trinken und Baden für wichtiger als das diätetische Verhalten während der Cur gehalten wird, eben darum nützen auch die Badereisen so Wenigen. Ja wenn nicht blos von Denen, welchen ein bestimmtes Bad geholfen zu haben scheint, so laut die Heilkraft desselben ausposaunt würde, sondern wenn auch Die, denen ein Bad nicht nur nichts genützt, sondern sogar geschadet hat, ihre Stimme über die Wirksamkeit desselben hören ließen, der Besuch der Bäder und die Consumtion [588] des Mineralwassers daselbst würde sicherlich sehr bald zum Schrecken der Badeärzte ganz aufhören und einem zweckmäßigen diätetischen Verhalten weichen müssen, was allerdings in Badeorten am besten und bequemsten durchgeführt werden kann.

Unter Hausheilmitteln wollen wir nun aber nicht etwa irgend welche von einem Schäfer oder Hufschmiede empfohlenen oder in der Großmutter Handkörbchen aufgelesenen oder von Charlatanen und Betrügern für hohen Preis verkauften Geheimmittel, Kräuter, Thees, Säfte, Elixire, Balsame, Pflaster, elektrische und magnetische Ketten und Ringe, Amulette, Versprechungen und dergleichen Hokuspokus verstanden wissen, sondern solche in den Apotheken nicht vorhandenen, bei Krankheiten trotzdem aber dienlichen Stoffe und Verfahrungsweisen, welche auch ohne Zuziehung eines Arztes von Laien bei diesem oder jenem Leiden in Gebrauch genommen werden können. Solche Hausmittel sind dem Verf.: Wasser in kalter und warmer Form, äußerlich und innerlich angewendet, Ueberschläge, Fett, Warme, Reibungen und Druck, bestimmte Bewegungen u. s. w. Von allen diesen Hausmitteln. deren heilsame Wirkung in gewissen Fällen wir hier nach und nach besprechen wollen, gebührt aber ohne Zweifel das meiste Lob und deshalb die erste Erwähnung dem

frisch ausgelassenen Rinds- und Hammeltalge,

einem Fette, welches seines Gehaltes an festerm Fettstoffe wegen zur Talglichtfabrikation verwendet wird und deshalb sehr leicht vom Seifensieder frischausgelassen zu erhalten ist. Es schafft, wie wir sehen werden, durch seine äußere Anwendung (als Bestreichung, Einreibung) den offenbarsten Nutzen bei sehr vielen und den mannichfaltigsten Hautaffectionen in den verschiedenen Lebensaltern und Verf. zieht es allen fettigen Heilmitteln der Apotheken vor. Besser als alle übrigen Fette und Oele bildet nämlich dieser frische Talg eine schützende, die Einwirkung äußerer Reize hindernde Decke für die Haut und ist deshalb bei Entzündungen, Ausschlägen (besonders mit scharfer Absonderung), Wundsein, Verbrennungen und Erfrierungen der Haut, sowie deshalb, weil er die Haut weich und geschmeidig macht, bei großer Trockenheit und Sprödigkeit mit Aufgesprungensein derselben von ausgezeichnetem Vortheile. Auch bei hohen Fiebergraden mit trockner, heißer Haut, zumal beim Scharlach und zwar mit Krampferscheinungen, schafft die Einreibung der Haut mit Talg als kühlende und die gereizten Hautnerven besänftigende Decke nicht unbedeutende Linderung. Nicht unmöglich ist es ferner, daß Talgeinreibungen solcher Theile, die mit Ansteckungsstoffen in Berührung kommen, diese vor Ansteckung schützen können. Kurz, dieser Talg kann so oft als Heilmittel in Anwendung gezogen werden, daß ihn Verf. weder im Hause noch auf der Reise missen mag. Es gibt aber auch keinen Theil am menschlichen Körper, dem er nicht zu Zeiten wohlzuthun vermöchte.

Schon in der ersten Lebenszeit und im Säuglingsalter des Menschen findet der Talg Gelegenheit, zu nützen, und zwar zunächst beim Wundsein der Haut an faltigen und vertieften Stellen, zumal wenn diese leicht verunreinigt werden können, wie an den Oberschenkeln und am After, sodann an der Achselhöhle, dem Halse. Oberarme und hinter den Ohren. Dem Wundwerden geht immer Röthung der später wunden Hautstelle voraus und es kann jenem schon dadurch vorgebeugt werden, daß man die geröthete Stelle öfters mit kaltem Wasser sanft abtupft, dann mit frischem Talge bestreicht und auch noch ein mit Talg bestrichenes Leinwandläppchen einlegt. Beim wirklichen Wundsein ist auf ähnliche Weise zu verfahren, nur reinige man dann die wunden Stellen öfters durch Betupfen mit lauem Wasser. – Beim Wundsein des Nabels schlage man dasselbe Verfahren ein, aber achte noch mehr auf öftere Reinigung dieser Stelle, da bei Verschwärung derselben und bei Aufnahme von Jauche in den Blutstrom (durch die Nabelblutader) nicht selten der Tod in Folge von Eitervergiftung des Blutes mit Gelbsucht eintritt. – Auch die Ernährerin des Säuglings wird Hülfe beim Talge finden können und zwar beim Wundwerden der säugenden Brust, wo neben öfterer Reinigung durch Betupfen mit kaltem Wasser das Bestreichen mit frischem Talge ebensowohl das Wundwerden verhüten, wie auch das Wundsein heilen kann,

Die Hautausschläge, welche den Säugling nicht selten heimsuchen, weichen bei Anwendung des frischen Talges ebenfalls und zwar in ziemlich kurzer Zeit. Hierher gehört: der flechtenartige Zahnausschlag oder Zahnfriesel auf den Backen zahnender Kinder, der aus kleinen sogen. Schälknötchen besteht, die einzeln oder in Gruppen beisammen auf rother, heißer (entzündeter) Haut sitzen und sich bisweilen in Folge des Kratzens und Reibens in kleine, eine klare oder trübe Flüssigkeit enthaltende Bläschen und Pusteln umwandeln, welche durch ihr Zerplatzen und Eintrocknen zur Bildung von Grinden Veranlassung geben. – Ebenso ist die Milchborke, der Gesichtsansprung der Kinder, der Milchschorf oder Freisam, ein Säuglings-Ausschlag, wo der Talg hilft. Dieser Ausschlag nimmt seinen Sitz auf den Wangen und der Stirn des Kindes und besteht darin, daß sich aus einem entzündeten (rothen, heißen) Boden einzelne oder beisammenstehende, später zusammenfließende Honigpusteln entwickeln, welche zerplatzen und eine dickliche, gelbliche, klebrige Flüssigkeit ergießen, die eingetrocknet dann grünliche Grinde bildet; diese ähneln der am Feuer vertrockneten Milch, woher sich auch der Name der Krankheit schreibt. Diese Grinde oder Borken hinterlassen bei ihrem Abfallen eine rothe dünnhäutige oder nässende Hautstelle, welche unter Abschilferung der Oberhaut heilt. Sie werden aber nicht selten bald durch Ausbruch und Berstung neuer Pusteln ersetzt und dann greift der Ausschlag nicht selten viel weiter als früher um sich. – Beim Säugling, doch auch bei größern Kindern kommt sodann noch ein Gesichtsausschlag vor, welcher bösartiger als die eben erwähnten Ausschläge ist, aber auch durch Talg gehoben werden kann. Es ist dies der sogen. Flechtengrind oder räudige Ansprung des Gesichts. Er nimmt gewöhnlich in der Ohrgegend seinen Anfang, dehnt sich über das ganze Gesicht und zum Theil auch auf die behaarte Haut des Kopfes aus, und gibt sich durch kleine zusammengedrängte Bläschen zu erkennen, die sich auf rothem Boden entwickeln, heftig jucken, deshalb Kratzen veranlassen und eine sehr scharfe Feuchtigkeit ergießen, die zu dünnen, dunklen, schuppigen, rissigen Borken eintrocknet, unter denen die Haut sogar von Verschwärung befallen werden kann. Nicht selten entzünden sich hierbei zugleich die Augenlider und die Drüsen am Halse schwellen an.

Sowie das Gesicht, wird bei Kindern auch die behaarte Haut des Kopfes gar nicht selten von Ausschlägen befallen, bei denen der Talg gute Dienste thut. Man begreift diese Ausschläge gewöhnlich unter dem Namen „Kopfgrinde (Tineen)“ und unterscheidet die wahren von den unechten. Die ersteren, zu denen der Wabenkopfgrind (Favus) und der Rasir- oder kahlmachende Kopfgrind gehören, haben ihren Grund in Entwickelung von Pilzmasse in den Haaren und Haarsäckchen und sind deshalb ansteckend, die letzteren, bei denen der Talg empfohlen werden kann, entsprechen so ziemlich den Gesichtsausschlägen und bestehen in Entwickelung von Bläschen, Pusteln, Schuppen und Schorfen, meist auf gerötheter Kopfhaut.

Bei allen diesen Kopf- und Gesichtsausschlägen läßt sich mit Hülfe des frischen Talges, natürlich neben größter Reinhaltung der Haut durch Betupfen derselben mit lauem Wasser (nicht durch Waschen und Reiben mit kaltem oder heißem Wasser), die Dauer dieser Hautaffection sehr abkürzen und das damit verbundene Brennen, Jucken und Kratzen mildern oder heben. Ja, wenn sogleich beim Trocken-, Spröde- und Rothwerden der Haut frischer Talg öfters und fett auf die verdächtige Stelle gestrichen wird, so kann man sogar den Ausbruch des Ausschlages verhindern oder doch in seiner Ausbreigung mäßigen. Ist nun aber der Ausschlag mit seinen Schuppen, Schorfen oder Grinden vorhanden, dann verfahre man auf folgende Weise: man weiche jene auf der Haut aufsitzenden Borken mittels warmen Wassers oder Dampfes auf und hebe sie sanft ab, betupfe dann die von ihren Auflagerungen befreite rothe, meist nässende Haut mit lauem Wasser und bestreiche sie hierauf mit frischem Talge, Freilich muß dies einige Male des Tages oder doch so oft gemacht werden, als sich Borken gebildet haben, weil unter diesen die Haut nicht gut heilen kann. Da nun dieses Verfahren viele Mühe macht und deshalb von Müttern oder Wärterinnen nicht gern und ordentlich vorgenommen wird, so ziehen sich jene Ausschläge in der Regel sehr in die Länge und der Arzt wird von jenen gern gesehen, der diese örtlichen Leiden ganz mit Unrecht als innere Uebel mit Leberthran, Abführmitteln u. dgl. behandelt. Allerdings ist es bequemer, dem Kinde von Zeit zu Zeit Medicin einzugeben, als ruhig, geduldig und mit Vorsicht die Ausschlagsstellen zu reinigen, aber vortheilhafter ist es wahrlich nicht.

Dies wären denn bis jetzt einige wenige Uebel und zwar nur der frühesten Kindheit, bei welchen der frische Talg als ein vorzügliches Heilmittel gerühmt zu werden verdient; nächstens von noch vielen andern.

Bock.




[589]

Erinnerungen aus Afrika.

Aus dem Tagebuche eines Touristen.
(Schluß.)
Der erste Anblick der Wüste. – Tag und Nacht zugleich. – Arabische Küche. – Die Geschichte des Kalifats. – Eine Wildschwein- und Gazellenjagd mit Geierfalken. – Das Opernglas. – Ein Wahnsinniger. – Gerichtssitzung in der Wüste. – Eine Löwenjagd.

In dem Gebäude fand Jeder von uns ein Zimmer, das mit einem Ueberfluß von geflochtenen Matten, Thierfellen, großen, weichen, aus Kameelhaaren gefertigten Teppichen und kleinen runden, mit Kupfer unterlegten Spiegeln versehen war. Unser Wirth hatte die Aufmerksamkeit so weit getrieben, uns ein maurisches Bad bereiten zu lassen, das wir mit um so größerer Lust genossen, als wir seit acht Tagen der Hitze, dem Staub, sowie den Angriffen der Muskitos und der Myriaden der schon erwähnten stechenden Insecten ausgesetzt gewesen waren, und Dank den Bemühungen der Benizizabs, welche damit beauftragt waren, uns zu frottiren und zu kneten, fühlten wir uns bald eben so frisch, wie wir vor etwa zwei Stunden erschöpft und ermüdet gewesen waren. Wir empfanden ein unbeschreibliches Behagen, das sich über den ganzen Körper verbreitete, und nachdem wir einen Tschibuk geraucht und uns in gekühlter Orangenlimonade gütlich gethan hatten, wickelten wir uns in unsere Burnusse, streckten uns auf die mit weichen Teppichen belegten Marmorplatten, und waren bald in tiefen erquickenden Schlaf versunken.

Als wir nach vier Stunden erwachten, gingen wir sogleich in’s Freie, denn wir waren förmlich durstig nach Luft und Licht.

Die Aussicht, welche sich uns bot, sollte unser Entzücken und unsere Bewunderung von heute Morgen noch steigern. Man glaubt gewöhnlich, daß sich der Anblick der Wüste immer und überall gleich bleibe, aber dies ist ein Irrthum. Die Veränderungen der Luft und der Wechsel der Beleuchtung, welche fast zu jeder Stunde des Tages stattfinden, wirken auf die Formen und Farben der endlosen Ebene und verändern die Ansicht der Landschaft unaufhörlich. Als wir aus dem Hause traten, war die Sonne eben im Untergehen. Nicht das kleinste Wölkchen war am Himmel zu sehen, nicht das leiseste Geräusch berührte das Ohr; nur ein leichter weißer Nebel stieg hier und da in spiralförmigen Windungen in die stille Luft. Die purpurrothe Scheibe der untergehenden Sonne erschien in ungeheurer Größe und ihre matten Strahlen brachten eine so kalte, todte Beleuchtung hervor, wie bei uns zuweilen die bleiche Decembersonne. Dabei schien es, als wäre die gluthrothe Scheibe mit großen Augen übersäet, die uns unverwandt anstarrten – ich kann nicht beschreiben, welchen eigenthümlichen Eindruck diese merkwürdige Erscheinung auf uns hervorbrachte. Und je tiefer das Gestirn des Tages in sein sandiges Bett hinabsank, je riesenhafter wuchsen die Schatten. Gräser und Halme erschienen in ihren Schattenbildern wie ungeheure Bäume, und die dunklen Umrisse der Palmen streckten sich weit über die Wüste hin, und schossen selbst an den Wänden des weit entfernten Gebirges empor.

Plötzlich wandten wir den Blick von der scheidenden Sonne nach Osten und sahen zu unserer nicht geringen Ueberraschung, daß an der anderen Seite des Berges bereits die Nacht hereingebrochen war und Mond und Sterne ihr mildes Licht über die Gegend ausgossen, während nach Westen hin die Landschaft noch im Sonnenlicht glänzte. Der Pinsel des größten Meisters, die beredteste Feder vermöchte den unbeschreiblichen Reiz dieses Doppelschauspiels nicht wiederzugeben und die Scene nicht zu beschreiben, deren Stille nur durch die klare, kindliche Stimme des Muezzin unterbrochen wurde, der von der Höhe des Minarets die Gläubigen zum Gebet rief.

Einen Augenblick kniete jeder Muselmann nieder, beugte die Stirn in den Staub und rief den Propheten an, dann führten uns unsere Gastfreunde in das Palais zurück, wo uns die „Diffa,“ d. h. die Ehrenmahlzeit, die der Araber seinem Gaste gibt, erwartete.

Die Tafel war gedeckt. Der Kuskussu (ein aus Weizengrütze bereiteter Brei) dampfte in großen Schüsseln. Ein ganzes am Spieß gebratenes Schaf, sowie die ebenfalls gebratene hintere Hälfte einer Gazelle und einige Flaschen Portwein standen vor uns. Der brave Ben-Jellul, der sehr streng gegen sich selbst war, und in seiner doppelten Eigenschaft als Marabout und Kalifat nichts trank als Wasser, glaubte seinen Gott nicht zu beleidigen, wenn er den Bekennern einer andern Religion einen Theil des Tributs vorsetzte, den die Thuaregs (Räuber) der Wüste von irgend einem jüdischen Handelsmanne erhoben hatten. Wir unsererseits tranken den vortrefflichen Wein, trotz seines zweifelhaften Erwerbs, mit philosophischer Ruhe und ohne alle Gewissensbisse.

Die arabische Küche ist außerordentlich einfach. Saucen sind völlig unbekannt. Das gebratene Schaf war mit Datteln, Oliven, Pistazien und spanischem Pfeffer gefüllt, und lag in seiner eigenen Brühe. Die Gazellenkeulen lagen, von Gurken- und Citronenscheiben umgeben, in Palmenessig, der mit Thymian und Salbei gewürzt war.

Der Kalifat besaß zufällig ein Dutzend Teller von englischem Steingut, hatte diese vor uns hinstellen lassen und servirte uns ohne Umstände mit der Hand ansehnliche Portionen von den vorhandenen Gerichten. Wir waren, was arabische Reinlichkeit betraf, bereits vollkommen abgestumpft, außerdem war hier nicht der Ort zu Weitläufigkeiten, denn unsre Magen schrieen laut, und so gingen wir ohne weitere Ueberlegung an’s Werk. Unsere Becher wurden oft gefüllt und geleert, denn die arabischen Gewürze lassen die Pfeffersaucen der französischen Küche weit hinter sich. Die Gazelle und das Schaf waren bald verzehrt und, ich muß es dem Koch unsers Wirthes zur Ehre nachsagen, sie waren ausgezeichnet. Besonders das Schaf war deliciös, und wir haben später noch oft Veranlassung gehabt, mit sehnsüchtigem Verlangen an dies eigenthümliche Gericht zurückzudenken.

Dank der Redseligkeit einiger Gäste, deren Rang nicht die strenge Zurückhaltung und Würde erheischte, zu welcher der Kalifat verurtheilt war, ging das Diner sehr heiter vorüber. Der Kaffee wurde im innern Hofe unter dem Sternenzelte des Himmels servirt, und halb in den Kissen liegend, schmauchten wir eine Cigarre, und verfolgten mit den Augen die eigenthümlichen Figuren der Rauchwölkchen, die vor uns in die Luft stiegen, während drei arme Teufel, Naturkünstler der Gegend, auf Violinen mit zwei Saiten und einer entsetzlichen Guitarre in monotonem Rhythmus kratzten und klimperten.

Ben-Jellul rauchte nicht. Hochgestellte Araber und besonders die, welche zu den Marabouts gehören, erlauben sich niemals diesen vom Koran verbotenen Genuß. Trotzdem wir Europäer gewohnt sind, uns den Muselmann fast nie ohne Pfeife vorzustellen, ist es Thatsache, daß nur die Schismatiker unter den Muhammedanern in dieser Beziehung den Gesetzen des Propheten trotzen. Das Volk, das hier wie überall der Sclave seiner Neigungen ist, raucht ohne Bedenken und ohne Gewissensbisse.

Ich beobachtete den Kalifat, dessen Blicke verriethen, daß er zerstreut war und an Dinge dachte, die ihn sehr in Anspruch nahmen. Unsere Augen begegneten sich endlich – Ben-Jellul streckte mir die Hand entgegen, reichte mir ein grünsammetnes, goldgesticktes Täschchen und gab mir ein Zeichen, es zu öffnen. Ich gehorchte, und fand ein Pergament, auf welchem in den gothischen Schriftzügen des Mittelalters die lateinischen Worte: „Qui credit in me, in aeternum vivet“[3] zu lesen waren. Das viereckige Stück Pergament war allem Anscheine nach aus einem reich verzierten Meßbuche geschnitten – aber durch welchen sonderbaren Zufall kam es in die Hände des Kalifat? Ben-Jellul bemerkte meine fragenden Blicke und ehe ich noch Zeit hatte, ein Wort zu sagen, erbot er sich, uns die Geschichte zu erzählen. Ich rief Ali, um mir Wort für Wort übersetzen zu lassen, und der Fürst begann:

„Ich stamme, wie Ben-Salem, von der Familie des Propheten. Meine Vorfahren sind in Euer Land gekommen (dabei richtete er sich stolzer auf), wie Ihr jetzt zu uns kommt, und eins der Häupter meiner Familie ist dem ruhmgekrönten Abd-er-Rahman über das Meer hinüber gefolgt. Ali-Ben-Jellul-Ben-Omar war zugleich Agha (Befehlshaber der Reiterei) des Sultans und Kalifat des eroberten Landes. Sein Muth, seine Frömmigkeit und Weisheit hatten ihm den Beinamen Bou Allah (Mann Gottes) erworben und trotz seiner Jugend stand er in hohem Ansehen und der Prophet würdigte ihn zuweilen im Traume seiner Erscheinung.

Eines Tages nun, als Ben-Omar spazieren ging, sah er ein [590] schönes Weib, das vor einigen seiner Soldaten floh. Ihr Mann war todt, sie stand allein und ohne Schutz in der Welt und rief das Mitleid des Siegers an. Er ließ sie in seinen Palast führen, gab ihr alle ihre Güter wieder und stellte eine Wache vor ihre Thür. – Ben-Omar und die Christin sahen sich oft. Er war ein großer Feldherr und ein schöner Mann, sie war ein reizendes Weib – sie liebten sich bald und der Muselmann hätte sich vielleicht verführen lassen, seinen Glauben zu den Füßen der Ungläubigen abzuschwören, die ihre Religion nicht aufgeben wollte, als ihm in einer stürmischen Nacht der Prophet im Traume erschien und ihm befahl, die Gegend ohne Säumen zu verlassen und nach Spanien zu ziehen, um dort die Christen zu bekämpfen, welche Krieg gegen die Mauren führten. Erschreckt ließ Ben-Omar seine Waffen und seine Schätze einpacken, sandte einen Boten mit der Nachricht an Abd-er-Rahman und reiste ab. – Wenige Tage darauf, an einem schönen Morgen des Blüthenmonats, ließ sich eine Taube vor Ben-Omar’s Zelte nieder, legte dies Blatt zu seinen Füßen und erhob sich mit der Schnelligkeit des Gedankens zu den Wolken, hinter denen sie verschwand. Es war die Seele der Christin, die am Tage nach Ben-Omar’s Abreise aus Sehnsucht nach ihm gestorben war. Das Pergament ist aber ein Talisman,“ fuhr der Kalifat mit allem Anscheine der Ueberzeugung fort, „der vor bösem Zauber schützt und sich seit Jahrhunderten auf das älteste Glied der Familie vererbt.“

Ben-Jellul verlangte nach Beendigung seiner Erzählung die Uebersetzung der Schrift auf dem Pergamente. Er zweifelte nicht, daß Gelehrte von unserer Bedeutung im Stande sein würden, die Worte der Christin zu entziffern. Wir erzeigten ihm die Gefälligkeit recht gern, erklärten ihm den Sinn des Spruches, konnten aber unsere Heiterkeit nicht unterdrücken, als wir den altgläubigen Muselmann die christliche Reliquie mit Andacht an sein Chapelet befestigen sahen.

Nachdem Jeder von uns eine Anzahl Cigarren geraucht und etwa zehn Tassen des unschädlichen arabischen Kaffee’s genossen hatte, begaben wir uns zur Ruhe, um uns auf die Strapazen des folgenden Tages vorzubereiten, der mit einer Jagd auf wilde Schweine und Gazellen begonnen werden sollte.

Wlr waren mit dem ersten Morgenrothe auf den Beinen. Die Pferde stampften bereits vor der Thür; die Slughis, die Windhunde der Wüste, die zwei Mal so groß sind wie die unsrigen, bellten wie rasend; die großen borstigen Schweißhunde gingen knurrend umher und zeigten ihre ungeheueren Zähne.

Ben-Jellul hatte eins der schönsten seiner Pferde bestiegen, sein Sohn und einige höhere Würdenträger des Stammes begleiteten ihn, etwa funfzig Araber folgten zu Fuße und zu Pferde, fünf oder sechs starke, halbnackte Neger führten die Hunde und die Falkoniere trugen ein halbes Dutzend Geierfalken von der stärksten Art, die bei der Gazellenjagd benutzt werden sollte. Dieser ganze fremdartige, stampfende, lärmende, knurrende Trupp bot, beleuchtet vom Morgenroth der Wüste, den eigenthümlichsten Anblick, den man sich denken kann.

Wlr ritten einen langen Hohlweg hinab und gelangten zu einem Felsenthale, in welchem ein für Pferde und Menschen undurchdringliches Dickicht und ein Sumpf stehenden Wassers unserem Vordringen bald ein Ziel setzten. In diesem Dickicht sollten sich wilde Schweine befinden. Die Schweißhunde wurden losgelassen, drangen mit kühnem Muthe in das Gebüsch ein und wir stellten uns ringsum auf, um das zuerst erscheinende Thier mit Flintenschüssen zu empfangen.

Seit einer Viertelstunde folgten wir mit den Augen der Spur der Hunde, die sich durch die Bewegung der Büsche verrieth, und noch zeigte Nichts das Dasein eines Wildschweines an. Endlich hörten wir ein anhaltendes Gebell und konnten genau den Weg sehen, den das Thier sich durch Gesträuch und Dornen bahnte; drei der zusammengekoppelten Windhunde wurden losgelassen und bald darauf stürzte ein ungeheuerer, borstiger Eber aus dem Gebüsch. Die Windhunde hatten ihn mit wenigen Sprüngen erreicht; der schnellste von ihnen griff den Eber mit Ungestüm an, empfing aber in dem Augenblicke, wo er seine Zähne einschlug, einen so kräftigen Schlag mit den Hauern, daß das ungeheuere Thier zehn Schritte weit hinweggeschleudert wurde und kaum die Kraft hatte, sich wieder zu erheben.

Obgleich aber dies mit der Schnelligkeit des Gedankens vor sich gegangen war, hatte es den übrigen Windhunden doch Zeit gegeben, sich ebenfalls zu nähern, und der Eber wurde von Beiden zugleich am rechten Ohre gepackt. Er stieß ein lautes Gegrunze aus und machte einen ungeheueren Sprung, in welchem er seine beiden Feinde, die ihn mit ihren Zähnen festhielten, wie mit eisernen Zangen, mit fortriß. Jetzt ließ man die zwei andern Hunde los und Menschen und Thiere stürzten sich dem Eber nach durch die enge Schlucht, die von Geschrei, Hundegebell und Pferdegetrappel wiederhallte.

Trotz ihrer Geschwindigkeit konnten die letzten beiden Hunde den Eber nicht erreichen; der eine der beiden Slughis, die ihn zuerst packten, hatte seine Beute losgelassen, der andere hielt noch immer fest, da drängte sich der Eber plötzlich in einen Winkel der steil aufsteigenden Felswand, kehrte seinen Verfolgern den Rüssel mit den ungeheueren Hauern entgegen, preßte den noch immer an seinem Ohre hängenden Windhund gegen den Felsen, daß er erstickt zu Boden fiel, und wollte sich, seiner Last entledigt, mit verdoppelter Schnelligkeit eben in der Richtung nach der Ebene hin wieder auf den Weg machen, als sich zehn ober zwölf von unseren Flinten zugleich entluden und der Eber fiel. Er hatte, wie sich bei näherer Besichtigung ergab, sechs Kugeln im Leibe.

Die Jagd hatte beinahe drei Stunden gewährt. Wir waren in Schweiß gebadet und mit Staub bedeckt, aber wir wollten noch Jagd auf Gazellen machen, wenn sich eine Heerde dieser Thiere auftreiben ließ. Die Gazelle ist in der Gegend sehr häufig, aber es ist außerordentlich schwer, sich ihr zu nähern. Sie sieht sehr scharf und das geringste Geräusch treibt sie in die Flucht. Man muß die Wachsamkeit ihrer Vorposten täuschen, um sie zu überraschen, oder sie durch Treiber den zum Jagdgrund bestimmten Plätzen zutreiben lassen. Diese schwierige Jagd wird von den Arabern mit großer Geschicklichkeit betrieben. Sie kennen die Gewohnheiten des Thieres und ihr scharfes Auge vermag die Spur des Wildes im feinsten, leichtesten Sande eben so sicher zu verfolgen, wie auf moosigem und rasigem Boden oder auf kahlem Felsengrunde.

Wir wurden an den Eingängen einiger tiefer Schluchten aufgestellt. Die Treiber entfernten sich im Halbkreise und die Falkoniere hielten sich bereit, ihre Thiere loszulassen. Die Zeit der Erwartung schien uns um so länger, da wir unbeweglich und im tiefsten Schweigen verharren mußten und die Hitze auf etwa 42 Grad gestiegen war. Die senkrechten Strahlen der Sonne, die auf uns herabfielen und im Zustande der Ruhe viel unerträglicher erscheinen, als bei zerstreuender Bewegung, durchdrangen glühend unsere Kopfbedeckung und unsere leichte Kleidung und machten unseren Zustand zu einem höchst unbehaglichen.

Seit etwa einer Stunde mochten wir so gestanden haben, als sich plötzlich das verabredete Zeichen, ein schriller Pfiff, hören ließ. Fast zu gleicher Zeit sahen wir eine Heerde von zwanzig bis dreißig Gazellen erscheinen, welche mit der ihnen eigenen fabelhaften Geschwindigkeit auf unsere Linie zustürmten. Da sie nicht rückwärts konnten, ohne den Treibern in die Hände zu fallen, so bogen sie, als sie uns bemerkten, seitwärts ab und passirten unsere Linie in einer Entfernung von etwa hundert Schritt. In diesem Augenblicke wurden die Geierfalken losgelassen und diese stürzten sich mit unerhörter Schnelligkeit auf die Heerde. In einem Augenblicke hatten die behendesten unter ihnen schon ihren Raub gepackt und vier Gazellen, in deren Nacken eben so viele Falken ihre mächtigen Klauen eingeschlagen hatten, blieben sichtlich hinter ihren übrigen Cameraden zurück.

Die hiesigen Geierfalken, welche viel größer und stärker sind, als die unsrigen, werden ganz so verwendet, wie die Falken in alten Zeiten bei uns, nur mit dem Unterschiede, daß man hier nicht nöthig hat, sie mit einer Haube zu bedecken und sie zu befestigen. Sie sind sehr gut dressirt, steigen nicht eher auf, bis ihre Herren das Signal geben und kehren auf dies Signal ebenfalls ohne Zögern zurück.

Haben sie ihre Opfer gepackt, so breiten sie ihre großen Flügel aus, beugen sich zurück und hemmen auf diese Weise den schnellen Lauf des Thieres, während sie es zu gleicher Zeit mit ihrem scharfen Schnabel zu verwunden suchen.

Die zwei Falken, welche auf keine Gazelle gestoßen waren, schwebten in großen Kreisen über der flüchtigen Heerde, die sich von den vier angefallenen Gazellen getrennt hatte. Der Moment, welchen die Vögel erwartet zu haben schienen, war endlich gekommen; die Gazellen beschrieben, ich weiß nicht, warum, in ihrem Laufe einen Bogen und in demselben Augenblicke schossen die beiden Falken [591] mit der Schnelligkeit des Pfeils auf sie herab. Der eine faßte eins der flüchtigen Thiere, der andere war weniger glücklich.

Damit war die Jagd eigentlich beendigt, denn nach wenigen Minuten waren die von Schmerz und Müdigkeit überwältigten Gazellen eingeholt und zehn Minuten später lagen sie verendend zu unseren Füßen.

Wir kehrten mit Vergnügen, ja sogar mit Ungeduld nach unserem Dorfe zurück, denn es war vier Uhr Nachmittags, und da wir in unserer Sorglosigkelt versäumt hatten, Mundvorräthe mitzunehmen, waren wir fast noch nüchtern. Endlich kamen wir an, und nie ist wohl ein Mittagsessen mit größerem Appetit verzehrt worden, als der Kuskussu des Kalifat. Selbst unsern Parisern schien er vortrefflich.

Der Kaffee wurde auf der Terrasse servirt, und ich betrachtete mehr als zum zehnten Male das prachtvolle Panorama vor mir. Um einige Punkte genauer unterscheiden zu können, zog ich mein Opernglas, das ich vorsorglich mitgenommen hatte, aus dem Etui. Der Kalifat folgte allen meinen Bewegungen mit Aufmerksamkeit und ich sah, daß nur seine rücksichtsvolle Höflichkeit ihn abhielt, mich um den Zweck des Instrumentes zu fragen. Ich reichte ihm also das Glas und forderte ihn auf, durchzusehen – kaum hatte er das aber gethan, als er in Ausrufungen des Erstaunens und der Freude ausbrach. Der Kalifat beschäftigte sich lange mit dem Glase, und als er es mir endlich zurückgab, schien er es nur mit Bedauern zu thun.

„Das muß wohl sehr theuer sein,“ meinte er.

„Nein,“ entgegnete ich, „ich bitte Euch, es als ein Andenken an unsern Besuch zu behalten.“

„Aber es ist jedenfalls ein Werk des Teufels, und Gott verbietet alle Zauberei;“ antwortete er zögernd.

Ich drang weiter in ihn, das Glas zu behalten, und er kämpfte sichtllch zwischen dem Wunsche, es zu besitzen, und der Furcht, eine große Sünde zu begehen, oder auch vielleicht dem Bedenken, mich eines Gegenstandes zu berauben, der mir lieb war. Endlich besiegte ich seine Scrupel, und er übergab das Glas seinem Agha, der sich ohne Zweifel beeilte, ihm einen Platz zwischen den Waffen und dem Kriegsgeräth seines Herrn anzuweisen.

Wie wir am Abend noch hörten, hatten die zu diesem Zwecke ausgesandten Leute die Spuren des Löwen aufgefunden, welcher seit einiger Zeit die Heerden des Stammes decimirte, und kaum war am andern Morgen die Sonne aufgegangen, als wir, zur Jagd gerüstet und mit ausreichendem Mundvorrath versehen, der Oase von Sebaün-Aiun (der Oase der sechzig Brunnen) zuritten. Sie liegt an einem kleinen Gewässer, das sich in den Chelif ergießt, und wird von einem großen Walde begrenzt, der sich am Ufer dieses Flusses hinzieht. Wir hatten fünfzehn Lieues in nördlicher Richtung zurückzulegen, ehe wir unser Ziel erreichten.

Zwei Stunden nach unserem Aufbruche fühlten wir, daß uns der schreckliche Wind der Wüste, der Sirocco, bedrohte. Die Ebene hinter uns glich dem aufgeregten Meere und vor uns trieb der Wind mächtige Sandwolken empor. Trotz der Ungewohntheit ertrugen wir diese Beschwerden und eine Temperatur, welche geeignet schien, Eier in der Schale hart zu kochen, ziemlich gut. Aber die Karawane kam nur langsam vorwärts. Unsere Pferde schienen dem verderblichen Einflusse des glühenden Windes zu erliegen. Wir befanden uns im buchstäblichen Sinne des Wortes wie in einem gut geheizten Backofen.

Unter solchen Umständen war an diesem Tage nicht an die Jagd zu denken. Menschen, Pferde und Hunde waren wie gelähmt, und so beschlossen wir, bei dem Kaïd von Sebaün-Aiun ein Unterkommen zu suchen, und den Kampf mit dem Löwen auf morgen zu verschieben. Nachdem wir diesen Entschluß gefaßt hatten, ritten wir in tiefem Schweigen weiter, und selbst der unermüdliche Schwätzer Henri war stumm, wie eine Sphinx von Granit.

Der Kaïd empfing uns mit großer Gastfreundschaft. Hungrig wie wir waren, aßen wir, obgleich ohne allen Appetit, ein riesenhaftes von zwei Straußeneiern bereitetes Omelette und etwas Kuskussu und streckten uns dann, von Hitze und Anstrengung tief erschöpft, auf eine lange Matte.

Gegen Abend drehte sich der Wind. Er wehte jetzt von Nord-West, und brachte mit einigen Tropfen Thau eine etwas erträglichere Temperatur. Wir verließen unsere Zelte, um die Betäubung, die auf uns lag wie Blei, von uns abzuschütteln, und hörten plötzlich die Tön eines Tambourin und einer Pfeife, die uns ein Marionettentheater in der Nähe vermuthen ließen. Henri wollte sogar aus diesen Tönen auf die Gegenwart eines Savoyarden schließen, und um uns in dieser Frage Gewißheit zu verschaffen, verfügten wir uns so schnell wie möglich nach dem öffentlichen Platze, welcher etwa sechzig Fuß im Geviert messen mochte und mit einer hohen Hecke von Cactus und Aloe umgeben war. In der Mitte desselben bemerkten wir einen dichten Knäuel von Männern und Kindern, die im Kreise um einen Araber geschaart waren, der irgend eine Litanei psalmodirte, während ein Negerknabe auf einer Art von Flageolet mit zwei Löchern blies.

Der in der Mitte des Kreises stehende Araber hatte eine lange Ruthe in der Hand, mit welcher er fremdartige Figuren in den Sand zeichnete, während er mit großen, regelmäßigen Schritten im Kreise um einen blauen am Boden liegenden Sack herumsprang, und bei jedem Schritte drei- oder viermal um sich selbst drehte, wie ein Kreisel.

Das Auditorium lachte und schauderte abwechselnd und verfolgte mit ungetheilter Aufmerksamkeit alle Bewegungen, Gesten und Worte des Mannes. Wir fragten, was die Scene zu bedeuten habe, und einige Araber antworteten lachend und mit bedeutsamem Achselzucken: „Mabul, mabul!“ (Er ist wahnsinnig.) Indessen sprang und drehte sich der Mann immer fort, Schaum trat ihm auf die Lippen und die Scene nahte sich offenbar ihrer Entwickelung. Die Aufmerksamkeit war bis auf’s Aeußerste gespannt und der Zuschauerkreis war so still, daß man nichts als das dann und wann ausgestoßene rauhe Geschrei des Fanatikers hörte. Plötzlich näherte er sich dem Sacke, lösete den Knoten der Schnur, die ihn zusammenhielt, befahl dem Kinde mit der Pfeife Schweigen, murmelte in näselndem, klagendem Tone eine neue Litanei, und holte dann eine kleine Pfeife aus der Tasche, welcher er zwei scharfe, schreiende Töne entlockte.

Bei diesem Signal wälzte sich ein Knäuel von Schlangen und Nattern von allen Größen und Farben aus dem Sacke hervor, die sich auf ihren Herrn zuschnellten und ihn mit unzähligen Ringen umschlangen. Der Mann küßte die Thiere, drückte sie zärtlich an sich und liebkoste sie, indem er fortwährend in eigenthümlicher Weise mit den Füßen stampfte. Endlich, als er völlig athemlos und mit Schaum und Schweiß bedeckt war, gab er dem kleinen Neger ein Zeichen, dieser schlug wie toll auf das Tambourin und sogleich lösten die Schlangen ihre Ringe und kehrten, von der Ruthe getrieben, die das Kind dem Tausendkünstler aus der Hand nahm, in den Sack zurück. Sobald die letzte Schlange sich zurückgezogen hatte, drehte sich der Araber nochmals etwa fünf Minuten lang wie ein Kreisel um sich selbst und fiel dann mit offenen Augen, aber starr und leblos, inmitten des Zuschauerkreises nieder.

Alle kehrten nun zu ihren Zelten zurück; wir waren ziemlich die Letzten auf dem Platze, und Ali erklärte uns auf dem Nachhausewege, daß wir einen der Convulsionäre von der Secte der Aichaüa gesehen hatten.

Bei der Rückkehr zu unsern Zelten wartete unser ein anderes Schauspiel. Einige streitende Parteien hatten sich eingefunden, um von der Weisheit des Kalifat einen Rechtsspruch zu erbitten. Das Zelt des Kaïd diente zum Gerichtssaal. Einige arme Teufel, die zu den Füßen des Kalifat kauerten, vertheidigten ihre Sache mit Vehemenz – aber das Urtheil ließ nicht lange auf sich warten und lautete in allen Fällen auf Bastonnade oder eine Geldstrafe.

Zwei der Schuldigen waren zu einer Geldstrafe von vier Duros, ein Dritter zu fünfundzwanzig Stockhieben auf die Fußsohlen verurtheilt und der Chaouk war schon bereit, das letztere Urtheil zu executiren, als wir uns in’s Mittel legten und es durch unsere Fürsprache dahin brachten, daß die Stockschläge in eine Geldstrafe von dreißig Francs verwandelt wurden. Mit großem Bedauern mußten wir aber hören, daß der Betroffene uns nichts weniger als dankbar war. Er hätte lieber funfzig Stockprügel erduldet, als sechs Piaster bezahlt. Erst als wir ihm mit der fraglichen Summe ein Geschenk machten, drückte er seine Dankbarkeit aus und versprach mit großer Weihe, unser in seinem Gebete zu gedenken und uns dem Schutze eines der Mächtigsten im Paradiese, eines gewissen Abd-el-Kader, zu empfehlen.

Nach einer schlaflosen Nacht stiegen wir am andern Morgen zu Pferde und kamen bald bei dem Zufluchtsorte des Löwen, einem von Schluchten durchschnittenen, dichten Walde, an. Wir ritten in geschlossenen Reihen über eine sumpfige Lichtung, auf welcher die Hufe unserer Pferde oft fußtief einsanken. Zwei Neger von Biskara [592] gingen voran und folgten der für ungeübtere Augen völlig unsichtbaren Spur des Löwen, bis diese sich am Fuße eines dunkeln Granitfelsens verlor, dessen Wände senkrecht vor uns aufstiegen. Es war nicht denkbar, daß der Löwe eine Höhe von mehr als sechzig Fuß hätte überspringen können – er mußte sich also links oder rechts gewendet oder in eine Höhle versteckt habenm die unseren Augen vielleicht durch das dichte Gebüsch verborgen war.

Wir erschöpften uns in Muthmaßungen, als einer der beiden Neger uns auf einen bedeckten Gang aufmerksam machte, der an der Seite des Felsens hinauflief. Nach besonderen Zeichen glaubte er schließen zu dürfen, daß das Thier seinen Weg hier hinauf genommen hätte, aber es war unmöglich, ihm auf diesem Pfade zu folgen, wir hätten denn auf Händen und Füßen hinaufkriechen müssen. Zwei oder drei Hunde, die wir in die Höhlung schickten, um ihre Länge zu erforschen, kamen nach einigen Minuten mit hängenden Ohren und eingekniffenem Schwanze zurück.

Der Felsen mochte etwa vierhundert Fuß lang sein, war von der einen Seite durch einen stinkenden Sumpf, von der andern durch ein undurchdringliches Dickicht begrenzt und mit hohem, stachligem Gebüsch und ungeheueren, gelbblühenden Aloes bewachsen. Die Höhe des Felsens schien eine Art von Plattform zu bilden, die sich nach nordwestlicher Richtung hin senkte. Wir beschlossen nach einiger Ueberlegung, uns nach dieser Seite des Felsens zu begeben und einen Versuch zu machen, ihn von hier aus zu besteigen. Aber es erwies sich als eben so unmöglich, den Sumpf zu durchreiten, als in das Dickicht der anderen Seite einzudringen, und wir fingen schon an, zu verzweifeln, sahen aber bald ein, daß wir die Hülfsmittel unserer Gefährten unterschätzt hatten.

Nachdem der Agha die Befehle seines Herrn empfangen hatte, rief er den Negern zu: „Djib-el-asia!“ und sogleich bewaffnete sich jeder von ihnen mit einem Bund brennender Reiser und begann, das Gebüsch in Brand zu stecken. Die dürren Zweige fingen sogleich Feuer, eine schwarze Rauchwolke erhob sich und fünf Minuten später stiegen die Flammen, vom Winde angefacht, in mächtigen Garben zum Himmel.

Dem Löwen blieb jetzt nur dreierlei übrig. Er konnte sich in den Flammen rösten lassen, sich in den Sumpf werfen oder den Weg nach der Ebene einschlagen, auf welchem wir eben gekommen waren. Das Letztere war das Wahrscheinlichste, denn die Ebene, welche im Süden vom Dschebel begrenzt wird, bot dem Löwen sicherlich bekannte Verstecke. Jeden anderen Weg versperrte das Feuer.

Nachdem der Brand etwa eine Viertelstunde gewährt und schon mehrere der einzeln stehenden großen Bäume krachend zu Boden gestürzt waren, hörten wir ein mächtiges Gebrüll. Der Feind stieß sein Kriegsgeschrei aus und ich gestehe, ohne zu fürchten, daß einer meiner damaligen Cameraden mich widerlegen wird, daß dieses ein schreckenerregendes ist. Mein Pferd warf den Kopf zurück, spitzte die Ohren und ich fühlte, daß sein ganzer Körper unter mir erzitterte. Da ich den Muth des wackeren Thieres bei anderen Gelegenheiten erprobt hatte, trug seine unverkennbare Angst und Aufregung nicht eben dazu bei, mich über die Bedenklichkeiten zu beruhigen, die in mir aufstiegen. Es war sicher, daß das, was uns erwartete, eher ein Kampf, als eine Jagd war, bei dem ein Sturz, ein falscher Tritt oder ein momentanes Zaudern des Pferdes unser Leben ernstlich in Gefahr bringen konnte, und ich gestehe gern, daß diese Art und Weise, meine Existenz zum Abschlusse zu bringen, durchaus nichts Verführerisches für mich hatte. Selbst Buffon’s Schilderungen des großmüthigen Charakters des Löwen, die mir einfielen, vermochten in diesem Augenblicke nicht, meine Reflexionen freundlicher zu gestalten.

Ein zweites, wuthzitterndes Gebrüll benachrichtigte uns, daß der Löwe nicht mehr sehr fern war. Wir begaben uns mit gespannten Karabinern nach dem einzigen Auswege, welchen das Feuer ihm ließ und zogen uns von da einige hundert Schritt nach der Ebene zurück, um das Thier aus größerer Entfernung herankommen zu sehen. Kaum hatten wir unsere Linie geordnet, als wir den Löwen auf dem nördlichen Abhange des Felsens erscheinen und langsam nach der Ebene herabklettern sahen. Zuweilen blieb er stehen, ließ ein langgedehntes Gebrüll erschallen, peitschte seine Flanken mit dem mächtigen Schweife und schien die Entfernung zu messen, die uns von ihm trennte.

Ich wage, zu bezweifeln, daß irgend Jemand von uns in diesem Augenblicke große Lust gehabt hätte, dem Thiere in der Nähe gegenüber zu stehen. Die Araber versicherten zwar, es würde fliehen, wenn wir uns näherten, aber seine ganze Haltung deutete eher auf einen Angriff, als auf die Absicht zum Rückzug. Die Pferde zeigten fast alle Furcht und Schrecken und die Hunde, selbst die großen Molossen nicht ausgenommen, verkrochen sich zwischen die Beine der Pferde.

Indessen ist der Löwe nicht der Feind, dem gegenüber es gerathen wäre, Zeit zu verlieren und Jeder machte sich bereit, sein Bestes zur Niederlage des Feindes beizutragen. Das Fußvolk war hinter die Reiter postirt und diese hatten den Burnuß zurückgeworfen, die Zügel auf den Hals des Pferdes gelegt und harrten unbeweglich und mit angelegtem Gewehr der Dinge, die da kommen sollten. – Nachdem das vom Feuer verfolgte Thier einige Mal am Rande des Felsens hin- und hergelaufen war, faßte es plötzlich einen entscheidenden Entschluß, sprang von einer Höhe von mindestens zwanzig Fuß herab, fiel brüllend, mit gesträubter Mähne und hochgeschwungenem Schweife etwa 150 Fuß von unsern Posten entfernt zur Erde und schlug in mächtigem Trott die Richtung nach den etwa funfzehn Lieues entfernten Bergen ein.

Als sich der Löwe unserer Linie auf etwa achtzig Schritt genähert hatte, wurde er von einer Flintensalve empfangen, die er mit entsetzlichem Gebrüll beantwortete; aber nichts verrieth, daß eine unserer Kugeln das Thier erreicht hätte; sein Gang war schnell und kräftig. Ein Trupp von etwa zwölf Arabern, an ihrer Spitze Omar-Ben-Jellul, der Sohn des Kalifat, suchte dem Thiere einen Vorsprung abzugewinnen, um ihm den Weg nach den Bergen abzuschneiden, während wir Uebrigen hinter ihm herjagten, so schnell unsere Pferde laufen wollten.

Nachdem der erste Schrecken überwunden war, thaten unsere Pferde ihre Schuldigkeit, aber der Löwe hatte einen Vorsprung von zwei- bis dreihundert Schritt und ein dann und wann von den Arabern abgefeuerter Schuß hatte kein anderes Resultat, als ihn zu nur noch größerer Eile anzutreiben. So folgten wir dem Thiere bereits länger als eine Stunde, ohne daß sich die Entfernung zwischen ihm und uns verkürzte, und schon näherten wir uns den Bergen, die dem Löwen Schutz gewähren und ihn unserer Verfolgung entziehen mußten, als plötzlich Omar mit seiner Truppe erschien und ihm den Weg versperrte.

Einen Moment stand das Thier beim Anblick des neuen Feindes unschlüssig, dann, als schäme es sich dieses augenblicklichen Zauderns, nahm es seinen Weg gerade auf die Reiter zu. Mir trat der Angstschweiß auf die Stirn, ich sah den Kalifat an, dieser aber lud lächelnd seine Flinte und spornte sein Pferd, um dem Kampfplatze näher zu kommen.

Der Löwe war noch etwa funfzig Schritt von der Gruppe der Reiter entfernt. Wir sahen, daß die Araber ihre Flinten anlegten. Der unternehmende Jüngling, der sie anführte, erhob sich in dem Steigbügel, zielte so ruhig auf den Löwen, als wäre es ein Rebhuhn, und drückte ab. Das Thier fiel, erhob sich aber sogleich wieder. Der junge Cheriff warf sein Pferd zur Seite, um dem Sprunge auszuweichen, womit der Löwe ihn bedrohte, und die ihn begleitenden Araber machten durch gut gezielte Schüsse dem Kampfe und dem Leben des Thieres ein Ende. Es war von zehn Kugeln getroffen, und als wir den Kampfplatz erreichten, wand es seine ungeheueren Glieder in den letzten Zuckungen.

Unsere Jagdbeute wurde auf das Pferd eines unserer Piqueurs gelegt und langsam nach dem Dorfe transportirt, während wir, nicht wenig stolz auf unsern Triumph, im Galopp zurückkehrten.




Nach einigen Tagen der Ruhe traten wir unsere Rückreise nach Algier an. Das Fell des Löwen, welchen wir zusammen jagten, hat der Kalifat mit rothem Tuche füttern und mit Goldstickereien verzieren lassen – es liegt als Fußteppich unter meinem Schreibtische. Der Sohn Ben-Jellul’s aber wird diesen Winter nach Europa kommen und ich und meine damaligen Gefährten hoffen, uns hier für die Gastfreundschaft erkenntlich beweisen zu können, mit der uns sein Vater am Dschebel-Ammur aufgenommen hat.

A. S.




[593]
Ein Dampfwagen mit eigener Eisenbahn.

Man hat bereits zu verschiedenen Malen Versuche gemacht, Dampfwagen oder Zugmaschinen zu bauen, die auf gewöhnlichen Straßen, ohne Eisenbahnen, angewendet werden könnten. Es sind wirklich mehrere sehr sinnreiche Maschinen dieser Art construirt worden, die als solche von Fachmännern bewundert wurden, aber aus verschiedenen Gründen nicht zur wirklichen Anwendung kamen, weil ihnen eben ein gewisses Etwas noch fehlte. In den Straßen Newyorks fuhr z. B. öfters eine solche Maschine, aber auch sie entsprach nicht allen Anforderungen.

Jetzt scheint ein Engländer, Francis Hamilton, die Aufgabe vollständig gelöst zu haben. Seine „Zugmaschine“, welche unsere Abbildung zeigt, kann eine Last von vierhundert Centnern auf einem leidlichen Wege, der nicht mehr als einen Fuß auf siebzehn steigt, binnen einer Stunde über eine halbe Meile weit fortschleppen.

Ein Dampfwagen mit eigener Eisenbahn.

Die Eigenthümlichkeiten an dieser Maschine sind das Steuerrad vorn, durch welches ihr beliebig jede Richtung gegeben werden kann, die kleinen Vorder- und die großen Hinterrader mit sog. Schuhen, die sich auf den Boden legen unter die Räder und sonach eine bewegliche Eisenbahn bilden, welche die Maschine mit sich führt. Diese Schuhe sind kleiner oder größer, je nachdem der Boden, auf welchem die Maschine laufen soll, hart oder weich ist. Sie sind so eingerichtet und angebracht, daß bei der Umdrehung des Rades ein Schuh immer liegt und ein anderer stets bereit ist, die Stelle des ersteren einzunehmen, sobald der letztere rückwärts hinweggezogen wird. Der Mechanismus dabei ist so ziemlich dem des menschlichen Beines, in Bezug auf die Gelenke, entlehnt. Wie das Bein, das fortschreiten soll, vom Kniegelenk an sich bewegt, mit Zehen, Ferse und Knöchelgelenk, so bewegen sich die einzelnen Schuhe an den Rädern dieser sinnreichen Maschine, deren Nutzen und Vortheil nicht bestritten werden wird.

Eine einzige solche Maschine wird soviel leisten als ungefähr vierzig Pferde und auf einer gewöhnlichen Chaussee eine Last von 400 Centnern, auf mehrere Wagen vertheilt, eine halbe Meile weit für etwa zwei und einen halben Neugroschen befördern, vorausgesetzt, daß die Kohlen da so billig sind, wie z. B. in England. Vorzugsweise nutzbar dürfte sie freilich in ebenen Gegenden sein, in denen es noch keine Straßen gibt, und für solche ist sie zunächst auch berechnet. Auch hat die russische Regierung, die ihre Augen bekanntlich überall hat, bereits mehrere dieser Zugmaschinen gekauft, um sie in den russischen Steppen zu verwenden. Eben so steht der [594] Erfinder mit einigen südamerikanischen Staaten in Unterhandlung, denn auch diese haben erkannt, wie wichtig solche eigenthümliche Dampfwagen, die ihre Eisenbahn bei sich führen, z. B. in den Pampas sein würden. Sie werden da die Anlegung von Eisenbahnen unnöthig machen und doch der Gegend den Vortheil derselben gewähren. Dasselbe gilt von dem westlichen Theile der Vereinigten Staaten, in denen die Anlegung von Eisenbahnen des geringen Verkehrs wegen bedenklich ist, die Beförderung der Waaren u. s. w. aber auf den gewöhnlichen Ochsenwagen dem wachsenden Bedürfnisse nicht entspricht. Aber auch in unserer Nähe dürften sich Gegenden finden, in denen diese neue Zugmaschine mit großem Vortheile die noch mangelnden Eisenbahnen vertreten würde, z. B. in Ungarn, in den Donaufürstenthümern u. s. w., überhaupt in dünn bevölkerten Strichen, wo Eisenbahnen noch nicht rentiren, raschere und wohlfeilere Transportmittel aber nothwendig und wünschenswerth sind.




Vergilbte Blätter.
Von Carl von Wehrs.

Es ist immer ein eigenthümlich, gleichsam wie zur Andacht stimmendes Gefühl für mich gewesen, wenn ich durch das Lesen alter Briefschaften oder Papiere, die die Schriftzüge der längst dahingeschiedenen Theueren trugen, in die Vergangenheit mich versetzt denken konnte; und stets habe ich nur mit einer gewissen ehrfurchtsvollen Scheu dieselben in die Hand nehmen können, einer Scheu, etwa ähnlich der, die uns beschleicht, wenn wir ein Gotteshaus betreten. – Denn tritt nicht in solchen Hinterlassenschaften der Geist der Verstorbenen näher zu uns heran? Ist’s dann nicht oft, als wenn der Odem der Verklärten unsere heiße Stirne kühlte? und fühlen wir’s nicht bisweilen dann wie den Druck ihrer Hand, die sich auf unser schneller und aufgeregt schlagendes Herz beruhigend zu legen scheint? – – Wenigstens geht’s mir wohl so und auch noch kürzlich passirte mir’s, als ich in einigen der vielen von meinem Großvater nachgelassenen Papiere blätterte.

Mein Großvater hatte im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts in Göttingen studirt und dort dem Kreise jener jungen Männer angehört, deren Wirken und Streben hauptsächlich dahin zielte, unserer deutschen Literatur eine nationale Selbstständigkeit, unserer Muttersprache aber mehr Reinheit und Reichthum zu verschaffen. Dieses Ziel in der Hauptsache durch eigene Schöpfungen zu erreichen suchend, verwarfen sie deshalb nicht die Erzeugnisse des Alterthums und die neueren Muster des Auslandes, unter welchen letztern sie vorzüglich den Engländern ihre Anerkennung zollten. Ihre schöne Vereinigung, die sich unter dem Namen des Göttinger Dichtervereins oder des Hainbundes einen anerkannten Ruf und wirkende Bedeutung in unserer deutschen Literatur erworben hat, wurde im Jahre 1772 gestiftet; Klopstock war ihr Panier, der, gegen die sogenannte französisch-schlesische Schule auftretend, denselben Kampf kämpfte, dem ihre jungen, begeisterten Herzen entgegenschlugen!

– – – Also ich blätterte – ich darf mich wohl so ausdrücken – ich blätterte andächtig in den alten Papieren und, indem ich auch nach einem Album griff, stieß ich auf gar manchen Gedenkspruch, der als Unterschrift den Namen eines Dichtern jener Epoche trug, – und gerade das gab die Veranlassung zur Niederschreibung und Veröffentlichung dieser Zeilen. – So fand ich gleich auf einer der ersten Seiten folgende mit kräftiger Hand geschriebenen Worte:

     „Sich nicht rächen, auch da nicht, wo Rache Gerechtigkeit wäre,
     Das ist edel! Erhaben ist’s den Beleidiger lieben!
     Ihn mit geheimem Wohlthun im Elend erquicken, ist himmlisch!
 Klopstock.
Hiermit, mein liebster Wehrs, empfiehlt sich Ihrem freundschaftlichen
Herzen G. A. Bürger, Göttingen, den 26. Sept. 1777.“

Das sind nun 80. Jahre, die seit dem Schreiben der Zeilen verflossen; über 60. Jahre, seitdem Gottfried August Bürger ausgekämpft und ausgelitten hat all’ das bittere Herzeleid und Weh’, an dem sein Leben so überreich war! Doch sein Name wird durch seine Gedichte fortleben im Munde des deutschen Volkes, dessen Eigenthum sie schon zu Lebzeiten des Dichters geworden; hätte Bürger nur seine „Lenore“ gedichtet, sie würde hingereicht haben, ihm die Unsterblichkeit zu sichern! – Wer aber, wenn er unseres Dichters gedenkt, wird nicht unwillkürlich erinnert an seine unglückselige, romanhaft klingende dritte Ehe mit jenem schwäbischen Mädchen aus Stuttgart – Elise Hahn – die ihm in einem Gedichte Herz und Hand angetragen hatte? – Eine Ehe, voll des grenzenlosesten Leides für Bürger, die nach sechzehnmonatlicher Pein wieder getrennt werden mußte.

Vielleicht ist nur wenigen Lesern das betreffende Gedicht bekannt geworden, und da ich dasselbe gerade unter einem Pack Briefe, die an meinen Großvater gerichtet waren, gefunden habe, glaube ich, dasselbe hier folgen lassen zu dürfen. – Der Brief ist im Jahre 1792 von dem nachmals so berühmt gewordenen Astronomen Harling[WS 1] geschrieben, dem Entdecker der Planeten Ceres, Pallas und Juno, der, sich anfänglich in Göttingen der Theologie widmend, später im näheren Umgange mit Lichtenberg seinen alten Hang zu den Naturwissenschaften und der Astronomie neu erwachen fühlend, sich diesen Fächern wieder zuwandte und als Professor dieser Wissenschaften den 31. August 1834 zu Göttingen starb – und lautet derselbe seinem ganzen auf diese Sache Bezug habenden Inhalte nach:

„– – Wir sprachen auch kürzlich von dem gekrönten Dichter Bürger; Sie hatten das Lied seines Schwabenmädchens an ihn nicht gelesen; hier ist es:

O Bürger! Bürger! edler Mann,
Der Lieder singt, wie Niemand kann
Vom Rhein an bis zum Belt.
Vergebens berg’ ich das Gefühl,
Das mir bei Deinem Harfenspiel
Den Busen schwellt!

Mein Auge sah von Dir sonst Nichts,
Als nur die Abschrift des Gesichts;
Und dennoch lieb’ ich Dich. –
Und Deine Seele fromm und gut
Und Deiner Lieder Kraft und Muth
Entzücken mich!

So füllt’ im ganzen Musenhain
Von allen Sängern groß und klein
Noch keiner mir die Brust!
Sie wogt empor wie Fluth der See,
Es kämpfen stürmend Leid und Weh
Und Weh und Lust!

An Wonne, wie an Thränen reich,
Rief ich, wie oft – o! herzen gleich
Und küssen möcht’ ich Dich!
So wechselte, wie Dein Gesang,
In mir der Hochgefühle Drang,
Dem Alles wich.

O Bürger! Bürger! süßer Mann,
Der Ohr und Herz bezaubern kann
Mit Schmeichelwort und Sinn;
Mein Loblied ehrt Dich freilich nicht,
Doch höre, was mein Herz Dir spricht
Und wer ich bin.

In Schwaben blüht am Neckarstrand
Ein schönes, segensreiches Land,
Das mich an’s Licht gebar;
Ein Land worin seit grauer Zeit
Die alte deutsche Redlichkeit
Zu hause war.

Da wuchs ich wohlbehalten auf
Und meines reinen Lebens Lauf
Maß zwanzigmal das Jahr.
Zu Grabe sank mein Vater früh;
Kaum ließ mir noch der Himmel die,
Die mich gebar.

Schon wankend an des Grabes Rand,
Ergriff sie des Erbarmers Hand
Und gab sie mir zurück.
Sie bildete mit weiser Müh’,
Was Gutes mir Natur verlieh,
Zu meinem Glück.

Bei heiterm Geist, bei frohem Muth
Ward mit ein Herz, das fromm und gut –
Von Gott zu sein bescheert.

[595]

Nur edler Liebe huldigt’s frei
Und was es liebt, das liebt es treu,
Und hält es werth!

Mein Leib – er zeigt vielleicht dem Blick
Kein Stümper- und kein Meisterstück
Der bildenden Natur. –
Ich bin nicht arm, ich bin nicht reich,
Mein Stand hält meinen Gütern gleich
Die Mittelspur.

Die bin ich, die – und liebe Dich –
Im schönen St – find’st Du mich,
Du trauter Wittwersmann.
Umschlänge wohl nach langem Harm
Ein liebevolles Weib Dein Arm?
So komm heran.

Denn träten tausend Freier her
Und hätten Säcke Geldes schwer,
Und Du begehrtest mein; –
Dir weigert’ ich nicht Herz und Hand,
Selbst um mein liebes Vaterland
Tauscht’ ich Dich ein.

Steht Schwaben-Lieb’ und Treu Dir an,
So komm, Geliebter, komm heran!
Und wirb, o wirb um mich.
Nimm oder nimm mich nicht, so ist
Und bleibt mein Lied zu jeder Frist:
Dich lieb’ ich – Dich –!

Der arme Bürger ließ sich durch punica fides verleiten, und was aus ihm ward, zeigt sein hörnerschweres Dichterhaupt“ etc.

In der That, welcher Unterschied ist zwischen diesem Schwabenmädchen des vorigen Jahrhunderts und den Schönen unserer Gegenwart, die sich – ihr verschmähtes, korbreiches liebes „Ich“ – in Zeitungsannoncen auf den Markt bringen und ausbieten?

Wir schlagen in unserm Album wenige Blätter um, und finden folgende Zeilen mit blasser Tinte niedergeschrieben, und so zwar, daß die Buchstaben steil, fast von der Rechten zur Linken übergebogen, auf dem Papiere stehen:

 „Ehr’, Ueberfluß und Pracht ist Tand,
 Ein ruhig Herz ist unser Theil! – Kleist.
Zum Denkmal der Freundschaft von L. C. H. Hölty[WS 2] aus dem Hannöverschen,
J. G. G. L. – Göttingen den 8. Februar 1772.“

Wie charakteristisch sind diese Zeilen des Sängers von „Ueb’ immer Treu’ und Redlichkeit!“ Seine Anspruchslosigkeit, welche auch aus allen seinen schönen Gedichten, die voller Innigkeit und Wahrheit des Gefühls, uns anweht, ließ ihn nicht nach jenem „Tand“ streben; ihm war’s genug, durch Uebung von Treu’ und Redlichkeit und durch Wandlung der Wege Gottes, von denen er „keinen Finger breit“ abzuweichen empfahl, sich ein ruhig Herz zu erwerben. – Auch Hölty’s kurzer Lebensweg war voller Dornen; in materieller Beziehung litt er meist an den allernothwendigsten Bedürfnissen Mangel. So konnte er denn auch dem Keime der Krankheit, die er in sich trug, im Entstehen nicht kräftig genug entgegen wirken, und starb viel zu früh für uns – kaum 28 Jahre alt – zu Hannover, wo er sein „kühles Grab“ auf dem St. Nicolai-Kirchhofe gefunden hat. Wahrlich, auf unsern Hölty paßten die Worte der Schrift: „Du hast das bessere Theil erwählt, das soll nicht von Dir genommen werden!“

Weiterhin finden wir die Worte niedergeschrieben:

 „Sie ists nicht werth, so eine Welt wie diese,
 Daß man ihr eine Thräne weint!
Denke Deines Freundes J. M. Miller aus Ulm in Schwaben,
 Göttingen, den 1. October 1772.“

Kennzeichnen nicht auch diese wenigen Zeilen die überspannt empfindsame, weltschmerzliche Richtung, deren Schöpfer Miller in seinen später erschienenen Romanen ward? – Seine Klostergeschichte „Siegwart“ ist wohl das non plus ultra jener schwärmerischen, weinerlich weichlichen Empfindsamkeit. Sein schönes lyrisches Talent entfaltete sich übrigens in Göttingen, wo er dem Hainbunde angehörte, in reichem Maße, und viele seiner Lieder sind ja volksthümlich geworden. Zu Ulm 1750 geb., starb er daselbst als Decan und geistlicher Rath 1814.

Von größerem Interesse – gerade in diesem Augenblick – sind auf einem folgenden Blatte die Zeilen des Grafen Stolberg, nach seinem Uebertritte zur katholischen Religion niedergeschrieben: „Die Gründe meiner Ueberzeugung bedarf ich nicht darzulegen, das ist eine Sache zwischen Gott und mir.“ – Stolberg opferte durch die Kundwerdung dieser seiner Ueberzeugung nicht allein die wichtigsten äußern Vortheile, sondern auch die Freundschaft vieler seiner alten Freunde. – Stolberg wurde in dem holsteinischen Flecken Bramstedt geboren, stand auch später als Gesandter in Berlin in dänischen Diensten; war also ein Landsmann des kürzlich zur katholischen Religion übergetretenen Grafen Hahn, dem man – wenn ich nicht irre – vor Kurzem in einem Blatte nachsagte, er sei der Erste von der hohen Aristokratie Holsteins, der diesen Schritt thäte, was hiernach zu berichtigen sein würde.

Noch fällte uns auf einem Blatte ein mächtiges „G“ in die Augen, das, mit stumpfer, breiter Feder geschrieben, beinahe ein Drittel der ganzen Höhe des Blattes in Anspruch nimmt; es stammt vom „Vater Gleim“ und sein eben nicht sehr geistreicher Spruch lautet:

„Thue recht, scheue Niemand. – Gleim, zu Göttingen den 29. Juni 1771.“

Er war zu jener Zeit schon Domsecretair in Halberstadt und hatte der Musenstadt wohl nur einen Besuch abgestattet.

Viele Namen, die sich einen weit über die Grenzen Deutschlands reichenden, berühmten Klang erworben haben, treten uns auf den vergilbten Blättern noch entgegen. – Jene Männer, die durch ihr segensreiches Wirken als Lehrer der Georgia Augusta jenen unvergänglichen Glanz verliehen, der bis in die fernsten, dunkelsten Theile der Erde seine lichtvollen Strahlen senkte – ein Glanz, den auch die Stürme der dreißiger und vierziger Jahre doch nicht haben vernichten können – jene Männer verschmähten es nicht, dem damaligen Bruder Studio ein Blatt der Erinnerung zu weihen. – Da finden wir die Namen eines Schlözer, Heyne, Kästner etc.; auch Herder, der einmal eine Professur in Göttingen annehmen wollte, schreibt „vor der Abreise von Göttingen den 20. Febr. 1772“ die Worte Klopstock’s auf ein Gedenkblatt:

 „– Das edelste
     Verdienst ist Tugend. Meisterwerke
 Werden unsterblich; die Tugend selten!
Allein sie soll auch dieser Unsterblichkeit
Nur wenig achten!“ –




Blätter und Blüthen.

Wie man in Paris Größen macht. Ziemlich sicher vertraut mit den Anstalten, die dem hiesigen Volke Quellen einer geistigen Strömung sind, unternehme ich es heute am Spätabende, aus meinem Stübchen in der Rue Rivoli Ihnen einen Bericht über die saubere Wirthschaft zu senden, welche in den meisten und achtbarsten Theatern der Kaiserstadt herrscht. Hier rauschen die Tage unter Speculationen dahin, von denen eine immer geschraubter als die andere ist. Eine Theatergesellschaft spielt, um ihren Director frei zu haben, der nebst achtzehn Geranten verschiedener Actiengesellschaften festgenommen worden ist. In einem anderen kleinen Theater sind die Decorationen von den Gläubigern belegt worden. Ein Fünftheil aller Billets in sämmtlichen Pariser Theatern sind Freibillets für Ehrengäste, Kritiker und Lobhudler, die sogenannten „Amateurs“, und vor Allem für die berüchtigte „Claque“, von denen ich ausführlicher erzähle, soweit es für Ihre Leser interessant ist. Ein einziges Theater mit 500,000–600,000 Francs Jahreseinnahme gab an 100,000 Freibillets aus, und die meisten verschlang die heulende Charybdis der „Claque“, indeß der kleinere Theil als Honorar für Billeteurs, Entrepreneurs, Journalexpeditionen und Beamte des Theaters verfluthete.

Sonderbar ist’s, wie in dieser Theaterwelt Größen geschaffen werden. Bei Euch ist’s doch nicht wohl möglich, das Gute schlecht und Schlechtes gut zu heißen. Hier geht’s; und selbst Männer wie Roger, die, bei Licht besehen, gar nicht so bedeutende Helden sind, verdanken dem mächtigen Institut der Claque ihren Glorienschein. – Es mag bei Ihnen auch wohl vorkommen, daß eine welkende Coulissenrose oder ein laues Talent, um seines äußeren Erfolges sicherer zu sein, zwanzig oder dreißig Billets an gute Freunde, „Amateurs“, austheilt, welche nun bei Effectstellen, oder wohl gar schon beim Auftreten tapfer klatschen. Dies Manöver aber zu einem förmlichen Geschäft, zu einem Ding der Speculation, des Gelderwerbs auszubilden, das will in Deutschland nicht gut angehen, vielleicht am ehesten noch in Berlin, der „Stadt der Intelligenz“ – In Paris heißt die große Gesammtheit der miethbaren Klatscher mit einem Worte la claque, und wenn sie auch den Kenner nicht besticht, die Menge wird oft hingerissen. Seit zwanzig Jahren etwa besteht dies einträgliche Gewerbe mit all seinen Gesetzen und seinen Vortheilen, dem sich sogar fremde Gesellschaften fügen müssen. So litt im Sommer 1857 das damals hier spielende „deutsche Theater“, unter dessen Mitgliedern Frau Schuselka-Brünning glänzte, gar sehr unter solchen Einflüssen.

Da die meisten Pariser Theater eine gesellschaftliche Speculation sind und keinerlei Selbstständigkeit durchdringen kann, so liegt es auf der Hand, daß man alle Mittel in Bewegung setzt, sich Kundschaft zu machen und sich diese, wenn sie errungen, zu erhalten. Erst wurde aus Vorliebe applaudirt, dann „aus Freibillets.“ Endlich gab man den Klatschern stehendes [596] Entrée und außerdem Gehalt. In der Probe wurden schon damals die Stellen angegeben, wo geklatscht werden sollte; ein Mann von „esprit“ mußte immer den Schwarm leiten. 1820 legte Sauton ein förmliches Bureau an, das hieß: „Assurance de succès dramatiques“ oder auf ehrlich Deutsch: „Versichrung von dramatischen Erfolgen.“ Bei ihm meldeten sich die schamlosen Claqueurs; die Theaterdirectionen machten ihre Visiten, gaben Aufträge und Sauton bestimmte dann für so und so viel Franken und Freibillete die größere oder kleinere Heerde von Klatschern; der geschlossene Vergleich enthielt z. B. Bestimmungen, wie oft und wie stark geklatscht werden sollte. Man unterschied drei Grade der Stärke, welche in der Spitzbubensprache der Claqueurs also bezeichnet wurden: Petit (klein, gering), modéré (mäßig, eingezogen), assaut (Sturm, voller Anlauf.) – Als Veron die Pariser Oper dirigirte, war der Heros der Claque ein gewisser Herr Auguste, welcher die Claque sachkundig disciplinirte, leitete und ihr vor allen Dingen Ensemble lehrte. Für drei Pelotons Klatscher à funfzehn Mann bekam Auguste 45 Billets, wovon er die Hälfte billig an Leute verkaufte, die sich verpflichteten, Abends zu arbeiten; auf die andere Hälfte gingen seines Stammtruppen in’s Feuer. Die eitle Tänzerin M. Noblet zahlte ihm für jedes Auftreten mit hellem Empfange (assaut) durch 45 Mann 50 Francs, was ihm in funfzehn Jahren das Sümmchen von 55,000 Francs eingebracht hat.

Einem Schauspieler war aus Versehen an einer anderen Stelle, als er wünschte, Zuruf geworden. Aergerlich darüber kam er zu Hrn. Auguste und drohete, sich Herrn Sauton zum Klatschen zu bestellen.

„Gehen Sie, mein Herr,“ rief Auguste stolz, „ich weiß, Sie werden gar bald meine Dienste wieder aufsuchen.“

Als die Hugenoten einstudirt waren, schrieb Auguste folgenden, in weiten Kreisen bekannt gewordenen Brief:

 „Herr Director!
„Ich bin mit der neuen Oper sehr zufrieden; für solche Werke zu arbeiten ist ein Genuß. Man kann bei allen Arien und fast bei allen Duetten etwas machen; für das Duett im vierten Acte sichere ich drei Salven zu, für das Trio im letzten einen Hervorruf. Was die Sänger, und die Verfasser anlangt, erwarte ich Ihre Befehle.“

Scribe, Macquet und Andere gingen bei ihm ein und aus, wenn sie Beklemmungen fühlten.

Graf B. gab ihm einst den Auftrag, für 500 Francs eine treulose Sängerin auszupochen und auszupfeifen. Als Sängerin war sie nur mittelmäßig. Am Abende applaudirte Herr Auguste mit seinen Truppen so stark, daß er in Zwiespalt mit dem ganzen Publicum gerieth und man, um die Claque zu dämpfen, pochte und pfiff. Der Graf war verdutzt und nannte am andern Tage Auguste und dessen Pelotons Verräther.

„Mein Herr Graf,“ sagte Auguste, „meine Bildung verbietet mir, eine Dame auszupochen. Ich habe aber dafür so laut applaudirt, daß das empörte Haus es für mich gethan hat.“

Als Fanny Elsler in Paris war, fand sie unsern Auguste zu kühl und bestellte sich ebenfalls Herr Sauton, der damals gerade im Théatre second und Gymnase zu klatschen hatte. Sauton erschien mit seiner derben Schaar, erhielt vierzig Billete und sechzig Francs, versäumte aber, selbst entzückt und vom Glanze des Theaters trunken, mehrmals seine Pflicht, so daß es nach mehreren Wochen Herrn Auguste zu Ohren kam, Fanny werde Sauton wieder entlassen. Da bat Auguste um eine Audienz bei Fanny.

„Mademoiselle,“ sagte er, „ich, Sie, Direction, Publicum, alle Welt leidet; denn Sauton ist ein Cretin. Setzen Sie mich wieder ein, ich beschwöre Sie. Hier sind 50,000 Francs, die Sie unter die Armen vertheilen mögen.“

Die Künstlerin, deren Ehrgeiz durch letzteres Angebot verletzt war, warf ihm zwar seine angebotene Brieftasche, die nichts, als Theaterzettel enthielt, entrüstet vor die Füße, nahm ihn jedoch wieder zu Ehren an.

Auch galt Herr Auguste, soviel es gehen wollte, im Publicum; seine strenge Disciplin, seine Höflichkeit gefiel; keiner seiner Leute durfte scheel sehen oder in die Hitze kommen, wenn man schwieg oder gar zischte, indeß alle drei Peletons Unsterblichkeitsverleiher wie ein Mann klatschten. Auguste starb 1844 und ließ seiner Tochter ein bedeutendes Erbe, nachdem er zuerst Chauffeurs, Chatouilleurs und Bisseurs geschaffen hatte. Ich muß den verwunderten Lesern diese Schöpfungen erklären, denn sie sind in diesen Tagen zu den größten Ehren gestiegen.

Will man mit Applaus empfangen werden, so schickt man die bestimmte Summe hin, d. h. soigner l’entrée (für Aufnahme Sorge tragen). Den Nebenbuhler auspfeifen, kostet jetzt die gleiche Summe. Faire mousser, moussiren machen, heißt die Claque bezahlen; unter dem Kronleuchter, Jedermann sichtlich, sitzt gewöhnlich das Centrum dieser Theaterablaßkrämer. Man nennt diese offenen Herren darum „Chevaliers du lustre“, d. h. Ritter vom Kronleuchter. Die übrigen Claqueurs vertheilen sich. Zuerst nenne ich hier die Tapageurs; diese klatschen beim kleinsten Anlaß auf’s Heftigste; es sind also die rechten Tümmler, wahre Quecksilberleute! Nach ihnen kommen die feineren Connaisseurs oder Kenner. Sie müssen sich fein kleiden, sitzen auf theuren Plätzen, murmeln dann und wann in vornehmer Ungenirtheit beifällig, machen auf Schönheiten und interessante Steigerungen aufmerksam, indeß die Rieurs die alte „biederbe“ Ehrlichkeit, selbst die philisterhafteste Gutmüthigkeit heucheln und beim flachsten Spaß auf’s Herzlichste lachen – und plötzlich, wie sich besinnend, noch einmal, bis es ansteckt. Man sieht, jede Seite des Menschen ist belagert. Die Pleureurs, welche man in den Trauerspielen P. Corneilles im Théatre français bewundern kann, sind die Weinerlichen, die Gerührten. Ihre weißen Taschentücher trocknen unaufhörlich die trocknen Augen.

Die schon unter Auguste florirenden Chatouilleurs bringen ihre Chatouillen und Bonbonnièren hervor, und stimmen durch Darbieten von Bonbons, Prisen Schnupftabaks, Leihen von Theaterzetteln und Opernguckern schon empfänglich und heiter. Die Chauffeurs aber bringen des Mittags und Nachmittags die Gaffer am Theaterzettel in Gluth, wenn sie vor dem Zettel stehen und rufen: „Ach, heute wird’s wundervoll werden! Der Engel singt und spielt heute wieder! Wie ein Gott schreitet er über die Bühne!“ – Sie lesen auch in Restaurationen laut die Recensionen vor, erkundigen sich fleißig nach Portraits in allen Läden, bis sie der Händler aushängt, arbeiten Kritiken für Winkelblätter, entfernen schlechte Kritiken schlau und dergl. Die Bisseurs endlich sind die unermüdlichen Biß- (d. i. zweimal) Rufer, deren da capo nimmer stirbt.

Nun – heißt das nicht Ordnung in dieser Armee von Lügnern? Macht jetzt manche Apotheke ein solch’ Geschäft, wie ein Bureau der Claque, das gar nicht mehr unter 10,000 Francs, oft aber für 18–19,000 Francs verkauft wird? – Eine strenge Justiz gibt’s für solche Leute, welche auf die Dauer der klaren Vernunft immer weichen müssen, in Frankreich jetzt noch nicht; aber man tröstet sich billigerweise immer damit, nur die plumpe Einfalt wird von dem Lärm der Claque geblendet. Aber Angesichts solcher Thatsachen thut’s uns doch im Innersten wohl, deutsche Treu und Ehrlichkeit noch nicht zur bloßen Redensart herabgesunken, noch die Meinungen Anderer in Dutzenden verhandelt zu sehen.

Freede.

Wie man durch Nichtsthun täglich zweihundert Thaler verdienen kann. Man zieht ’n Paar dicke Strümpfe an, setzt sich damit an einen murmelnden Bach, raucht starken Toback dazu oder gute Cigarren, bleibt so sitzen, bis es Abend wird, zieht dann die dicken Strümpfe aus und hat zweihundert Thaler darin. – „Aber das machen Sie mir erst ’mal hübsch vor!“ wird der geneigte Leser ausrufen, ehe er an diese mysteriöse Arbeit geht. Nun, hier ist das Recept.

Die californische Zeitung: „San Joaquin Republican“ vom 23. Jui sagt in einer Correspondenz: „Hier am Fraser-Flusse (im neuen Goldlande) kann Jeder täglich 150 Dollars durch Nichtsthun machen. Der Fluß enthält ungemein viel aufgelöstes Gold. So braucht man sich nur ein paar Strümpfe von Schaffell zu machen, die Wolle über Nacht mit Quecksilber zu sättigen, die Strümpfe mit der Wolle nach außen anzuziehen und die Füße den Tag über in’s Wasser zu halten. Abends schüttelt man die Strümpfe aus und für 150 Dollars Gold fällt heraus. Nur muß man eine Stromschnelle oder einen Wasserfall wählen und die Füße ganz steif und unbeweglich halten, um vollkommen erfolgssicher zu sein.“

Da haben wir’s. Ob’s nicht auch ginge, wenn man die Schafsstrümpfe ohne bewegliche Füße (die sich doch nicht bewegen dürfen) hineinhielte? Man könnte es sich dann jedenfalls noch bequemer machen und vier, sechs bis zwanzig Paar Schafsstrümpfe ohne lebendige Beine in’s Wasser stecken, um Abends von einem Diener mit Goldtressen Hunderte und Tausende von Dollars herausschütteln zu lassen.


Glück. Obgleich Acte besonderer Generosität eigentlich das traditionelle Vorrecht der reisenden Lords sind, scheinen jetzt die Russen ihnen den Rang streitig machen zu wollen, und wenn früher in allen schweizer Gasthöfen bis zur elendesten Berghütte herab die besten Räume und Comforts für Albions Kinder aufbewahrt blieben, so werden sie jetzt dies System auf „die Barbaren des Nordens“ anwenden. Und man kann es ihnen nach folgender Thatsache auch gar nicht verdenken.

Wer, der je den Genfersee geschaut. kennte nicht das Hôtel des trois couronnes, vulgo Hôtel Monnet genannt, in dem reizend gelegenen Vevay? Es wird mit Recht als ein Muster seines Gleichen gepriesen, und wer darin gewohnt, denkt sicher mit Behagen daran zurück und erinnert sich gern des braven, freundlichen Besitzers, der dieses Etablissement ohne eigene Mittel gegründet und zu solch’ europäischem Rufe gebracht hat.

Dort logirte vor etwa einem Jahre ein reicher Russe und fand an dem ihn empfangenden Oberkellner, einem Frankfurter Kinde, ein besonderes Wohlgefallen; ja, seine Zuneigung stieg so weit, daß er den jungen Mann um seine Aussichten und Pläne für die Zukunft fragte. Diese waren so bescheidener Natur, daß er die Frage seines Gönners: „Ob er nicht gern dies Hotel übernehmen würde?“ für einen Scherz nahm.

Aber der Russe meinte es anders; nach Jahresfrist kehrte er nach Vevay zurück, hat das große Etablissement für 1,250,000 Fr. gekauft und unter bestimmten, sehr günstigen Bedingungen dem glücklichen Oberkellner übergeben, der es hoffentlich eben so gut verwalten wird, als der Gründer desselben, welcher der behaglichsten Ruhe genießt.


Allen Freunden gemüthlichen Humors

wird für das laufende Quartal der überall gern gesehene

Illustrirte Dorfbarbier.
Ein Blatt für gemüthliche Leute von Ferdinand Stolle.

bestens empfohlen. Während General Pulverrauch und der Dorfbarbier die Weltgeschichte coram nehmen, verhandeln Breetenborn und Nudelmüller die brennenden Fragen des Tages, und legt der Bildermann seine

komischen Illustrationen und Zeitbilder

vor. Für 10 Ngr. vierteljährlich abonnirt man bei allen Postämtern und Buchhandlungen.

Die Verlagshandlung.



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Siehe Gartenlaube 1856. Nr. 28.
  2. Es bat sich die Sage erhalten, die holde und geniale Prinzessin von Meiningen sei von ihrer Stiefmutter dem Großneffen derselben, dem Kronprinzen Friedrich von Preußen, zur Gemahlin bestimmt gewesen; die Partie habe sich aber an der Abneigung des Königs oder der Königin gegen eine solche Verbindung zerschlagen. Man kann sich des Gedankens nicht entschlagen: was würde aus Friedrich dem Einzigen geworden sein, wenn Louise Dorothee seine Gemahlin und die Mutter seiner Kinder geworden wäre! Und wie weit großartiger würde sich der preußische Staat, würde sich Deutschland entwickelt haben.
  3. Wer an mich glaubt, der wird leben in Ewigkeit.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. gemeint ist Karl Ludwig Harding (1765–1834)
  2. Vorlage: C. C. H. Hölty