Die Gartenlaube (1866)/Heft 46

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[713] No. 46.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Ruine Wildenfels.
Erzählung von Friedrich Gerstäcker.
(Fortsetzung.)


„Nein, Jungfer Rosel,“ rief der Hauptcontroleur, „lassen Sie um Gottes willen den Muthwillen bei Seite. Wissen Sie nicht die Geschichte von dem jungen Mädchen, das auch Muth genug hatte und bei ähnlichem Anlaß auf den Kirchhof hinausgeschickt wurde, um eine Gabel in das Grab eines an dem Tage beerdigten Selbstmörders zu stoßen? In der Aufregung stieß sie aber die Gabel durch ihr eigenes langes Kleid in den Erdhügel, und als sie wieder fort wollte und sich gehalten fühlte, glaubte sie wahrscheinlich, es sei der Todte, und brach vor Schreck und Entsetzen selbst todt an dem Grabe zusammen. Man soll mit solchen Dingen keinen Scherz treiben!“

„Ich treibe auch gar keinen Scherz, Herr Hauptcontroleur,“ sagte das junge Mädchen freundlich, doch bestimmt, „ich will mir die beiden Orangenstöcke verdienen, dem Meister Bollharz zur Strafe, weil er mir nicht zutraut, was er selber keine Courage hat auszuführen. Wo ich aber gehe und stehe, bin ich in Gottes Hand, oben in meiner Kammer, oder in der alten, öden Ruine, und da ich nicht zu fürchten brauche dort bösen Menschen zu begegnen, so habe ich auch wahrlich keine Angst vor etwa umgehenden Geistern mit oder ohne Kopf. Lassen Sie mich los, Herr Registrator, ich weiß, Sie meinen es gut mit mir, allein es hilft Ihnen nichts; wenn die Rosel einmal was gesagt hat, so führt sie’s auch durch, und weder Sie noch der Vater könnten mich jetzt daran mehr hindern. Ehe Sie den wach kriegten, wäre ich übrigens schon den halben Weg oben auf dem Burgberg. Gott befohlen miteinander, in einer Stunde bin ich wieder da!“ Und ehe sie wirklich Einer daran verhindern konnte, oder überhaupt mit sich einig war, ob sie nicht blos Scherz trieb, sprang sie hinüber in das ‚gute Zimmer‘, wo sie Capuze und Umschlagetuch liegen hatte, nahm aus der Küche ein Messer mit und eilte flüchtigen Laufes die Straße hinab.

Die jungen Fremden fingen jetzt ebenfalls an sich für das bildhübsche junge Mädchen zu interessiren, und ein paar von ihnen griffen schon nach ihren Hüten und erklärten, daß sie ihr wenigstens von Weitem folgen wollten, damit ihr nicht etwa irgend etwas zustoßen könne. Bäcker Bollharz aber, den es besonders ärgerte, daß Rosel ihn so vor der ganzen Gesellschaft mit dem angebotenen Kuß bloßgestellt, rief, mit der Faust auf den Tisch schlagend, dann gelte die Wette nichts; aber sie sollten sie nur laufen lassen, die käme von selber wieder, und zwar ohne Zeichen, dann könne das hochnäsige Ding aber auch ihren Kuß für sich selber behalten, wie er seine Orangenstöcke, die er schon seiner Frau wegen nicht einmal hergeben dürfe.

Eine merkwürdige Umwandlung hatte das Verschwinden des jungen Mädchens in der Gesellschaft hervorgebracht, eine eigenthümliche Spannung, denn man wußte nicht recht, ob man darüber lachen, oder um das junge, waghalsige Ding besorgt sein sollte. Der alte Registrator fühlte sich am unbehaglichsten; es kam ihm fast so vor, als ob er dem Mädchen hätte wehren sollen, einen so unweiblichen, ja fast leichtfertigen Schritt zu thun. Wenn ihr nun doch etwas zustieß, wenn sie am Ende gar den Tod hatte vor Schrecken, mußte er sich dann nicht die bittersten Vorwürfe machen, daß er dabei gesessen und den Leichtsinn geduldet hatte?

Die jungen Fremden erkundigten sich indessen nach der eigentlichen Sage der Ruine, die ihnen der Hauptcontroleur auch auf das Genaueste und Umständlichste erzählte, und sie erklärten dann, daß sie morgen früh noch vor Tag aufbrechen würden, um mit der Morgendämmerung selber oben zu sein und zu sehen, ob das junge Mädchen ihr Wort gelöst habe. Der alte steinerne Tisch im Burghof war nicht zu verfehlen, und dicht daneben sollte sie ja, zum Zeichen daß sie dort gewesen, einen der aufwuchernden Schößlinge abschneiden oder abbrechen.

Bei der Sage der Ruine blieb es in dieser Stimmung aber nicht, denn es dachte natürlich jetzt Niemand daran fortzugehen, bis Rosel von ihrer nächtlichen Wanderung zurückgekehrt sei, und darüber mußte jedenfalls eine Stunde verstreichen. Der natürliche Ideengang der Gäste lenkte sich mittlerweile auf andere Sagen und Spukgeschichten, an denen der Hauptcontroleur, der sich in früheren Jahren viel an den wilden Grenzdistricten aufgehalten, besonders reich war. Hauptsächlich wurden solche Geschichten dabei hervorgehoben, bei welchen der Muthwille des Menschen keck die Geisterwelt herausgefordert und dann, versteht sich, immer den Kürzeren gezogen habe. Da war das alte Haus an der Grenze, in dem früher ein berüchtigter Schmuggler gelebt, der bei einem Streifzug erschossen wurde und später in seiner eigenen Wohnung umging, daß es Niemand mehr darin aushalten konnte. O ja, ein junger, leichtfertiger Franzose erbot sich den Geist zu bannen, aber Morgens fand man ihn bleich und todt mitten in der Stube liegen, ohne das geringste Zeichen einer Verletzung an seinem ganzen Körper. Und dann der junge Bursch, der Nachts unter den Rabenstein gegangen war, um auch, in Folge einer tollen Wette, einem der am Tag Gehenkten den Stiefel abzuziehen. Der kam auch nicht zurück, und wenn er auch nicht todt blieb oder wahnsinnig wurde, hat er doch nie im Leben wieder gelacht und ist von da an selber wie eine Leiche herumgegangen, bleich und elend und sich verzehrend, bis er endlich, noch in der Blüthe [714] seiner Jahre, starb, aber Niemandem erzählen wollte, was er draußen an jener furchtbaren Stätte gesehen.

Auch der alte Registrator wurde dadurch von seinen eigenen unbehaglichen Gedanken ab- und diesem Thema zugelenkt und wußte eine solche Menge haarsträubender Geschichten, daß die kecke Rosel auf ihrer nächtlichen Wanderung fast schon vergessen war, und das Schenkmädchen, die Bärbel, immer wieder frischen Wein herbeischaffen mußte, um die ausgetrockneten Kehlen zu erquicken. Und wie flink bediente heute das sonst etwas träge oder langsame Mädchen die Gäste, denn nicht um die Welt hätte sie eine der da drinnen erzählten Schauergeschichten versäumen mögen, wenn’s ihr auch manchmal wie mit einer Gänsehaut über den ganzen Körper lief.

„Jesus, meine Güte!“ sagte plötzlich der Hauptcontroleur, dem es indessen einmal eingefallen war, nach der Uhr zu sehen. „Es ist ja schon Eins vorbei und das Mädel, die Rosel, noch nicht zurück. Die hätte doch wahrlich keine Stunde gebraucht, um hin und her zu laufen; wenn ihr nur nichts passirt ist!“

Der alte Registrator war erschreckt von seinem Stuhle aufgesprungen. „Schon Eins vorbei,“ stöhnte er, „wahrhaftig, Ihr Leute, jetzt … jetzt wird mir auch nicht wohl bei der Sache. Wir hätten die tolle Dirne nicht sollen gehen lassen! Der Himmel verhüte, daß dem Kind etwas geschehen ist; ich würde mein Lebtag nicht wieder ruhig.“

„Wir wollen ihr nach,“ rief einer der jungen Burschen. „Ist vielleicht eine Laterne im Haus, die wir mitnehmen könnten, wenn wir sie oben brauchen sollten? Der Mond scheint auch schon unterzugehen und wir finden sonst am Ende den Weg nicht.“

Die jungen Leute waren aufgesprungen und griffen schon nach ihren Hüten, und in der That hatte sich die ganze späte Gesellschaft erhoben, denn die Angst um das junge Mädchen verdrängte alle anderen Gedanken. Da öffnete sich plötzlich die Thür, und Rosel selber stand auf der Schwelle, ernst und still, mit leichenbleichen Zügen. In der Hand trug sie einen kleinen grünen Busch, den sie neben dem Bäcker auf den Tisch warf, und sagte ruhig:

„Da, Meister Bollharz, ist Euer Zweig; ich werde mir morgen oder heute, denn es ist wohl schon spät geworden, die Orangenstöcke holen. Ihr könnt nachsehen oben, gerad’ unter dem steinernen Tisch weg hab’ ich ihn abgeschnitten.“

„Aber Rosel, um Gotteswillen, wie siehst Du aus, Kind? Wie eine Leiche! Was ist Dir geschehen?“ rief der Registrator.

„Mir geschehen? was sollte mir geschehen sein!“ sagte das Mädchen, „nur müd’ bin ich geworden von dem weiten Weg. Bärbel, sieh’ gut nach dem Licht, wenn die Gäste fort sind, und schließ’ die Thür ordentlich; ich will schlafen gehen.“

„Aber Rosel, so erzählen Sie doch,“ bat jetzt der Hauptcontroleur, der sie mit ängstlichen Blicken betrachtet hatte, denn etwas Uebernatürliches mußte ihr begegnet sein, das Entsetzen stand ihr ja noch an der Stirne geschrieben.

„Morgen, morgen,“ sagte das junge Mädchen ruhig. „Heute ist’s schon zu spät geworden und es wird Zeit, daß wir schlafen gehen. Gute Nacht mitsammen,“ und eines der schon fast niedergebrannten Lichter vom Tisch aufgreifend, verließ sie damit das Zimmer und stieg langsam in ihr eigenes Kämmerchen hinauf.


3. In der Ruine.

Wir müssen zu dem Augenblick zurückkehren, wo Rosel, noch mit Trotz und keckem Muth im Herzen, aus dem Hause sprang, um ihren einsamen Weg anzutreten. Still lachte sie vor sich hin, wenn sie sich schon im Geist das erstaunte und verblüffte Gesicht des Meister Bollharz ausmalte, sobald sie ihm das Wahrzeichen brachte und er nun sein Wort halten und ihr die ihm so an’s Herz gewachsenen wundervollen Stöcke ausliefern mußte. Schenken wollte sie ihm dieselben wahrlich nicht, das war die gerechte Strafe für das große Maul, das er immer führte, und für seine ewige Wichtigthuerei.

Im Anfang hatte sie auch leichten, bequemen Weg. Die breite Chaussee, die nach Hellenhof führte, lief dicht unter dem Hügel hin, auf welchem die Ruine lag, und erst von dort ab, wo sie jene verlassen mußte, begann für sie die unbequeme Bahn, den ausgewaschenen, verwachsenen Pfad hinan, vor dem sich mancher Fußgänger schon am hellen Tage scheute.

Der abnehmende Mond stand freilich noch am Himmel, aber leichtes Gewölk jagte dann und wann darüber hin und warf seine wunderlichen Schatten auf die Erde nieder. Furcht kannte sie trotzdem nicht, und ebensowenig glaubte sie an die tollen Märchen des alten, gutmüthigen Registrators und des verschrobenen Hauptcontroleurs und gar nun des Stadtschreibers, der so voll von Aberglauben stak, daß er nichts im Leben that, ohne vorher den Kalender dabei um Rath zu fragen. Seine Nägel schnitt er sich nur am Freitag und würde ebenso leicht daran gedacht haben, sich den Hals ab-, als die Hühneraugen bei abnehmendem Monde auszuschneiden. „Unberufen“ war bei ihm das dritte Wort, und wenn er Morgens auf’s Rathhaus ging und ihm unglücklicher Weise ein Bauer mit einem Schwein begegnete, so bog er auch sicher in die nächste Straße ein oder kehrte, wenn das nicht möglich war, lieber wieder um, selbst beim schlechtesten Wetter den weitesten Umweg nicht scheuend, ehe er sich der Gefahr und den unausbleiblichen Folgen eines solchen Zusammentreffens ausgesetzt hätte.

Sie lachte still vor sich hin, als sie an all’ die tausend Rücksichten dachte, die der alte Stadtschreiber im Leben nahm, und wie er sich wohl betragen würde, wenn er jetzt, um ziemlich Mitternacht, den einsamen Weg zu der Ruine einschlagen sollte. Er wäre freilich wohl durch keine Summe Geldes zu bewegen gewesen, ein derartiges Wagstück zu unternehmen.

Wie still und öde die Straße war, und was für große dunkle Schattenflecke die daranstehenden Wallnußbäume darüber warfen! Keine Menschenseele ließ sich blicken; die schliefen jetzt Alle in ihren warmen Betten und verschlossenen Häusern und – da hätte sie auch hineingehört. Was für eine tolle Idee es von ihr gewesen war, mitten in der Nacht den einsamen Gang zu thun, und nur aus Muthwillen, oder vielleicht aus Trotz, um den Meister Bollharz zu ärgern! Und was der Vater wohl morgen dazu sagen werde, wenn er es erfahre, und natürlich erfuhr er’s, war doch morgen gewiß die ganze Stadt voll davon. Rosel erschrak ordentlich bei dem Gedanken, denn das war ihr bis jetzt noch nicht eingefallen, daß sie nun Tage lang in aller Welt Mund sein würde. Unwillkürlich blieb sie mitten auf der Straße stehen; durfte sie sich, als junges, unbescholtenes Mädchen dem aussetzen? Wenn sie früher daran gedacht, hätte sie es sicher nicht gethan, jetzt war es freilich zu spät, denn kehrte sie nun wieder um, so wurde sie von der ganzen Gesellschaft ausgelacht, und das Gerede wäre doch das nämliche geblieben.

„Nun läßt sich nichts daran ändern,“ sagte sie trotzig vor sich hin, als sie wieder, aber langsamer als früher, vorwärts schritt. „Ich hätte mir’s vorher erst ordentlich überlegen sollen, aber das Alles kam so schnell. Wer denkt auch gleich daran, daß die Welt in Jedem ’was Böses findet, ich wahrlich nicht, und der Vater wird schon auch nicht so arg böse sein; mag er doch den Meister Bollharz ebenfalls nicht leiden, und auf den war’s ja doch gemünzt. Und die Frau Bollharz, wie wird die wüthend werden, wenn sie die Orangenstöcke herausgeben muß! Von der kriegt’s der Meister ordentlich, das ist sicher, geschieht ihm aber recht, dem alten verliebten Fleischklumpen dem.“

Da lag die Ruine. Wie sie eben um eine Biegung der Straße trat, konnte sie die alten Mauerreste deutlich erkennen, und ordentlich wunderlich sah es aus, wie der Mond jetzt gerade von der einen stehengebliebenen Thurmmauer verdeckt wurde und sein helles Licht durch die enge Schießscharte derselben warf.

„Ich muß wirklich ein wenig rascher gehen,“ flüsterte sie vor sich hin, während sie ihren Schritt beschleunigte, „oder der Mond kommt hinter die Berge, und dann reiß ich mir im Dunkeln auf dem Rückweg mein ganzes Kleid in den häßlichen Büschen entzwei. Daß der Mond auch gerade heute so früh untergeht!“

Sie hatte jetzt die Stelle erreicht, wo der alte Burgweg von der Straße rechts abbog und sich, von hier aus noch allmählich, dann aber immer steiler, den Hügel hinanzog, bis endlich oben, dicht unter den frühern Ringmauern, eine ordentliche Treppe in den Felsen gehauen war, die mit zwanzig oder fünfundzwanzig Stufen auf die höchste Kuppe hinaufführte.

Der Hügel selber war meist mit Haselnußstauden, Birken und jungen Buchen bewachsen; Nadelholz stand nur vereinzelt dazwischen, und in früheren Jahren hätte man recht bequem bis zu den eingehauenen Stufen selbst reiten können. Jetzt aber war [715] der Weg, wie schon erwähnt, lange vernachlässigt und, seit ihn einmal ein Wolkenbruch fast zerstört, nicht wieder ausgebessert worden, so daß die Romantik der alten Zeit (wenn man sich wirklich zu ihr hinaufarbeiten wollte) schon hier unten am Hügel begann und sich steigerte, je höher man daran emporklomm. Rosel kannte ihn aber trotzdem, denn oft schon hatte sie, besonders mit ihrer seligen Mutter, den Weg gemacht; der armen Frau war damals wohl recht weh um’s Herz gewesen, an dem so vieler Gram und so viele Sorge nagten, und Stunden lang hatte sie dann oben auf dem Hügel gesessen und auf das freundliche Bild zu ihren Füßen hinausgeschaut, ohne selbst freundlich davon berührt zu werden. Nur still vor sich hin geweint hatte sie dort, und Rosel, den Kopf an ihre Schulter gelehnt, neben ihr gesessen und ihren Arm um sie geschlungen.

Der Gedanke an die verlorene Mutter füllte jetzt allein ihre Brust. Sie achtete kaum auf die Beschwerden des Wegs, und immer wieder dachte sie der lieben Dulderin, die so gut, so unendlich gut mit ihr gewesen und die sie doch so früh hatte in ihr Grab legen müssen. Und wie war Alles seitdem anders in ihrem Haus geworden; besser wohl als früher, denn Noth und Sorge kannte sie nicht mehr, auch trank der Vater nicht mehr, was der armen Mutter so manche bittere Thräne gekostet. Er war freundlicher als früher, thätiger in seinem Geschäft; die aber gerade, deren tägliches Gebet das immer gewesen, hatte es nicht erleben dürfen, und nie, nie wieder sollte sie in die treuen guten Augen schauen und ihr Haupt an das Herz legen können, das für sie so warm geschlagen.

Sie fühlte bei den Erinnerungen den rauhen felsigen Boden nicht, über den sie klomm, und hatte die Felsentreppe auf der Höhe erreicht, ehe sie es selber dachte. Jetzt aber verlangte der Augenblick wieder vollständig sein Recht, denn hoch über ihr ragten die dunklen unheimlichen Mauern empor, und wenige Minuten später sollte sie den Platz betreten, von welchen in den Köpfen der Menschen dort unten so viele schreckliche Geschichten spukten.

Bah, was war es denn? ein alter verlassener Steinhaufen, weiter nichts. Die Menschen, die ihn früher belebten, gute oder böse, schlummerten lange den ewigen Schlaf, und Gott würde ihnen wahrlich nicht gestatten, wenn sie schon zu Lebzeiten die Welt geärgert, auch noch nach dem Tode, noch nach Jahrhunderten, herumzugehen und Schrecken und Entsetzen zu verbreiten.

Rüstig erklomm sie die ersten Stufen, allein plötzlich hielt sie horchend inne. Unten im Thal, in Wellheim, von wo der frische Ostwind gerade herüberstrich, schlug die alte Stadtuhr. Deutlich konnte sie den Ton der Glocke hören und zählte die Schläge: acht, neun, zehn, elf, zwölf. Es war gerade Mitternacht und sie lächelte trotzig vor sich hin, als sie an die verrufene und gefürchtete Geisterstunde dachte. Kaum aber hob sie den Fuß, um die letzte Höhe zu erklimmen, als sie wieder, und diesmal erschreckt, aufhorchte, denn ihr war es plötzlich, als ob sie unter sich eine menschliche Stimme gehört hätte.

Waren ihr etwa einzelne Gäste aus ihres Vaters Hause gefolgt? Nein. Deutlich erinnerte sie sich von der letzten Höhe einen Blick hinab auf die vom Mond hellbeschienene Straße geworfen zu haben, wo sie jeden dunklen Gegenstand sofort hätte erkennen müssen, aber nichts regte sich dort, und so rasch wie sie den Gang erklommen, würde Niemand im Stande gewesen sein, ihr zu folgen. Todtenstille lag auf der Welt; ihr Ohr mußte sie getäuscht haben, und mit der Ueberzeugung klomm sie rasch die wenigen Stufen noch empor, die sie von der Kuppe trennten.

Und da stand die alte Raubburg unmittelbar vor ihr, mit ihren zackigen ausgebrochenen Mauern, dem alten Thurmrest, in welchem das entsetzliche Verließ seine Opfer hielt, mit den epheuumrankten Söllern und den hohlen Fensteraugen, und dort auf der breiten Zinne, auf die jetzt noch das helle Mondlicht fiel, sollte der Volkssage nach jener blut- und beutegierige Raubgraf seine Strafe abwandern und seinen Kopf, dort drüben über den Rhein hinüber, der anderen Veste entgegenhalten.

Rosel blieb einen Moment stehen, theils um Athem zu schöpfen, die hohen Stufen waren ihr sauer geworden, theils um sich erst wieder zu orientiren, denn es kam ihr ordentlich sonderbar vor, wie fremdartig der sonst so bekannte Platz bei dem ungewissen Licht des Mondes aussah. Aber dort drüben befand sich ja gleich der Eingang in den Hof, da das eigentliche Hauptthor durch niedergestürztes Mauerwerk unpassirbar geworden, und in dem Hofe selber stand jener alte, riesige, steinerne Tisch, auf einem einzigen, ziemlich roh behauenen Pfeiler ruhte die runde Platte, wo früher wahrscheinlich Hugo von Wildenfels im Sommer freie und offene Tafel hielt und zechte und bankettirte, während unten im Thurm seine Opfer wimmernd verschmachteten.

„Recht wär’s ihm schon, wenn er umgehen müßte bis zum jüngsten Tage,“ murmelte Rosel vor sich hin, indem sie jetzt rasch der kleinen Pforte zuschritt, „verdient hätt’ er’s tausendfach, wenn nur die Hälfte von dem wahr wäre, was man sich erzählt, aber mir dürft’ er doch nichts thun, so viel ist sicher,“ setzte sie, ein frommes Kreuz schlagend, hinzu, „das litte der liebe Gott nicht.“

Sie hatte die kleine Eingangspforte erreicht, blieb aber doch, so muthig sie auch immer sein mochte, einen Moment auf der Schwelle stehen und blickte scheu in den inneren, öden Raum, auf dem schon die Mondesdämmerung lag, da die Mauern das Licht der schräg fallenden Strahlen abhielten. Aber er war vollkommen leer, kein Hauch regte sich darin, und Rosel, fast selber nur wie ein Schatten, schritt rasch und geräuschlos auf den deutlich erkennbaren Tisch zu, um den herum, durch hineingewehten Samen vielleicht, einige junge Buchenschößlinge Wurzel geschlagen hatten und im Sommer lustig Blätter trieben. Sogar unter dem Tisch hatte sich ein einzelner solcher Trieb herausgearbeitet, und diesen wollte sie nehmen, denn dadurch konnte sie am bestimmtesten den Platz bezeichnen, so daß kein Zweifel möglich blieb.

Rosel trug das Messer, das sie aus der Küche mitgenommen, noch in ihre Schürze gewickelt, und niederkauernd kroch sie unter die Platte, um das zähe Holz leichter abschneiden zu können, als es ihr plötzlich mit einem jähen Schreck in’s Herz stach, denn in dem öden Raum sprach plötzlich eine Menschenstimme und deutlich hörte sie die Worte:

„Er wird nicht mehr hier sein, wir haben ihn zu lange warten lassen.“

Im ersten Moment war es, als ob das sonst so beherzte Mädchen in sich zusammenbrechen wolle, und nur mit Mühe unterdrückte sie einen lauten Angstschrei, der sie dann jedenfalls verrathen hätte. Fast krampfhaft klammerte sie sich an die Säule des Tisches an, der seinen Schatten schützend über sie breitete, und suchte vor allen Dingen die zu erkennen, die hier ihr nächtliches Wesen trieben und keinesfalls eine Ahnung haben konnten, daß sie belauscht wurden. Aber sie sollte nicht lange im Zweifel bleiben. Zwar war sie noch nicht im Stande, die Gestalten deutlich zu unterscheiden, nur daß es zwei Männer waren, die durch dieselbe Pforte den innern Raum betraten, sah sie; da sagte plötzlich eine andere, dritte Stimme, die ihr das Blut stocken machte, denn es war die ihres eigenen Vaters:

„Na, zum Henker auch, wo habt Ihr Beiden Euch denn heut’ Nacht herum getrieben, daß Ihr nicht zur bestimmten Zeit hier sein konntet? Seit neun Uhr hocke ich nun schon hier oben in dem öden Nest, den Fledermäusen und Eulen zur Gesellschaft.“

„Wir konnten nicht früher kommen, Vater,“ erwiderte der Eine der Neugekommenen, ihr eigener Bruder, „gerad’ heute war rein der Teufel in Hellenhof los, und wir hätten jedenfalls Verdacht erregt, wenn wir früher den Platz verließen. Die Stadt schwärmte ordentlich von Menschen und Feuerwerk wurde überall losgebrannt, so daß wir gar keine Straße frei behielten. Ich hab’s mir gedacht, daß Dir die Zeit lang geworden.“

„Wirklich?“ knurrte der Vater wieder, „aber so macht wenigstens, daß Ihr jetzt herunter kommt. Was steht Ihr noch da oben?“

„Ich wollte erst ein Licht anzünden.“

„Ich habe Licht unten. Glaubt Ihr, daß ich die ganze Zeit im Finstern gesessen bin?“

Die beiden Gestalten schritten jetzt der nächsten Wand zu, in welcher sie zu verschwinden schienen; als sie aber die eine Stelle überschritten, auf die durch eine Mauerlücke das Mondenlicht fiel, erkannte Rosel deutlich den jungen Fremden, ihres Bruders Compagnon, für den Franz so oft um Rosel’s Hand angehalten. Was hatten die drei Menschen hier bei Nacht in der alten Ruine so Heimliches zu verrichten, daß sich Franz dazu von Hellenhof fortstehlen mußte? Weshalb scheuten sie das Tageslicht und das Auge der Menschen?

[716] Rosel kauerte noch immer unter dem alten Tische; das Herz schlug ihr, als ob es ihr die Brust zersprengen wolle, und sie wagte nicht, sich zu rühren, aus Furcht entdeckt zu werden. Die Gedanken jagten sich ihr durch’s Hirn, und der erste war jedenfalls den Platz zu fliehen, sobald das unbemerkt geschehen könne, und, so rasch sie ihre Füße trugen, nach Wellheim zurückzukehren. Das sonst so besonnene, charakterfeste Mädchen überließ sich indeß nicht lange diesem ersten, lähmenden Eindruck des Schreckes, und je mehr sie nachdachte, desto mehr schwand die Furcht vor irgend einer ihr selber drohenden Gefahr in der Angst um den Vater selbst.

Wohl kam ihr einmal der Gedanke, ihr Vater könne in Wellheim von ihrem Gang gehört haben und ihr gefolgt sein, aber eben so rasch mußte sie ihn verwerfen, denn hatte sie ihn nicht selber sagen hören, daß er schon seit neun Uhr ihren Bruder und jenen widerlichen Fremden hier vergebens erwarte? Weshalb? Was thaten sie hier im Dunkeln und war es etwas Gutes, das sie da mitsammen ausmachten? Sie fürchtete nein, denn dem fremden unheimlichen Menschen traute sie Alles zu, jedes Verbrechen, das er gewiß mit derselben kalten lächelnden Miene verübt hätte, wie er ihr seine faden Schmeicheleien sagte. Aber was konnten sie hier thun? Sie begriff es nicht; wenn sie nur im Stande gewesen wäre, ihnen zu folgen und sie zu belauschen!

Glücklicher Weise trug sie heute Abend ein dunkles Kleid und Crinolinen waren damals auch noch nicht Sitte, sie konnte sich also leicht in jede Ecke, in jeden dunkeln Winkel schmiegen; aber waren sie denn in der Ruine geblieben? Doch ja, es gab ja nur den einen Aus- und Eingang; sie kannte wenigstens keinen anderen, und dort an der Mauer waren sie verschwunden. Wenn sie ihnen dahin folgte, fand sie vielleicht ihre Spuren. Und wenn sie entdeckt wurde? Aber was konnte ihr von ihrem Vater und Bruder geschehen, war es ja doch nur die Sorge um die beiden ihr theuern Menschen, die sie antrieb, ihnen nachzuforschen.

Sie überlegte auch nicht lange; erst aber mußte sie sich das Zeichen sichern, das ihr in Arms Bereich stand; den kleinen schwanken Schößling schnitt sie ab, aber sie durfte ihn nicht mit sich tragen, das Rauschen seiner Blätter konnte sie verrathen. Sie glitt deshalb zu der schmalen Pforte zurück, legte ihn dort außen an die Seite und schlich dann wieder auf den Zehen zu der Stelle, an welcher sie vorher die Gestalten aus den Augen verloren.

Wie dunkel das hier war und wie feucht und modrig es roch, als ob die Luft aus einem tiefen Erdgewölbe käme! Und war das nicht so? Erinnerte sie sich nicht von früher her, hier ein tiefes Loch gesehen zu haben, das weit hinein in die Erde ging, und vor dem sie sich immer gefürchtet hatte? Wenn sie jetzt hier einen Fehltritt that und hinabstürzte in diese grausenhafte Tiefe! Sie hielt erschreckt inne. Da war es ihr, als ob sie von unten herauf Stimmen höre; sie konnte keinen einzelnen bestimmten Laut unterscheiden, doch es wurde dort unten gesprochen, und es mußte irgend einen Platz geben, auf dem sie ebenfalls dorthin gelangen konnte.

Vorsichtig und so geräuschlos wie möglich fühlte sie sich weiter und ihrer fast unbewußt hielt sie noch immer das Messer in der Hand, wie um sich gegen etwas Schreckliches zu schützen. Da plötzlich fand der tastend vorgestreckte Fuß keinen Grund mehr und an der Stelle niederknieend fühlte sie mit der linken Hand, daß dort etwas tiefer unten ein breiter Stein lag. War das eine Treppe? Vorsichtig trat sie hinab und fühlte sich weiter und Stufe nach Stufe legte sie so zurück, bis sie in der kalten Kellerluft ein Frösteln überlief. Jetzt aber war die Treppe zu Ende und ein schmaler feuchter Gang schien noch weiter hinab zu führen, doch wohin? Eine Strecke war sie ihm noch zitternd gefolgt, jetzt indeß wagte sie sich nicht weiter, denn immer steiler und schlüpfriger wurde der Paß, und sie schützte sich nur dadurch vor dem Ausgleiten daß sie sich rechts und links mit den Händen an den nassen engen Mauern hintastete. Aber der Gang nahm kein Ende. Weiter getraute sie sich nicht; wenn sie nun den Rückweg nicht mehr fand und hier um Hülfe rufen mußte!

Da war es ihr, als ob sie einen schmalen Lichtstrahl an der Wand bemerke. Die Stelle konnte kaum noch drei Schritt von ihr entfernt sein, bis dahin wollte sie noch vordringen, aber weiter nicht; es schnürte ihr das Herz zusammen, daß sie kaum mehr athmen konnte. Wie steil und häßlich das hier nieder ging, und wie tief mußte sie schon unter der Erde sein! Doch jetzt hatte sie die Stelle erreicht, und als sie ihre Hand an die Wand legte, fiel ihr das Licht auf die Finger. Sie bog sich noch etwas weiter vor, um zu sehen, woher es käme, und erkannte plötzlich, daß der Strahl aus einem tiefen Gewölbe herausschimmerte, von dem sie nur eine dünne Mauer schied, aus welcher jedenfalls ein Stein herausgebrochen sein mußte.

Die Breite des Durchbruchs verhinderte aber immer noch, daß sie mehr als den oberen Theil des unterirdischen und jetzt matt erleuchteten Gewölbes erkennen konnte, und erst als sie sich mit den Händen anklammerte und dadurch emporhob, durfte sie einen Blick hinabwerfen. Aber selbst dann begriff sie noch nicht gleich, was da unten vorging, denn sie bemerkte wohl die drei Männer, die an einem Tisch standen, sie sah auch, daß der eine von ihnen, jener Fremde, mit einer Art von Maschine beschäftigt war, die vor ihm stand, allein, was sie trieben, begriff sie nicht und schaute nur neugierig und erstaunt in das Gewölbe hinab. Da unten die Männer schienen eifrig bei ihrer Arbeit und zwar der Fremde und ihr Bruder, während der Vater daneben stand, als ob er etwas erwartete. Jetzt wurde eine große Schraube, wie an einer kleinen Art Weinkelter, aufgedreht und der Fremde nahm dann ein Papier heraus, welches er dem alten Mann hinhielt, der es eine ganze Weile prüfend betrachtete und dann auch das Licht hindurchscheinen ließ. Endlich sagte er, indem er das Blatt dem Sohn hinreichte:

„Die werden ganz vortrefflich, viel besser, als ich erwartete, und ehe sie die herausfinden, können wir unser Schäfchen im Trocknen haben. Sind denn noch viele von den Oesterreichern da?“

„Noch wenigstens zehntausend Gulden,“ erwiderte der Fremde.

„Schade,“ sagte der Alte, „aber wir dürfen keine mehr davon ausgeben, denn sie haben in ganz Deutschland Alarm damit geschlagen und in Holland kennt sie jedes Kind. Die mögen lieber ein paar Jahr liegen, bis der Lärm vorüber ist, nachher kann man’s immer wieder einmal damit versuchen, jetzt wär’s zu gefährlich.“

Der Rosel war es, als ob sie Jemand bei der Kehle habe und würge, so verging ihr der Athem, als ihr die Ahnung dessen kam, was da unten getrieben wurde – Banknotenfälschung, denn sie hatte in ihrem Leben zu viel mit Geld zu thun gehabt, um das nicht rasch zu begreifen und zu fühlen, wie fürchterlich, wie entsetzlich es sei.

„Mit den hessischen Noten,“ lachte der Fremde wieder, „ist es doch famos gegangen, mit denen haben wir das beste Geschäft gemacht.“

„Ja,“ nickte der Alte, „und kein Teufel würde dahinter gekommen sein, wenn der eine Grundstrich am B ein klein wenig stärker gewesen wäre. Sollte sich dem nicht noch nachhelfen lassen?“

„Das geht nicht mehr,“ sagte der Andere kopfschüttelnd, „überdies ist jetzt auch der Verdacht darauf gelenkt, und wir dürfen uns keiner unnöthigen Gefahr aussetzen.“

Rosel hörte und sah nichts weiter, die Hände erschlafften ihr, sie sank in den steilen Weg zurück und kauerte sich dort minutenlang in Angst und bitterem Weh am Boden nieder. Aber hier konnte sie nicht bleiben, konnte das Schreckliche nicht länger mit ansehen, und sich gewaltsam emporraffend kroch sie mehr, als sie ging, den steilen, häßlichen Weg wieder hinauf, bis sie die gefährlichen Stufen erreichte. Auch diese kletterte sie hinan, fühlte ihren Weg zurück und stand kurze Zeit darauf wieder in der kalten, frischen Nachtluft im alten Burghof. Aber sie zögerte hier keinen Augenblick mehr; fort, nur fort von dem entsetzlichen Ort, war der einzige Gedanke, der sie erfüllte und ihr die Kraft gab, ihre Glieder zu gebrauchen. Fast mechanisch griff sie den draußen am Eingang liegenden Zweig auf, kletterte die Steinstufen hinunter und floh dann, so rasch sie ihre Füße trugen, den steilen, rauhen Pfad hinab.

Der Mond war indessen untergegangen und tiefe Nacht lag auf der Erde, doch sie achtete es nicht; ob die Büsche ihr Kleid faßten und zerrissen, ob ihr Fuß strauchelte und die tastenden Hände sich lange an häßlichen Brombeerranken blutig gerissen hatten – was fühlte sie davon? Nur vorwärts, vorwärts strebte sie, bis sie die breite Straße wieder erreichte und jetzt noch einmal scheu und entsetzt den Blick zurückwarf zu der alten Ruine, die das Verbrechen ihres Vaters barg.

Mit dem ebenen, glatten Weg wurde auch ihr Gemüth ruhiger, und während sie langsamer auf demselben hinschritt,

[717]

Habermann am Sarge seiner Frau. (S. S. 724.)
Aus den Originalzeichnungen zu Reuter’s Werken von F. Hiddemann.



suchte sie das Erlebte zu überdenken, zu sichten. Was sollte sie thun? Wie sollte, wie mußte sie handeln? Und Bruno – schaudernd barg sie das Gesicht in den Händen, sie konnte nicht mehr denken. Der Kopf wirbelte und brannte ihr, und ganz zusammengebrochen verfolgte das arme Kind seine einsame, öde Bahn, Sie bemerkte auch kaum, wie sie die Häuser wieder erreichte und nur mechanisch in die bekannte Straße einbog. Wie in einem wüsten Traum schritt sie dahin und öffnete endlich die Thür ihrer eigenen Heimath. Auch von den dort Versammelten sah sie kaum mehr als die undeutlichen Umrisse ihrer Gestalten, und erst oben auf ihrem Zimmer, als sie die Thür verriegelt und sich, wie sie war, in ihren Kleidern auf das Bett geworfen hatte, machte ein lindernder Thränenstrom ihrem gepreßten Herzen Luft.


(Fortsetzung folgt.)




Englands großes nationales Spielhaus.
Von Friedrich Althaus.


Der Engländer ist stolz darauf, daß sein von Natur und Geschichte so vielfach bevorzugtes Inselreich auch darin vielen anderen Nationen voransteht, daß es keine „Spielhöllen“ besitzt. Wohl hat er damit Recht, denn die englischen Gesetze verbieten das Hazardspiel. Dagegen aber übt der abenteuerliche Sinn des Wettens und Wagens, an dem die Flamme der Spielleidenschaft sich nährt, bei keinem Volke eine mächtigere Herrschaft aus, und weil er da ist, muß er auf irgend einer Weise befriedigt werden. Man findet deshalb in England freilich keine öffentlichen Spielbanken nach continentalem Muster, keine Roulette und keine Lotterien, – aber der Engländer hat die Arena des Spiels von dem grünen Tische auf den grünen Rasen verbannt und statt auf das Rollen von Kugeln wettet er auf das Rennen von Pferden. Das Pferd, das schönste, edelste Thier der Schöpfung! So hoch seine elastische Gestalt erhaben ist über jene leblosen Medien der festländischen Spielwuth, so weit der helle offene Rasengrund die Stickluft des Roulettezimmers übertrifft, so hoch steht ihm das englische „Hazardspiel“ (wenn man es einmal so nennen will) über dem Hazardspiel der Continentalen. Außerdem, so meint der Brite weiter, ist in England auch nicht der vulgäre Geldgewinnst die Hauptsache. [718] Dem englischen Wetter und Wager der Rennbahn schwebt vielmehr als Ziel die Erhaltung und Vervollkommnung jener unvergleichlichen Race von Rennpferden vor, deren dieses Eiland sich rühmt, die Erhaltung und Ausbildung des nationalen Sports, dem dieses Inselvolk einen so großen Theil seines Einflusses verdankt.

Die Ausbildung der englischen Pferderace und der englischen Wettrennen ist nicht so alt, wie man häufig denkt. Erst im siebenzehnten Jahrhundert unter Jakob dem Ersten, der ein eifriger Patron der Rennbahn war, begann das kunstgemäße Trainiren von Jockeys und Rennpferden, und Wettrennen zu Pferde kamen nicht blos bei dem Adel, sondern auch unter der höheren Gentry in Mode. Sein ritterlicher Sohn Carl der Erste zeigte sich ebenfalls als leidenschaftlichen Pferdefreund; er gründete die noch heute blühenden Rennen von New-Market. Auch Carl der Zweite, ein eifriger Liebhaber jeder Art von Sport, förderte das edle Nationalvergnügen in aller Weise, indeß erst unter Georg dem Dritten stieg das in seiner Gesammtheit in dem Worte „the Turf“ (Rasen) zusammengefaßte Spiel zu dem Ansehen einer wahrhaft volksthümlichen Institution empor. Rennbahnen, Zuchtgestüte, Kampfpreise, regelmäßig wiederholte Wettrennen mehrten sich von Jahre zu Jahre. In New-Market entstand, als höchste gesetzgebende Behörde des Turf, der Jockeyclub; das Trainiren von Jockeys und Rennpferden, das Wetten und Wagen auf die Chancen der Rennbahn bildete sich zu einer in’s kleinste Detail entwickelten Wissenschaft aus. Ganze zahlreiche Menschenclassen fingen an, auf und von dem Turf zu leben. Intriguen und Speculationen, eine eigene Kunstsprache und Literatur, eine Gesellschaft in der Gesellschaft, ein Staat im Staate schossen aus dem grünen Rasengrunde üppig, charakteristisch, seltsam hervor und in den wechselnden Ereignissen dieser Welt, von den kleinen provinciellen Wettrennen bis zu dem höchsten Festtage des Turf, dem Derbytag in den Rennen zu Epsom, gingen fabelhafte Summen in dem Hazardspiel des Wettens gewonnen und verloren.

In jener Sturm- und Drangzeit des Turf trat auch die seitdem unter dem Namen des Tattersall bekannte Anstalt in’s Leben. Bei dem immer wachsenden Interesse an den Begebenheiten der Rennbahn und der überhand nehmenden Praxis des Wettens hatte man schon längst den Mangel eines Locals empfunden, welches den Habitués der Rennbahn ebenso als Mittel- und Sammelpunkt dienen sollte wie Bank und Börse den Kaufleuten der City. Ein Pferdezüchter des Herzogs von Kingston, Richard Tattersall, ein Mann von niedriger Herkunft, der, wie viele seines Gleichen, im Stalle und im Wettrennen ein Vermögen erworben, hatte den glücklichen Einfall, diesem Mangel abzuhelfen. Er errichtete im Jahre 1777 ein Local an der südwestlichen Ecke des Hydepark in London, welches Versammlungszimmer für die Freunde des Turf, einen Hofraum zur Ausstellung und zum Verkauf und Stallungen zur Herberge von Pferden umschloß, und fand, durch seine auf der Rennbahn gewonnenen Verbindungen unterstützt, mit seinem Unternehmen rasch den lebhaftesten Anklang. Nichts konnte bequemer sein, als das im fashionabeln Mittelpunkt der Hauptstadt gelegene Etablissement, wo man sicher sein durfte, zu gewissen Zeiten die hervorragendsten Koryphäen des Turf anzutreffen, die neuesten Nachrichten über Pferde und Wettrennen zu erfahren, und außerdem die beste Gelegenheit fand, das Geschäft der Rennbahn, Kauf und Verkauf von Pferden und, was noch wichtiger, die Besprechung und Liquidirung der Wetten zu besorgen. Richard Tattersall besaß die zur Leitung einer solchen Anstalt nöthige Energie und Erfahrung und legte den Schlußstein seines Gebäudes, indem er eine Turf-Zeitung gründete, in deren Spalten besoldete und freiwillige Mitarbeiter sämmtliche Ereignisse der Rennbahn discutirten. Als er zu Anfang unseres Jahrhunderts starb, war sein Erfolg auf’s Glänzendste festgestellt und „Tattersall’s“ die Londoner Sportsmen- und Pferdebörse, oder wie man, wegen der Lage des Locals an der Ecke des Hydepark, auch einfach sagte: the Corner (d. i. die Ecke) war eine ebenso unentbehrliche nationale Einrichtung geworden wie der Turf selbst. Richard Tattersall war außerdem glücklich genug, einen Sohn zu haben, der die Talente des Vaters geerbt hatte und, unter Pferden und Stallungen, unter Wetten und Auctionen, in dem Verkehr mit königlichen Prinzen, Herzögen, Grafen, Lords, Landedelleuten, Jockeys und Pferdezüchtern, kurz professionellen Sportsmen von jeder erdenklichen Herkunft und Schattirung, groß geworden, ohne Mühe in des Vaters Fußstapfen trat und sein Geschäft zu allgemeiner Zufriedenheit fortsetzte. Die Localitäten wurden, je nach dem Bedürfniß der Zeit, gelegentlich verschönt und erweitert, die Regulationen revidirt, bis der Tattersall das Aussehen erlangte, dessen manche unserer Leser, die während der internationalen Ausstellungen von 1851 und 1862 oder zu anderen Zeiten London besucht haben, sich gewiß noch erinnern.

Die specielle Vorsehung, welche über den Geschicken des Turf waltet, beschenkte auch den jüngern Tattersall mit einem des Anherrn würdigen Sprößling, und dieser Enkel des alten Richard ist es, der, von einem ebenfalls seiner würdigen Bruder unterstützt, gegenwärtig dem Tattersall vorsteht. Aber der alte Tattersall, an der alten „Ecke“ existirt nicht mehr. Wer heutzutage nach London kommt, wird seine Stätte vergebens suchen. Schon vor einer Reihe von Jahren hatte man gefunden, daß das Local den wachsenden Anforderungen der Zeit, der immer zunehmenden Menge der wettenden und wagenden Brüderschaft des Turf nicht mehr genüge; so begann man weiter nach Südwesten, an dem Punkte, wo die dem Hydepark entlang laufende große Fahrstraße sich gabelförmig in zwei nach Kensington und Brompton führende Straßen scheidet, den Bau des neuen Tattersall und zu Anfang der Turfsaison des verflossenen Jahres war das Werk vollendet. Es ist der Erwähnung werth, daß der Jockeyclub dies bedeutsame Ereigniß durch ein in dem großen Saale zu Ehren der Herren Tattersall veranstaltetes Festessen feierte und damit den neuen Tattersall einweihte. Zur Erhöhung der Feierlichkeit hatte man mit wahrhaft erstaunlichem Fleiße sämmtliche seit der ersten Gründung des Tattersall’s von den Siegern der Rennbahn gewonnenen Preise: silberne und goldene Becher, Vasen und Tafelaufsätze, aus allen Theilen Englands zusammengebracht.

Man betritt den neuen Tattersall durch ein säulengetragenes Thor, welches der oben erwähnten Abzweigung der großen Fahrstraße gerade gegenüber liegt und eine Einfahrt für Wagen und zwei Seiteneingänge für Fußgänger umfaßt. Zu beiden Seiten des zunächst hinter dem Thore gelegenen Vorhofes befinden sich die den Mitgliedern des Tattersall und den durch sie eingeführten Fremden ausschließlich geöffneten Räumlichkeiten: Lese- und Restaurationszimmer und das berühmte Subscription-Room. An diesem letzteren vorbei den Vorhof durchschreitend, gelangt man in die Auctionshalle, ein sehr geräumiges luftiges Local, zu dem der Eintritt dem großen Publicum ohne Ausnahme frei steht. Diese Auctionshalle wird durch ein Glasdach von oben her erleuchtet und hat bei einer Länge von etwa achtzig eine Breite von vierzig und eine Höhe von fünfunddreißig Fuß. Rechts vom Eingang der Halle führt eine Thür in einen mit Stallungen besetzten inneren Hof; eine andere Reihe von Ställen hat ihre Thüren in der linken Längenwand der Auctionshalle. Darüber erhebt sich eine offene Galerie, auf der eine Auswahl von Wagen nach den beliebtesten sportmännischen Mustern zum Verkauf ausgestellt ist.

Den Mittelpunkt der Halle nimmt ein kleiner kreisförmiger, säulengetragener, von einer Kuppel überwölbter und von der Büste Georg’s des Vierten gekrönter Pavillon ein. Es ist dies der einzige architektonische Schmuck des Tattersall, und während die königliche Büste das Andenken eines der eifrigsten Patrone des Turf und des mächtigsten Gönners der Familie Tattersall verherrlicht, bietet das Innere des Tempelchens Raum zur Feier des genius loci, der in Gestalt des schlauen Reinhardt Fuchs mit wohlgefällig glänzenden Augen von seinem Postamente die ihm geweihte Halle überschaut. Die ursprüngliche Absicht war ohne Frage, den Gedanken an die Fuchsjagd, jenes non plus ultra englischer Jagdfreuden, mit dem Tattersall in Verbindung zu bringen, aber die feine Selbstironie der Aufstellung des Fuchses in dem Centrum eines Locals wie des Tattersall ist unübertrefflich. Das Auctionsbureau steht in der hintersten Ecke der rechten Längenwand, und hier kann man in den Vormittagsstunden während der Saison den großen Tattersall selbst erblicken, wie er in höchsteigener Person Pferde zum Verkauf ausbietet und dem Meistbietenden diese edeln Gestalten des Thierreichs mit seinem eleganten kleinen Hämmerchen zuschlägt. Das Publicum, welches sich zu den Auctionen einfindet, hat das gemeinsam, daß es fast durchschnittlich stark nach dem Stalle riecht; übrigens ist es aus fast allen Ständen gemischt, ganz wie das die Wettringe der Rennbahn frequentirende Volk, und bietet wie dieses, von dem Lord zum Stalljungen herunter, [719] dem Beobachter interessante Materialien zu physiognomischen Studien dar. Die Pferde werden, eins nach dem andern, von den Grooms aus den Ställen herbeigeführt und mit besonders kritischem Auge gemustert, indem sie der Wand entlang dem Auctionsbureau zulaufen.

Interessanter jedoch ist ein Blick in das innere Heiligthum des Tattersall, in den Subscription-Room, der, wie bereits bemerkt, seine Thür der großen Masse des Publicums verschließt. In Hinsicht auf die Privilegien des Subscription-Room ist nämlich der Tattersall ein Club, über dessen Mitgliedschaft das Ballot entscheidet, während die Höhe des Jahresbeitrags von fünfzig Pfund Sterling eine vorläufige Garantie gegen das Eindringen des Pöbels der Rennbahn darbietet. Ein mir bekanntes Mitglied kam meinem Wunsche, diese inneren Räume zu sehen, freundlichst entgegen. Es war während der dem diesjährigen Derby (dem Haupttage der Epsomrennen) folgenden Tage, einer derjenigen Epochen der Saison, wo der Tattersall gewissermaßen den Höhepunkt seiner Existenz erreicht. Bekanntlich giebt es wenige Vorkommnisse des Lebens, auf welche in England nicht gewettet wird. Man wettet auf Abstimmungen im Parlament, auf Bootfahrten, auf Hahnenkämpfe, auf die Ankunft der ersten Theeschiffe von China, auf die Orthographie zweifelhafter Worte, kurz auf alle möglichen Chancen aller denkbaren irdischen Dinge, die dem müßig speculirenden Sinn in die Quere kommen. Das allgemeinste Object dieser nationalen Wettlust ist aber unzweifelhaft der Derby, und nie stellt das charakteristische Wesen des Tattersall sich dem Besucher in frappanteren Zügen dar, als während der jenem ersten aller Wettrennen folgenden Tage.

Die Zugänge, der Vorhof, die Auctionshalle erinnern an die Erscheinung der Londoner Börse, wenn sie am vollsten ist, wenn eine commercielle Krise sie mit dem aufgeregten Gewühl, dem wirren Durcheinander kaufmännischer Speculanten füllt. Unter guter Führerschaft kann man an solchen Tagen in dem Tattersall von sämmtlichen Charaktergestalten des Turfthums eine ebenso vollständige Anschauung gewinnen, wie am Peters- und Paulstage in Rom von der Hierarchie des katholischen Kirchenthums. Denn daß die gesammte Turfgenossenschaft nach dem Tattersall strömt, um das große Ereigniß zu besprechen und die dadurch erledigten Wetten zu liquidiren, ist ebenso ausgemacht, als daß der Donner dem Blitze folgt. Das Rennen der Pferde, das Rollen des Glücksrades in dem großen Hazardspiel ist vorüber, und nach der Ordnung des Spiels müssen Gewinne und Verluste spätestens am zweiten Tage nach dem Rennen geregelt werden. So wimmelt denn der Tattersall von den mit diesem traurig-süßen Geschäft befaßten professionellen Buchmachern (book-makers) aller Grade: – Zugänge und Vorhöfe von der Masse der Outsiders, d. h. Nichtmitglieder, der Subscription-Room von den Insiders, d. h. den privilegirten Mitgliedern.

Turfkenner berechnen die an Derbytagen gewonnenen und verlorenen Summen auf Millionen von Pfunden. Es kann daher nicht Wunder nehmen, wenn Züge und Geberden der den Tattersall durchwogenden Menge an solchen Tagen das Pandämonium aller eine „Spielhölle“ bewegenden Leidenschaften im größten Maßstabe darstellen. Mancher ist vollständig ruinirt, mancher hat Verluste erlitten, die ihm den Bankerott vor Augen führen, Andere haben sich durch ein fein ausgeklügeltes Balancirsystem von Wetten freilich vor Verlusten gesichert, sind aber ungewiß, inwiefern sie auf Liquidirung ihrer Gewinne rechnen können; auf den Gesichtern noch Anderer flackert der Sonnenschein „guten Glückes“ und die Tasche voller Banknoten, mit sattem Lächeln kehren sie dem chaotischen Wirrwarr des Tattersall den Rücken.

Unter den „Buchmachern“ herrscht eine Art von Freimaurerei, ein Ehrengesetz, wonach die Schulden des Turf allen andern Schulden vorangehen, und wenn man den Aussagen der Turfmänner und den Berichten der Zeitungen Glauben schenken darf, werden die Wetten im Ganzen mit erstaunlicher Regelmäßigkeit erledigt. Doch zwischen den von größeren und kleineren Geldsummen klingenden Lauten der Unterhaltung hört man auch Töne des Scandals: wie die Zahlungsfähigkeit dieses Mannes bezweifelt wird, wie Jener sich irgendwo verborgen hält, um bessere Zeiten abzuwarten, wie ein Dritter vor seinen Gläubigern über den Canal entflohen ist. Das letztere Ereigniß ist übrigens der Gipfel der mit dem Tattersall verbundenen aufregenden Vorgänge; wenigstens habe ich nie von einem Selbstmord unglücklicher „Buchmacher“ gehört. Innerhalb des Subscription-Room wiederholen sich so ziemlich dieselben Scenen wie draußen, nur daß für größere Bequemlichkeit gesorgt und der gewöhnliche Haufe der Buchmacher verbannt ist. Die Wände des geräumigen Saales sind geziert mit Bildern sportsmännischer Celebritäten und berühmter Rennpferde. In der Mitte steht eine achteckige Masse von Bureau, wo Wetten in die Bücher eingetragen und, unter Vergleichung der Bücher, erledigt werden. Hier sieht man die jeunesse und auch die vieillesse dorée der englischen Aristokratie. Alles wimmelt von Herzögen, Marquis, Grafen, Lords, von dem beinahe noch bartlosen jungen Erben, der sich unter der Anweisung erfahrener Freunde und schlauer Agenten beeilt, einen großen Theil seines kolossalen Vermögens in dem fashionabeln Spiel der Rennbahn zu verschleudern, bis zu dem abgelebten Roué, welcher mit Bedauern auf die schönen Zeiten Georg’s des Vierten zurückblickt.

Allein auch hier fehlt es nicht an Turfhelden, die sich vor Allem durch ihre Abwesenheit bemerkbar machen. Die Bezahlung ihrer letzten unglücklichen Wetten geht über ihre Kräfte, sämmtliche Versuche, Geld zu erheben, sind fehlgeschlagen. Vergebens erwartet der glückliche Gewinner ihr Erscheinen. Ohne Resultat vergeht der erste, der zweite Tag nach dem Rennen, so daß endlich am dritten Tage die Ausbleibenden die schreckliche Strafe ereilt, die Strafe der Verbannung aus dem Tattersall, indem ihr Name als der von Wortbrüchigen (defaulters) an der schwarzen Tafel des Subscription-Room angeschlagen wird. Aus dem Subscription-Room führen einige Stufen in den Garten hinab, einem von einer Rennbahn umgebenen Stück Rasengrund, wo die Mitglieder sich versammeln, um Pferde vor der Auction laufen zu sehen und (bei günstigem Wetter) in dem berühmten Wettringe des Tattersall (eben jenem Rasengrund) auf die Chancen der bevorstehenden Wettrennen zu speculiren.

Dies sind einige der Hauptumrisse und Charakterzüge der Londoner Sportsmen- und Pferdebörse. Die weite Verbreitung der von diesem Mittelpunkt nach hunderten binnenländischer Rennbahnen und Wettringe und in zahllose Privatkreise übergreifenden Wirkungen, ihren Einfluß auf die Vertheilung und Circulation gewaltiger Geldsummen, auf den socialen Verkehr der Volksclassen und die Bildung des Volksgeistes im Einzelnen zu verfolgen, verbieten die Grenzen des uns gesetzten Raumes. Eine kurze Hinweisung auf einige noch unerwähnte, professionell mit dem Tattersall in Verbindung stehende Figuren, aus deren Mitte ich die Gestalten des Journalisten, des Agenten und des Turfpropheten auswählen will, mögen zur Ergänzung genügen.

Der Journalist des Tattersall hat das Geschäft des Berichterstatters der Börse. Tägliche authentische Nachrichten über den Preiscourant der berühmtesten Rennpferde, über die angebotenen und angenommenen Wetten, über die Menge der Besucher, über den Ton und die Gegenstände der Unterhaltung, kurz über sämmtliche nennenswerthe Vorgänge des Tattersall werden von ihm erwartet. Das Interesse an diesen Dingen ist so allgemein, daß nicht blos in den Sporting-Journalen, sondern in allen politischen Tageblättern der „Tattersall“ eine stehende Rubrik bildet, deren Abwesenheit sofort von Tausenden von Lesern würde vermißt werden. Die beschäftigtste Zeit des Journalisten (wie auch der Agenten und Turfpropheten) sind natürlich die Frühlings- und Sommermonate, so lange das Wetter die Rennbahn offen hält; aber ganz ohne Stoff ist er selten, obgleich sein Gebiet ungleich weniger ergiebig ist, als das seiner umherreisenden journalistischen Fachgenossen, die unter den Pseudonymen „Hotspur“, „Nimrod“, „Argus“ u. a. über die Ereignisse aller Hauptrennbahnen Berichte liefern. Da diese letzteren gründliche Kenner von „Pferdefleisch“ sein müssen, verbinden sie mit dem Journalistenamt gelegentlich auch das der Agenten und Turfpropheten, ohne jedoch der eigenthümlichen Stellung jener beiden Classen wesentlich Eintrag zu thun. Eine besondere Classe von Turfmänner bilden die sogenannten Tipsters, d. h. Leute die auf ein Rennpferd tippen, prophetisch darauf hinweisen, als den Sieger in einem bestimmten Wettkampf der Rennbahn. Manche Tipsters bieten ihre Dienste durch Annoncen feil: einen Schilling für eine Prophezeiung (tip), zwei Guineen für alle Hauptereignisse eines Turfjahres. Andere haben reiche Gönner und feste Engagements, reisen, kundschaften, correspondiren und telegraphiren von Ort zu Ort und leben herrlich und in Freuden, bis auch sie die Nemesis des Hazardspiels auf eine oder die andere Weise erreicht.

[720] Ueber die Moralität des Turf und des Tattersall ließe sich ein langes Capitel schreiben. Doch wir haben dem Leser hinreichende Materialien geliefert, woraus er sich über diesen Punkt ein Urtheil bilden kann, und er mag selbst entscheiden, inwiefern die von dem echten Briten beanspruchte Superiorität des Tattersall vor einer „Spielhölle“ stichhaltig ist. Zum Schluß sei nur bemerkt, daß auch in England alle intelligenten Beobachter die Entartung des Instituts der Rennbahn in ein Institut der Schwindelei und des Hazardspiels beklagen und die Ausscheidung so vieler Mißbräuche von den anerkannten Vorzügen eines der merkwürdigsten Volksspiele befürworten.




Frauenemancipation.[1]
Eine Fastenpredigt von Paul Heyse.
Il est bien plus aysé d’accuser un sexe que d’excuser l’autre.0 Montaigne.


Im Winter war’s. Wir saßen eingeschneit,
Doch warm und wohlgemuth, am runden Tische,
Ein Häuflein guter Leute, buntgereiht,
Auch Frauenschönheit glänzt’ in Jugendfrische,

5
Und doch, obwohl es nicht an Witz gebrach,

Flog auch einmal ein Engel durchs Gemach.

Ich, als der Wirth, der ungebetnen Gästen
Höflich die Thüre weis’t, that meine Pflicht
Und brach sogleich vom Zaun, dem ersten besten,

10
Ein Thema, das man nie zu Ende spricht,

Den Engeln dieser Erde stets ein Grauen:
Das Thema der emancipirten Frauen.


Noch, dacht’ ich, darfst du diese Possen treiben,
Bis deine Töchter erst erwachsen sind

15
Und jedes Wörtchen hinters Ohr sich schreiben,

Das der Papa hinplaudert in den Wind.
Heut, da sie noch in Kinderschuhen stecken,
Ist’s wohl erlaubt, die edlen Frau’n zu necken.

Doch ich bereut’ es bald. Thessaliens Damen,

20
Die Orpheus, wie die Sage geht, zerfleischt,

Löwinnen, die um ihre Jungen kamen,
Bruthennen, wenn im Blau der Habicht kreischt
Umsonst versuchen wir in schwachen Bildern
Den Sturm empörter Weiblichkeit zu schildern!

25
Denn, wie ein Wort das andre giebt, geschah’s

Auch dieses Mal, daß Ernst und Scherz sich mischten,
Daß jenem Sprühgewölk von Spott und Spaß
Auch Hagelkörner wohlgezielt entwischten.
Ein ernst Capitel ist die Pädagogik,

30
Und unversehns bedient man sich der Logik.


Nun ist die Logik wie ein Schwert; sie spaltet
Harnisch und Helm im ernsten Männerstreit,
Doch wo der Schönheit mächt’ger Zauber waltet,
Stumpft ihre Schärfe schon ein flornes Kleid,

35
Geschweig’ ein weißer Hals. Ich focht mit Ehren,

Doch hatt’ ich Noth mich meiner Haut zu wehren.

Umsonst parirt’ ich. Meinen Gegnerinnen
Galt für bewiesen: unsrer Mütter Ruhm,
Am stillen Heerd sich thätig einzuspinnen,

40
Mir dünk’ er nur ein weißes Sclaventhum;

Sie sollten keck ihr Menschenrecht gebrauchen,
Lateinisch lernen und Cigarren rauchen.

Rauchen? Und warum nicht? In der Türkei
Raucht man im Harem statt der Handarbeiten.

45
– „Hört! Er empfiehlt noch gar Vielweiberei!“

– Je nun, auch sie hat ihre guten Seiten.
(So im Gedränge zwischen Ernst und Lachen
Entschlüpfen einem sehr gewagte Sachen!)

Dies nur beiseit. Doch da, wo unbestritten

50
Von je geblüht die schönste Frauenflora,

Berühmt durch monogamisch reine Sitten,
Am grünen Tajostrand, raucht die Sennora
Sammt ihrer Magd puros und cigarritos,
Und wie man sagt, nicht blos für die Mosquitos.

55
Ein Beispiel ist’s, ich werf’ es nur so hin

Und will euch diese Uebung gern erlassen.
Zum Frauenmund – so weit ich Kenner bin –
Scheint mir der Duft Havanna’s nicht zu passen.
Doch wie verrathen Lippen, die wir küssen,

60
Ob sie Horaz zu buchstabiren wissen?


Latein – nun freilich wohl, es ist entbehrlich,
Doch lerntet ihr’s, es würd’ euch nicht entweiben.
Noch keiner Tugend ward es je gefährlich,
Und statt die Zeit leichtsinnig zu vertreiben

65
Mit Dumas fils und ähnlichem Gelichter,

Les’t lieber noch Roms übermüth’ge Dichter.

Ja nur zum Hausgebrauch. Denn wär’ es Usus,
Käm’ euch so manches Wort nicht spanisch vor,
Als: tempora mutantur, und: abusus

70
Non tollit usum
, und: excelsior!

Da sprach die Jüngste rasch: „Doch heißt es ja:
Mulier taceat in ecclesia!“ –

Kein Hieb und Stich trifft uns mit solcher Schwere,
Als wenn der Feind von uns sich Waffen stahl.

75
Ja, warf ich hitzig ein, das ist die Lehre.

Der „guten alten Zeit!“ Doch wagt’s einmal,
Statt Aeltermutter-Weisheit nachzubeten,
Den steilen Pfad zur Freiheit zu betreten.

Wagt, frei zu sein! – Und Eine sprach: „Du weißt,

80
Nach Freiheit strebt der Mann, das Weib nach Sitte.“ –

Und ich: Die Sitte folgt, wohin der Geist
Sie herrschend lenkt, gern seinem Führertritte.
Unsittlich ist nur Eins: sein tiefstes Leben
Hinopfern, um am dumpfen Brauch zu kleben.

85
Zwar Jene, die sich strebend losgerungen

Vom Schlendrian, dem längst der Geist entwich,
Nur selten haben sie den Sieg errungen
Und fielen tragisch oder lächerlich.
Der Enkel erst zeigt staunend ihre Spuren

90
Und ehrt das Schicksal höherer Naturen.


Denn kommen wird ein lichteres Jahrhundert,
Das über Sitten, die ihr heute preis’t,
Mit Achselzucken lächelnd sich verwundert,
Wie man die Zeiten heut barbarisch heißt,

95
Wo noch die Kunst, zu schreiben und zu lesen,

Geheimniß wen’ger Sterblichen gewesen.

Wie? spotten dann die Enkel, jenen Frau’n
War’s eine Wohlthat, sich beschränkt zu wissen?
Die je entsprang dem engen Breterzaun

100
Der Vorurtheile, ward vom Wolf gebissen?

Sie weideten gleich einer frommen Heerde
Unschuld’ger Lämmer auf umpferchter Erde?

War anders Fleisch und Blut? Wog ihr Gehirn
Nicht dem der Männer gleich? Warum die Schranken

105
Um ihre reingewölbte Menschenstirn?

Warum entfernt vom Kampfe der Gedanken
Im öden Dienst alltäglicher Geschäfte
Vergeudeten sie ihres Geistes Kräfte?

Rechtlos, gedankenlos – – und weiß der Himmel,

110
Was ich noch sonst gehöhnt, verleumderisch;

Da in des Kampfes heftigstem Getümmel
Erscholl der Segensruf: Zu Tisch, zu Tisch! –
Beim Essen hab’ ich stets den Streit gemieden;
So ward denn Frieden – doch ein fauler Frieden

115
Erfahren sollt’ ich’s, daß ich einen Gegner

Gereizt, der unversöhnt auf Rache sann
Und nur zu bald mit dreifach überlegner
Mannschaft und List die Fehde neu begann.
Die klugen Frau’n! sie warben rasch entschlossen

120
Die schwachen Männer selbst zu Bundsgenossen.


In eines Freundes Haus werd’ ich geladen,
Wo sich die muntre Jugend oft ergötzt
Im Carneval an Schwänken und Charaden.
Ich, da ich kaum mich arglos hingesetzt,

125
Seh’, wie der Hausherr lächelt, winkt und blinzt,

Wie wenn man sagt: Heut ist’s auf dich gemünzt!

Die Klingel tönt, auf thun sich die Gardinen,
Und ein Gemach erscheint, ganz übersät
Mit Büchern, Globen, chemischen Maschinen,

130
Auch ein Skelet als schmuckes Hausgeräth;

Ein Mann tritt auf, zerrissen und zerzaus’t –
Halt! denk ich, heut vergreift man sich am Faust.

[721]

Doch weit gefehlt. Gleich in den ersten Sätzen
Macht er dem werthen Publicum bekannt,

135
Er wisse diesen Trödel nicht zu schätzen,

Doch seine Frauen hätten mehr Verstand.
Im zwanzigsten Jahrhundert, wie man sehe,
Sei ihre Bildung auf der wahren Höhe.

Er habe zwar, Gott sei’s gedankt, nur drei,

140
Und doch in diesen drei der Facultäten,

Da seine Fanny Doctor juris sei,
Nanny entdecke Sonnen und Planeten,
Die liebe Betty sei Prosectorin
Und just Magnificenz und Rectorin.

145
Die Theologin fehle noch. Inzwischen

Ueb’ er sich selbst in christlicher Geduld
Und pfleg’ auch in die Wirthschaft sich zu mischen,
Denn, sehr natürlich, hinterm Schreibepult
Sei keine Zeit für niedre Interessen,

150
Für einen Mann und für das Mittagessen.


Nun wiss’ er wohl, das sei des Fortschritts Segen,
Doch Maß zu halten ziem’ in allen Stücken.
Sein Doctor juris müßte – von Rechtswegen –
Ihm endlich doch den alten Schlafrock flicken,

155
Die Anatomin an den Braten denken,

Nanny den Himmel ihm auf Erden schenken.

Fürwahr, nicht länger lass’ er mit sich spaßen,
Nachgrade geh’ es gar zu kunterbunt.
Ein Mann sei auch ein Mensch gewissermaßen,

160
Und müss’ er länger leben wie ein Hund,

So hol’ der Henker – aber horch, sie kommen!
Muth jetzt! Kein Blatt mehr vor den Mund genommen!

Und sieh, es treten ein drei junge Frauen,
Die Feder hinterm Ohr, sonst ganz charmant,

165
Die den Gemahl so obenhin beschauen,

Als wär’ er ihnen nur von fern bekannt.
Sie nehmen Platz am Tisch, und eine Jede
Hält eine zierliche Kathederrede.

Der gute Mann scheint selbst davon erbaut,

170
Doch endlich mahnt Natur an ihre Rechte.

Ihr Theuren, fleht er mit gedämpftem Laut,
Wie wär’ es, wenn man jetzt die Suppe brächte?
Ich hungre wie ein Wolf und möcht’, indessen
Ihr weise Reden führt, zu Mittag essen.

175
Dich hungert? spricht die Eine vorwurfsvoll:

Wann lernst du nur, dich von Idee’n zu nähren?
Nimm dir ein Vorbild, wie man leben soll,
Ein leuchtendes, an jenen Himmelssphären,
Die ruhelos um ihre Achse kreisen

180
Und Aether nur und Sonnenstrahlen speisen.


Ich selbst, obwohl ich Nachts im Sterngefild
Die ganze Bahn des Uranus durchschritten,
Ich habe meinen Hunger nur gestillt
Mit ein’gen aufgewärmten Kegelschnitten

185
Und zog mir heute früh zum Morgenschmaus

Zwei kleine Wurzeln dritten Grades aus.

Vergieb ihm, Schwester, redet sanft die Zweite;
Der Hunger auch gehorcht Naturgesetzen.
Der Chylus sehnt sich, daß er Blut bereite,

190
Dynamisch will er Nahrungsstoff zersetzen,

Erneu’n den Trieb der feinen Lebenssäfte
Mit Hülfe der molecularen Kräfte.

Doch die vulgäre Sitte, sich zu mästen
Mit Fisch und Fleisch – wie roh und abgeschmackt!

195
Ich geb’ euch heute einen Stoff zum Besten,

Den ich benannt „Vegetations-Extract“.
Seht hier, nur erbsengroß, leicht zu verdauen,
Woran wir sonst zwei volle Stunden kauen.

Ein Drittel Stickstoff, Kohlenstoff ein Drittel,

200
Das dritte Drittel Hydropyrozon.

Komm, lieber Gatte, koste dieses Mittel! –
Und er: Nein, großen Dank! Vom Namen schon,
Vom bloßen Anblick fühl’ ich neue Kraft.
Da seht, welch ein Triumph der Wissenschaft!

205
Rasch meinen Hut! Ich will ins Kaffeehaus.

Hier aber fehlt an meinem Rock ein Knopf.
Christel!! – Und Fanny sprach: Die Magd ging aus.
Wir kennen leider ihren harten Kopf;
Sie bleibt dabei, ich dürfe sie nicht strafen

210
Nach des gemeinen Hausrechts Paragraphen.


Sie will sich nun ein Corpus juris leih’n;
Dort, faselt sie, sei allen Domestiken
Das Recht verbürgt, impertinent zu sein.
Drum kann sie den verlornen Knopf nicht flicken,

215
Und magst du nicht die kleine Lücke leiden,

Rath’ ich, die andern auch vom Rock zu schneiden. –

Ein weiser Rath! Doch wenn du selber, Fanny – –
– Ich muß in’s Schwurgericht, um zu plaidiren! –
Du aber bleibst zu Hause, theure Nanny? –

220
– Ich muß die Sonnenflecken observiren. –

Und du, Bettina, vielgeliebtes Wesen? –
– Verzeih’, ich habe jetzt Colleg zu lesen.

Und feierlich mit strengen Amtsgesichtern
Rauscht das gelahrte Kleeblatt aus der Thür.

225
Der Gatte sieht sie scheiden, stumm und schüchtern,

Dann ruft er: Rache dieser Ungebühr!
Nicht länger will ich hungern, dürsten, frieren,
Auch ich – auch ich will mich emancipiren.

Noch heute rück’ ich ein in’s Tageblatt:

230
Ein Mann von Bildung und von angenehmen

Manieren, der bereits drei Frauen hat,
Wünscht eiligst eine vierte Frau zu nehmen.
Die strengste Discretion ist Ehrenpflicht,
Auf Schönheit und Vermögen sieht er nicht.

235
Ja, würd’ ein Kobold selbst ihm angetraut,

Doch wie die Engel lebten sie zusammen.
Auf Einem nur besteh’ er fest: die Braut
Müss’ aus dem vorigen Jahrhundert stammen
Und durch Atteste, die es klar bescheinigen,

240
Sich vom Verdacht moderner Bildung reinigen.


Doch nähen soll sie, kochen, waschen, flicken,
Und in ein Buch – das Kochbuch nehm’ er aus
Und das Gesangbuch – nie und nimmer blicken,
Und Notabene: käm’ es je heraus,

245
Daß sie die Schriften von P. H. gelesen,

Sei sie die längste Zeit sein Weib gewesen.

Mit dieser Nutzanwendung schloß das Spiel.
Applaus erscholl, Hervorruf wie gebührlich;
Ich, aller schadenfrohen Blicke Ziel,

250
Rief, klatschte, lacht’ am hitzigsten natürlich.

Was sollt’ ich thun, gefangen in der Falle,
Meuchlings gefoppt, ich Einer gegen Alle?

Kein Spielverderber sein und Spaß verstehn!
Und so bedankt’ ich mich für „gnäd’ge Straf’“.

255
Doch Eine sprach: Es wird uns schlimm ergehn.

Er schnellt den Pfeil zurück, der heut ihn traf,
Bringt unsre Schwächen in den Mund der Leute
Und schreibt ein Stück: „Die guten Frau’n von heute“.

Nein, meine Theuren, nichts von Aug’ um Auge

260
Und Zahn um Zahn! Ich bin mir wohl bewußt,

Daß ich zum Molière dieser Zeit nicht tauge,
Und euch zu lästern spür’ ich keine Lust.
Auch lernt’ ich: blancas manos non offenden,
Die Wunden schmerzen nicht von schönen Händen.

265
„So giebst du dich besiegt?“ – Für heute gern!

Den Kürzern zög’ ich doch in diesem Streite.
Im Carneval hält man den Ernst sich fern,
Die Lacher sind einmal auf eurer Seite.
Ich tisch’ ein andermal, als Fastengabe,

270
In Versen auf, was ich zu sagen habe.


„Die Hand darauf?“ – O, warum schlug’ ich ein!
Nun wär’ ich des Gelübdes gern entledigt,
Denn wenig Gunst erwirbt sich insgemein,
Wär’ sie gereimt auch, eine Fastenpredigt,

275
Dazu ein Text, von allen controversen

Der controverseste, und das in Versen!

Indeß, die Verse, wenn man’s recht bedenkt,
Sind noch ein Trost. Entschlüpft mir wider Willen
Ein Wort, das zarte Leserinnen kränkt,

280
Versüßen Vers und Reim die innern Pillen.

Narkotisch wirkt die Poesie und lullt sie
In holden Traum ein. Utile cum dulci!

„Nur kein Latein mehr, Herr Poet. Du weißt,
Wir sind nur schlecht und recht fürs Haus erzogen.“ –

285
Halt, meine Damen! Zwar, euch fehlt zumeist

Die Textkritik der echten Philologen,
Doch daß es an Gelehrsamkeit euch fehle,
Verleumdung ist’s, bei meiner armen Seele!

Euch drückt das Gegentheil: ihr lernt zu viel!

290
Bedenkt, vier Sprachen plaudern oder lesen,

Geographie vom Nordpol bis zum Nil,
Geschichte von Aegyptern und Chinesen
Bis auf den letzten Mohikaner, jenen,
Um den ihr weintet süße Backfischthränen;

295
Ein Abriß dann der Literargeschichte

Von Ulfilas bis Heine (exclusive),
Poetik auch (das Fräulein macht Gedichte),
Dogmatik (freilich nicht die apokryphe) –
Mich dünkt, ihr könnt bei so immensem Wissen

300
Das bischen Griechisch und Latein wohl missen.

[722]

Und strömt ihr nicht, wenn ihr mit sechzehn Jahren
Der Schule, der Pension entwachsen seid,
Um euren Schatz vorm Rosten zu bewahren,
Dem Hörsaal zu und lauschet dichtgereiht,

305
Wenn große Männer edlen Trieb verspüren,

„Die Wissenschaft in’s Leben einzuführen“?

Von Allem nur die Blume, nur den Saft!
Heut Humboldt’s Kosmos, morgen Kant und Fichte.
Ein heitrer Vortrag über Stoff und Kraft,

310
Ein Blick in römische Culturgeschichte,

Zoologie, Geologie, Botanik,
Akustik, Ethik, himmlische Mechanik.

Dann tritt ein hochberühmter Forscher auf
Und spricht zwei Stündlein über Karl den Kahlen,

315
Auch der Statistik läßt man freien Lauf,

Nur schenkt man euch die leidig trocknen Zahlen;
Der Chemiker spielt vollends den Galanten
Und macht ein Feuerwerk von Diamanten.

Nicht wahr, das blitzt, das funkelt? Und zu Haus

320
Arbeitet dann das Fräulein Nachts verstohlen

Wie ein Student ein saubres Heft sich aus
Und schreibt: „Demanten brennen wie die Kohlen.“
Dann legt sie sehr gebildet sich zu Bette
Und träumt – vom letzten Ball, was gilt die Wette?

325
Und wär’s zu tadeln? Jugend will ihr Recht.

Ich bin der Letzte, der es ihr mißgönnte,
Vielmehr bedünkt es mich, daß eu’r Geschlecht
Viel Bücherkram sich billig sparen könnte,
Der, wär’ er sonst auch noch so wissenswerth,

330
Das Eine doch, was Noth, euch nimmer lehrt.


„Und dieses Eine?“ – Ja, gesteh’ ich’s ehrlich,
Mir fehlt der Muth, es unverblümt zu sagen.
– „Der Muth? warum?“ – Im Zorn seid ihr gefährlich,
Und nur zwei Augen hab’ ich dran zu wagen! –

335
– „Wir woll’n im Voraus dir die Strafe schenken.

Nur dreist heraus! dies Eine ist –?“ – Das Denken.

– „Das Denken? Ei, wir dächten doch, wir denken
Zum Nothbedarf.“ – Gewiß; wie Frauenzimmer! –
– „Mag sein; doch unsre kleine Welt zu lenken

340
Und euch am Narrenseil, genügt es immer.

Wie, oder willst du gar – es ist zum Lachen! –
Uns, ohne Bart, zu Philosophen machen?“ –

Euch? Wie ihr fragt! Ist denn von euch die Rede?
Anwesende sind immer ausgenommen.

345
Von euch, ihr Liebenswürdigsten, ist Jede,

So wie sie geht und steht, durchaus vollkommen.
Ich spreche nur – wie könnt’ ich’s anders meinen! –
Vom weiblichen Geschlecht im Allgemeinen.

Denn jene Einzlen, die wie höh’re Wesen

350
Sich nur verirrt in diese niedre Welt,

An Adel, Reiz und Huld so auserlesen,
Daß Ehrfurcht, wenn sie nah’n, die Seele schwellt,
Sie, denen willig wir zu Füßen sänken, –
Wem fällt es ein zu fragen, ob sie denken?

355
Schooßkinder der Natur, aus ihrer Fülle

Begabt mit Allem, was uns Armen fehlt;
Siegreiche Kraft in zartgewobner Hülle,
Die holde Form vom reinsten Hauch beseelt;
Und wandeln sie im Schooß der Mitternächte,

360
Mit blindem Griff erwählen sie das Rechte!


Sie mögen nur dem Gott im Busen lauschen,
Und immer ohne Fehl beräth er sie.
Mit keinem Weisen brauchen sie zu tauschen,
Denn ihr Geschlecht allein ist ihr Genie.

365
Sie – – doch ich merke, daß ich Hymnen schreibe,

Ein Liebeslied, ein hohes Lied vom Weibe.

Und doch, aus andrem Tone wollt’ ich singen.
Kommt, laßt uns offen reden, meine Guten.
Die Sach’ ist wichtig; drum vor allen Dingen

370
Die Höflichkeit beiseit auf fünf Minuten!

Gesteht, im Allgemeinen habt ihr Mängel;
Viel Evastöchter sind – und wenig Engel.

Nun denn, und diese Mehrzahl, schwach genug,
Wie stößt man sie hinaus ins rauhe Leben?

375
Wer sorgt, euch gegen Trug und Selbstbetrug

Den Schild, den Schirm, die Leuchte mitzugeben,
Will sagen: die Vernunft, die klare, wache?
Vernunft? Behüte! Die ist Männersache.

So hätten sich der Schöpfung stolze Herrn

380
Den Löwenantheil listig vorbehalten?

O diese Selbstischen! sie möchten gern
Im Puppenstand euch lebenslang erhalten,
Vielleicht aus Furcht, die Zügel zu verlieren,
An denen sie euch doch nur schlecht regieren.

385
Sagt selbst, wenn ihr die Augen aufgeschlagen

Und euch erblickt in dieser fremden Welt,
Bestürmen nicht auch euch die Räthselfragen,
Die uns die alte Sphinx, das Leben, stellt?
Woher? wohin? was ist die letzte Meinung

390
Mit diesem All buntwechselnder Erscheinung?


Der Ursprung dunkel, tiefverhüllt das Ziel,
Die Nähe sorgenvoll und bang die Ferne,
Und rings um euch ein hastig Schattenspiel,
Erzeugt vom Strahl der magischen Laterne –

395
Wie soll die schöne junge Menschenseele

Erkennen, wen sie sich zum Führer wähle?

Wie lockend spiegelt ihr ein Jeder vor:
Komm, folge mir! Ich helle dir die Pfade!
Da winkt ein Irrlicht, hier ein Meteor,

400
Dort ein Komet und drüben die Plejade.

Das arme Kind mit zweifelndem Gewissen
Geht zum Papa; der wird doch Hülfe wissen.

Ja Der! Der küßt sein Mädchen auf die Stirn
Und spricht: Mein Püppchen, das sind heikle Dinge,

405
Noch viel zu schwierig für ein junges Hirn.

Strick’ lieber deinen Strumpf und tanz’ und singe,
Doch dir den Kopf zerbrechen? – ei, das wäre!
Zu Ostern kommst du in die Christenlehre.

Nun soll der Gottesmann die Zweifel schlichten,

410
Und welch’ ein hoffend Herz bringt sie ihm zu!

Den aber plagt Metaphysik mit nichten;
Nur Eins ist Noth, daß Jeder Buße thu’,
Den Teufel als den Erzsophisten hasse,
Den Herrgott einen guten Mann sein lasse.

415
Du grübelst, Kind? Das ist der Seele schädlich.

Hinweg damit! Glauben ist mehr denn Wissen. –
Die junge Sünderin zerknirscht sich redlich,
Küßt ihm die Hand, stickt ihm ein Sophakissen,
Die alten Scrupel melden sich nur selten;

420
Froh ist sie, endlich auch für voll zu gelten.


Concert, Theater, Bälle, Badereisen,
Man hat Talente, dichtet, malt und singt
Und spielt Komödie in Familienkreisen,
Und wenn die erste Liebe Leiden bringt,

425
Die werden bald verschmerzt im Arm des Gatten.

Bei so viel hellem Licht – wo bleibt der Schatten?

Er bleibt nicht aus. Dich überrascht die Stunde,
Wo es wie Schuppen dir vom Auge fällt:
Wie reich du dich bedünkst, du bist im Grunde

430
In schwerer Prüfung auf dich selbst gestellt.

Das Leben schien dir ohne Pfand zu leih’n
Und kommt zuletzt und steht auf seinem Schein.

Wohl dir, wenn dann ein frommer Kinderglaube
Dir nie versagt, wenn, wie der Sturm auch weht,

435
Stets dir ein Oelblatt bringt die heil’ge Taube.

Doch Vieles ist, was nicht geschrieben steht,
Was räthselhaft den tiefverstörten Geist
Mit strenger Mahnung in sein Innres weis’t.

Und hast du dann im Innern ein Asyl,

440
Ein heimliches, wohin die Seele flüchte,

Daß sie mit still gesammeltem Gefühl
Den Widerstreit von Pflicht und Neigung schlichte?
Verlorst du nicht im Taumel eitler Lust
Das Heimathsrecht in deiner eignen Brust?

445
Und wenn du glücklich bist, wenn Schuld und Schmerz

Nie feindlich drohten deinem Seelenheile,
Hast du auch Waffen, unerfahrnes Herz,
Für deinen treusten Feind, die Langeweile?
Ich höre schon, die Antwort ist bereit:

450
Die Mutterpflichten kürzen uns die Zeit.


Gut denn! Ein Dutzend Kinder, nehm’ ich an,
Sind Tag für Tag zu waschen und zu wiegen.
Doch auch die Feierstunde rückt heran,
Wo alle friedlich in den Betten liegen.

455
Dann – – „Glaub’ es nur, dann ist man viel zu müde,

Als daß man noch mit Denken sich belüde.“ –

Wohl! Doch die Jahre flieh’n; die Kinderschaar
Entwächst einmal der Mutterzucht und -Pflege.
Das Haus wird leer, das voll Gewimmel war,

460
Im Schooße ruht die Hand, die einst so rege.

Dann, dünkt mich, wär’ es zu bedenken Zeit,
Daß ihr vernunftbegabte Wesen seid.

Was dann? – „Nun dann – da sind die Zeitungsblätter,
Der neueste Roman und der ‚Bazar‘,

465
Kaffeebesuche, ein Gespräch vom Wetter,

Von langer Weile wird man nichts gewahr.“ –
Nichts? wirklich Nichts? Habt ihr die langen Stunden
Des kurzen Lebens niemals leer gefunden?

[723]

Doch ihr verleumdet euch. Ihr sprecht, ich weiß,

470
Zu eurem Mann von mancherlei Problemen.

Der aber meint, sehr überflüssig sei’s,
Zu spintisiren. Aller unbequemen
Idee’n hab’ er sich selber längst entschlagen.
Er hat ja Geld. Soll er mit Geist sich plagen?

475
Zu denken geb’ ihm sein Geschäft genug,

Er hasse gründlich die gelehrten Weiber.
Philosophie sei eitel Lug und Trug,
Geschichte? ein Gespenst der Zeitungsschreiber!
Er lobe sich, was jetzt an ihre Stelle

480
Getreten, das Solide und Reelle.


Komm, küsse mich; kauf’ dir ein neues Kleid!
Heut Abend sollst du den ‚Propheten‘ hören. –
Spricht er nicht so? Und lernt ihr mit der Zeit
Nicht auch, den Trieb zum Ew’gen abzuschwören,

485
Als unfruchtbar? Nur einer tiefern Seele

Bleibt das Gefühl, daß es am Besten fehle.

Vielleicht ist sie nicht schön mehr, nicht mehr jung,
Nicht eitel mehr, dafern sie’s je gewesen
(Auch weiße Raben giebt’s); Erinnerung

490
Ist kein Roman, um sich in Schlaf zu lesen.

Vielleicht wollt’ ihr der Himmel nie bescheren
Das Glück, ein Kind an ihrer Brust zu nähren.

Vielleicht, so freundlich sie sie aufgeschmückt,
Stehn manche Kammern ihres Herzens leer.

495
Mit Blumen, wie man sie auf Gräbern pflückt,

Bekränzt man keine Freudenfeste mehr.
Der Tag, der Flügel hat, so lang wir lieben,
Trägt Bleigewichte, wenn wir einsam blieben.

Die Hoffnung schwand, das Leben zu genießen,

500
Der Drang erwacht, das Leben zu verstehn.

Nun, Freudenlose, willst du dich entschließen
Und bei den Weisen in die Lehre gehn?
Wie hart die Schulbank sei, du wirst’s erfahren,
Nach Sexta wandernd in ‚gewissen Jahren‘.

505
Zwar bleibt ein andrer Weg. Versuch es dreist,

Was Schritt für Schritt zu steil ist, zu erfliegen.
Die Feder, wie bekannt, beschwingt den Geist
Und lehrt ihn, sich im luft’gen Nebel wiegen,
Daß Frauen schreiben, ist ein guter Brauch:

510
’s ist eine Handarbeit wie andre auch.


Verzeiht den Scherz; schon widerruf’ ich ihn.
Verpönt sei das beliebte Naserümpfen,
Wenn ihr das Pfund benutzt, das euch verlieh’n,
Und Niemand rede mehr von blauen Strümpfen.

515
Laßt lieber euch an jenen Wahlspruch mahnen:

Wir öffnen dem Talent die höchsten Bahnen.

Doch nur der Schweiß kann euch zu Meistern weih’n.
Kein Denker fällt vom Himmel, kein Poet;
Wollt ihr euch ernstlich in die Kette reih’n,

520
Sorgt, daß ihr zeitig in die Schule geht,

In eine Schule, wo von allem Wissen
Nicht nur genascht wird, sondern angebissen.

Und nun, andächt’ge Hörerinnen, merkt,
Mein Credo ist: so wie man’s heute treibt,

525
Wird nur die Schwäche des Geschlechts bestärkt;

Wir schmeicheln euch, daß ihr die Schwächern bleibt;
Und während wir euch knechten und verwöhnen,
Sollt ihr uns Männer ziehn aus unsern Söhnen!

Wie? lehrte man euch jemals, Ernst zu machen,

530
Zu waffnen euren Geist zu Schutz und Trutz?

War’s nicht ein Spiel mit bunten Siebensachen,
Ein Trödelkram, ein loser Flitterputz,
Nur brauchbar, im Salon damit zu glänzen?
Hinweg mit diesen leichtverwelkten Kränzen!

535
Was ihr auch lernt, schärf’ eures Geists Organe,

Und Plato’s hohem Fluge folgt ihr noch.
Erwacht aus jenem tausendjähr’gen Wahne,
Was ihr nicht spielend faßt, sei euch zu hoch.
Der Schaum des Lebens nur ist Lust und Lachen,

540
Die Neige bittrer Ernst: lernt Ernst zu machen!


Und wär’ Gefahr, daß ihr im Wissensdrange
Vergeßt, wozu Natur das Weib erschuf?
Davor, ihr Zärtlichen, sei euch nicht bange;
Denkt jener Philosophin von Beruf,

545
Die nie verlernt hat, Abälard zu lieben,

Obwohl sie sich latein’sche Briefe schrieben!

Nein, jene Ströme, die so labend fließen,
Drin sich Jahrtausende gespiegelt sehn,
Man soll sie nicht dem ‚schwächern Theil‘ verschließen,

550
Weil ihre Wogen tief und reißend gehn.

Ich sage: Kommt! Ihr Alle seid geladen,
Vom Staub des Tagewerks euch rein zu baden.

Zwar dieser Ladung, Dank dem hochwohlweisen
Urväterzopf, folgt ihr für’s Erste schwerlich,

555
Und ein Professor wird vielleicht beweisen,

Das Denken sei der Muttermilch gefährlich,
Es mache taub und blind und unfruchtbar
Und bringe gar die Kochkunst in Gefahr.

Dies Alles laß ich gern dahingestellt

560
Und bin so frei, mein Theil davon zu denken.

Ich weiß, ’s ist etwas faul in dieser Welt;
Wohl mir, daß ich nicht kam, sie einzurenken.
Dies ist vielmehr die Pflicht des Herrn Professors;
Ich pred’ge hier und sage nur: Gott besser’s!

565
Und nun zum Schluß, andächtige Gemeinde:

Friede sei zwischen uns! Was ihr auch denkt
Vom Denkenlernen, meine schönen Feinde,
Denkt nur nicht schlimm von mir; vielmehr bedenkt,
Ich bin vielleicht kein Seelenhirt für Damen,

570
Doch euer Freund, und Gott versteht mich.0 Amen!




Deutscher Humor im Bilde.


Wer ist der gelesenste der jetzt lebenden deutschen Schriftsteller? Wir glauben, die Antwort kann dreist lauten: Fritz Reuter, obschon seine Dichtungen in das Bereich des Dialekts gehören und somit gewissermaßen kein Zunftrecht besitzen in unserer Nationalliteratur. Alle Welt kennt Fritz Reuter, den großen mecklenburger Humoristen, kennt die volksthümlichen, wir sagen nicht zu viel, unsterblichen Gestalten, die er geschaffen, wenn auch nicht Jedermann im Stande ist, sich selbst in die Schönheiten seines Plattdeutsch zu vertiefen. Die Freunde der Gartenlaube haben ihn überdies im Geleite Ludwig Walesrode’s in seinem romantischen Tusculum am Fuße der Wartburg heimgesucht, sie werden daher mit besonders freudigem Interesse ein Unternehmen begrüßen, das Reuter’s gelungenste Dichtungen und lebensfrischeste Figuren unsern Herzen noch näher bringen soll und sicher an jedem häuslichen Heerde, namentlich in Norddeutschland, als willkommenster Gast einsprechen wird.

Auf Veranlassung desselben deutschen Buchhändlers – C. Grote in Berlin – aus dessen Verlag das neulich von uns erwähnte „Album deutscher Kunst und Dichtung“ von Fr. Bodenstedt hervorgegangen ist, hat ein Düsseldorfer Künstler, F. Hiddemann, auch ein Bekannter unserer Leser, einen Cyklus meisterhafter Bilder zu Reuter’s Werken gezeichnet, die binnen Kurzem in trefflichen Holzschnitten dem Publicum vorliegen werden. Wir sind in den Stand gesetzt, auch mit diesem Album unsere Leser durch zwei dem ersten Hefte, den Illustrationen zu „Ut mine Stromtid“, entnommene Proben bekannt zu machen, in welchen sich das innige, liebevolle Versenken des Künstlers in den verdolmetschten Poeten auf das Erfreulichste kund giebt. Zugleich fühlen wir uns gedrungen, dem Bestreben des Verlegers, nach andererseits gemachten wenig gelungenen Versuchen Fritz Reuter einmal durch eine Reihe wirklich gediegener Illustrationen die gebührende Ehre zu erweisen, unsere wärmste Anerkennung zu zollen.

Reuter’s Hauptwerk sind bekanntlich die „Olle Camellen“, das ist „Alte Camillen“,[WS 1] womit der Dichter wahrscheinlich alte Erinnerungen bezeichnen will und von denen bisher sechs Bände erschienen sind. Der erste Band enthält die beiden lustigen Geschichten „Woans ick tau ’ne Fru kam“ und „Ut de Franzosentid“; der zweite die schon erwähnte Reminiscenz „Ut mine Festungstid“; der dritte bis fünfte „Ut mine Stromtid“; der sechste „Durchleuchtig“ ist Fritz Reuter’s erster großer Roman, und ganz in künstlerischer Objectivität gehalten.

„Ut mine Stromtid“, das heißt, aus der Zeit, da ich Landwirth war, weil man in Mecklenburg einen jungen angehenden Landwirth einen „Strömer“ nennt. Eigene Erlebnisse des [724] Verfassers liegen auch diesem Werke unzweifelhaft zu Grunde, wahrscheinlich ist er selber der Held des Romans, aber dennoch sind beide aus der Tiefe einer schwankenden Subjectivität zur Höhe einer plastischen Objectivität erhoben.

In der Zeit, als das Pfund Butter zwei Groschen und ein gemäßtet Schwein fünf Thaler preiste, also in dieser für den Landmann so ungünstigen Zeit hatte Herr Habermann, ein geborener Mecklenburger, im Vorpommerschen ein Gut in Pacht. Die Zeit war miserabel und das Pachtgeld hoch, also daß Herr Habermann trotz Fleiß und Geschicklichkeit in Concurs gerieth. Um das Maß seines Elends voll zu machen, legte sich zur selben Zeit seine Frau zum Sterben. Während die Leiche noch im offenem Sarge in der Kammer stand, tobte nebenan der Lärm der Auction, in welcher die letzten Ueberreste des Hausraths versteigert wurden – desselben Hausraths, der der Verstorbenen so theuer gewesen, an dem sie mit so vieler Zärtlichkeit gehangen und den sie trotz alledem weder ihrem Manne noch dem einzigen Kinde, das sie demselben zurückließ, einem fünfjährigen Töchter’chen, hatte erhalten können.

Mit dieser so einfachen, so ganz aus dem Leben gegriffenen und dabei so erschütternden Situation eröffnet sich der Roman.

„Habermann saß einsam im Garten, während drinnen im Hause auf den Rest seiner Habe geboten ward. Es war ein großer, breitschulteriger Mann mit dunkelblondem Haar, und was Arbeit aus dem Menschen machen kann, das hatte sie aus diesem Holz geschnitten und ein besseres hatte sie vermuthlich nirgendwo gefunden. ‚Arbeit‘, sagte sein ehrwürdiges Gesicht, – ‚Arbeit‘, sagten seine treuen Hände, die jetzt still in seinem Schooße lagen und ineinandergefaltet waren, wohl zum Beten! –

So saß Habermann vor seinem Herrgott da und seine Hände waren gefaltet und seine redlichen blauen Augen blickten nach oben, und es spiegelte sich ein noch schönerer Schein in ihnen, als von Gottes Sonne. – Da stellte sich ein Dirnlein zu ihm und legte ein Marienblümchen in seinen Schooß, und seine beiden Hände thaten sich auseinander und umschlossen das Kind. Es war sein Kind – und er stand auf von der Bank und nahm sein Kind auf den Arm und aus seinem Auge fiel Thräne um Thräne, und das Marienblümchen hatte er in der Hand und ging mit seinem Kinde den Steig entlang, den Garten abwärts.

Er ging in das Zimmer, wo seine Frau im Sarge lag. Er öffnete das Fenster und schaute hinaus in die Nacht, sie war ungewöhnlich dunkel für die Jahreszeit, kein Stern stand am Himmel. Alles war schwarz bezogen und warm und dunstig wehte eine leise Luft und seufzte in der Ferne. Vom Felde herüber schlug die Wachtel ihren Schlag und der Wachtelkönig rief seinen Regenruf und leise fielen die ersten Tropfen auf die durstige Erde und diese ließ zum Dank für die Gabe den schönsten Geruch aufsteigen, den der Ackersmann kennt, den Erdduft, in dem der Segen schlummert für alle Mühe und Arbeit. – Wie oft hatte dieser Duft ihm die Seele erfrischt und die Sorgen verjagt und die Hoffnung belebt auf ein gutes Jahr! – Nun war er die Sorgen los, aber die Freude auch; eine große Freude war ihm untergegangen und hatte alle die kleinen mit sich gerissen. Er machte das Fenster zu und als er sich umdrehte, stand sein kleines Töchterlein am Sarge und langte vergeblich nach dem stillen Antlitz, als wollte es dasselbe streicheln. Er hob das Kind höher, so daß es das Antlitz erreichen konnte, und die kleine Dirne streichelte und koste mit den warmen Händen und den warmen Liebesworten an ihrem stillen Mütterlein und an dem kalten Tod herum, und dann sah sie den Vater an mit ihren großen Augen, als wollte sie nach etwas Unbegreiflichem fragen, und stammelte: ‚Mutting, huh!‘ – ‚Ja,‘ sagte Habermann, ‚Mutting friert,‘ und die Thränen stürzten ihm aus den Augen und er setzte sich auf den Sarg und nahm sein Töchterlein auf den Schooß und weinte bitterlich. Und die Kleine fing ebenfalls an zu weinen und weinte sich satt und in den Schlaf; er lehnte sie sanft an sich und schlug den Rock warm um sie, und so saß er die Nacht hindurch und hielt eine treue Leichenwacht bei seiner Frau und seinem Glück.“

Das ist die Scene, welche unsere erste Abbildung (S. 717) in so ergreifender Weise vergegenwärtigt. Von Haus und Hof vertrieben, ist Habermann, nachdem er seine Frau in die stille Gruft gelegt hat, mit seiner kleinen Louise auf dem Arme zu seinem Schwager Jochen Nüßler gezogen. Der furchtbar heimgesuchte Mann glaubt der Ruhe zu bedürfen, und die wird er wohl in einem Hause finden, welchem ein Mann vorsteht, dessen Reden sich in den viel bedeutenden und darum immer von ihm gebrauchten Satz zusammenfassen: „Ja, das ist Alles so, wie das Leder ist.“ Bei Jochen Nüßler findet Habermann aber einen alten Freund, den Inspector Bräsig, der ihn viel zu gut kennt, um zu dulden, daß er seinen Gram und Groll an sich zehren lasse.

Wie Habermann der ernste, so ist Bräsig der komische, oder besser gesagt, der humoristische Held des Romans, und der Dichter entwirft von ihm folgende Zeichnung: „Er war ein kleiner Mann mit röthlichem Gesicht und stattlich rother Nase, die er ein wenig in die Luft hielt. Auf dem Kopfe hatte er eine viereckige Mütze, ohne eigentliche Farbe, aber vorn mit einer Troddel, auf dem Leibe einen grauleinenen Kittel mit langen Schößen, und die kurzen Beinchen, die höllisch auswärts standen und sich so anließen, als wären sie in den langen Oberleib verkehrt eingeschoben, steckten in einer kurzen, blaugestreiften Drillhose und in langen Stiefeln mit gelben Stulpen. Er war gerade nicht völlig, aber mager war er auch nicht, und man konnte sehen, daß er bereits anfing sich einen kleinen Bauch stehen zu lassen.“ Dies ist der Mann um den sich zwar die Handlung der Dichtung nicht gerade dreht, der aber doch in alle Verhältnisse eingreift und sie alle zum guten Ende führt. Herr Zacharias Bräsig ist ein Junggeselle, nicht aus Neigung, sondern aus harter Nothwendigkeit. Sein „gnädigster Herr Graf“ wollte keinen verheiratheten „Entspekter“ leiden, weshalb Zacharias, obgleich er „drei Brauten auf einmal“ hatte, schließlich nicht einmal eine „einzelne“ ehelichen konnte.

Bräsig bringt den Unglücklichen sofort wieder in eine Thätigkeit, die ihn seinem Brüten entreißt. In der ersten Scene gleich, die in Nüßler’s Hause spielt, wird der warmherzige und verständige Helfer in der Rolle vorgeführt, die er durch den ganzen Roman spielt. Lina und Minna, die beiden kleinen Töchter Nüßler’s, die einander so ähnlich sind wie zwei an einem Zweige gewachsene Aepfel, haben einen glücklichen Augenblick des Alleinseins dazu benutzt, sich mit des Großvaters Perrücke und der Großmutter Fladduse zu schmücken und nebenbei einen Topf zu zerbrechen. Minna beweint den Schaden mit heißen Thränen, aber Lina tröstet sie: „Laß nur sein, Minna, der Radmacher soll ihn wieder heil machen.“ Der Radmacher ist in Mecklenberg auf dem Lande ein Mann, der Alles kann. Wenn ein Hammel geschlachtet werden soll, so heißt es: „Ruft einmal den Radmacher.“ Wenn eine Fensterscheibe entzwei geschlagen ist, dann muß der Radmacher ein Bret vornageln, daß Wind und Wetter nicht ankommen kann. Hat sich ein alter Stuhl das Bein verrenkt, so ist er der Doctor; soll für ein Stück Vieh ein Pflaster gestrichen werden, ist er der Apotheker; kurz Alles muß er wieder heil machen, und darum dachte Lina als ein verständiges Mädchen gleich an den Radmacher.

Als die Schwestern auf den Hof treten, kommt ein kleiner Mann mit einem gerötheten Gesichte in’s Thor herein – Inspector Bräsig, wie wir dies auf unserm zweiten Bilde sehen. In seinem Messing – so heißt das Gemisch von Hochdeutsch und Plattdeutsch, von dem er Gebrauch macht – ruft er: „Gott Du bewohr uns! Wir seht Ihr aus? Was macht Ihr vor Mowemangs! Wo? Ihr habt jo woll die beiden ollen Großherrn ihren ganzen Suundagschen Zierrath auf den Kopp?“ Er nimmt ihnen den Kopfputz und hört, was mit den Topfscherben werden soll. „Wo?“ sagt er, „wo kann so ‘ne Dummheit in de Welt assistiren? Lining, Du bist die Aellst, ich hätte Dir for verständiger taxirt; un, Mining, laß das Weinen man sin, Du bist mein klein Pathchen, ich geb Dich zum Sommermark einen neuen Pott. Abersten nun, Allong mit Euch! in die Stube.“ Drinnen ist Niemand, weil Alles in’s Heu gefahren ist. Auch er sollte eigentlich nach seinem Heu sehen, „abersten,“ überlegt er sich, „das oll lütt Kropzeug hat die beiden Biester hier so zugericht’t, daß sie in Ungelegenheit kommen werden, wenn die beiden ollen Größings den Umstand zu sehen krigen; ich muß die beiden Creturen man en bitschen aufrepariren.“ Die Perrücke ist bald hergestellt; einen Taschenkamm trägt Bräsig immer bei sich, weil es auf seinem Kopfe etwas hell geworden ist und die Haare aus dem Nacken nach vorn gekämmt werden müssen. Die Haube macht ihm mehr Mühe. „Daß Du die Nas’ in’s Gesicht behältst! Lining, wie hast Du ihr zugericht’t! Ne richtige Fassong ist ja gar keine Menschen-Möglichkeit mehr.“

[725]

Bräsig, Lina und Minna.
Aus den Originalzeichnungen zu Reuter’s Werken von F. Hiddemann.

Eben ist er fertig geworden, als Habermann eintritt. „Kerl, Du büst en Schafskopp!“ Das ist Bräsig’s ganze Antwort auf das Geständniß des Freundes, daß er ruinirt sei und ihm die zweihundert Thaler, die er ihm schulde, nicht bezahlen könne. Dann hilft Bräsig durch Nachweis einer guten Stelle für Habermann und nun entwickelt sich die eigentliche Handlung des Romans, dessen Einleitung die in unseren Illustrationen dargestellten beiden Scenen entlehnt sind.




Der geschichtliche Fiesco.
Nach urkundlichen Quellen von Julius Bacher.


Die Verschwörung des Fiesco, an und für sich nur eine politische Episode und ohne besondere Bedeutung für die damaligen politischen Zustände in Italien, ist dem größeren Publicum durch Schiller’s gleichbenanntes Drama genügend bekannt geworden, um die Voraussetzung zu rechtfertigen, daß man den historischen Ereignissen, welche dem unsterblichen Dichter die Motive und Charaktere zu seinem Schauspiel geliefert, ein gewisses Interesse nicht versagen wird. Zugleich ersehen wir daraus, in welcher Weise Schiller den der Geschichte entlehnten Stoff zu seinem Zweck benutzt, und inwieweit er sich dabei der Erfindung bedient hat. Wir bemerken, daß wir zum Theil aus den nämlichen Geschichtsquellen, aus welchen Schiller schöpfte, die nachstehende Mittheilung entnommen haben.

Die Zeit, in welcher das oben bezeichnete politische Drama, das trotz seiner Resultatlosigkeit dennoch sehr viel Aufsehen in Europa hervorrief, spielte, ist das Jahr 1547. Genua war damals Republik und Andreas Doria, der berühmte Seeheld, der es durch seine Kühnheit und Tapferkeit im Jahre 1528 unter dem [726] Beistande Kaiser Carl’s des Fünften von der Oberherrschaft der Franzosen befreit hatte, stand allgemein geachtet, ja verehrt und vergöttert, an der Spitze der Verwaltung, bis man mehr und mehr gewahrte, daß er seinen Enkel Gianettino Doria ganz besonders bevorzugte. Gianettino Doria war ein Mann vom übelsten Rufe und wegen seiner ehrgeizigen und eigennützigen Absichten allgemein gehaßt und gefürchtet. Der Großvater hatte ihn bereits zum Erben seines Privatvermögens ausersehen und man besorgte wohl nicht mit Unrecht, er strebe auch dahin, ihn den Nachfolger seiner politischen Macht werden zu lassen, da er im Laufe der Zeit mehr und mehr darauf bedacht schien, seinen unwürdigen Verwandten groß und mächtig zu machen, als die Sicherheit der Republik zu befestigen.

So bildete sich allmählich unter dem genuesischen Adel eine Partei von Unzufriedenen und die wahren Vaterlandsfreunde sannen darauf, den der Freiheit ihres Staates so höchst gefährlichen Feind so zeitig wie möglich zu beseitigen und, noch ehe der alte Doria starb, dem gefürchteten Unheil durch eine rasche That vorzubeugen.

Einer dieser Nobili, Johann Ludwig Fiesco, Graf von Lavagna, dem das wachsende Mißvergnügen der Genuesen nicht entgangen war, ließ sich durch dasselbe bestimmen, darauf einen kühnen und ebenso ehrgeizigen Plan zu bauen. Einer der reichsten und vornehmsten Edelleute der Republik, verband er mit diesen Vorzügen zugleich alle jene persönlichen Eigenschaften, welche das menschliche Herz zu gewinnen geeignet sind. Er war ebenso liebenswürdig als großmüthig, liebte die Pracht bis zur Verschwendung und war zugleich gastfrei im weitesten Sinne. Dabei besaß er ein einschmeichelndes, höfliches und bezauberndes Wesen und eine seltene Rednergabe. Aber unter der Maske dieser Tugenden und Vorzüge, die, wie der Geschichtsschreiber bemerkt, ihn zur Zierde und zum Genuß des bürgerlichen Lebens gebildet zu haben schienen, verbarg er alle Neigungen und Fähigkeiten, welche die Personen besitzen müssen, die sich an die Spitze gefahrvoller Unternehmungen zu stellen wagen: unersättliche Ehrsucht, einen Muth, der vor keiner Gefahr zurückbebt, und eine stolze, herrschsüchtige Seele.

Einem solchen Charakter mußte der unterwürfige Zustand, in welchen er sich durch die Verhältnisse in der Republik versetzt sah, unerträglich sein. Immer hatte er auf die Macht des älteren Doria nur mit neidischen Augen geblickt, es erwachte daher sein ganzer Stolz bei dem Gedanken, dieselbe könnte als Erbe einst auf Gianettino Doria übergehen. Einem so allgemein verachteten Manne gehorchen zu müssen, dünkte ihm unerträglich. Von diesen Gedanken und Gefühlen stets beunruhigt, sann seine stolze und ehrgeizige Seele darauf, einem solchen Unheil auf jede Weise zu begegnen.

Anfangs war es sein Plan, im Geheimen ein Bündniß mit Franz, König von Frankreich, anzubahnen. Er machte deshalb dem französischen Gesandten in Rom Vorschläge dazu, und sprach die Absicht aus, mit Frankreichs Beistand Doria und die kaiserliche Partei aus dem Freistaat zu vertreiben und diesen wieder unter den Schutz Frankreichs zu stellen, indem er im Geheimen hoffte, daß ihm aus Dankbarkeit für den geleisteten Dienst alsdann König Franz die Regierungsgewalt in Genua übertragen würde. Mit großer Vorsicht zog er einige ihm näher bekannte Personen, darunter Verrina, in sein Vertrauen, denen er jedoch nur im Allgemeinen den übeln Zustand der Republik und seine Absicht, denselben zu heben, vorstellte, ohne ihnen seine eigentlichen Pläne zu verrathen. Verrina, einer der vornehmsten von den Vertrauten, jedoch ein Mann, dessen Verhältnisse gänzlich zerrüttet waren und der also nichts mehr zu verlieren hatte, überdies zu den kühnsten Unternehmungen geneigt und befähigt, trat dem Vorschlage Fiesco’s, Frankreich die Republik in die Hände zu spielen, entschieden entgegen. Er nannte es eine Thorheit, sich einer so großen Gefahr zum Nutzen eines Fremden auszusetzen, und schlug seinerseits vor, das Unternehmen zum eignen Nutzen auszuführen und sich die Herrschaft über Genua anzueignen. Er befeuerte Fiesco’s Muth durch die schmeichelhafte Vorstellung, daß dessen hohe Geburt, die Zuneigung und Verehrung seiner Mitbürger und der Eifer und die Anhänglichkeit seiner Freunde ihn zu einer solchen Stellung berechtigen und die Letzteren, wozu er sich natürlich selbst rechnete, bemüht sein würden, ihn zu derselben zu erheben.

Verrina’s Vorschlag kam Fiesco’s Ehrgeiz verlockend entgegen, der sich dadurch die glänzendsten Aussichten eröffnet sah, die seine geheimen und heißesten Wünsche zu erfüllen versprachen. Ohne sich daher lange zu besinnen, billigte er Verrina’s Plan und versprach, denselben unter dem Beistande seiner Freunde ausführen zu wollen. Die übrigen Vertrauten erkannten zwar die mit der Ausführung eines solchen Vorhabens verbundene Gefahr für sich und Fiesco, da jedoch der Letztere, den sie Freund, aber auch Gönner nannten, so bereitwillig auf das Wagniß einging, so glaubten sie nicht widersprechen zu müssen und gaben nach kurzer Berathung ihre Zustimmung.

Nachdem man über den Zweck des Unternehmens völlig einverstanden war, kam es nun darauf an, die Art und Weise zu bestimmen, in welcher dasselbe ausgeführt werden sollte, und es wurde nach kurzer Berathung beschlossen, nicht nur die beiden Dorias, sondern auch die Vornehmsten ihrer Partei zu ermorden, die eingeführte republikanische Regierung umzustoßen und Fiesco auf den herzoglichen Thron von Genua zu setzen. Daß die Freunde Fiesco’s, ganz besonders Verrina, ihren Nutzen von einer solchen Umgestaltung der politischen Verhältnisse in Genua zu ziehen erwarteten, darf kaum bemerkt werden; denn wie nahe lag die Voraussetzung, daß derjenige, dem sie die Macht in dem Staate verschafft hatten, ihnen mit unauslöschlicher Dankbarkeit ergeben bleiben würde!

So ging denn der Gedanke, die Macht der Republik an sich zu reißen und statt dieser eine autokratische Regierungsform einzuführen, an deren Spitze Fiesco als Herzog von Genua stand, nicht von diesem, sondern vielmehr von Verrina aus, und wir erkennen, daß Schiller die gegebenen geschichtlichen Momente gerade umgekehrt benutzt hat, obgleich der Held des Dramas durch getreue Wiedergabe der bezeichneten Vorgänge weniger schuldig hätte erscheinen und darum das Interesse des Zuhörers für sich hätte erhöhen müssen. Wer wollte indeß unserm Dichter deshalb einen Vorwurf machen, dessen Intentionen, wie wir aus dem Stück ersehen, dahin gerichtet waren, in Verrina einen verjüngten Andreas Doria wiederzugeben, als Gegensatz zu dem eigennützigen und ehrgeizigen Fiesco?

Ein so gefahrvolles Vorhaben erforderte aber Zeit zu den nöthigen Vorbereitungen, und Fiesco entwickelte, ganz von seinem Unternehmen erfüllt, die angestrengteste Thätigkeit, wobei sich die ihm eigenthümliche Energie und Klugheit in der glänzendsten Weise bewährten. Mit einer undurchdringlichen Verstellungskunst wußte er seine gefährlichen Absichten zu verbergen; unaufhörliche Feste und Zerstreuungen aller Art schienen ihn gänzlich zu fesseln, während er an seinem Plan arbeitete, so daß man in Genua über sein ausschweifendes Leben spöttelte und ihn mit nichts weniger als mit revolutionären Gedanken beschäftigt glaubte. Das eben hatte Fiesco gewollt, und mit um so größerer Kaltblütigkeit, aber auch Vorsicht setzte er seine Zurüstungen fort, ohne sich darin weder durch Bedenklichkeiten seiner Vertrauten stören zu lassen, noch auch von Ungeduld zu einer verfrühten Ausführung seines Vorhabens verleitet zu werden. Ohne seine eigentliche Absicht zu verrathen, setzte er den Briefwechsel mit dem französischen Gesandten am römischen Hofe fort, in der Absicht, sich des Schutzes der französischen Waffen zu versichern, wenn er derselben etwa bedürfen sollte. Zu dem gleichen Zwecke trat er mit dem Herzog von Parma, Farnese, in Verbindung, der, mit den Bestimmungen Kaiser Carl’s des Fünften unzufrieden, da ihm dieser die Investitur dieses Herzogthums verweigert hatte, jetzt bedacht war, alle Pläne zu befördern, welche den kaiserlichen Einfluß in Italien vermindern könnten, oder auf den Sturz der Dorias abzielten, die dem Kaiser die vollste Ergebenheit schenkten.

Fiesco, dessen Scharfblick längst erstaunt hatte, daß ein am Meere gelegener Staat sich vorzugsweise der Herstellung einer bedeutenden Seemacht befleißigen müßte, beeilte sich vier Galeeren von dem Papst zu kaufen, welcher auf diesen Kauf um so rascher einging, als ihm der Plan Fiesco’s nicht unbekannt war und er denselben billigte. Um diesen allerdings auffälligen Ankauf zu bemänteln und ihm eine andere Absicht unterzubreiten, bemannte er eine der Galeeren unter dem Vorwande, mit derselben gegen die Türken kriegen zu wollen; dieser Vorwand diente ihm überdies auch als Anlaß, eine beträchtliche Anzahl Truppen anzuwerben und kühne Abenteurer in Sold zu nehmen.

Während Fiesco alle dieser Vorbereitungen traf, blieb er um so mehr bestrebt, durch Feste aller Art und ein [727] leichtsinniges Treiben jeden Argwohn von sich abzulenken. Er verstand es zugleich, den beiden Dorias durch Aufmerksamkeiten so sehr zu schmeicheln und sich deren volles Vertrauen zu gewinnen, daß nicht nur der alte Doria, dessen edles Herz von jedem Argwohn weit entfernt war, sondern auch Gianettino Doria völlig getäuscht wurden, obgleich des Letzteren böswillige Absichten ihn nur zu leicht zum Verdacht gegen Andere hätten bewegen müssen. Unter Beobachtung aller dieser Vorsichtsmaßregeln gelang es Fiesco endlich, die Zurüstungen zu seinem Vorhaben zu treffen, und es fragte sich nur noch, wann und wie der beabsichtigte Schlag geschehen sollte. In nächtlichen Zusammenkünften berieth sich Fiesco mit seinen Vertrauten, um ihre Meinung zu erfahren, in welcher Weise das Vorhaben am sichersten ausgeführt werden könnte, und man kam überein, den alten Doria während der großen Messe in einer der Kirchen zu ermorden. Da aber Andreas seines hohen Alters wegen den feierlichen Gottesdienst nur selten zu besuchen pflegte, so verwarf man diesen Vorschlag wieder und verstand sich dazu, daß Fiesco die beiden Doria und deren Freunde zu sich einladen sollte, bei welcher Gelegenheit dieselben mit Leichtigkeit und ohne große Gefahr beseitigt werden könnten. Der Anschlag sollte schon in der nächsten Zeit ausgeführt werden, und Fiesco beeilte sich demgemäß die Vorbereitungen zu diesem blutigen Feste zu treffen und die Einladungen an die Schlachtopfer ergehen zu lassen.

So herrschte in dem Palast des Grafen eine vermehrte Thätigkeit, da das Fest, wie man sich in ganz Genua erzählte, eins der glänzendsten werden sollte, die der verschwenderische Fiesco seinen Freunden und zu Ehren der beiden Doria zu geben gedächte. Noch waren nur zwei Tage bis zu diesem Fest, und Fiesco und seine Vertrauten schmeichelten sich bereits mit der Hoffnung, sich nun bald an dem erwünschten Ziel zu befinden, als Gianettino Doria Fiesco die Mittheilung zugehen ließ, daß er eines dringenden Geschäftes halber Genua verlassen müßte und darum an dem Feste nicht Theil nehmen könnte. Der alte Doria lehnte wegen der Abwesenheit seines Enkels den Besuch ebenfalls ab, und so sah sich Fiesco veranlaßt, sein blutiges Vorhaben aufzugeben. Es mußte also von den Verschworenen ein anderer Plan ersonnen werden, und bei einer bald darauf zwischen ihnen stattfindenden Berathung that Verrina den Vorschlag, sich statt der List der offenen Gewalt zu bedienen. Seiner eindringlichen Beredsamkeit gelang es, den Grafen und seine Anhänger für denselben zu gewinnen. Ein offenes Auftreten sagte auch dem kühnen Charakter Fiesco’s mehr zu, der in einem hinterlistigen Morde zu viel Entehrendes erblickt haben mochte.

Man setzte zum Ausbruch des Aufstandes die Nacht vom zweiten auf den dritten Januar fest, und hatte diese Zeit mit Absicht gewählt, da der Doge, einer hergebrachten Sitte gemäß, an dem ersten Tage des neuen Jahres sein Amt niederlegte und der Nachfolger desselben erst an dem vierten Tage darauf erwählt werden konnte. Es blieb daher die Republik diese vier Tage hindurch ohne die Spitze der Regierungsgewalt, und Fiesco hoffte deshalb mit um so geringerer Anstrengung die erledigte Würde in Besitz nehmen zu können. Ohne daß die Genuesen das Geringste von diesem ihre Freiheit bedrohenden Anschlag ahnten, nahte der bestimmte Tag, und Fiesco beeilte sich, am Morgen desselben seine Freunde zu besuchen und unter ihnen einige Stunden in großer Fröhlichkeit zu verbringen.

Als der Abend nahte, begab er sich zu den beiden Dorias, um aus ihrem Betragen und Wesen zu entnehmen, ob sie etwa irgend welchen Verdacht gegen seinen Anschlag hegten. Mit der gewöhnlichen Zutraulichkeit von Beiden empfangen, war er ganz Ehrerbietung und aufmerksamste Hochachtung, und nachdem er mit ihnen eine Stunde im vertraulichen Gespräch zugebracht hatte, während dessen er sie genau beobachtete, konnte er mit der beruhigenden Ueberzeugung von ihnen scheiden, daß auch nicht der leiseste Argwohn gegen ihn vorhanden sei. Fiesco war Menschenkenner genug, um sich keiner Täuschung hinzugeben, denn wäre es auch Gianettino gelungen, sich, falls er Verdacht gegen ihn hegte, zu beherrschen, so war doch Andreas ein viel zu edler und offener Charakter, um seine Gedanken durch Verstellung zu verhüllen. So hätte der Verschwörer im Fall eines Verrathes oder einer Entdeckung die Stimmung des Alten sicher entdecken müssen. Es war mithin zu einer Besorgniß nicht der geringste Anlaß, und mit um so größerem Vertrauen und vollster Sicherheit ging er jetzt an die Ausführung seines Vorhabens. Von den Dorias begab er sich nach seinem eigenen Palast, der abgesondert von den anderen Häusern in einem großen, von hohen Mauern umgebenen Hofraum stand und durch seine Lage sowohl als seine Räumlichkeiten zu geheimen Zusammenkünften besonders geeignet war.

Fiesco hatte am Morgen befohlen, die Thore desselben zu öffnen und einem Jeden, wer er auch sein sollte, den Eingang zu gestatten; ein starke Wache jedoch, die im Hofe aufgestellt worden war, hatte den geheimen Befehl erhalten, Niemand aus dem Palast heraus zu lassen. Verrina und die übrigen Vertrauten des Fiesco, welche sich in dem Palast befanden, hatten auf geheimen Wegen sowohl die Vasallen der Grafen, als auch die Besatzung seiner Galeeren in kleinen Haufen und mit Vermeidung allen Aufsehens in den Palast eingelassen, und verfügten sich alsdann in die Stadt, die vornehmsten Bürger, – welche mit Doria’s Regierungsverwaltung unzufrieden waren und von denen man wußte, daß sie Willen und Muth genug besaßen, durch ihren Beistand einen Umsturz der Regierung herbeizuführen – im Namen ihres Gönners und Freundes zu einem Gastmahl einzuladen.

Bald erfüllte eine große Anzahl von Personen aus allen Ständen Fiesco’s Palast, von denen jedoch nur wenige den eigentlichen Zweck ihrer Anwesenheit daselbst kannten. Groß war darum das Erstaunen der Unwissenden, als sie statt der Vorbereitungen zu einem Freudenfeste den Hof mit bewaffneten Leuten und die Zimmer mit Waffen aller Art angefüllt fanden. Erstaunen, Furcht und Schrecken bemeisterte sich ihrer, und Frage auf Frage ertönte nach der Ursache einer so sonderbaren Ueberraschung, mit welcher sich zugleich der Zwang verband, sich nicht entfernen zu dürfen, bevor der Graf sie gesehen und gesprochen hatte. Zwar war Fiesco darauf bedacht gewesen, daß es an Wein und sonstigen Erfrischungen für die Gäste nicht fehlte; die Gemüther der Versammelten waren jedoch durch die nicht erwarteten kriegerischen Anstalten zu sehr in Unruhe versetzt worden, um sich nicht unbehaglich zu fühlen, besonders als die in Fiesco’s Pläne Eingeweihten die Ungewißheit derselben nicht zu heben für gut fanden, da ihnen Fiesco ein strenges Schweigen bis zu seiner Rückkunft anbefohlen hatte. In der peinigendsten Ungewißheit gingen der Versammlung so die Stunden dahin, bis Fiesco in seinen Palast zurückkehrte.

Mit einem Freudengeschrei wurde der Graf begrüßt, und das Erstaunen der Anwesenden steigerte sich, als sie Fiesco heiter und zuversichtlich schauten, statt, wie sie erwartet und gefürchtet hatten, ernst und sogar drohend. Nachdem Fiesco die Truppen im Hof freundlich und zutraulich begrüßt hatte, begab er sich sogleich in seinen Palast, woselbst in einem der größten Säle die vornehmsten Genuesen versammelt waren. Das Antlitz derselben zeigte Unwillen und Ungeduld, und Fiesco wurde nichts weniger als freundlich empfangen; ja mancher Blick begegnete ihm feindlich und drohend. Er wurde dadurch nicht überrascht, denn er hatte ein solches Benehmen erwartet, da seine den Gästen bereitete Täuschung nicht gut eine andere Wirkung erzeugen konnte, und so verlor er seine heitere Laune nicht, sondern beeilte sich vielmehr, in einem zuversichtlichen Ton zu seinen Gästen zu sprechen. „Vergebt,“ sprach er, sich an die Vornehmsten der Versammelten wendend, „die Täuschung, die ich Euch bereitet habe; ich wurde jedoch durch die Nothwendigkeit dazu bestimmt; den Grund dazu sollt Ihr sogleich erfahren. Vergebt, meine edlen Mitbürger und Freunde, wenn Ihr statt der Vorbereitungen zu einem heiteren Gastmahle bewaffnete Truppen und die Werkzeuge des Krieges findet; aber nicht zu einem Freudenmahle, sondern zu einer tapfern Unternehmung ließ ich Euch laden, überzeugt von Eurem Muth und dem vollen Vertrauen zu mir. Ihr werdet mir, hoffe ich, die gespielte Täuschung um so williger vergeben, wenn ich Euch erkläre, daß diese Unternehmung nichts Geringeres bezweckt, als uns von der Gewaltherrschaft Doria’s zu befreien, uns und Genua die Freiheit wieder zu geben!“ –

Diese Worte, feurig und überzeugungsvoll gesprochen, verfehlten ihre Wirkung auf die Versammelten nicht, und kaum hatte Fiesco geendet, so ertönte der Saal von dem Ausruf des Erstaunens, des Beifalls und der Verwunderung.

(Schluß folgt.)
[728]
Blätter und Blüthen.


Christus und Petrus auf Reisen. Der Schauspieler Zimmermann, der jeder Zeit überall mit großem Glück auftrat, hatte im Jahre * auch in Danzig gastirt und dort reiche Einnahme gemacht. Trotz alledem war das Geld in wenigen Tagen verjubelt und eines Morgens war der berühmte Mime, der als Hamlet Alles entzückt hatte, spurlos verschwunden. Wenige Jahre später stand ein Mann in einer bunten Jacke auf dem Marktplatze eines pommerschen Dorfes und trommelte eine große Komödie aus, die heute von einer berühmten Komödiantentruppe im Tanzsaale „zum blauen Ochsen“ zum ersten Male aufgeführt werden sollte. Am Wirths-, Amts- und Gemeindehause waren ellenlange Theaterzettel angeklebt, auf welchen deutlich in riesengroß gemalter Lapidarschrift zu lesen war:

„Heute werden wir die Ehre haben, aufzuführen:
Christus und Petrus auf Reisen.
Großes biblisches Drama in fünf Acten.
Personen:
Christus – Herr Zimmermann.
Petrus – Herr Pumpendorf.
Soldaten, Jungfrauen, Juden, Kinder, Menschen und Volk.
Anfang 7 Uhr.
Entrée zwei Groschen. Honoratioren zahlen nach Belieben.“

Die ehrlichen pommerschen Bauern schlugen die Hände über die Köpfe zusammen über alle die Herrlichkeiten, die ihnen im „blauen Ochsen“ geboten werden sollten, und wer keine zwei Groschen hatte, borgte sie sich von einem gefälligen Nachbar und schob sie vorsichtig in die Westentasche.

Die guten Bauern wußten freilich nicht, daß die ganze große Komödiantentruppe nur aus einer einzigen Person bestand, aus unserm großen Mimen Zimmermann nämlich, – denn sein College Pumpendorf war Niemand anderes, als der dumme Hausknecht der Schenke, den er zum Petrus abgerichtet, – sonst hätten sie doch ihre zwei Groschen ein wenig umgedreht, ehe sie dieselben in die Westentasche steckten. Das Theater im „blauen Ochsen“ war gepfropft voll am Abend, – ja sogar der Amtmann, der Schulze und der Bader saßen auf den Ehrenplätzen in der ersten Reihe. Punkt sieben Uhr rumpelte der Fetzen Leinwand in die Höhe, der den Vorhang repräsentirte, und auf der Bühne erschienen Christus und Petrus, mit stattlichen schwarzen Bärten und in große Leintücher gehüllt.

„Schon tagt der Morgen. Erwarte mich hier, mein lieber Petrus. Wenn der Hahn kräht, bin ich wieder bei Dir!“

So begann Christus mit Salbung und entfernte sich gravitätisch durch die Hinterthür des Saales. Petrus ging mit großen Schritten auf und ab und sprach mit einem tiefen Seufzer: „Ach, wenn nur der Hahn schon krähte, aber er kräht noch nicht!“ Dann blieb er stehen, legte die Hand auf die Brust und seufzte abermals: „Ach, wenn nur der Hahn schon krähte, aber er kräht noch nicht!“ Hierauf ging er wieder ein paar Schritte auf und ab und replicirte: „Ach, wenn nur der Hahn schon krähte, aber er kräht noch nicht!“

Das Publicum hörte andächtig und mit wahrhaft deutscher Geduld eine ganze Viertelstunde nichts als: „Ach, wenn nur der Hahn schon krähte, aber er kräht noch nicht!“, aber dann fing es an, ein wenig ungeduldig zu werden. Auch Petrus begann, sich etwas unbehaglich zu fühlen, und recitirte ziemlich kleinlaut: „Ach, wenn nur der Hahn schon krähte, aber er kräht noch nicht!“

„Weiter, weiter im Text!“ rief endlich der Amtmann erbost auf seinem Ehrensitze. „Sollen wir denn nichts Anderes hören für unser Geld?“

Da sagte Petrus mit kläglicher Stimme, indem er den Bart abnahm und sich mit demselben den Angstschweiß von der Stirn wischte: „Ach, Herr Amtmann, wenn nur der Hahn schon krähte, aber er kräht noch nicht!“

„A – a – der Michel!“ schrie das ganze Publicum unisono und stürzte auf die Bühne, denn es fing an, Lunte zu riechen. Aber man fand Niemanden, als Petrus – Christus hatte sich mit der vollen Casse aus dem Staube gemacht.

Die betrogenen Bauern fielen über den Michel her und zerbläuten ihm auf gut Pommerisch den Rücken, – doch Petrus fiel nicht aus der Rolle und heulte jämmerlich unter den Stockstreichen: „Ach, wenn nur der Hahn schon krähte, aber er kräht noch nicht!“




Werther’s „Wahlheim“ eine Brandstätte. Wer hätte nicht in den heißen Tagen seiner jugendlichen Gefühlsstürme einmal mit geschwärmt mit Goethe’s Werther und ihn in „sein liebes Thal“ begleitet, nach seinem „Wahlheim“, wo er sein höchstes Glück fand, an dessen Ende die gefährlichste aller Verherrlichungen des Selbstmords einst die junge Welt erschütterte? Jedermann weiß, daß Goethe mit dem Namen „Wahlheim“ das Dorf Garbenheim bezeichnete, wo nicht blos er, sondern Tausende unvergeßliche Freudenstunden der Familie und der Freundschaft genossen, die nach ihm in der alten Reichskammergerichtsstadt wohnten. Nur eine halbe Stunde von Wetzlar entfernt, war dieser durch unsern größten Dichter mit poetischer Weihe beschenkte Ort eine von den Verehrern deutscher Geistesherrlichkeit vielbesuchte Stätte.

Und heute liegt dort Alles, was einst Goethe’s Auge und Herz so oft erhoben und erfreut hatte, in Schutt und Asche, das freundliche Garbenheim ist am 17. October ein Raub der Flammen geworden. Selbst die Kirche streckt nur noch ihr hohles Gemäuer zum Himmel, und auch das Haus, in welchem einst Goethe alle Lust und alles Leid seines Werther gelebt, ist verschwunden.

Härter aber, als die Goetheverehrer, trifft die armen Nachkommen Derer, in deren Mitte der aufblühende Dichter sich einst so wohl und heimisch gefühlt, die Folge des verheerenden Brandes. Die Gemeinde war vom jüngsten Kriege schwer heimgesucht worden und trug auch noch für die Pflege von Kranken und Verwundeten nicht unbedeutende Lasten; da, als kaum der heimgebrachte Erntesegen den Lebensmuth erneut und die Sorgen vor der nächsten Zukunft gemildert, – bricht über fast hundert Familien auf einmal der Jammer gänzlicher Verarmung herein, stehen Mann und Weib, Greis und Kind obdachlos hart vor dem offenen Thore des Winters!

Das gute deutsche Herz hat im Wohlthun viel geleistet in diesem Jahr, aber sicherlich noch nicht so viel, daß es sich für erschöpft erklärt vor diesem neuen Hülferuf. Wer’s kann, der sammle an seinem Ort und sende die Gaben, die auch in Nahrungsmitteln und Kleidungsstücken bestehen dürfen, an den Herrn Bürgermeister Waldschmidt in Wetzlar.




Aus Miss Braddon’s literarischer Laufbahn. Ein seltenes Beispiel von unerschöpflicher Phantasie und Gewandtheit der Feder bietet uns folgendes Geschichtchen aus Miß Braddon’s, der bekannten englischen Schriftstellerin, Leben. Der Roman „Lady Audley’s Geheimniß“ legte den Grund zu ihrem literarischen Ruf; er wurde nicht nur dramatisirt, sondern auch in alle lebenden Sprachen übersetzt, und doch wäre die Veröffentlichung dieses Romans beinahe an einem Mißgeschick gescheitert. Man wird fragen: wie so? Der Verleger hatte festgesetzt und angezeigt, daß das Buch in drei Bänden erscheinen solle, das Manuscript wurde auch mit der größten Pünktlichkeit geliefert, aber als Alles gedruckt war, hatte es blos zwei Bände und zehn Seiten gegeben. Was nun thun? Und die Geschichte war zu Ende! Man wußte sich keinen Rath, sondern eilte schleunigst zu Miß Braddon, ihr die Hiobspost zu überbringen. Sie schwieg eine Weile nachdenklich, dann sagte sie:

„Wie viel Zeit können Sie mir geben, um die leeren dreihundertundsechszig Seiten auszufüllen?“

„Acht Tage höchstens.“

„Gut, Sie sollen das Manuscript zur rechten Zeit haben.“

Und vier Tage darauf war Alles in den Händen des Verlegers; Miß Braddon hatte die schon beendigte Geschichte so fortgesetzt, daß Niemand das Anflicken ahnen konnte, und doch mußte sie von der letzten Zeile des Vorhergehenden aus fortfahren, ohne ein einziges Wort darin ändern zu können. Eine solche Gewandtheit und Schnelligkeit des Arbeitens verdient gewiß Anerkennung – ob aber Nachahmung?




Kleiner Briefkasten.


R. K. in Berlin. Als schönste Erinnerung an Prag, das Ihnen auf Ihren Kriegszügen so lieb geworden, können wir Ihnen das so eben bei Lehmann dort erschienene ganz vortreffliche „Panorama von Prag“ empfehlen. Die Stadt ist vom höchsten Standpunkt aus aufgenommen, der das majestätische Bild in seiner ganzen Schönheit und Größe zeigt. Der Preis von einem Thaler für den siebenunddreißig Zoll langen, künstlerisch schön ausgeführten Stahlstich ist sehr billig.

Dr. W. K. in Berlin. Der Arzt, den G. Hirth in seinen „Selbstbekenntnissen eines Schwerverwundeten“ (Nr. 43) als den Retter seines Lebens bezeichnet, ist der Generalstabsarzt der ehemaligen hannoverschen Armee, Dr. L. Stromeyer, Verfasser der bekannten „Maximen der Kriegsheilkunst“.

Frau St. in W. Arbeiten ist leben und leben ist arbeiten. Auf diesen obersten volkswirthschaftlichen Grundsatz sind Ihre Bemühungen für den Arbeitsunterricht in Mädchenschulen sehr wohl begründet. Eine Lehrerin empfiehlt als bestes und billigstes Hülfsmittel zu Ihren Zwecken: Minna Korn’s Häkelbuch mit Mustern; kürzlich neu in Leipzig erschienen.




Ein Buch für Jedermann.
15 Bogen für 5 Sgr.
Volks-Gesundheits-Lehrer.
Zum Kennenlernen, Gesunderhalten und Gesundmachen des Menschen.
Von Dr. Carl Bock,
Professor in Leipzig.
Preis 5 Sgr.

Es ist dieser Helfer in der Noth in noch populärerer Form die Quintessenz des classischen Bock’schen „Buches vom gesunden und kranken Menschen“, welche hier zu einem so fabelhaft billigen Preise geboten wird, daß das Buch rasch Eigenthum des ganzen Volkes geworden ist, für das es Verfasser und Verleger ohne Rücksicht auf pecuniäres Interesse bestimmt haben. Binnen zehn Monaten wurden 60,000 Exemplare abgesetzt.

Verlagsbuchhandlung von Ernst Keil in Leipzig.

Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Das geist- und schwungvolle Gedicht, mit dem Paul Heyse in den Kreis unserer Mitarbeiter tritt, behandelt eine Frage, welche in neuerer Zeit die gesammte Frauenwelt auf das Lebhafteste beschäftigt. Dies Moment und die Genialität und Formvollendung, mit denen der berühmte Dichter dem interessanten Vorwurf gerecht wird, haben uns bestimmen können, einmal abzugehen von unserm alten Grundsatze, welcher längere Poesien vom Repertoir unsers Blattes ausschließt. Ueberzeugt wie wir sind, allen unsern Lesern und Leserinnen mit dieser bedeutenden Gabe eine wahre Freude zu bereiten, wollen wir unsererseits doch nicht mit dem leisen Bedenken zurückhalten, daß vielleicht nicht alle deutschen Frauen mit jeder der in dem Gedichte ausgesprochenen Ansichten einverstanden sein dürften. D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: „Alte Camelien“ (korrigiert nach der Berichtigung auf S. 760.)