Die Gartenlaube (1869)/Heft 21

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[321]

No. 21.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Reichsgräfin Gisela.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


22.

Der Waldweg, in welchen die Reitenden einlenkten, war ziemlich breit – die Pferde konnten neben einander laufen; er mündete nach kurzer Strecke in der Fahrstraße, die Neuenfeld mit Greinsfeld verband.

Bei dem Knotenpunkt dieser zwei Wege angekommen, hörten die Reiter ein fernes Tosen und Brausen. Oliveira hielt die Pferde zurück, und kurze Zeit darauf stürmten zwei Feuerspritzen, gefolgt von einem großen Theil des Neuenfelder Arbeitspersonals auf Leiterwagen, vorüber.

Wie flogen die Mützen von den Köpfen dieser Leute bei Erblicken ihres Herrn! Wie strahlten ihre kräftigen Gesichter in freudiger Ueberraschung auf! … Das waren die Menschen, denen Frau von Herbeck nicht mehr dankte, weil sie weniger devot als ehemals grüßten, weil sie nicht mit tiefgebogenem Rücken verharrten, bis die kleine fette Frau aus ihrem Gesichtskreis entschwunden war. … Was hatte diese Frau je gewirkt, das sie berechtigte, den Tribut tiefster Verehrung zu beanspruchen? War sie ein bedeutender Geist, der neue Ideen in die Weltanschauung warf? Förderte sie in irgend einer Weise das allgemeine Menschenwohl? War sie eines jener gottbegnadeten Wesen, denen das Talent in überwältigender Macht verliehen? Das Gegentheil von alledem. Sie verabscheute die bedeutenden Geister mit neuen Ideen als revolutionär, und ihr eigener Gedankengang war ein beschränkter, in der Bahn engherziger Gesetze kreisender – sie rührte keinen Finger für das allgemeine Menschenwohl und begnügte sich, in ihrem stumpfen Gebet Gottes Gnade für die frommen Lämmer, die Gläubigen, und seinen Fluch, sein Strafgericht auf die Häupter der Gottlosen zu erflehen – sie bezeichnete die Ausübung der Künste als „nicht passend“ für hochgeborene Leute – Alles in Allem verlangte sie die sclavische Unterwerfung anderer Menschenkinder gegenüber ihrer Person, einzig um der Thatsache willen, daß die Eltern, von denen sie stammte, das „von“ vor ihren Namen setzen durften.

Bei dem nothwendigen Schluß dieser kritischen Beleuchtung erröthete Gisela vor Unwillen – es geschah zum ersten Mal, daß sie mit prüfendem Auge das eigentliche Wesen ihrer Erzieherin zergliederte. … Mit welcher rapiden Schnelligkeit entwickelte sich die Urtheilsschärfe dieses jungen, unterdrückten und vernachlässigten Menschengeistes unter dem befruchtenden Element der Humanität; aber auch welch’ seltene Kraft wohnte ihm inne, daß er sich von dem Herzen zu isoliren vermochte in einem Augenblick, wo es aus tiefster Seele blutete!

Noch ein dritter Wagen voll Menschen jagte an den neben dem Fahrweg Haltenden vorüber – da sah man viel bleiche, verstörte Gesichter.

„Das sind die Greinsfelder,“ sagte Oliveira.

„Die trifft das Unglück nicht,“ entgegnete Gisela mit bedeckter Stimme. „Die neuen Häuser der Neuenfelder Arbeiter, welche Sie, mein Herr, gebaut haben, liegen auf der entgegengesetzten Seite des Dorfes – die Häuserreihe der Taglöhner brennt, die auf dem Gute arbeiten –“

„O weh, das sind Schindeldächer –“

„Und armselige, verwitterte Lehmwände, und die zerbrochenen Fensterscheiben sind mit Papier verklebt –“

Oliveira sah überrascht auf – das klang schneidend aus dem Mädchenmunde.

„Und drin leben Menschen, die für uns arbeiten müssen – als Dank für diese Anstrengungen mißachten wir sie; wir essen das Brod, das sie bauen, und sehen zu, wie sie selbst hungern; wir machen uns weis, sie seien zum Elend geboren, sie seien ein Etwas, das mit uns nicht verglichen werden könne, sie seien geistig nichtige Geschöpfe, und doch verlangen wir von ihnen dasselbe Verständniß des höchsten Wesens und seiner Gebote, wie wir es haben, und wenn sie sterben, verheißt ihnen der liebe Gott dasselbe Himmelreich wie uns. Wenn dort ihre Seelen uns ebenbürtig sind, warum auf Erden nicht? … Ich weiß, daß wir grausame Egoisten sind, aber ich weiß es erst seit Kurzem –“

Sie brach ab. In fast athemloser Hast hatte sie gesprochen, während Oliveira schweigend neben ihr verharrte. Sie waren bisher im Schritt geritten, weil Miß Sarah bei dem sinnverwirrenden Getöse der vorüberrasselnden Wagen gescheut hatte. Auch jetzt streckte der Portugiese zurückhaltend seinen Arm aus, als Gisela das Pferd antreiben wollte.

„Noch nicht!“ wehrte er. „Wir dürfen dem Lärm nicht wieder so nahe kommen.“

„So reiten Sie voraus, mein Herr! Ihr Pferd scheut nicht“

„Nein – ich darf nicht, um dort vielleicht einige arme Habseligkeiten zu retten, hier ein Menschenleben preisgeben. … Sie behaupten, Ihr Pferd sei sicher, und es bringt Sie doch jeden Augenblick in Gefahr – dabei reiten Sie tollkühn, Gräfin. [322] Ich sah bereits auf der Waldwiese mit prophetischem Blick, wie Sie sich beim Heimritt in den Steinbrüchen zerschmettern würden. … Wäre ich Seine Excellenz der Minister, ich würde Ihnen dies Pferd sofort confisciren.“

Oliveira zog bei diesen Worten den Hut in die Stirn, so daß Gisela, deren Blick anfänglich schüchtern auffordernd an dem braunen Gesicht gehangen hatte, von seinen Augen nichts mehr sah. … Sein Erscheinen an den Steinbrüchen wäre also kein zufälliges gewesen? Er wäre einzig und allein gekommen, um sie zu behüten? Das junge Mädchen schauerte in sich zusammen.

„Uebrigens wird wohl für mich und die dort“ – hob er wieder an und deutete nach der Richtung, von wo das ferne Rasseln der Feuerspritzen noch herüberklang – „nichts mehr zu retten übrig sein – solche altersmorsche Hütten brennen rasch zusammen, und die Häusergruppe, die Sie mir bezeichnet haben, steht isolirt. … Dafür wird schleunigst eine andere Hülfe und Thätigkeit beginnen müssen – es gilt, Obdachlose unterzubringen, und da Sie Schindeldächer und Lehmwände abscheulich finden –“

„O mein Herr!“ unterbrach ihn Gisela, „die sollen in Greinsfeld für immer und ewig verschwinden! Es wird Niemand mehr darben – es soll Alles anders werden! … Der alte, strenge Mann im Waldhause hat Recht gehabt – ich war gefühllos wie ein Stein. Ich habe es selbstverständlich gefunden, daß die arbeitende Classe auch elend und verkümmert aussehen müsse – ich habe niemals Widerspruch erhoben gegen das Uebereinkommen zwischen Frau von Herbeck und dem Greinsfelder Schullehrer, nach welchem in den Köpfen dieser Leute die Unwissenheit erhalten werden sollte – ich habe die Dorfkinder zerlumpt und verwildert an meinem Wagen vorüberlaufen sehen, ohne daß mir je der Gedanke gekommen wäre, sie zu bekleiden und ihre Seele zu bessern. … Sie haben mich bereits gerichtet – ich weiß es – und wenn Ihr Spruch auch noch so strenge lautet – ich habe ihn verdient!“

Oliveira hatte mit tiefgesenktem Kopf zugehört; kein Wort des Mannes unterbrach die vernichtende Selbstkritik, die das junge, liebliche Geschöpf da neben ihm mit der tiefernsten und doch so kindlichklingenden Stimme gegen sich schleuderte – er verhielt sich still und zuwartend, wie der Arzt, der eine Wunde ausbluten läßt, aber er war kein Arzt, den die Leiden bei diesem Ausbluten kalt lassen – er war ein leidenschaftlicher Mann, der mit sich ringen mußte, um sein heißes Mitgefühl nicht zu verrathen.

„Sie vergessen, Gräfin,“ sagte er nach einem momentanen Schweigen, während dessen Gisela mit zuckenden Lippen vor sich niedersah, „daß Ihre frühere Anschauungsweise durch zwei Einflüsse bedingt worden ist: durch den ausschließlichen Umgang mit Ihren Standesgenossen und durch die Art und Weise Ihrer Erziehung.“

„Mag ihnen ein Theil zufallen,“ entgegnete sie erregt; „das entschuldigt meine Denkfaulheit, meine Herzenskälte nicht!“

Sie sah ihn mit einem traurigen Lächeln an.

„Ich muß Sie sogar bitten, diese Erziehungsweise nicht anzutasten,“ sagte sie weiter. „Man wiederholt mir täglich, ich sei streng im Geist meiner Großmama erzogen worden.“

Oliveira’s Gesicht verfinsterte sich.

„Ich habe Sie dadurch verletzt?“ fragte er – sein Ton hatte plötzlich eine unverkennbare Härte.

„Sie haben mir wehe gethan, mein Herr. … Mir war in diesem Augenblick, als hörte ich zum ersten Mal meine Großmama schmähen. … Das ist nie geschehen. Wie wäre es auch möglich? Sie ist ja das Musterbild einer erhabenen deutschen Frau gewesen.“

Ein unbeschreibliches Gemisch von Ironie und tödtlicher Verachtung glitt durch die Züge des Portugiesen.

„Und deshalb würden Sie selbstverständlich Den entschieden verabscheuen, der es wagen wollte, an das Andenken dieser edlen Frau zu rühren.“ Er sagte das mit sinkender Stimme; es sollte keine Frage sein, und doch ließ sich das leidenschaftliche Verlangen nach einer Antwort in Blick und Stimme nicht verkennen.

„Sicher,“ versetzte sie rasch, mit einem energischen Aufblick ihrer braunen Augen. „Ich könnte ihm so wenig verzeihen, wie Einem, der das Muttergottesbild vor meinen Augen zertreten wollte –“

„Auch wenn es sich um einen falschen Heiligenschein handelte –“

Sie ließ die Zügel fallen und streckte ihm flehend die Hände entgegen.

„Ich weiß nicht, aus welchem Grunde Sie einen solchen Zweifel aussprechen!“ sagte sie in bebenden Tönen. „Vielleicht haben Sie Schlimmes erfahren an den Menschen, und es wird Ihnen schwer an den makellosen Heiligenschein einer Verstorbenen zu glauben. … Sie sind ja fremd und können von meiner Großmama nichts wissen – aber gehen Sie durch das ganze Land, Sie werden sich überzeugen, daß man nur mit Ehrfurcht von der Reichsgräfin Völdern spricht.“

Sie deutete nach dem Himmel, während ihre Augen innig fragend und fest den seinen begegneten.

„Haben Sie kein Wesen da droben, das Ihnen heilig ist?“ fragte sie, das schöne Haupt leise schüttelnd. „Wissen Sie nicht, daß man über dem Namen der Todten streng wachen soll, weil sie es selbst nicht mehr können? –“ Sie sah vor sich nieder, und in die klare Stirn gruben sich leise Linien des Schmerzes. „Das Andenken an meine Großmama ist das Einzige, was ich rette aus der Sphäre, in der ich geboren bin. … Wie Vieles muß ich verachten! … Ich will auch etwas behalten, das ich verehren darf, und wer es mir zu rauben versucht, der macht sich einer schweren Sünde schuldig – er macht mich arm.“

Sie ritt weiter.

Daß der Portugiese hinter ihr verharrte, als seien die Hufe seines Pferdes an den Waldboden festgezaubert, bemerkte sie nicht; sie sah auch nicht, wie er die Hand über die Augen legte und vergebens mit dem Ausdruck der bittersten Verzweiflung kämpfte, die um seinen Mund zuckte.

Nach einigen Augenblicken war er wieder an ihrer Seite. Noch lag eine fahle Blässe auf den braunen Wangen, aber die verräterischen Linien des inneren Sturmes waren wie weggelöscht. … Wer hätte bei dem Gepräge eiserner Entschlossenheit und Energie, welches diesen stolz getragenen Männerkopf, die ganze gewaltige Erscheinung charakterisirte, annehmen mögen, daß der Mann innerlich für Momente auch zusammenbrechen könne!

Nun wurde nicht mehr gesprochen. Es ging weiter wie auf Sturmesflügeln. Der Wind trieb ihnen einen unerträglichen Brandgeruch entgegen, und oben durch die lichter werdenden Wipfel zogen die letzten Ausläufer der Rauchwolken.

Oliveira hatte Recht gehabt, die altersmorschen Hütten waren in unglaublicher Schnelligkeit niedergebrannt. Als die Rettenden aus dem Wald hervorkamen, da lagen bereits drei rauchende kleine Brandstätten vor ihnen – ein Haus stand noch in vollen Flammen, und auf dem fünften und letzten der Reihe begannen eben die grauen Schindeln lustig aufzulodern.

Aber man hätte sich fast versucht fühlen mögen, den ungeheuren Wasserstrahl aufzufangen, der jetzt zum ersten Mal emporschoß, um prasselnd und zischend in die Flamme niederzustürzen – die Feuerspritzen thaten wacker ihre Schuldigkeit; diese Anstrengung erschien geradezu wie ein Hohn gegenüber der Menschenhabe, die sie retten sollte. … Waren diese vier windschiefen Wände mit den papierverklebten Fensterlöchern in der That eine menschliche Wohnung? Und sollten und mußten diese Wahrzeichen irdischer Ungerechtigkeit stehen bleiben, damit das Elend wieder unterkriechen und eine gott- und menschenverlassene Kaste ein ihrer „angeborenen Lebensstellung“ entsprechendes Obdach behalten sollte?

Die fünf Hütten bedeckten kaum so viel Raum des Erdbodens, wie der große Saal im schönen, stolzen Greinsfelder Schlosse beanspruchte. Fünf Familien hausten eingepfercht zwischen den zerbröckelnden Wänden, die jeder starke Sturmwind über den Haufen blasen konnte – sinkendes und aufblühendes Leben athmete zugleich durch Sommer und Winter hindurch in der Handvoll eingesperrter, ungesunder Luft. … Und im großen Saal des Schlosses, das in diesem Augenblick fern und nebelhaft durch den Qualm herüberschimmerte, standen die todten Bronzefiguren auf ihrem Marmorsockel, und die Krystalltropfen der mächtigen Kronleuchter schaukelten in der Luft, die sorgfältig erneuert wurde, ohne je verbraucht zu werden; und wenn die Stürme draußen an den Wänden hinbrausten, da bewegten sich nicht einmal die Damastgardinen vor den Fensternischen – die aufgethürmten Steinquadern [323] und die festen Fensterläden schützten Bronzefiguren, Kronleuchter und Damastgardinen vor jeder unsanften Berührung. …

Ein entsetzlicher Lärm tobte um das sonst so stille Dorf. Der Portugiese begleitete Gisela, immer den rechten Arm emporgehoben, um im geeigneten Moment der scheuenden Miß Sarah in die Zügel fallen zu können, bis an das Thor des Schloßgartens; dann verabschiedete er sich schweigend mit einer tiefen Verbeugung.

Da sprengte er hin nach dem Brandplatz! … Gisela preßte die Hand auf ihr zuckendes Herz – wie brach hatte diese Mädchenseele gelegen – zum ersten Mal wieder seit ihren Kinderjahren verdunkelte eine Thräne die braunen Augen. … Nun fiel sicher kein Wort mehr zwischen ihr und jenem Mann! Hatte sie doch nicht einmal den Muth finden können, ihm für seinen Schutz zu danken; sie war wie versteinert gewesen gegenüber dem höfisch ritterlichen Gruß, der eine unverwischbar traurige Erinnerung für ihr ganzes Leben gleichsam besiegelte. … Wie mochte er aufathmen, daß er seiner Beschützerrolle ledig war! … Und wenn dort die Rauchwolken sich verzogen hatten, da kehrte er zu dem Hofkreis zurück. … Die schöne, braunlockige Hofdame hatte ja die Blumen nicht gepflückt, die jetzt welkend in den Steinbrüchen lagen – mit ihr sprach er gewiß heute noch; sie wandelten am See hin, wo der Pirol flötete und kühle Lüste in das Ufergebüsch quollen – und sie erfuhr im Laufe des Gesprächs nebenbei die Thatsache, daß er ein paar arme Habseligkeiten und ein tollkühnes, unvernünftiges Menschenkind vor dem Untergang bewahrt habe. …


23.

Gisela ritt in den Schloßgarten, sprang von Miß Sarah’s Rücken und band sie an die nächste Linde. Von der Dienerschaft mußte noch kein Einziger vom Jahrmarkt in A. zurückgekehrt sein, es war todtenstill im ganzen weiten Gatten. Nur durch das ferne Gebüsch, in der Nähe des Schlosses, leuchteten, hie und da auftauchend, ein helles Frauenkleid und der Strohhut eines Herrn – es schien der jungen Dame, als ob Frau von Herbeck in Begleitung des Arztes eilig auf- und abgehe.

Sie trat wieder vor das Thor und schritt die obere Dorfgasse hinab. Da standen zu beiden Seiten die neuerbauten Häuser der Neuenfelder Hüttenarbeiter.

Noch nie hatten die Füße der jungen Dame dieses Pflaster betreten – fremdartiger kann sich der Besucher von Pompeji nicht angemuthet fühlen, als die Herrin des Dorfes inmitten dieser Wohnstätten und des Lebens, das sich vor ihren Augen entwickelte.

Man hatte die Habseligkeiten aus den brennenden Häusern hierher gerettet. … Welch’ ein armseliger Haufe! Und diesem wurmstichigen verbrauchten Gerümpel, das sie nicht mit dem Fuß berühren mochte, gab man die hochtönende Bezeichnung: Eigenthum!

Eine Gruppe wehklagender Frauen stand dabei. Sie rangen die Hände und erschöpften sich in Muthmaßungen, wie der Brand ausgekommen sein möge. Die Kinder dagegen hatten sichtlich große Freude an dem seltenen Ereigniß und seinen Folgen. Es war doch zu wunderbar, daß Tische und Bänke auf einmal unter Gottes freiem Himmel standen – und das schmutzige Bettzeug erschien in der dumpfen Kammer sicher nicht so einladend, wie hier auf dem Pflaster; die kleinen Köpfe guckten seelenvergnügt aus dem improvisirten „Häuschen“, das sie sich zurecht gewühlt hatten.

Gisela schritt auf die Frauen zu. Sie verstummten erschrocken und stellten sich scheu und ehrerbietig zur Seite.

Wäre der Mond vom Himmel heruntergestiegen und durch die Straße gewandelt, es hätte sie vielleicht weniger befremdet, als die weiße Gestalt, die so plötzlich an sie heranschwebte; denn der Mond war ja ein so guter, alter Freund, dem sie von Kindesbeinen an ungescheut in’s gemüthliche Antlitz, sehen durften dieses vornehme Mädchengesicht jedoch kannten sie nur bedeckt vom Schleier und fern zu Roß oder Wagen an ihnen vorüberfliegend.

„Ist Jemand beim Brande verletzt worden?“ fragte die junge Dame gütig.

„Nein, gnädige Gräfin, bis jetzt – Gott sei Dank – Niemand!“ erscholl es von allen Lippen.

„Nur dem Weber seine Ziege ist mit verbrannt,“ sagte eine alte Frau. „Dort unten steht er – er weint sich fast die Augen aus dem Kopf.“

„Und wir haben keine Unterkunft für die Nacht,“ klagte eine andere. „Drei Familien können in den neuen Häusern untergebracht werden, mehr aber nicht – wir sind übrig, und ich habe ein kleines Kind, das zahnt.“

„So kommt mit mir,“ sagte Gisela. „Ich kann Euch Alle unterbringen.“

Die Frauen standen wie versteinert; sie sahen sich scheu unter einander an. Damit war doch unmöglich das Schloß gemeint! Denn dort konnten sie doch nirgends den Fuß hinsetzen, ohne vor „unterthäniger“ Angst zu vergehen! Und gar drin schlafen mit dem Kind, das Zähne kriegte und Tag und Nacht schrie! Bei jedem Tritt und Schritt hallte es ja in den vornehmen Hallen, Gängen und Sälen, daß man sich vor seiner eigenen unverschämten Stimme fürchtete. … Und das mochte Alles noch sein – aber die böse, böse gnädige Frau! Vor der versteckten sich selbst die Männer im Dorf!

Gisela ließ den Frauen nicht länger Zeit zum Ueberlegen.

„Nehmen Sie nur Ihr Kind, liebe Frau,“ ermuthigte sie das Weib, das gesprochen hatte, „und gehen Sie mit – und wer ist noch obdachlos?“

„Ich,“ sagte ein junges Mädchen schüchtern. „Unser Häuschen steht zwar noch, und die Männer sagen, es würde nun auch nicht abbrennen – die Neuenfelder Spritzen sind gerade noch zur rechten Zeit gekommen … ’neinziehen können wir freilich so bald nicht wieder es wird zu sehr eingeweicht. … Gnädige Gräfin, ich bin aber nicht allein; da ist der Großvater und die Eltern, und Bruder und Schwestern und die alte, blinde Muhme –“

Gisela lächelte – wie ein tröstender, erquickender Strahl ging es von diesem jungen, holdseligen Gesicht aus.

„Nun, die werden wir doch nicht draußen lassen,“ sagte sie. „Holen Sie getrost Ihre ganze Familie – ich werde sogleich für eine Wohnung sorgen.“

Das junge Mädchen sprang fort; die Frau aber nahm ihr leidendes Kind auf den Arm, während zwei andere sich an ihren Rock hingen. Sie bat eine Nachbarin, ihrem Mann, der noch nicht von A. zurück war, zu sagen, wo sie sei, und folgte, wenn auch mit beklommenem Herzen, der jungen Gräfin nach dem Schloßgatten.

Gisela band ihr Pferd los, nahm es beim Zügel und betrat den Hauptweg, der nach dem Schloß führte.

Jetzt kam das helle Frauenkleid, wie vom Sturmwind getrieben, auf sie zugeflogen. Das junge Mädchen fühlte doch eine Art von Mitleiden für die kleine, fette Frau, die den Stempel des Entsetzens und der Angst auf dem echauffirten Gesicht trug.

Zuerst kam sie mit ausgebreiteten Armen gelaufen, wobei sich ihre große Mantille wie ein Segel aufblähte, dann schlug sie die Hände zusammen und ließ sie gerungen wieder sinken.

„Nein, nein, liebe Gräfin – das war mehr, als sich ertragen läßt!“ rief sie mit halberstickter Stimme. „Das Dorf brennt – unserer gottverlassenen Dienerschaft fällt es nicht ein, wieder nach Hause zu kommen, und Sie verschwinden für eine volle Stunde! … Ich leide oft und schwer unter Ihren Capricen, füge mich aber stets willig – Liebe und Anhänglichkeit helfen Einem über Vieles hinweg – aber der Streich, den Sie mir heute gespielt haben, war denn doch zu stark. Verzeihen Sie, aber das muß heraus! … Mir fallen nur für einen Moment die Augen zu, und diese augenblickliche Schwäche benutzen Sie, um ohne meine Erlaubniß das Schloß zu verlassen – nein, nein, es ist zu unverantwortlich! … Und nun weckt mich der Feuerlärm – mein erster Gedanke gilt Ihnen – ich laufe durch Haus und Garten, laufe sogar hinunter in das brennende Dorf – Niemand hat Sie auch nur mit einem Auge gesehen. … Fragen Sie den Medicinalrath, was ich gelitten habe!“

Der Herr im Strohhut, der sie jetzt eingeholt hatte, bestätigte mit einem Kopfnicken, wobei er sich ehrfurchtsvoll vor der jungen Gräfin verbeugte.

[324] „Ganz außerordentlich, ganz außerordentlich hat sie gelitten, die arme Gnädige!“ schnarrte er in tief bedauerndem Ton.

„Und nun, ich bitte Sie, liebste Gräfin, wie kommen Sie auf die Idee, in der glühenden Nachmittagssonne auszureiten?“ examinirte die empörte Frau. … „Wo ist der Hut? … Wie, ohne Handschuhe –“

„Glauben Sie denn, ich sei zu meinem Vergnügen fortgeritten und hätte mir Zeit genommen, zu überlegen, welche Handschuhfarbe am besten zu meiner Toilette passe?“ unterbrach sie das junge Mädchen ungeduldig. „Ich bin fortgewesen, um Löschmannschaft zu holen.“

Frau von Herbeck fuhr zurück und schlug abermals die Hände zusammen.

„Und wo waren Sie?“ fragte sie athemlos und bebend.

„Ich wollte nach Neuenfeld, aber auf der Waldwiese traf ich Papa und Mama.“

Diese Antwort traf die Gouvernante wie ein Blitzstrahl, dennoch behielt sie so viel Geistesgegenwart, zu stammeln: „Waren die Excellenzen allein?“

„Es mag wohl die ganze Hofgesellschaft gewesen sein, die auf der Wiese stand – was weiß ich!“ entgegnete Gisela achselzuckend. „Den Fürsten erkannte ich –“

„Allmächtiger Gott, der Fürst hat Sie gesehen?“ schrie die Gouvernante völlig fassungslos auf. „Das ist mein Tod, Medicinalrath!“

Sie war in der That blaß wie eine Leiche, aber auch der angerufene Medicinalrath hatte die Farbe gewechselt.

„Gnädige Gräfin,“ stotterte er, „was haben Sie gethan!… Das wird Seine Excellenz, den Papa, ganz außerordentlich – betrübt haben!“

Gisela schwieg und sah einen Moment aufmerksam und nachdenklich vor sich hin.

„Wollen Sie mir nicht sagen, Frau von Herbeck, aus welchem Grunde der Fürst mich durchaus nicht sehen soll?“ fragte sie plötzlich mit einem raschen Aufblick ihrer Augen und fixirte fest das Gesicht der kleinen fetten Frau.

Diese directe Frage gab der Gouvernante die Fassung zurück.

„Wie – Sie fragen noch?“ rief sie. „Werden Sie sich denn gar nicht bewußt, in welchem Aufzug Sie sind? … Ich kann mich in die Seele der Excellenzen hineindenken – sie werden trostlos sein! … Ihr abenteuerliches Auftreten wird Ihnen bei Hofe sicher nie vergessen, Gräfin! Man wird flüstern und spötteln, so oft der Name Sturm genannt wird. … Barmherziger Gott, und wie wird es mir armer Creatur ergehen!“

„Und mich schmerzt es ganz außerordentlich, gnädige Gräfin, mich immer wieder überzeugen zu müssen, daß alle meine treugemeinten ärztlichen Rathschläge in den Wind gesprochen sind!“ fiel der Medicinalrath ein. „Wie soll ich es nur anfangen, Ihnen klar zu machen, daß das Damoklesschwert stündlich über Ihnen schwebt? … Wie leicht, wie leicht“ – er hob den Zeigefinger – „konnte Sie einer Ihrer ominösen Anfälle angesichts des Hofes überrumpeln – welch’ ein Scandal, gnädige Gräfin!“

Der Mann zitterte innerlich vor Aerger, das war nicht zu verkennen, wenn auch seine hervortretenden, verquollenen Augen mit einer gewissen Sanftmuth und devoten Nachgiebigkeit am Boden hingen.

„Daß Sie nach dem aufregenden Ritt ohne Nervenalteration vor mir stehen, erscheint mir wie ein Wunder Gottes“ – hob er wieder an.

„Auch ich halte es für ein Wunder, für das ich dem lieben Gott inbrünstig danke,“ unterbrach ihn die junge Dame, die bis dahin mit gerunzelter Stirn, allein sonst sehr gleichmüthig die Vorwürfe über sich hatte ergehen lassen – „indeß so sehr befremden sollte es Sie doch nicht mehr, Herr Medicinalrath, denn Sie sehen es seit einem halben Jahre täglich vor sich.“

Eine Kinderstimme wurde hinter den Sprechenden laut. Die Taglöhnerfrau hatte sich bei Erblicken der Gouvernante sofort hinter das nächste Bosket geflüchtet – sie mochte viele Mühe gehabt haben, unterdeß ihre Kinder zu beschwichtigen, damit sie die böse, böse gnädige Frau nicht bemerke. In diesem Augenblick aber war ihr doch ein kleiner Knabe entwischt. Er stand breitspurig im Weg und versuchte mit einem kräftigen „Hott!“ Miß Sarah aus der Fassung zu bringen.

„Was soll das? Wie kommst Du hierher, Junge?“ fuhr Frau von Herbeck auf.

Jetzt trat die Mutter ängstlich hinter dem Gebüsch hervor.

„Die Frau ist abgebrannt!“ erklärte Gisela.

„So – das ist schlimm für Euch, Frau,“ sagte die Gouvernante in etwas milderem Ton. „Es thut mir leid. … Die Hand des Herrn ruht schwer auf Euch, aber leider – das wißt Ihr am besten – nicht allein als Prüfung und unverdientermaßen. … Erinnert Euch nur, wie oft ich Euch gesagt habe, daß das Strafgericht Gottes nicht ausbleiben kann – Ihr Alle lebt zu gottlos in den Tag hinein und habt zum Beten niemals Zeit. … Nun, ich will nichts weiter sagen, Ihr seid gestraft genug. … Da geht nur einstweilen wieder hin – wir wollen sehen, was sich thun läßt.“

„Wohin soll sie denn gehen, Frau von Herbeck?“ fragte Gisela sehr ruhig, wenn auch ihre Wangen anfingen, sich leise zu röthen. „Sie hören, daß das Haus der Frau niedergebrannt ist, daß sie mithin kein Obdach hat.“

„Nun, mein Gott, wie soll ich denn wissen, wo sie unterkommt?“ fragte Frau von Herbeck ungeduldig zurück. „Es giebt Häuser genug im Dorfe –“

„Aber nicht für fünf obdachlose Familien,“ entgegnete die junge Dame – die schöne, schlanke Gestalt stand plötzlich in gebietender Hoheit der kleinen fetten Frau gegenüber. „Die Frau bleibt vorläufig mit Mann und Kindern hier im Schlosse,“ erklärte sie entschieden, „und sie nicht allein, es kommt auch noch eine zweite Familie. … Komm’ her, mein Junge!“

Sie ergriff mit der Linken das Händchen des kleinen Knaben und machte sich bereit, ihren Weg fortzusetzen.

„Gerechter Gott, welcher Wahnsinn! … Ich protestire, ich protestire!“ schrie Frau von Herbeck auf und vertrat mit ausgebreiteten Armen der jungen Herrin des Schlosses den Weg.

(Fortsetzung folgt.)




Berliner Zeitungen und Redacteure.

Unter der Regierung Friedrich des Ersten von Preußen erschien in Berlin im Verlag der Rüdinger’schen Buchhandlung eine in Octav auf grauem Löschpapier gedruckte Zeitung, die jedoch nur mit Unterbrechungen herauskam und sich auf die dürftigsten und magersten Nachrichten beschränkte. Sein Nachfolger, der bekannte „Soldatenkönig“, war ein entschiedener Feind aller Publicistik und verbot selbst dieses elende Blatt, da er von dem Grundsatz ausging, daß das Volk sich um politische Angelegenheiten gar nicht kümmern sollte.

Von 1713–14 gab es daher gar keine Zeitung in Berlin. Der König selbst ließ sich die neuesten Nachrichten aus dem „Amsterdamer Courier“ von seinem Hofnarren und Historiographen Gundling in dem berühmten Tabakscollegium vorlesen. Dazu schimpfte er über das Gesindel der schlechten Presse, wenn sich die „verfluchten Zeitungsschreiber“ über seine Potsdamer Garde lustig machten. Hatte doch ein solcher „Kerl“ die Frechheit gehabt, in den holländischen Blättern zu melden, daß man bei der Section des baumlangen Flügelmanns Jonas kein Herz in der Leiche gefunden habe; wogegen der König witzig repliciren ließ, daß bei einem verstorbenen Zeitungsschreiber das Gehirn gänzlich gefehlt haben soll.

Trotzdem sah sich selbst dieser patriarchalische Despot gezwungen, der öffentlichen Meinung eine Concession zu machen, als er gegen die Schweden in’s Feld rückte. Um die Neugierde der lieben Berliner und auch um die eigene Eitelkeit zu befriedigen, da die Truppen unter seinem Befehl siegreich fochten, ertheilte er die Erlaubniß, das Publicum mit den neuesten Vorgängen auf dem Kriegsschauplatz bekannt zu machen. Dazu brauchte man aber eine Zeitung, und so erhielt der genannte Buchhändler Rüdinger am 11. Februar 1722 das Privilegium zum Druck einer „Berlinischen Zeitung“, die er wöchentlich dreimal gegen Erlegung eines Kanon von zweihundert Thalern herausgeben durfte.

[325]

Berliner Redacteure.

Dr. H. Steinitz,
Redacteur der Volkszeitung.
Dr. Beutner,
Redacteur der Kreuzzeitung.
Dr. A. Schmidt,
Redacteur der Spener’schen Zeitung.
Dr. A. Braß,
Redacteur der Norddeutschen Zeitung.
Dr. H. Kletke,
Redacteur der Vossischen Zeitung.
Dr. G. Weiß,
Redacteur der Zukunft.
Dr. F. Zabel,
Redacteur der National-Zeitung.
Jul. Stettenheim,
Redacteur der Berliner Wespen.

[326] Auch diese neue Zeitung war äußerst dürftig und beschränkte sich hauptsächlich auf locale Berichte über die damals überaus häufigen Executionen und grausamen Hinrichtungen, sowie auf ausführliche Beschreibung der abgehaltenen Hoffestlichkeiten bei den fürstlichen Besuchen und hochzeitlichem Beilager. Erst unter Friedrich dem Großen gewann das Berliner Zeitungswesen an Ausbreitung und Interesse. Gleich nach seinem Regierungsantritt erhielt die Haude’sche Buchhandlung, von der Friedrich als Kronprinz heimlich hinter dem Rücken seines gestrengen Vaters die neuesten Erzeugnisse der französischen Literatur bezog, ebenfalls die Erlaubniß, eine zweite Zeitung in Berlin herauszugeben mit dem Motto „Wahrheit und Freiheit“. Haude starb 1748, das ihm ertheilte Privilegium gelangte jedoch an den Bruder seiner Wittwe, den Buchhandler Spener. Dagegen verlor die „Rüdinger’sche Zeitung“ ihr bisheriges Privilegium, weil sie die unerhörte Kühnheit gehabt hatte, in ihren Spalten die Nachricht zu bringen, daß das königliche Lagerhaus eingehen sollte und die märkischen Landstände hunderttausend Scheffel Korn liefern müßten. Da aber das Bedürfniß nach einer zweiten Zeitung sich immer dringender herausstellte, so erhielt der Buchhändler Christian Friedrich Voß, ein Schwiegersohn Rüdinger’s, im Jahre 1751 ein neues Privilegium. Das ist der Ursprung der beiden ältesten, noch heute bestehenden Zeitungen Berlin’s, der „Spener’schen“ und „Vossischen“, welche der Berliner Volkswitz mit den charakteristischen Beinamen „Onkel“ und „Tante“ getauft hat.

Friedrich der Große nahm an der Entwicklung der Zeitungen den lebhaftesten Antheil; er selbst erkannte bereits die Macht der öffentlichen Meinung an und verschmähte es nicht, zuweilen durch einen Artikel von seiner eigenen Hand dieselbe zu berichtigen. Vor Allem aber schützte er die junge Presse gegen jede Belästigung, indem er den noch heute beherzigenswerthen Grundsatz aussprach: „Gazetten dürfen, wenn sie interessant sein sollen, nicht genirt werden“.

Wenn er sich auch später durch mancherlei indiscrete Mittheilungen über die Märsche und Stellungen seiner Truppen zur Zeit des siebenjährigen Krieges veranlaßt sah, einige Beschränkungen eintreten zu lassen, so wurde doch auf seinen ausdrücklichen Wunsch die von ihm angeordnete Censur mit großer Milde und Schonung geübt. Um so strenger war das Verfahren gegen die Berliner Zeitungen unter seinem schwachen, irre geleiteten Nachfolger, Friedrich Wilhelm dem Zweiten. Seine Minister und Günstlinge, der berüchtigte Bischoffswerder und der noch verrufenere Wöllner, bedrohten durch ihre bekannten Edicte zugleich die Freiheit des Gewissens und des Geistes.

Die Folgen konnten nicht ausbleiben und das Jahr 1806 mit seinen schmachvollen Niederlagen zeigte nur zu klar, wohin die Bevormundung des Geistes, die Unterdrückung der öffentlichen Meinung, die Beschränkung der Presse eine Regierung führt. Das Volk blieb fast theilnahmlos bei dem Unglück des Vaterlandes; nirgend eine Spur von patriotischer Begeisterung, von energischem Widerstand gegen die Fremdherrschaft, überall dagegen Muthlosigkeit, knechtische Furcht, Abfall und Verrath. Unter dem französischen Joch sanken auch die Berliner Zeitungen zur traurigsten Unbedeutsamkeit herab, indem sie ihre Spalten mit den prahlerischen Siegesbülletins des Moniteur oder mit dem elendesten Theaterklatsch ausfüllten. Um so heller loderte die Begeisterung auf, als das Volk aufstand zum heiligen Kampf für die Freiheit, an dem auch die Berliner Presse ihren redlichen Antheil nahm.

Leider währte diese erhöhte Stimmung nur kurze Zeit, um der immer mehr hervortretenden Reaction Platz zu machen. Es kamen die schimpflichen Tage der Demagogen-Verfolgung, der Karlsbader Beschlüsse, der Maßregeln gegen die Presse, deren Dienste schnell vergessen wurden. Unter dem unerträglichen Druck der verschärften Censur verloren die Berliner Zeitungen jedes Interesse, schrumpften die Berichte über die wichtigsten inneren Angelegenheiten zu wenigen nichtssagenden Zeilen zusammen. Um so üppiger machten sich die localen Tagesneuigkeiten, der banale Stadtklatsch breit. Die Aufführung einer neuen Oper oder eines Ballets war ein Ereigniß für die Residenz und wurde mit der größten Wichtigkeit behandelt, obgleich selbst die unschuldigen Theaterkritiken einer strengen Aufsicht unterlagen. Kein neues Stück durfte damals vor der dritten Vorstellung öffentlich besprochen werden, und jeder noch so bescheidene Tadel mußte vor dem Rothstift des Censors schwinden oder sich in das Gegentheil verwandeln, wenn der betreffende Künstler oder die Künstlerin sich einer hohen Protection erfreuten. Ein Angriff auf den von Oben begünstigten Generaldirector Spontini galt fast für ein Majestätsverbrechen und eine Satire auf die angebetete Sängerin Sontag, die erst später den Grafen Rossi heirathete, zog dem jungen Rellstab eine einjährige Gefängnißstrafe zu. Unter solchen Verhältnissen war es kein Wunder, daß die beiden Berliner Zeitungen als bloße Localblätter vegetirten. Höchstens war es ihnen gestattet, die ausländischen Vorgänge zu besprechen, aber selbst diese nur mit vielen Censurlücken und oft so verstümmelt, daß die Leser nur ein mangelhaftes oder falsches Bild von den französischen und englischen Kammerverhandlungen erhielten, so daß das gebildetere Publicum, wenn es sich über die inneren und äußeren Verhältnisse unterrichten wollte, sich gezwungen sah, in fremden Zeitungen die gewünschte Belehrung zu suchen. Dennoch fühlte die Regierung die Nothwendigkeit, ihre Maßregeln vor der öffentlichen Meinung zu rechtfertigen. Diesem Umstande verdankte der sogenannte „Staatsanzeiger“ seine Entstehung, dessen Redaction anfänglich der Staatsrath Stägemann und der vielseitige Günstling des Staatskanzlers Hardenberg, der bekannte Doctor Koref, später der einst so beliebte und jetzt vergessene Schriftsteller Carl Heun, alias Clauren, übernahm, Verfasser der zu ihrer Zeit mit Begierde verschlungenen Mimili-Romane.

Schon mit der Julirevolution und noch mehr seit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelm des Vierten trat ein bedeutender Wendepunkt in dem politischen Leben des preußischen Volkes ein. Die Verleihung des wenn auch noch so mangelhaften Februar-Patents, die Verhandlungen des vereinigten Landtags, die dabei sich entwickelnde Opposition boten dem Publicum und auch den Zeitungen einen reichen Stoff, während die Einführung des Ober-Censurgerichts der unterdrückten Presse einigermaßen Schutz gegen die Willkür der Censur gewährte. Bald jedoch verkümmerte die herrschende pietistische Richtung und die auf ihr Ansehen eifersüchtige Bureaukratie diese kaum nennenswerthe Freiheit, obgleich die Regierung die von ihr selbst herausgeforderte öffentliche Meinung nicht mehr zu unterdrücken vermochte.

Mit jedem Tage wurde die Opposition stärker und mächtiger, die liberale Bourgeoisie ihrer Macht sich bewußter. Schon im Jahre 1846 gab der talentvolle G. Julius ein neues Blatt, die „Berliner Zeitungshalle“, heraus, welche anfänglich das liberale Princip vertrat, aber nach der Revolution des Jahres 1848 durch ihre radicale Haltung die besitzenden Classen abstieß und deshalb einging. Glücklicher war die von einer Anzahl wohlhabender und freisinniger Männer auf Actien gegründete „Nationalzeitung“, die unter der Redaction des verdienstvollen Doctor Zabel einen bedeutenden Aufschwung nahm.

Mit den Märztagen und der Befreiung der Presse begann überhaupt eine neue Periode für das Berliner Zeitungswesen. Jede Partei, selbst jede Fraction suchte sich ihr eigenes Organ zu schaffen, besonders blühte die humoristische Tagesliteratur, welche von fliegenden Buchhändlern in den Straßen colportirt wurde. Die darauf folgende Reaction und der eingetretene Belagerungszustand machte diesem frischen Treiben ein plötzliches Ende. Die meisten dieser politischen Eintagsfliegen starben entweder eines gewaltsamen Todes[WS 1] oder gingen an der Apathie des Volkes zu Grunde. Dies Schicksal traf vor Allen die zahlreichen Witzblätter, während die Organe der Mittelpartei, der sogenannten „Gothaer“, trotz aller Anstrengungen und Opfer dahinsiechten.

Nur die beiden Schöpfungen der äußersten Richtungen, die demokratische „Urwähler-Zeitung“, durch den genialen Bernstein in’s Leben gerufen, und die feudale „Neue preußische Zeitung“ (Kreuzzeitung), die, von einer aristokratischen Gesellschaft gegründet, in dem Assessor Wagener den geeigneten Redacteur erhalten hatte, zeigten eine festere Constitution und wahre Lebenskraft, während „Kladderadatsch“ sich seit seiner Geburt als „ein gesundes Berliner Kind“ legitimirte.

So lange die Schreckensherrschaft Hinckeldey’s dauerte, schwebte über den Berliner Zeitungen trotz der durch die Verfassung garantirten Preßfreiheit das Damoklesschwert einer unerhörten Willkür. Die freisinnige Presse ward in einer kaum glaublichen, empörenden Weise gemaßregelt, die mißliebigen Zeitungen wurde confiscirt, die Redactionen durch Haussuchungen belästigt, die Mitarbeiter durch Preßprocesse eingeschüchtert, die liberalen Schriftsteller [327] ausgewiesen oder eingesperrt, die Buchdrucker mit Concessionsentziehungen bedroht, um das Erscheinen der Blätter zu hindern. Unter solchen Verhältnissen sah sich die Urwähler-Zeitung nach langen, schweren Kämpfen gezwungen, vorläufig einzugehen, um jedoch bald wieder als „Volkszeitung“ im Verlag von Franz Duncker ihre Auferstehung zu feiern. Selbst die loyale Kreuzzeitung wurde nicht geschont und eine Zeit lang systematisch chicanirt, weil sie nicht in allen Stücken nach der Pfeife des „Dey von Berlin“ tanzen wollte.

Nach dem Tode Hinckeldey’s durch die Hand des „edlen“ Hans von Rochow, wie ihn der Präsident des Herrenhauses nannte, athmete die gequälte Presse wieder auf, obgleich sie unter dem Ministerium Manteuffel-Westphalen keineswegs auf Rosen gebettet lag. Aber weder die Tyrannei des früheren Polizeipräsidenten, noch die späteren „Preßordonnanzen“, noch die zahlreichen Processe und Verurtheilungen konnten die fortschreitende Entwickelung der Zeitungen aufhalten und die mit jedem Tage mehr anerkannte Macht der Presse beschränken.

Statt eines elenden, zusammengestoppelten Blättchens auf grauem Löschpapier erscheinen jetzt neun große Zeitungen, die täglich, zum Theil zweimal, oft mit fünf bis acht Beilagen versehen, ausgegeben werden. In ihrem Dienste stehen der elektrische Telegraph und das transatlantische Kabel, welche die wichtigsten Nachrichten mit Blitzesschnelligkeit aus den fernsten Ländern ihnen zutragen. Die bedeutendsten und tüchtigsten Männer sind an der Redaction oder als Mitarbeiter beschäftigt. Ein Heer von Setzern und Druckern arbeitet bei Tag und Nacht; Ballen von unendlichem Papier werden von der Schnellpresse mit Hülfe der Dampfkraft überwältigt und Tausende von Exemplaren, die oft die Stärke eines mäßigen Buches erreichen, verbreiten an jedem Morgen mit den neuesten Nachrichten Bildung, Aufklärung und Gesittung in allen Schichten der Gesellschaft.

Außer den politischen Blättern besitzt Berlin noch zwei Gerichtszeitungen, die ebenfalls sich noch mit Politik befassen, ferner die beiden humoristischen Wochenschriften „Kladderadatsch“ und „Wespen“, während für die Interessen der Kunst, Wissenschaft, der Mode und des Theaters, für kirchliches Leben und ähnliche Zwecke gegen zweihundert mehr oder minder bekannte und verbreitete Organe sorgen.

Von den beiden ältesten Berliner Zeitungen nimmt unstreitig die Vossische in der Gunst des Publicums den ersten Rang ein. Sie ist dem echten Berliner unentbehrlich und wenn er in der Fremde weilt, greift er gewiß zuerst nach der geliebten „Tante“, um zu erfahren, was in der Heimath passirt. Diese Vorliebe verdankt sie wohl zumeist ihren trefflichen Eigenschaften einer treuen Berichterstatterin, indem sie wie ein Spiegel das Bild des Berliner Lebens wiedergiebt; außerdem aber dem Umstande, daß sie ähnlich wie die „Times“ stets mit der öffentlichen Meinung Hand in Hand geht und mit anerkennungswerther Unabhängigkeit den gesunden Menschenverstand und den vernünftigen Fortschritt repräsentirt. Zu allen Zeiten kämpfte sie, wie noch jetzt, auf politischem und auf religiösem Gebiete für die Freiheit des Gewissens, vertrat und vertritt sie stets das liberale Bewußtsein des aufgeklärten und gebildeten Bürgerstandes, beseelt von jenem Geiste humaner Duldung, den sie von ihrem ältesten und größten Mitarbeiter, Gotthold Ephraim Lessing, geerbt zu haben scheint.

Zugleich hat sie immer das große Glück oder Verdienst gehabt, daß sie noch stets zur rechten Zeit auch den rechten Mann zu finden wußte. So war der bekannte Rellstab der ganz geeignete Mann für sie in jenen Tagen, wo das artistisch-literarische Interesse noch das politische Leben überwog. Damals schwur der Berliner auf seinen Rellstab, und so leicht hätte Niemand ein Urtheil über eine Oper oder ein Schauspiel abgegeben, bevor nicht der große Kritiker der Vossischen sein Wort gesprochen. Mit Entzücken wurden seine gemüthlichen Weihnachtswanderungen, mit Bewunderung seine harmlosen Reisebilder gelesen. Er war im eigentlichen Sinne der Genius der Vossischen Zeitung, bis die Revolution auch ihn von seinem literarischen Throne stürzte und seiner patriarchalischen Herrschaft ein Ende machte.

Mit dem Jahre 1848 gewann die Vossische Zeitung an dem leider zu früh gestorbenen Dr. Otto Lindner ein frische, bedeutende Kraft, welche die neue Ordnung der Dinge forderte. Mit einer gründlichen philologischen Bildung, einem tiefen philosophischen Wissen und den gediegensten künstlerischen Studien besonders auf musikalischem Gebiete verband Lindner einen seltenen politischen Scharfblick und eine große Energie des Charakters, die zuweilen selbst an Schroffheit grenzte. Durch diese Eigenschaften gab er dem ihm anvertrauten Blatt eine feste, entschiedene Richtung, indem er es zugleich aus der gemüthlichen Weißbier-Sphäre localer Beschränkung zu einem höheren, selbst ideellen Standpunkt mit bewunderungswürdiger Kraft und Vorsicht erhob. In der „Sonntagsbeilage“ erschien er zwar als Anhänger der Schopenhauer’schen Philosophie, aber in dem politischen Theil der Zeitung war er nichts weniger als ein thatenloser „Quietist“, sondern einer der muthigsten Kämpfer für Freiheit, Recht und Wahrheit. Hier erwarb er sich vor Allem das große Verdienst, durch seine unablässigen Angriffe wesentlich mit zur Beseitigung des Manteuffel'schen Regiments beigetragen zu haben. Auch in dem Conflict zwischen der jetzigen Regierung und dem Abgeordnetenhause unterstützte er mit der ganzen Macht seines Talents und seines Charakters das letztere, während er mit staatsmännischer Einsicht die großen Ereignisse des Jahres 1866 erfaßte und in diesem Sinn das Werk der deutschen Einheit nach Kräften zu fördern suchte.

Nach seinem beklagenswerten Tode übernahm sein schlesischer Landsmann und langjähriger Mitarbeiter, Dr. Hermann Kletke, die Redaction, dieselbe im gleichen Geist fortführend. Ursprünglich nur als begabter Lyriker, als Dichter reizender Kindermärchen und viel gelesener Jugendschriftsteller bekannt, entwickelte der liebenswürdige und bescheidene Kletke eine überraschende politische Befähigung und eine Vielseitigkeit, wodurch die von ihm jetzt geleitete Zeitung eher gewonnen als verloren hat. Noch heute wie früher ist die Vossische Zeitung das Lieblingsblatt des gebildeten Bürgerstandes, auf dessen Anschauungen sie den größten Einfluß übt. Unter ihren Mitarbeitern befinden sich viele ausgezeichnete Männer, wie der Nestor der Berliner Journalistik, der fünfundachtzigjährige Professor Gubitz. Gegenwärtig zählt dieselbe mehr als siebenzehntausend Abonnenten, außerdem hat sie die zahlreichsten Annoncen, so daß sie an manchen Tagen bis zehn Bogen Beilagen bringt. Ihre Besitzer, die Lessing’schen Erben, Verwandte des berühmten Lessing, beziehen aus ihr eine höchst bedeutende Jahresrevenue.

Ihre gleichaltrige Collegin, die Spener’sche Zeitung, wird dagegen wegen ihrer mehr vermittelnden Stellung und minder entschiedenen Haltung vorzugsweise in den höheren Beamten- und Professorenkreisen gelesen. „Onkel Spener“ macht weit mehr den Eindruck eines alten, behaglichen und bedächtigen Herrn, der sich nicht gerne echauffirt und lieber mit aller Welt in Frieden lebt, als die lebhafte, sanguinische Tante, welche nach Art resoluter Frauen kein Blatt vor den Mund nimmt und, wenn es ihr zu toll wird, kräftig dazwischen fährt. Durch den früheren Besitzer und Redacteur, Dr. Spiker, der wegen seiner Vorliebe für englische Institutionen und Literatur den Beinamen „Lord Spiker“ führte, hat die Spener’sche Zeitung eine gewisse vornehm steife, gentlemanlike reservirte Haltung angenommen. Obgleich von der Regierung unabhängig, erhält sie wegen ihrer gemäßigten Stellung von Zeit zu Zeit einen freundschaftlichen Händedruck in Form vertraulicher Mittheilungen aus „sicherer Quelle“ oder einen Wink von hochgestellten Beamten, die mit dem stets anständigen Onkel auf vertrautem Fuß stehen. Ganz besondere Aufmerksamkeit schenkt sie den Erscheinungen des Büchermarktes, die sie weniger mit kritischer Schärfe als bibliophiler Sorgsamkeit bespricht, wodurch sie sich in den gelehrten Kreisen Anerkennnug erworben hat.

Ihr jetziger Redacteur, Dr. Alexis Schmidt, zugleich Vorsitzender des Vereins der „Berliner Presse“, genießt wegen seines biederen Charakters, seiner Humanität und Gefälligkeit die allgemeinste Verehrung. Wie in seinem Blatt nimmt er auch im Leben eine zwischen den Parteien stets vermittelnde, die Extreme versöhnende und darum höchst beliebte Stellung ein.

Unter den demokratischen Zeitungen Berlins behauptet die „Volkszeitung“, welche an die Stelle der eingegangenen „Urwähler-Zeitung“ getreten ist, noch immer den höchsten Rang. Sie besitzt in ihrem eigentlichen Redacteur Herrn Bernstein, dessen Portrait und Biographie die Gartenlaube bereits im Jahrgang 1861 brachte, eine wahrhaft bewunderungswürdige, unerschöpfliche Kraft. Seine zahllosen Leitartikel, seine naturwissenschaftlichen Aufsätze haben die Volkszeitung zum gelesensten Blatt gemacht. An populärer Begabung findet er kaum seines Gleichen, an Scharfsinn und geistvoller Auffassung [328] steht er unübertroffen da. Stets überrascht er durch neue glückliche Wendungen, durch die staunenswerthe Klarheit und Originalität seiner Gedanken. Selbst die Gegner, welche ihm eine gewisse „talmudische“ Spitzfindigkeit oder politische Consequenzenmacherei zum Vorwurf machen, ihn wegen mancher Verirrung besonders in den Fragen der äußern Politik tadeln, müssen dem Geist des Schriftstellers, dem lauteren Charakter des Mannes volle Gerechtigkeit widerfahren lassen. Der Leitartikel Bernstein’s ist die Seele, der Geist der Volkszeitung, deren politische Nachrichten von den Herren Dr. Holdheim und Steinitz redigirt werden, während Herr Dr. Max Hirsch den socialen Theil mit besonderer Aufmerksamkeit und Sachkenntniß besorgt. Die Abonnentenzahl, wohl zur Hälfte den arbeitenden Classen angehörig, schwankt je nach den Zeitverhältnissen zwischen 25–30,000.

Der durch Johann Jacoby besonders in der deutschen Frage vertretene Standpunkt eines Theils der entschieden demokratischen Partei und die damit verbundene Spaltung hat eine neue Zeitung, „die Zukunft“, unter der Redaction des Herrn Dr. Guido Weiß in’s Leben gerufen, wozu die von den Freunden Jacoby’s gesammelte Summe von fünfzehntausend Thalern von diesen bestimmt wurde. Anfänglich Mediciner, hat Herr Weiß sich später mit seinem Freunde und Landsmann Lindner an der Vossischen Zeitung betheiligt, in der seine geistvollen Berichte besonders über die preußischen Kammerverhandlungen durch Schärfe und pikanten Stil nur wohlverdientes Aufsehen erregten. Durch die Natur seines Blattes, so wie durch eigene Neigung auf die Polemik angewiesen, gebraucht er die ihm zu Gebote stehenden Waffen der Satire und des schneidenden Witzes mit eleganter Sicherheit, aber auch oft mit schonungsloser Consequenz, so daß er Freunde und Feinde zugleich verwundet und verletzt. Seine spitz zugeschliffenen Leitartikel sind mitunter zu fein für die große Menge und darum Caviar für das Volk, während sie von den höher Gebildeten der Partei mit großem Genuß gelesen und gewürdigt werden. Guido Weiß ist übrigens – zum ersten Mal in Deutschland – mit einem Wagniß vorgegangen, das einen schlagenden Beweis von der Beliebtheit seines Blattes liefert. Nachdem die oben erwähnten Mittel zur Kostendeckung seiner Zeitung verausgabt waren, erschien die weitere Existenz des Blattes, das sich selbst noch nicht deckte, gefährdet und die Presse kündigte bereits das Eingehen desselben an. Da erließ Guido Weiß einen in sehr würdigem Ton gehaltenen Aufruf an alle Freunde des Blattes und der entschiedenen Demokratie, worin er ohne Weiteres aufforderte, die Fortexistenz eines so wichtigen Organs der guten Sache durch freiwillige Beiträge zu ermöglichen. Und siehe da – binnen vierzehn Tagen waren nicht nur die augenblicklich nöthigen Mittel vollständig vorhanden, die Beiträge liefen auch so beträchtlich und zahlreich ein, daß nunmehr das Bestehen der „Zukunft“ auf Jahre hinaus gesichert ist.

Das Organ der sogenannten anständigen oder gemäßigten Demokratie ist die „National-Zeitung“, welche, von ihrem Redacteur Herrn Dr. Zabel mit großer Umsicht durch alle Klippen und Untiefen der politischen Gewässer gesteuert, noch stets die Schwierigkeiten ihrer eigenthümlichen Stellung glücklich überwunden oder vermieden hat, ohne ihrem Principe untreu zu werden, oder ihren wohlbegründeten Ruf einzubüßen. Dazu war und ist gerade Herr Zabel der geeignete Mann, da er bei aller scheinbarer Nachgiebigkeit sein Ziel unverrückbar im Auge behält und mit einer gewissen Elasticität auch die Zähigkeit und Festigkeit eines darum allgemein geachteten Charakters verbindet. Zum Theologen bestimmt, wußte er sich eine so vielseitige Bildung zu erwerben, daß er sogar einige Zeit an der Herausgabe eines medicinischen Werkes sich betheiligte. Vor Allem aber besitzt er die seltene Eigenschaft, junge Talente zu erkennen, aufzumuntern und an die richtige Stelle zu bringen. Diesem Umstande verdankt die Nationalzeitung eine Anzahl ausgezeichneter Mitarbeiter, die merkwürdiger Weise zum Theil später in den Staatsdienst übergetreten sind, wie die Herren Lothar Bucher und Michelis. Besondere Sorgfalt schenkt die Redaction dem Feuilleton, an welchem Adolph Stahr, Titus Ullrich, Karl Frenzel, Woltmann, Julius Lessing etc. arbeiteten, während der handelspolitische und volkswirthschaftliche Theil von Herrn Schweitzer mit großer Umsicht und vielem Geschick geleitet wird.

Nach so manchen gescheiterten und wieder aufgegebenen Versuchen hat auch die gegenwärtige Regierung an der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“ ein geeignetes Organ und in Herrn Dr. August Braß den ihr zusagenden Redacteur gefunden. Derselbe gehörte in vormärzlicher Zeit und im Jahre 1848 wie die Mehrzahl der damaligen Jugend zu der äußersten Demokratie. In seiner Sturm- und Drangperiode schrieb er noch sociale „Geheimnisse von Berlin“ und rothe „Barricadenlieder“. Durch die nachfolgenden Ereignisse zur Flucht gezwungen, lernte er in der Schweiz das traurige Loos der Verbannung kennen. Das heiße Blut hatte sich abgekühlt und die Begeisterung war der kälteren Betrachtung gewichen. Als Herr Braß in Folge der erlassenen Amnestie nach Berlin zurückkehrte, war der politische Umwandlungsproceß so weit gediehen, daß er ein „Norddeutsches Wochenblatt“ gründete, aus dem sich im Laufe der Zeit die jetzige „Norddeutsche Zeitung“ allmählich entwickelte, deren mit vielem Geist geschriebene Leitartikel den Lesern durch eine gewisse staatsmännische Ueberlegenheit imponirten und sie zugleich mystificirten, so daß man das Blatt bald für ein Organ des „Augustenburgers“, bald im Interesse Oesterreichs geschrieben hielt, bis es eines Tages seine wahre Gestalt enthüllte und mit Sack und Pack in das ministerielle Lager überging, wobei sich die Zeitung und die Redaction gleich wohl befinden sollen.

Halb Mönch, halb Soldat kämpft die Kreuzzeitung für das feudale Princip, für Thron und Altar, am kräftigsten jedoch für die Interessen der kleinen, aber mächtigen Partei, der sie ihre Existenz und ihr ferneres Bestehen verdankt. Unter ihrem früheren Redacteur, dem bekannten Herrn Wagener, hat sie ihre Flegeljahre durchgemacht, damals stimmte sie besonders in ihrem zuschauerlichen Theil einen bisher unerhörten Ton in der Berliner Presse an, der sich zuweilen bis zur Denunciation der würdigsten Männer verirrte. Ihre kurzen, bald sibyllinisch, bald drohend klingenden Leitartikel, die zwar einseitig, aber mit Geist und Talent abgefaßten Betrachtungen des frommen Rundschauers, große Rührigkeit und vor Allem ihre vielseitigen Verbindungen mit den hohen und höchsten maßgebenden Kreisen sicherten ihr einen bedeutenden Einfluß, den sie für ihre Zwecke mit Geschick zu benutzen wußte. Zur Belohnung seiner Verdienste wurde Herr Wagener von seinen Parteigenossen mit der Schenkung des Ritterguts Dummerwitz, von der Regierung mit einer hohen Stellung im Staatsdienst belohnt.

Sein Nachfolger, Herr Beutner, ein ehemaliger Theologe, wird wegen seiner persönlichen Liebenswürdigkeit gerühmt. Unter seiner Leitung hat die Kreuzzeitung auch in ihrem Zuschauer eine gemäßigtere Sprache und mildere Formen angenommen, wozu wohl auch die veränderten Verhältnisse viel beigetragen haben mögen. Der Wahlspruch ihres gegenwärtigen Redacteurs scheint im Leben und in der Politik zu lauten: „suaviter in modo, fortiter in re“. Zu ihren Mitarbeitern zählt das Blatt den bekannten Romanschriftsteller Hesekiel, den Dichter Fontane und den fleißigen Adami.

In jüngster Zeit hat auch der Kladderadatsch einen Concurrenten an den „Berliner Wespen“ erhalten, die im Verlag des Buchhändlers Brigl von Herrn Stettenheim, einem talentvollen Humoristen, herausgegeben werden. Derselbe ist ein geborener Hamburger und hat sich bereits früher durch seine witzigen Arbeiten einen vortheilhaften Ruf erworben. Seinen Wespen fehlt keineswegs der satirische Stachel, die scharfe, geistvolle Spitze, und wenn ihnen auch die classische Bildung der Kladderadatsch-Gelehrten hier und da abgeht, so ersetzen sie diesen Mangel durch angeborenen Mutterwitz so reichlich, daß sie in kurzer Zeit sich in Berlin eingebürgert haben und gegenwärtig in Verbindung mit der in demselben Verlage erscheinenden von Mützelburger redigirten „Tribüne“ gegen fünfzehntausend Abonnenten zählen. Auch die beigegebenen Zeichnungen von dem Maler Herrn Heyl erfreuen sich des wohlverdienten Beifalls.

So lebt, arbeitet und kämpft die Berliner Presse, an ihrer Spitze die genannten Männer, mit anerkennungswerther Selbstverleugnung und – was bei der Berliner Presse ausdrücklich hervorgehoben werden muß – mit reinen Händen, frei von jeder Bestechung. Das ist dem Zeitungsgebahren gewisser anderer Städte gegenüber ein großer Vorzug und deshalb Ehre diesen Männern, die für ihre harte Arbeit weder pecuniären noch großen literarischen Erfolg aufzuweisen haben. Ihre besten Gedanken sind eben nur für den Tag geboren und werden vergessen, bevor der Abend kommt. Nicht einmal der Ruhm bleibt ihnen und ihr Name wird kaum oder [329] nur flüchtig genannt. Wie der unbekannte Säemann schreiten sie durch das Leben und streuen unbekümmert den Samen der Zukunft aus. Gleichgültig empfängt meist die gedankenlose Menge das tägliche Brod, die Nahrung der Seele aus ihren Händen, und nur Wenige wissen oder ahnen auch nur, welch’ eine Fülle von Wissen und Intelligenz, von Muth, Fleiß und Ausdauer in diesen vorüberrauschenden Blättern wohnt, in denen der Geist der Zeit und die Macht des Gedankens sich offenbaren.




Aus der Rumpelkammer des modernen Aberglaubens.

Von Dr. J. Schwabe.
Die Scala des Aberglaubens. – Tischrücken. – Prophetische Träume. – „Zweites Gesicht“. – Die Hellseherin und der Arzt. – Einfluß des Freitags und des Mondwechsels auf das Wetter. – Der Fisch im Wasserglase. – Zusammenhang von Ebbe und Fluth mit den Todesfällen. – Die Mondsucht.

Es ist eine zweifellos feststehende Thatsache, daß die Naturwissenschaften, die Jahrtausende lang ein kümmerliches Dasein fristeten, seit den großen Entdeckungen der neueren Zeit bedeutenden Einfluß auf unsere gesammte geistige Bildung gewonnen haben. Diesem Einfluß mußte es gelingen, das Gebiet des Aberglaubens von Tag zu Tag mehr einzuengen. Allein man darf den bis jetzt erreichten Erfolg doch nicht überschätzen. Trotz der aufklärenden Richtung unserer Zeit sehen wir den Aberglauben noch in üppiger Blüthe wuchern, und wenn die Naturwissenschaften auf anderen Gebieten, z. B. dem der Technik, mit Siebenmeilenstiefeln vorschreiten, so ist das doch leider hinsichtlich ihres aufklärenden Einflusses zur Zeit noch in viel geringerem Grade der Fall. Die Ursache liegt klar am Tage. Dem Menschen ist eine tiefe Hinneigung zum Wunderbaren und somit zum Aberglauben angeboren. Die Phrenologie nimmt bekanntlich ein besonderes Organ für das Wunderbare an. Sollte auch, wie von manchen Seiten behauptet wird, die Phrenologie eine leere Hypothese sein, so hat sie doch gewiß in dem einen Punkte Recht, daß sie jene Eigenthümlichkeit des menschlichen Geistes bezeichnet hat und ihr eine besondere Residenz in unserem Gehirn anweist. Wie an einer gewissen Stelle der Netzhaut des Auges kein Bild gesehen wird, so wird an jener Stelle des Hirns keine Wahrheit erkannt. Das Seltsame, Unerklärliche, Geheimnißvolle wird, je mehr es sich dem Ungeheuerlichen nähert, um so lieber geglaubt. Der andere Grund, weshalb die Naturwissenschaften bisher nicht vermochten, eine gründlichere Aufräumung in der Rumpelkammer des Aberglaubens zu bewirken, liegt darin, daß die Naturwissenschaften noch lange nicht das sind, was sie sein sollten, nämlich Gemeingut der gebildeten Classen. Wir verlangen von einem gebildeten Mann, daß er richtig sprechen und schreiben, daß er in einer oder mehreren Wissenschaften oder Künsten zu Hause sein soll; aber noch hält man es nicht für einen Mangel an Bildung, wenn Jemand von seinem eigenen Körper, der ihn doch außerordentlich nahe angeht, kaum die Oberflache, die Haut, kennt und vom Stoffwechsel, Blutumlauf und Athmungsproceß nicht viel mehr weiß, als ein Tertianer vom Sanskrit; wenn er die einfachsten, jeden Augenblick seinen Sinnen sich darbietenden Vorgänge sich nicht zu erklären weiß, weil das Fallgesetz, die Lehren von der Reibung, vom Schall etc. ihm böhmische Dörfer sind.

Und hier finden wir den speciellen Grund, wie es möglich ist, daß der Glaube an unmögliche Dinge, der Aberglaube, selbst bei übrigens gebildeten Leuten so oft zu treffen ist. Aber natürlich! abergläubisch will Niemand sein. Man beruft sich gewöhnlich darauf, daß man den Aberglauben gar nicht so leicht definiren könne; es werde ja von dem Einen das als Aberglaube angesehen, was dem Andern ganz verständig und begründet erscheine. Die bekannte Definition des Aberglaubens als eines Glaubens, bei dem ein Aber ist, will nicht recht genügen. Versuchen wir einen anderen.

Der Aberglaube besteht entweder im Glauben an solche Vorgänge, welche einem als solches erkannten und von der Wissenschaft anerkannten Naturgesetz widersprechen, oder in der Annahme von übernatürlichen, also den Naturgesetzen widersprechenden Ursachen für gewisse wirklich beobachtete natürliche Vorgänge. Für den Aberglauben der ersten Gattung bietet uns in der neuesten Zeit der berüchtigte Hexenmeister Hume ein Beispiel, der den Versammlungen gebildeter Leute in Paris, vor welchen er seine Kunststücke machte, ein direct gegen das Gesetz der Schwere verstoßendes Schauspiel gab. Er erhob sich nämlich durch magische Kräfte frei bis zur Decke des Zimmers und schwebte eine geraume Weile daran umher. Im Zimmer war es freilich dunkel, und es ist nicht recht klar, auf welche Weise dieses merkwürdige Schweben beobachtet worden ist. Wie schade, daß dies Thomas Mayerne, der freilich schon vor zweihundertundvierzehn Jahren starb, nicht erlebt hat! Dieser ausgezeichnete Arzt hat uns den vortrefflichen Ausspruch über Dämonomagie (Geisterzauberei) hinterlassen: diese sei nur dann anzunehmen, wenn ein ungebildeter Mensch sich über wissenschaftliche Dinge gut auszudrücken und sein Körper sich einige Zeit in freier Luft schwebend zu erhalten vermöchte.

Ein Beispiel aus der zweiten Kategorie obiger Definition des Aberglaubens liefert die vor etlichen Jahren herrschende Epidemie des Tischrückens. Eine durch bekannte mechanische Gesetze einfach zu erklärende Erscheinung wurde mit einem einer besseren Sache würdigen Eifer gewissen bisher unbekannten magischen Kräften zugeschrieben.

Der Aberglaube giebt sich in den verschiedenen Individuen auf die verschiedenste Weise kund. Vom crassen, handgreiflichen Aberglauben bis hinauf zum Erkennen einer mathematischen Wahrheit kann man eine Scala bilden, auf welcher freilich die Grade nicht so scharf gezeichnet erscheinen, wie auf einem Thermometer. Steigen wir auf unserer Scala aus dem umnachteten Gebiete des „crassen“ Aberglaubens, wo bei gänzlicher Unkenntniß der Naturgesetze und bei ebenso völligem Mangel an unbefangener Beobachtung handgreifliche Unmöglichkeiten geglaubt werden, wo allerlei Ungeziefer gehext wird, wo der feurige Drache in die Essen fährt, wo die Wünschelruthe vergrabene Schätze entdeckt, wo gehörnte und ungehörnte Gespenster sich umher treiben, – aufwärts in die von tiefer Dämmerung umfangene Region, wo uns spiritualistisches Gesäusel empfängt, wo Tische tanzen und Geister klopfen, wo es „sich eignet“, prophetische Träume geträumt werden und wo „das zweite Gesicht“ die herrliche Function des ersten Gesichts, unseres wackeren Sehorgans, in den Schatten stellt.

Weiter aufwärts! Noch immer herrscht starke Dämmerung, doch ist sie nicht mehr gar so dick wie auf der vorigen Stufe. Ein furchtbarer Anblick trifft unser Auge: ein Mensch mit gespaltenem Schädel, ein Ermordeter, liegt am Boden; man nimmt eines der starrenden Augen aus dem Kopfe der Leiche, öffnet es, und hinten auf der Netzhaut zeigt sich das wohlgetroffene photographische Abbild des Mörders. Hinweg von dem düstern Schauspiel; doch ehe wir diese Gegend verlassen, treten wir in jenes stattliche Haus, in welchem tiefe Stille herrscht. Ein Livreebedienter empfiehlt uns mit auf die Lippen gelegtem Finger, wie wir uns verhalten sollen, und öffnet uns leise die Thür zu einem Zimmer, in welchem eine magische Beleuchtung dämmert. Auf einem Ruhebett hingegossen, von einem in malerische Falten sorgfältig drapirten Shawl bedeckt, liegt eine bleiche junge Dame mit geschlossenen Augen. Um sie herum stehen in andächtigem Schweigen mehrere Herren und Damen, zunächst am Bett ein junger Mann, der mit theilnehmendem Auge die Schlummernde betrachtet und bisweilen ihren Puls fühlt. Hinter ihm steht ein alter Herr, dessen stechender kalter Blick gleichfalls unverwandt auf der Schlafenden ruht. Jetzt öffnen sich ihre Lippen; mit süß flötender Stimme sagt sie: „ich werde schlafen, fast zwei Stunden lang; vier und einhalb Minuten vor neun Uhr werde ich erwachen.“ Wieder tiefes Schweigen. „Doctor!“ ruft die Schlafende ängstlich, „legen Sie schnell ab, was Sie in der linken Rocktasche haben; das Gold brennt mich, und die Diamanten senden schneidende Strahlen in mein Gehirn.“

Mit dem Ausdruck des tiefsten Staunens zieht der junge Arzt ein rothes Maroquinetui aus der Tasche und reicht es den [330] Umstehenden, die es öffnen und einen Brillantring darin finden. Eine ältere junge Dame fällt, ergriffen von dem Wunder, in Ohnmacht, während ein maliciös ironisches Lächeln über das Gesicht des alten Herrn fliegt. Tiefere Athemzüge heben jetzt den Busen der Somnambule. Der junge Arzt nimmt einen Brief aus der Tasche, legt ihn auf die Magengegend der Schlafenden und ersucht sie, den Brief vorzulesen, was ohne Zögern und Stocken geschieht. Wieder eine Pause. Ein seliges Lächeln überfliegt das Antlitz der Somnambule.

„O Mond,“ beginnt sie wieder zu flöten, „holder, lieber Mond! Wie freut sich meine Seele, wieder auf deinen lichten Fluren zu wandeln!“

„Jetzt,“ flüstert der junge Arzt dem alten Collegen zu, „jetzt ist der höchste Grad des Hellsehens eingetreten, jetzt ist die Somnambule ein rein geistiges, für alle irdischen Eindrücke, selbst für den heftigsten Schmerz unempfindliches Wesen.“

„Gut,“ erwidert der alte Aesculap, „dann ist es jetzt an der Zeit, zum Besten der Wissenschaft und zur Ueberzeugung der Ungläubigen eine durchgreifende Probe zu machen. Brennen wir die Dame mit einem glühenden Eisen ein wenig an der Fußsohle und sehen wir, ob sie gefühllos bleibt. Ich habe das Nöthige mitgebracht, auch Verbandmittel und eine schmerzstillende Salbe.“

Der junge Arzt versichert, die Dame werde den Schmerz, den sie nach dem Erwachen fühlen werde, gern zum Besten der hohen Wissenschaft erleiden. Das Brenneisen wird in die Kohlengluth im Kamin gesteckt, der alte Arzt breitet seine Verbandstücke aus, und die ältere junge Dame fällt abermals in Ohnmacht. Da durchzuckt ein Krampf den Körper der Schlafenden, sie seufzt tief auf, erwacht und klagt über Uebelbefinden. Der alte Arzt wirft ihr einen durchbohrenden Blick zu, kühlt sein Eisen in einem Glas Wasser ab, steckt es ein, nimmt Hut und Stock und geht von dannen, während ihm eine reichliche Anzahl indignirter Blicke nachgesandt werden. E. T. A. Hoffmann, der uns diese Historie berichtet, vergaß hinzuzufügen, daß der alte Arzt mehrere seiner Kunden, die bei jenem Vorfall zugegen waren, verlor, daß dagegen die Somnambule ihr Geschäft mit ungeschwächten Fonds fortsetzte.

Die Bewohner der eben bezeichneten Gegend unserer Scala möchten sich nicht gern lossagen von gewissen Dingen, durch welche ihrer lebhaften Phantasie so angenehm genügt wird, aber sie haben doch einen gewissen ehrlichen Respect vor der Mutter Natur, indem sie sich bei ihrem Glauben an jene wunderbaren Vorgänge darauf berufen, es gebe noch gewisse, nicht hinreichend erforschte Naturkräfte, welche in jenen Vorgängen thätig seien. Wir kommen hierauf zurück und wollen, ehe wir weiter steigen, nur noch beiläufig bemerken, daß in dieser Region das Wetter sich an jedem Freitag und bei jedem Mondwechsel ändert und daß hier jeder Märznebel in ein verborgenes Reservoir eingepackt und nach genau hunderttägigem Verschluß als stattliches Gewitter wieder losgelassen wird.

Zeit und Raum drängen zu rascherer Wanderung. Werfen wir nur einen Blick in jenes sonderbare Land, das ein magisch beleuchteter Nebel überdeckt, durch den hindurch alle Gegenstände in verschwommenen Umrissen erscheinen. Das ist das Land der Naturphilosophen, vor einigen Jahrzehnten noch stark bevölkert, doch heute nur noch von wenigen in gedankenvollem Sinnen umherwandelnden Leuten bewohnt. Die Naturphilosophen bauen wunderliche Systeme. Obenan stellen sie ihr Prinzip und leiten von ihm die beobachteten Naturerscheinungen ab, wobei es nicht ohne Zwang abgeht. Gerade umgedreht ist der jetzt allgemein als richtig anerkannte Weg, auf welchem die Naturforschung rüstig vorwärts geht.

Rasch passiren wir jetzt diejenige Stufe unserer Scala, auf welcher die naturwissenschaftlichen Dilettanten stehen. Wir begegnen hier der lebhaften Neigung, auf einem nicht allzubeschwerlichen Wege Einsicht und Kenntniß von dem großartigen Wirken der Naturkräfte zu erlangen. Zu eigenem, mühevollem Forschen fehlen Kenntnisse und Beruf; die Dilettanten bedürfen daher eines Führers. Von der Wahl desselben hängt es ab, ob der Dilettant gute Fortschritte macht, oder ob er auf Irrwege geleitet wird. Zum Glück ist die Zahl der guten Führer weit überwiegend, seit die Fachmänner es nicht mehr verschmähen, ihre Wissenschaft in einer für alle Gebildete verständlichen und schmackhaften Sprache vorzutragen. Bücher, wie des großen Astronomen Bessel populäre Vorlesungen, Schleiden’s Leben der Pflanze, Cotta’s Briefe zum Kosmos, Vogt’s Ocean und Mittelmeer, Pöppig’s Reisen etc. zählen in jeder Hinsicht zu den Zierden unserer Literatur.

So sind wir denn am obersten Ende unserer Scala angelangt, wo der Standpunkt der Männer der Wissenschaft ist, welche mit ernstem Fleiß die Natur und ihre Gesetze zu erforschen suchen und „das Gold der Wahrheit zu Tage fördern“. Aus dem Bereich ihrer Arbeiten halten sie die Phantasie als wahren Störenfried fern.

Es ist eigentlich mißlich, auszusprechen, daß man schwerlich einer größeren Versammlung gebildeter Leute gegenüber stehen kann, ohne annehmen zu müssen, daß wenige darunter sind, die nicht hie und da auf einer der mittleren Stufen unserer Scala einkehren. Ich kenne so manche durch hohe Bildung ausgezeichnete Männer, die selbst in einzelnen Künsten und Wissenschaften, nur nicht in den Naturwissenschaften, Vorzügliches leisten. Sie huldigen, wie sich von solchen Männern von selbst versteht, aufrichtigen Herzens der Aufklärung und verlachen, wie wir Alle, den Aberglauben. Doch bei jedem von ihnen fand ich, sei es auch im hintersten Eckchen der Seele versteckt, eine, mehrere, ja viele Ansichten und Ueberzeugungen, welche zu dem gehören, was man, mit einer sogenannten contradictio in adjecto naturwissenschaftlichen Mystizismus nennt, wenn man den gehässigen Ausdruck Aberglauben vermeiden will. Bei den über dergleichen Meinungen sich entspinnenden Disputationen wurde mir mit unfehlbarer Regelmäßigkeit der Einwand entgegen gehalten: Die Naturforscher haben die Natur noch bei Weitem nicht ganz erforscht, es giebt ohne Zweifel noch manches bisher unentdeckt gebliebene Naturgesetz, durch welches diese und jene in das Gebiet des Aberglaubens verwiesene Erscheinung ihre natürliche Erklärung finden würde. Dieser Einwand wird so unendlich oft in Anwendung gebracht, daß es wohl hier am Platze ist, ihn mit einigen Worten zu beleuchten.

Keinem Naturforscher wird es einfallen, zu leugnen, daß seine Wissenschaft noch in ihrer jugendlichen Entwicklung sich befindet, und mit Freude wird er zugeben, daß das Feld der von der Zukunft zu hoffenden Entdeckungen ein unbegrenzt großes ist. Daß zu diesen Entdeckungen auch bisher unbekannte Naturkräfte oder Naturgesetze gehören können, ist als möglich nicht zu verneinen. Ja, in Bezug auf das höchste Problem der Naturforschung muß ohne Weiteres zugegeben werden, daß das Gesetz, auf welchem das menschliche Denken, die Erhebung des Individuums zum Selbstbewußten beruht, noch unbekannt ist und wohl auch nie völlig erkannt werden wird.

Aber abgesehen hiervon, ist zweierlei als gewiß festzuhalten, wenn man von noch zu entdeckenden Naturgesetzen spricht: einmal, daß nie und nimmer ein Naturgesetz entdeckt werden wird und kann, welches einen Widerspruch oder eine Ausnahme zu einem der bereits bekannten Naturgesetze bildet. Selbst scheinbare Abweichungen von einem Naturgesetz liefern bei näherer Beobachtung stets eine neue Bestätigung des letzteren. Ein glorreiches Beispiel hiervon geben uns die aus den Unregelmäßigkeiten im Laufe des Uranus von dem berühmten Bessel bereits im Jahre 1840 mit Bestimmtheit vorausgesagte und sieben Jahre später nach Leverrier’s Berechnungen bewirkte Entdeckung des Planeten Neptun. In menschlichen Gesetzbüchern können wohl Widersprüche vorkommen, nie aber in dem Gesetzbuch, welches, keineswegs mit sieben Siegeln verschlossen, in der Natur vor uns aufgeschlagen liegt.

Zweitens ist es ebenso gewiß, daß der ganze bisherige Entwickelungsgang der Naturwissenschaften weit mehr auf eine Vereinfachung, auf eine Reduction, als auf eine zu erwartende Vervielfältigung der Naturgesetze oder -Kräfte hinweist. Ich erinnere daran, daß man vor noch nicht vielen Jahren die Elektricität, den Galvanismus, den Magnetismus als verschiedene, selbständig wirkende Kräfte betrachtete; jetzt weiß man, daß alle drei nur Modificationen einer und derselben Kraft, oder sagen wir lieber Grundeigenschaft der Körper sind. Aehnliches bereitet sich bezüglich der Wärme, der chemischen Processe und mancher Vorgänge im organischen Leben vor. Es ist daher durchaus unwahrscheinlich, daß die Entdeckungen, welche die Wissenschaft noch machen wird, in der Auffindung neuer Naturgesetze bestehen werden. Aber ohne Zweifel wird man bisher unbekannte Modificationen oder Wirkungsweisen der bekannten Naturkräfte auffinden. So unbegrenzt das Reich des Forschens ist, so zahllos die Erscheinungen sind, [331] welche den Fleiß und Scharfsinn des Naturforschers herausfordern, so wird doch seine wichtigste Aufgabe im Wesentlichen darin bestehen, die unendlich vielen gegebenen Erscheinungen aus einigen und zwar sehr wenigen Naturgesetzen abzuleiten und den ursächlichen Zusammenhang zwischen diesen und jenen nachzuweisen. Diese Aufgabe ist eine unendlich große, nie völlig zu lösende; unser Wissen wird zu jeder Zeit ein unvollständiges, begrenztes sein, aber die zu jeder Zeit vorhandene Grenze wird von der nächstkommenden Zeit überschritten werden. Cotta hat dies schön und kurz mit den Worten ausgesprochen: „Keine ewige Grenze ist dem Forscher gesetzt, aber ewig eine Grenze.“

Aus dem Gesagten geht hervor, daß man Erzählungen von neuen wunderbaren Erscheinungen und Thatsachen, welche den bekannten Naturgesetzen zu widersprechen scheinen, nicht sofort gläubige Aufnahme, sondern Zweifel, selbst Mißtrauen entgegenbringen soll. Denn in unendlich vielen Fällen dieser Art ergiebt sich bei unbefangener Prüfung, daß die Sache nicht in der Wirklichkeit, sondern in Täuschung beruht, oder auch in einer einfachen, nur den Unerfahrenen überraschenden Wahrnehmung, die dann, von der Phantasie ausgeschmückt, weiter getragen und um so lieber geglaubt wird, je wunderbarer sie ist.

Ein paar Beispiele mögen darlegen, wie leicht, ja wie leichtsinnig Dinge geglaubt werden, die bei der einfachsten Prüfung in nichts zerfallen. Das eine Beispiel erzählt Bessel. In St. Malo in Frankreich, wo die Ebbe und Fluth eine ungewöhnliche Höhe erreicht, wurde es als ausgemacht angesehen, daß die Todesfälle nur zur Zeit des fallenden Wassers sich ereignen. Man hatte seit Jahrhunderten Gelegenheit gehabt, diese auffallende Erscheinung zu prüfen, allein sie wurde nie bezweifelt. Endlich wurde von Seiten der Pariser Akademie ein Ausschuß hingesandt, um sich an Ort und Stelle von der merkwürdigen Thatsache zu überzeugen – da fand sich, daß die Menschen starben sowohl bei steigendem wie bei fallendem Wasser, daß seit hundert Jahren, nach dem Zeugniß der Kirchenbücher, weder Ebbe noch Fluth auf die Todesfälle gewirkt hatte.

Bekannt ist die Behauptung, daß ein mit Wasser gefülltes Gefäß nicht an Gewicht zunehme, wenn man einen lebenden Fisch hineinsetzt. König Georg won England wünschte den Grund dieser merkwürdigen Erscheinung zu erfahren und forderte die Gelehrten seiner Akademie auf, ihm dieselbe zu erklären. Das veranlaßte die Abfassung mehrerer tiefsinniger Abhandlungen, in denen allerlei wunderliche Hypothesen aufgestellt wurden. Nur einer unter den gelehrten Herren hatte den sonderbaren Einfall, das Ding doch erst einmal zu versuchen, und siehe da! es ergab sich, daß das Gefäß um genau ebenso viel schwerer wurde, als das Gewicht des hineingesetzten Fisches betrug.

Ergiebt sich aber nach gehöriger Prüfung, daß eine überraschende, der Erklärung durch die bekannten Naturgesetze sich nicht sofort fügende Erscheinung eine wirklich beobachtete ist, so sei man doch ja nicht so schnell mit der scheinbaren Erklärung durch ein neuentdecktes Naturgesetz bei der Hand. Reichen unsere Kenntnisse und Beobachtungen nicht aus, das Gegebene zu erklären, so warten wir ein wenig in Geduld, wir werden es bald erleben, daß es der ruhigen, wissenschaftlichen Forschung Anderer gelingt, die neue Erscheinung den alten Gesetzen unterzuordnen. Aber ein für allemal hinweg mit diesen seinsollenden Erklärungen von etwas Dunkelem durch etwas, ebenso Dunkeles, hinweg mit diesen „man kann ja nicht wissen, ob“ und „es könnte ja sein, daß“; hinweg mit diesen Berufungen auf etwas, das eben zur Zeit für uns gar nicht existirt, auf ein unbekanntes, noch unentdecktes Naturgesetz! Und vor Allem hinweg mit jedem Mysticismus bei der Betrachtung und Erklärung natürlicher Erscheinungen! In der Natur giebt es keine Mystik, in ihr ist nur Klarheit, Ordnung und strenge Folgerichtigkeit, und in jedem Falle ohne Ausnahme wollen wir diese Ueberzeugung a priori für unser Urtheil maßgebend sein lassen.

Die Art der Anwendung dieser Grundsätze mögen zum Schluß einige Beispiele erläutern.

Wie steht es nun aber mit jener geheimnißvollen Krankheit, der Mondsucht? Ist es denn zu bestreiten, daß der Mond die Mondsüchtigen zum Nachtwandeln veranlaßt? Ich antworte: nein! prüfen wir aber, in welcher Weise der Mond wirkt, um zu sehen, daß er nicht daran denkt, im Gebiete des Mysticismus Geschäfte zu machen. Wir dürfen annehmen, daß das Nachtwandeln ein abnorm lebhaftes Träumen ist und zwar nicht nur des Vorstellungsvermögens, sondern auch des Willensvermögens. Nun steht es fest, daß dergleichen lebhafte Träume durch Alles begünstigt werden, was einen unruhigen Schlaf veranlaßt, z. B. durch eine reichliche Abendmahlzeit, durch den Genuß aufregender Getränke und anderer Ursachen. Es ist eine vielfach beobachtete Thatsache, daß die Mondsüchtigen oder Schlafwandler in Folge solcher Einflüsse oft auch zu Zeiten, wo kein Mondschein im Kalender steht, ihre Wanderungen vornehmen. Bekanntlich giebt es viele, übrigens ganz gesunde Personen, die nicht oder nur schlecht schlafen können, sobald ein ihnen ungewohntes Nachtlicht im Zimmer brennt. Ganz die gleiche Einwirkung hat die Beleuchtung der mondhellen Nächte auf den Schlaf der zum Nachtwandeln disponirten Personen. Da hat man denn den sehr gesunden Einfall gehabt, dem Mondlicht durch Läden oder dichte Vorhänge den Zugang zum Schlafzimmer des Mondsüchtigen abzuschneiden, und siehe da! der Mondsüchtige blieb ruhig schlafend im Bette liegen, ohne sich um den draußen hell scheinenden Vollmond zu kümmern. Man kehrte dann den Versuch um und brachte, zu einer Zeit, wo kein Mondschein war, ein hell brennendes Licht in die Kammer des Mondsüchtigen und sah nun, daß dieser nachtwandelte, wie beim schönsten Vollmond.

Aus jedem populären Handbuch der Astronomie können wir uns unterrichten über die physikalischen Verhältnisse unseres nächsten Nachbars im Weltenraum, des Mondes, über seine Entfernung, Größe, Schwere, Achsendrehung – kurz über alles das, was die Wissenschaft seit etwa zweihundert Jahren über den Mond erforscht hat. Aber giebt es denn nicht auch eine Menge Wahrnehmungen über den Mond, welche in der langen Reihe von Jahrhunderten vor Galilei und Newton gemacht worden sind? Ist es nicht bekannt, daß der Mond das Wetter, das Wachsthum der Pflanzen mächtig beeinflußt? daß er auf das Nervenleben der Menschen wirkt und so Manchen nöthigt, Nachts das warme Bett zu verlassen und Mondscheinpromenaden auf den Firsten der Dächer anzustellen? daß sein magischer Einfluß selbst dahin sich erstreckt, wohin keiner seiner milden Lichtstrahlen dringen kann, nämlich auf die Würmer im menschlichen Darmcanal? Wenn die Männer der Wissenschaft es unterlassen haben, uns über diese und tausend andere Einwirkungen des Mondes auf die Erde Mittheilung zu machen, so werden sie wohl ihren guten Grund dazu gehabt haben: sie wollen nur Reelles, durch exacte Beobachtung Begründetes, nicht aber „Mondscheinphantasien“ vortragen. Gehen wir jetzt ein wenig auf jene angeblichen Einflüsse des Mondes ein; es gilt, die Phantasie von einem Gebiete zu vertreiben, wohin sie nicht gehört.

Wie schon erwähnt, es wird etwas um so lieber geglaubt, je mehr dabei die Phantasie gekitzelt wird, und es ist daher gar kein genügender Grund, etwas deshalb für wahr zu halten, weil es schon viele Jahre oder gar Jahrhunderte hindurch geglaubt worden ist. Die vorurtheilsfreie Beobachtung entscheidet, und diese beweist aus tausend und aber tausend Fällen, daß der Abgang der Eingeweidewürmer und die Wirkung der wurmtreibenden Mittel sich zur Zeit des wachsenden Mondes völlig ebenso verhält, wie zur Zeit des abnehmenden. Giebt es gleichwohl noch heute Aerzte, die nur bei abnehmendem Monde Wurmmittel reichen, so haben sie die beruhigende Gewißheit, daß diese nicht schlechter wirken werden, als wenn sie bei zunehmendem Monde gegeben würden.

(Schluß folgt.)




Thier-Charaktere.
Von Brehm.
7.0 Die Einbürgerung fremdländischer Thiere und die Schopfwachtel.

Die Bestrebungen, welche sich auf Einbürgerung fremdländischer Thiere und Pflanzen in unserem Vaterlande richten, werden im Allgemeinen viel zu wenig gewürdigt und demgemäß auch nur von einzelnen Gleichdenkenden unterstützt. In Berlin besteht seit Jahren ein „Akklimatisationverein“; derselbe wird mit ebenso viel Eifer als Geschick geleitet, unterhält Schriftwechsel und Austausch mit Sachverständigen in aller Herren Länder und hat sich um Ackerbau, Forstpflege, Seidenzucht und andere in seinen Wirkungskreis [332] einschlagende Zweige namhafte Verdienste erworben, es aber doch nur bis auf kaum vierhundert Mitglieder gebracht. Wenige Thaler Jahresbeitrag gewährleisten letzteren Rechte, welche im günstigsten Verhältnisse zu den geringen Verpflichtungen stehen, da sie eigentlich nur als ein Ausgleich für die den Mitgliedern gebotenen Vortheile angesehen werden können; allein man verabsäumt, der gemeinnützigen Anstalt beizutreten, und kümmert sich herzlich wenig um die Nutzen versprechenden Vorschläge, welche von ihr ausgehen. Und doch sieht Jedermann ein, daß es keineswegs gleichgültig ist, welcher Baum in diesem Forste gepflanzt, welche Nähr- oder Nutzpflanze auf jenem Acker gepflegt, welche Birnenart, welcher Seidenwurm gezüchtet, welches Wild gehegt, welches Hausthier gehalten wird. Jeder denkende Land- oder Forstwirth müßte, so sollte man wähnen, sich wenigstens über die Bestrebungen eines solchen Vereines Kunde zu verschaffen suchen, jeder ein Unternehmen begünstigen, welches ihm zu Versuchen in seinem Fache Gelegenheit und Mittel an die Hand zieht; anstatt dessen aber gefällt man sich in dem alten Schlendrian, erwartet Alles von Anderen und thut selbst nicht das Geringste, um den Anforderungen, welche unsere Zeit nun einmal an uns stellt, gerecht zu werden, nämlich: unsere Mittel und Kräfte auf das Beste zu verwerthen. In dieser Hinsicht sind uns die Engländer weit überlegen, aber nur deshalb, weil uns die nöthige Thatkraft zu selbsteigenem Handeln noch immer abgeht.

Seit Beginn dieses Jahrhunderts vernehmen wir die Klage über die Verarmung unserer Wälder und Feldmarken an jagdbarem Wilde, ohne zur Abhülfe derselben etwas wahrhaft Ersprießliches zu thun. Allerdings ist die Klage, so begründet sie auch sein mag, nicht in jeder Hinsicht gerechtfertigt. Kein vernünftiger Forst- oder Landwirth, und wäre er der leidenschaftlichste Jäger, wird sich das Hoch- und Schwarzwild vergangener Jahrhunderte wieder zurückwünschen, weil alle Jagdfreuden den ungeheuren Schaden, welchen die „stolzen Hirsche“ und „wehrhaften Sauen“ in Wäldern und Feldern anrichten, nicht entfernt aufwiegen können; der Eine wie der Andere dagegen wird gern solchen Wildarten, welche unfähig sind, ihm nennenswerthen Schaden zuzufügen, zum Heger und Pfleger werden, um zu anmuthiger Belebung der Gemarken das Seinige beizutragen und zugleich für das jedes Mannesherz begeisternde Waidwerk die unerläßliche Vorsorge zu treffen.

Damit man mich nicht des Widerspruchs eigener Behauptungen zeihe, will ich ausdrücklich bemerkt haben, daß vom wirthschaftlichen Standpunkte keine einzige unserer Wildarten unschädlich genannt werden kann, daß jeder Hase, jedes Rebhuhn, welche erlegt werden, dem Besitzer des Grundes und Bodens, auf dem sie lebten, mehr gekostet, als sie einbringen können, und daß eigentlich nur die als Raubritter verschrieenen, rücksichtslos verfolgten Füchse, Iltisse und Wiesel oder Bussarde, Milane und Eulen als unbedingt nützliche Gehülfen des Forst- und Landwirthes betrachtet werden müssen; ich glaube aber, daß man es gelten lassen darf, wenn ich dem niederen Wilde und selbst dem zur hohen Jagd gehörenden Auergeflügel, als bedingt unschädlichem Gethier, das Wort rede, es sogar um ein Mitglied vermehren möchte in der Hoffnung, dadurch die Klage der Waidgesellen ein wenig zu mildern. Von diesem, bisher nur sehr vereinzelt in Europa freilebenden Wilde ist in dem Eingangs erwähnten Vereine längst, jedoch ohne Nachhall gesprochen worden; von ihm sind Alle, welche es kennen, des Lobes voll; sein Name verdient also wohl, vor dem größten Leserkreise genannt, sein Wesen beschrieben, der Nutzen, welchen es uns bringen könnte und später sicherlich bringen wird, hervorgehoben zu werden. Ich bezwecke jedoch noch mehr: ich will wenigstens anregen zu Versuchen, denen ich unbedingtes Gelingen zusprechen darf, falls sie mit einigem Geschick und der unerläßlichen Ausdauer unternommen werden. Mit Einem Worte: ich will einmal, obschon ohne Auftrag, so doch im Geiste und Namen des „Akklimatisationsvereins in Berlin“ zu Gunsten eines fremdländischen Hühnchens reden.

Es ist eine durch viele Beispiele bestätigte Erfahrung, daß sich fremdländische Thiere und namentlich Vögel bei uns zu Lande in Gefangenschaft leichter fortpflanzen als einheimische. Fremde Hühner insbesondere beweisen diese Thatsache schlagend. Wir haben zwar neuerdings Rebhühner, ja selbst Birk- und Auergeflügel in der Gefangenschaft zur Fortpflanzung gebracht, müssen das jedoch als etwas Außerordentliches betrachten, während wir von einem aus Indien oder Amerika eingeführten Huhn von vornherein annehmen, daß es uns mit Jungen erfreuen wird.

Mehr als andere Glieder der umfangreichen Ordnung der Scharrvögel eignen sich die über Amerika in fast dreißig Arten verbreiteten Baumhühner zur Züchtung in engeren Käfigen, weil ihre Anspruchslosigkeit oder Zufriedenheit mit dem einfachsten Futter die Haltung außerordentlich erleichtert. Dazu kommt bei den nordamerikanischen Arten der Umstand, daß der Frühling ihrer Heimath mit dem unserigen zusammenfällt, eine Versetzung in unsere Gegenden also nicht die wichtigsten Lebensäußerungen verrückt, d. h. zu ungeeigneter Zeit sich regen läßt. Ein jeder Vogel, welcher bei uns eingeführt wird, bringt als Erbtheil der Heimath die Abhängigkeit seiner Lebensäußerungen von den Jahreszeiten des Geburtslandes zu uns herüber: ein der Südhälfte der Erde entstammender beginnt gewöhnlich in unserem Herbst zu brüten, so daß also die zarten Jungen unter den ungünstigsten Verhältnissen zur Welt kommen; ein Vogel dagegen, dessen Fortpflanzung in der Heimath in die Monate unseres Vorsommers fällt, lebt bei uns mehr oder weniger unter denselben Umständen weiter wie vorher. Hierauf ist bei dem Versuch, solchen Vogel in unseren Gauen einzubürgern, vor allen Dingen zu achten. An ein von dem heimathlichen abweichendes Klima gewöhnt sich der Vogel ziemlich leicht, und zwar auffallender Weise an ein rauheres in der Regel leichter als an ein milderes.

Ich schicke diese Bemerkungen voraus, um anzudeuten, daß die Einbürgerung fremdländischer Thiere durchaus nicht so einfach ist, wie man vielleicht annimmt, vielmehr eine ziemlich umfassende Kenntniß aller einschläglichen Verhältnisse erfordert. Daß es sich, abgesehen von allen Fragen der größeren oder geringeren Nutzbarkeit, auch darum handelt, vorher über die natürliche Lebensweise eines Thieres genau unterrichtet zu sein, braucht, als selbstverständlich, nicht besonders hervorgehoben zu werden.

Unter sämmtlichen Baumhühnern nun kenne ich eine Art, welche alle erwünschten Eigenschaften zur Erwerbung des Bürgerrechtes in unseren Waldungen in sich vereinigt: Zierlichkeit der Gestalt, Gefälligkeit der Färbung, Zweckdienlichkeit der Zeichnung, Anmuth des Wesens, Behendigkeit und Gewandtheit der Bewegungen, Klangfülle der Stimme, Verstand, Liebe zu dem Gatten und zu den Kindern, Verträglichkeit mit Ihresgleichen, Anhänglichkeit an den Standort, Genügsamkeit der Ansprüche an das Leben, Gleichgültigkeit gegen unseren Winter, Fruchtbarkeit und Vermehrungsfähigkeit, sowie endlich Schmackhaftigkeit ihres Wildprets. Das ist viel, sehr viel gesagt, aber mit gutem Bedacht ausgesprochen und gewißlich fern von aller Uebertreibung.

Dieses so vielseitig begabte Huhn ist die Schopfwachtel, ihre Heimath Californien. Hier lebt sie in allen Waldungen in sehr großer Anzahl, während des Sommers in Familien, während des Winters oft in Gesellschaften, welche man weder Völker noch Ketten nennen kann, weil sie zuweilen tausend und mehr Stück zählen. An ihrem Standorte hält sie mit solcher Zähigkeit fest, daß man behauptet hat, sie überschreite den Schatten der Waldbäume nicht. Den Vorzug giebt sie Laubwaldungen mit dichtem Unterholz, zumal solchen, deren Flüsse oder Bäche von Weidicht umstanden sind; sie bevölkert, mit Ausnahme zusammenhängender Nadelwälder ohne Unterholz, jede Oertlichkeit von der Tiefe bis zu beträchtlicher Höhe hinauf. Hier hält sie sich keineswegs blos auf dem Boden, sondern, wie das Haselhuhn, dessen Lebensweise mit der ihrigen am ersten verglichen werden darf, auch viel im Gezweige der Bäume auf. Im Winter gräbt sie sich lange Gänge unter dem Schnee, um sich Gräser, Knollen, Sämereien und andere Aeßung zu verschaffen; im Frühling nährt sie sich besonders von Knospen, im Sommer sich und ihre Jungen hauptsächlich von Kerbthieren; im Herbst plündert sie beerentragende Gesträuche. Erkennbaren Schaden bringt sie nicht. Ihr Lauf ist ungemein rasch und äußerst gewandt, ihr Flug sehr schnell und kräftig, geht jedoch in gerader Richtung fort, so daß es dem geübten Schützen leicht gelingt, sie zu erlegen, während sie dem Sonntagsjäger regelmäßig ein Armuthszeugniß ausstellt. Unbeschossen, hält das Volk ziemlich lange vor dem Hund aus, steht dann auf, fliegt unfehlbar dem nächsten Hochbaum zu, drückt sich platt auf einem dicken, wagerechten Ast nieder und verbirgt sich, Dank der Gleichfarbigkeit des Gefieders mit der Rinde der Aeste, auf das Trefflichste, ganz ebenso wie unser Haselhuhn; durch Verfolgung gewitzigt, sucht sie sich bei Erscheinen des Hundes laufend

[333]

Schopfwachteln.

[334] davon zu stehlen und ermüdet dann Hund und Jäger im höchsten Grade.

Der zierliche Schopf spielt bei allen Ereignissen eine wichtige Rolle und bringt verschiedene Gemütsbewegungen ersichtlich zum Ausdruck. Bei gewöhnlichem Verlauf der Dinge trägt ihn die Schopfwachtel fast senkrecht, bei Erregung irgend welcher Art nach vorn gesenkt, so daß er fast auf dem Schnabel aufliegt; bei ruhig sicherem Eindämmern bewegt sie ihn wie spielend auf und nieder. Zum Nest wird auf dem Boden, meist unter einem Büschchen in der Nähe eines dickstämmigen Baumes, eine seichte Vertiefung ausgescharrt, diese mit einigen Gräsern und Blättern leichtfertig ausgekleidet und mit achtzehn bis vierundzwanzig Eiern belegt. Nur die Henne brütet, der Hahn aber wacht, über dem Nest aufgebäumt, für die Sicherheit von Gattin und Brut, zeigt ersterer jedes verdächtige Thier an, welches sich naht, warnt, wenn die Gefahr ernstlich wird, und bewegt dadurch die Henne, vom Nest aufzustehen und durch allerlei Künste der Verstellung, namentlich durch erheuchelte Lahmheit der Flügel, den Feind womöglich, in der Regel auch mit Glück, vom Nest abzuführen, weiter und weiter zu locken und, rasch aufstehend, ihn schließlich als Gefoppten zurückzulaffen. Nach einer Brutzeit von einundzwanzig Tagen schlüpfen die Jungen aus und laufen, sobald sie trocken geworden, unter Führung beider Eltern aus dem Nest.

Etwas Reizenderes als eine Schaar solcher Küchlein giebt es nicht! In der Größe einer Wallnuß vergleichbar, auf der Oberseite borkenartig, unten gelbgraulich gefärbt, oben hübsch gezeichnet, unten eintönig, in ein reiches Kleid von feinsten Dunen dicht eingehüllt, bringen sie gleichsam alle Begabungen ihres Geschlechtes mit auf die Welt. Harmlos altklug schauen die kleinen Aeuglein; behend bewegen sich die schwächlichen Beine, wie rollende Kugeln rennen sie über den Boden dahin. Ungestört folgen sie, bald dicht geschaart, bald sich vereinzelnd, den führenden Eltern, welche sie mit den zartesten Lauten locken und leiten, ihnen zu Liebe an nahrungversprechenden Stellen scharren, ihnen vorpicken und sie so zum Fressen anregen, von Zeit zu Zeit auch zusammenrufen und sie durch Breiten ihrer Bauchfedern und einen besonderen Liebesruf zum Ausruhen einladen, wobei dann jedes von den Eltern ein Trüppchen unter sich nimmt und das kleine, niedliche Völkchen durch allerhand unnütze Beweglichkeit wichtig thut, bis es förmlich mit und unter den schützenden Federn zusammengekehrt wird.

Nach geraumer Zeit geht es weiter und zwar wie vorher, falls nicht die immer lauernde Gefahr zu anderen Maßregeln zwingt. So stolz der stets vorausgehende Vater seines Weges dahinschreitet, so unablässig wacht er über dem Wohle seiner Brut. Jedes größere lebende Wesen, welches er wahrnimmt, stößt ihm Besorgniß ein, er unterscheidet aber genau und weiß die Feinde nach ihrem wahren Werthe zu würdigen. Zeigt sich ein Raubvogel, so flüchtet er und mit ihm die Familie dem nächsten deckenden Gebüsche zu; naht sich ein gefährlicher Vierfüßler, so giebt er sich scheinbar preis, indem er nunmehr die besprochene Verstellung übt, führt er den Bösen so weit ab als nöthig und verschafft der Gattin Zeit, die Küchlein in Sicherheit zu bringen; kreuzt ein sinnenstumpfer Mensch ohne Hund den Pfad, so stehen beide Eltern unter lautem Warnen auf, die gesammte Kinderschaar rennt auseinander und verschwindet vor sichtlichem Auge, wie weggezaubert. Jedes einzelne Küchlein hat im Nu einen Schlupfwinkel gefunden: irgend eine Unebenheit des Bodens, mit welchem das gleichfarbige Kleid unmittelbar daraus verschmilzt, als sei es selbst zu einem Häufchen Erde, zu einem Stück Borke, einem abgefallenen Blatte, einem Büschchen Gras geworden. Ein beharrlicher Beobachter, welcher sich ein Viertelstündchen regungslosen Anstandes hinter dem nächsten, besten Baume nicht verdrießen läßt, vernimmt nach geraumer Zeit den sanften Lockruf der Henne und gewahrt, bei scharfem Hinschauen, wie ein Flaumenball nach dem anderen vom Boden sich loslöst und der Gegend zurollt, aus welcher der Lockruf kam; weiter aber gewahrt er nichts, denn die Familie trifft er heute zum zweiten Male sicherlich nicht an.

Vierzehn Tage später flattert das Völkchen bereits in die Höhe, wenn eine schnüffelnde Räubernase über den Boden gleitet; noch vierzehn Tage später rennt, flattert und fliegt die Kette, je nach den Umständen, und die fast erwachsenen Jungen betragen sich; oft recht vorwitzig dumm; noch vier Wochen später haben sie die Lehrzeit hinter sich, zumal wenn die hohe Schule böser Erfahrung mit an der Erziehung half, halten sich jedoch immer noch in geschlossener Kette und folgen, nunmehr mit Bewußtsein, der Lehre, dem Beispiele des weisen Vaters und Führers.

Im Jahre 1852 kamen die ersten lebenden Schopfwachteln in Europa an, vermehrten sich, ohne besondere Mühwaltung seitens ihrer Pfleger zu verursachen, und gelangten in verhältnißmäßig kurzer Zeit in die Gesellschaftskäfige der Liebhaber und Thiergärtner. Sechs Jahre später ließ man in Frankreich auf einer geeigneten Oertlichkeit zwei Paare frei, beobachtete sie während des Frühlings und hatte die Freude, sie im Hochsommer von zahlreicher Nachkommenschaft umgeben zu sehen. In Deutschland haben meines Wissens nur die Großherzöge von Mecklenburg und Oldenburg auf mein Ersuchen die so viel versprechenden Hühnchen in ihren Fasanerien züchten lassen, zunächst, um eine namhafte Anzahl gesunde Vögel zu erzielen.

Es unterliegt für den Kundigen keinem Zweifel, daß die Einbürgerung der Schopfwachtel in unserem Vaterlande gelingen muß, falls die am Eingänge genannten Bedingungen erfüllt werden. Die Aufzucht des anspruchslosen Hühnchens verursacht weniger Aufmerksamkeit und, was sehr zu beachten, weit weniger Kosten als die Züchtung des gemeinen Fasans. Aber freilich, ein Fasanenwärter, welcher an alten Ueberlieferungen mit gläubiger Inbrunst festhält, ist zum Pfleger der Schopfwachtel nicht zu gebrauchen: sie verlangt einen ebenso frischen Menschen, wie sie selbst ein frischer Vogel ist. Wer sich mit ihr befassen will, muß verlernt haben, auf Döbel’s „Jäger-Practica“ zu schwören, vielmehr begabt und gewillt sein, ein derartiges Huhn naturgemäß zu behandeln. Das ist sehr einfach, wie aus dem Nachstehenden zur Genüge hervorgehen dürfte.

Der scharfen Aufsicht halber, welche in zahmen, umhegten Fasanerien geführt werden kann, sind diese für die ersten Vornahmen jeder anderen Oertlichkeit Vorzeichen. In ihnen wird ein größeres, in fünf bis zehn Abtheilungen von je vierundsechzig bis einhundertundfünfzig Geviertfuß Bodenfläche geschiedenes Zuchtgebauer hergestellt, so daß es gegen Süden vergittert, übrigens aber gedichtet und zu ungefähr einem Drittheil hinten Überdacht ist. Dieses Gebauer bevölkert man im Herbste mit ebenso vielen Paaren unseres Baumhühnchens, wie man Abtheilungen hat, thut jedoch wohl, die Vögel aus verschiedenen Thiergärten zu beziehen und bis gegen das Frühjahr hin nach dem Geschlecht getrennt zu halten, um Geschwisterbanden möglichst zu lösen, oder aber man wechselt die neuerworbenen Paare aus, indem man zu den vom Thiergarten in Köln bezogenen Hennen die im Thiergarten zu Hannover gekauften Hähne setzt und umgekehrt. Minderbemittelte Liebhaber können auch in hellen Kammern Zuchtversuche anstellen; Käfige im Freien aber sind geschlossenen Räumen immer vorzuziehen, weil der Winter bei guter Fütterung den Schopfwachteln keinen Schaden bringt und der ihnen im Freien mehr als im geschlossenen Zimmer fühlbare Wechsel der Jahreszeit den besten Einfluß auf sie ausübt. Im Zuchtkäfige bringt man mehrere kleine Hügel an, deckt ihren Gipfel mit Moos und umpflanzt sie mit dichtverzweigtem Buschwerk; sie werden später zur Anlage des Nestes erwählt werden. Körner aller Art, Getreide und Sämereien, mit Ausschluß der Hülsenfrüchte (Erbsen, Wicken), Salat- und Kohlblätter, frische Grasspitzen und anderes Grünzeug ist die Nahrung, möglichst wenig Störung die beste Behandlung der Alten; den kleinen Küchlein reicht man Ameisenpuppen und ein wenig hartgekochtes und klargeriebenes Eidotter, später auch etwas Quark, alles mit Maß und nach ersichtlichem Bedürfniß. Mehr ist nicht nöthig; wer Haushühner aufziehen kann, wird bei annähernd derselben Pflege auch Schopfwachteln groß werden sehen.

Nicht alle Hennen brüten selbst; viele legen ein Ei hierhin, das andere dorthin, ohne sich weiter darum zu kümmern. Ihnen muß man im nächsten Jahre einen anderen Hahn zugesellen, ihre Eier von einer Zwerghenne ausbrüten und die Jungen erziehen lassen, diese auch bis zum Herbst in engerem Gewahrsam halten. Anders verfährt man mit den von der Mutter erbrüteten Jungen, falls man deren Freilassung im Sinne hat. Sie sind mit dem vierzehnten bis zwanzigsten Tage ihres Lebens bereits im Stande, zu flattern und mancherlei Gefahren zu entgehen; jetzt also ist es die rechte Zeit, die Familie freizugeben. Die herzliche Liebe der beiden Eltern zu der Brut schärft deren Sinne, bestärkt deren Mißtrauen und macht sie in kurzer Zeit viel vorsichtiger und scheuer, als sie es außerdem geworden sein würden; die Jungen aber lernen von Kindheit an sich ihrer Freiheit bewußt werden [335] und diese Freiheit zu gebrauchen, werden heimisch im Walde und sind in ihm bekannt und mit ihm und seinen Gefahren vertraut, wenn sie ihr Wachsthum vollendet haben. Dann darf man auch die in der Gefangenschaft großgewordenen Schopfwachteln aussetzen, sie finden in jenen Führer und Erzieher.

In diesen Maßnahmen beruht das ganze Geheimniß des Gelingens derartiger Versuche. Alte Vögel auszusetzen, um sie einzubürgern, ist Thorheit – vorausgesetzt, daß man nicht Hunderte zur Verfügung hat –, Alte mit ihren Jungen freizugeben, ist weise. Der so vielfach besprochene „Instinct“, von welchem Jedermann faseln zu dürfen glaubt und dessen Wirken Niemand beweisen kann, hilft dem Thiere, welches sich nicht selbst zu helfen weiß, nicht im Geringsten, aus dem sehr einfachen Grunde, weil er, für einen vernünftig denkenden Menschen wenigstens, nicht vorhanden ist, also auch nicht helfen kann. Durch Erfahrung gewonnene Einsicht aber und Anstrengung der eigenen Fähigkeit fördert das Thier wie den Menschen. Nach solchen Grundsätzen hat man zu verfahren, wenn man Thiere beurtheilen und richtig behandeln will.

Ein Pärchen Schopfwachteln kostet gegenwärtig sechs bis acht Thaler; ein geeigneter Zuchtkäfig für zehn Paare ist mit dreihundert Thalern herzustellen, die Ernährung der zehn Versuchspaare und ihrer Jungen wird mit dreißig bis fünfzig Thalern jährlich zu bewirken sein. Rechnet man hierzu den Ersatz der freigegebenen Paare während eines fünfjährigen Zeitraumes, welcher mir erforderlich zu sein scheint, so ergiebt sich, daß mit einem Aufwande von sechs- bis achthundert Thalern unseren Waldungen ein neues Wild gewonnen werden kann und gewonnen werden wird. Daß dasselbe mit weit weniger Kosten ebenfalls möglich, leuchtet ein; zehn Paare mit Jungen sind genügend, unter günstigen Verhältnissen binnen wenigen Jahren einen Wald zu bevölkern oder zu übervölkern. Wer im Großen versucht, gewinnt unzweifelhaft; wer im Kleinen versucht, kann nur unbedeutend verlieren. Ein Wagniß ist weder in diesem noch in jenem Falle vorhanden.




Blind und vergessen.

Wo im österreichischen Küstenlande die blaugrünen Fluthen des Isonzo, aus dem engen, hohen Felsenbette tretend, plötzlich breit und mächtig in die Ebene strömen – liegt Görz, das „Paradies am Isonzo“, wenige Meilen von Aquileja entfernt, der altberühmten, nun zu einem elenden Flecken verdorbenen Patriarchenstadt.

Italisches Klima, italische Vegetation und die überaus gesunde Lage haben dem reizenden Görz den Namen „Oesterreichs Nizza“ eingebracht, und der berühmte Statistiker Baron Czörnig, der vor fünf Jahren hier Genesung fand, ist eben damit beschäftigt, das noch fast unbekannte und doch interessante Ländchen nach allen Richtungen zu beschreiben, um die Vorzüge desselben in den weitesten Kreisen bekannt zu machen.

Der ungemein milde Winter – den der Umstand am besten kennzeichnet, daß der Schnee, welcher wenige Stunden davon die Kuppen der Berge bedeckt, in dem lieblichen Thale selbst zu den fast unbekannten Erscheinungen gehört – führt alljährlich eine ziemliche Anzahl Fremder aus allen Theilen Oesterreichs, aber auch Engländer, Franzosen und Russen dorthin, die den Winter in Görz verleben. Die stetig fortschreitende deutsche Cultur hat auch diesem Städtchen, das theils von Italienern (Friauler), theils von Slaven (Slovenen) bewohnt ist, ihr „flammendes Siegel“ aufgedrückt, und deutscher Geist und deutsches Wesen machen sich bereits überall geltend. So haben sich hier namentlich aus Sachsen mehrere deutsche Familien niedergelassen, so bildete sich eine evangelische Gemeinde und erbaute ein ganz stattliches Bethaus. Daß dies mitten unter einer streng katholischen Bevölkerung möglich war, ist bezeichnend genug für die deutsche Willenskraft, umsomehr, als das kleine Görz der Sitz eines wichtigen Erzbisthums ist, dem die Bischöfe von Triest und andern Diöcesen unterstehen.

Wird also hier der Herbst von den letzten Ausläufern der Bora angezeigt, die wenige Stunden von der Stadt, an der Meeresküste, mit einer Heftigkeit wüthet, von der man sich in Deutschland kaum einen Begriff machen kann – und in Triest beispielsweise so stürmisch ist, daß längs der Häuser und Straßenübergänge Taue gespannt werden müssen, um die Passage zu ermöglichen – so treffen nach und nach die Wintergäste, eingehüllt in Shawls, Mäntel und Pelze, in Görz ein, um, kaum angekommen, diese wegzuwerfen und sich in leichtester Gewandung des überaus milden Klima’s zu erfreuen. Da geschieht es denn nicht selten, daß manche Berühmtheiten sich in Görz von der Last ihres Ruhmes erholen und mancher Unsterbliche seinen sterblichen Leib spazieren führt, im Hoff’schen Malzextract die Lethe suchend, aus der er „alles Weh’s Vergessen trinkt“ – wie der slovenische Dichter Presérn sagt, der einzige Dichter übrigens, welchen die Slovenen besitzen.

So ließ sich dort vor einigen Jahren ein Jünger Apollo’s nieder, der vornehmlich bis zum Jahre 1848 zu den gefeiertsten Dichtern Oesterreichs gehörte. Aber das Sturmjahr traf ihn, den k. k. Officier von anno Windischgrätz, wie etwas Niegeahntes, wie ein großes Unglück, von dem er sich nie wieder erholte, das ihn mit seinen Collegen auf dem Parnaß des Vormärz in Conflict brachte, so daß er sich von der Welt, in die er nicht mehr zu passen glaubte, grollend zurückzog.

Wir sprechen von Wilhelm Marsano, dem einst so beliebten Lustspieldichter, Novellisten und Lyriker, dessen „Helden“ – „Brautschau“ – „Spessart“ – „Fortschritt“ – u. s. w. den Weg über alle deutsche Bühnen machten und sich durch vierzig Jahre behaupteten, dessen „Brautschau“ erst vor Kurzem in Berlin neu in Scene gesetzt und mit außerordentlichem Erfolge aufgeführt wurde; – und der jetzt, vergessen von einem Geschlecht, das er und das ihn nicht mehr versteht, als k. k. österreichischer Feldmarschalllieutenant in Pension in Görz seinen Sitz aufgeschlagen hat. Aber geschlossen ist das einst so feurige Auge, gelähmt sind die kräftigen Glieder, die imposante Goethe’sche Gestalt ist gebrochen, und der in seiner Jugend der „Alcibiades von Prag“ genannt wurde, ist nun ein blinder, lahmer, zweiundsiebenzigjähriger Greis.

Carl von Holtei hat vor einiger Zeit in Hackländer’sUeber Land und Meer“ einen Roman („Eine alte Jungfrau“) veröffentlicht, in dem er mit wenigen Worten jener Episode aus dem Leben Marsano’s erwähnt, die wie ein Maienmorgen in den Frühling seines Lebens leuchtete, sein Verhältniß zur berühmten Henriette Sontag. Marsano war damals ein blutjunger Lieutenant und Henriette ein sechszehnjähriges Mädchen, das noch in Prag die Gesangsschule besuchte. Ein zartes Verhältniß umschlang die beiden bedeutenden Geister, es war wie der Blüthentraum zweier Blumen, die im Maienlichte die Kelche gegen einander neigen, um dann abgesondert in goldenen Vasen zu duften und zu prangen, bewundert und erfreuend – und endlich verwelken und sterben, fern und einsam.

Wilhelm Marsano ist am 30. April 1797 zu Prag geboren und gehört seit dem Jahre 1813, wo er als „noch ganz grüner Officier“ den französischen Feldzug mitmachte, der österreichischen Armee an. Doch wir wollen keine trockene Biographie schreiben und verweisen auf das biographische Lexikon von Constantin Wurzbach; wir haben es jetzt mit dem greisen Dichter zu thun, dem, einem zweiten Milton, das Licht der Augen ein „verlorenes Paradies“ geworden.

Wenn man in Görz, über die Piazetta schreitend, die Straße gegen den Isonzo einschlägt, so gelangt man zu zwei Villen, die mit der Front nach dem ebenen blühenden Garten des Görzerlandes hinaussehen und deren Rückseite sich dem kahlen Felsgestein des Monte santo (heiliger Berg) zuwendet, dessen Gipfel die berühmte Wallfahrtskirche krönt. Die zweite dieser Villen bewohnt Marsano mit seiner liebenswürdigen Familie.

Die originelle Lebensweise des blinden Dichters hat ihm in der ganzen Umgebung den Ruf eines Sonderlings verschafft. Um fünf Uhr Nachmittags verläßt er sein Lager und frühstückt, um neun Uhr Abends speist er zu Mittag, um Mitternacht nimmt er den Thee und Morgens vier Uhr geht er zu Bette, um dasselbe wieder Abends um fünf Uhr zu verlassen. Seine Empfangsstunden sind von sechs bis zehn Uhr Abends. Während dieser Zeit ist sein Salon der Sammelplatz aller interessanten Fremden und aller auf irgend eine Bedeutung Anspruch machenden Görzer.

[336] Marsano ist ein schöner Greis, von hoher, imponirender Gestalt. Das volle, schneeweiße Haar, die breite, gedankenreiche Stirn, die energische Nase, der ganze geistige Ausdruck seines bedeutenden Gesichtes üben auf den Besucher einen mächtigen Eindruck, und wenn der Dichter in seinem Lehnstuhle ruht, eingehüllt in seinen Shawl, der ihn wie eine Toga umfließt, nur halb beleuchtet von dem durch grüne Schirme gedämpften Licht der Lampe, bietet er ein Bild, das traumhaft auf die Seele des Beschauers wirkt, wie ein Lied aus alten verklungenen Tagen.

Kaum giebt es eine Berühmtheit, zumal in Oesterreich und Italien, mit der er nicht in reger Verbindung gestanden hätte. Namentlich in Italien wirkte er nachhaltig für die Kunst. Als Erzherzog Rainer Vicekönig von Italien war und in Mailand residirte, war Marsano viele Jahre hindurch maßgebend für sämmtliche Mailänder Theater, arrangirte Ballets, daß die ältesten Balletmeister in Erstaunen geriethen, und war die competente Instanz für alle Inscenirungen. Die Opern Rossini’s, Donizetti’s, Bellini’s, Verdi’s etc. werden noch jetzt überall so gegeben, wie Marsano sie an der Scala in Mailand arrangirt, und alle Kunstcapacitäten fügten sich willig seinen Winken.

Er wohnte den Triumphen der Pasta bei, er sah das erste Auftreten der Malibran in jener „Norma“, die Bellini für die Pasta geschrieben und die Letztere kurz vor der Malibran gesungen, so daß Alles den Fiasco der Anfängerin mit Bestimmtheit erwartete. Marsano hatte gleich anfangs Vertrauen zu der damals noch so unbedeutenden, wenig versprechenden Sängerin. – Und wie sang sie die „Norma“, welch’ ein Jubel erschütterte die Scala!

Marsano fand die Ristori, als sie noch bei einer Gesellschaft von ärmlichen Possenreißern gaukelte, die nur lustige Farcen gaben, höchstens sich zu den Lustspielen Goldoni’s verstiegen. Er fand sie in tiefster Armuth mit Vater, Mutter und Geschwistern in einer schlechten, engen Kammer zusammengedrängt, und war der Erste, der auf das bedeutende Talent der jungen Schauspielerin aufmerksam machte und entgegen dem damaligen Gebrauche der Kritiker in Italien, die sich nur mit der Oper beschäftigten, auch auf die Leistungen der Ristori hinwies.

Die damals in Mailand erscheinende deutsche Zeitschrift „Das Echo“, deren Hauptmitarbeiter und zeitweiliger Redacteur Marsano war, brachte eine reiche Auswahl seiner Kritiken, Gedichte etc.

In Italien holte sich der Dichter auch seine Lebensgefährtin, ein Mädchen von blendender Schönheit, einer der angesehensten Adelsfamilien von Bologna angehörig. Diese seine Frau beschenkte ihn mit zwei Söhnen und zwei Töchtern, liebenswürdigen hochgebildeten Mädchen, die anmuthvoll im Hause des greisen Dichters walten und ihm die letzten Tage bis zu seinem Heimgange verklären.

So lebt Marsano in seinem Heim, umgeben von den Bildern berühmter Menschen, die er gekannt in den Tagen seiner Triumphe. Das verlorene Augenlicht hat den Dichter sehr weich gestimmt, und erschütternd wirkte es auf mich, als einst ein alter Bekannter zu Marsano kam und, nichts von seiner Blindheit wissend, den unbeweglichen Greis anrief: „Ja, kennst Du mich nicht mehr?“ Da brach der alte Sänger in Thränen aus, und schluchzend rief er: „Siehst Du denn nicht, Unglückseliger, daß ich blind bin?“ Bei dieser schwermüthigen, oft geradezu schwarzen Stimmung ist es erklärlich, daß Marsano keine tiefe, schwere Lectüre verträgt, sondern es besonders liebt, wenn man ihm Humoristisches oder Theaterskizzen vorliest, von denen namentlich die letzteren ihn an die schönste Zeit seiner Wirksamkeit erinnern. Nur Friedrich Hebbel’s „Nibelungen“ war er begierig kennen zu lernen, und ich las ihm dieselben vor.

Was aber an dem Greis bewunderungswürdig erscheint, das ist sein sonores, prächtiges Organ, um das ihn noch jetzt junge Schauspieler beneiden könnten, und an freundlichen, schmerzlosen Tagen sein umfassendes Gedächtniß. Zudem hat Marsano ein schauspielerisches Talent, welches ihn, würde er die theatralische Laufbahn erwählt haben, zu einem der bedeutendsten Mimen gemacht hätte.

Seit langer Zeit hat der kranke Dichter nichts geschrieben, aber seine Mappe birgt einen Schatz von frühlingswarmen Liedern, die er, als er sich noch des Augenlichts erfreute, auf dem Gute seiner Frau bei Bologna gedichtet. Er ist auch ein großer Freund der Musik und selbst musikalisch, in seinem Salon wird viel und meist gute Musik gemacht. Nur von Richard Wagner will er nichts hören und pflegt denselben härtnäckig einen „Wahnsinnigen“ zu nennen.

Kommt er jedoch auf seine Erlebnisse im Elsaß, seine theatralischen Verbindungen, seine Begegnung mit Ludwig Tieck und anderen Berühmtheiten, seine Abenteuer in Rom und Neapel, überhaupt sein Wirken in Italien zu sprechen, da möchte man stundenlang seinen Worten lauschen und – dabei lernen. Nicht selten springt er auch zur Gastronomie über, denn Marsano ist ein großer Gourmand, trotz seiner gichtischen Leiden, die oft so überhand nehmen, daß er sich wochenlang einsperrt und nur für ein paar vertraute Freunde sichtbar wird, zu denen zu zählen auch Schreiber dieses so glücklich ist.

Mögen diese Zeilen dazu beitragen, die Aufmerksamkeit wieder auf den blinden Dichter zu lenken, der, wie ein Geschichtsschreiber Oesterreichs sagt, „einer unverdienten Vergessenheit entgegen geht“! Möge kein Fremder von Bedeutung, der das reizende Görz berührt, versäumen, den Salon des liebenswürdigen Sängergreises zu besuchen, und möge es ihm dann gelingen, jene Saite dieses so reichen Herzens zu treffen, die einen Sonnenstrahl ehemaligen Glücks auf die edlen Züge zaubert und tausend Lieder erklingen macht, wie sie einst so viele Leser entzückt haben!

Triest, April. H. P.     




Blätter und Blüthen.

Trotz alledem dem Verdienste seine Krone! – Wenn auch eine herbe Wahrheit in dem Spott liegt, mit welchem jüngst ein Amerikaner über den Eifer herfiel, mit dem die Deutschen auf die Ehre vieler Erfindungen pochten, zu deren Ausführung sie weder Muth noch Kraft gezeigt, weder Fähigkeit noch Mittel angewendet und die man erst im Ausland ausgeführt und dann dort aber auch sich zugeschrieben habe, so bleibt es doch eine Sache der Gerechtigkeit, das verborgene, verschollene oder absichtlich unterdrückte Verdienst solcher gerade wegen der gerügten großen deutschen Unterlassungssünden doppelt beklagenswerthen Männer, wenn auch noch so spät, noch zur Anerkennung zu bringen. Wir erhalten soeben eine neue Gelegenheit zu einer solchen Ehrenrettung. Wie uns Lehrer J. Kurtz in Ravensburg mittheilt, findet sich in einem zu Wien gedruckten „Dictionnaire“ zum Worte Luftball folgende (französisch geschriebene) Notiz, die wir hier deutsch folgen lassen: „Der Luftballon (globe ascendant) ist im Jahre 1666 von Herrn Lohmayer, Professor zu Rinteln, erfunden, welcher in einer Dissertation eine Schilderung und Abbildung dieser ‚Maschine‘ gab. Die Herren Montgolfier haben diese Erfindung reproducirt, und sie ist dann in Wien, Berlin und anderen Städten Deutschlands nachgeahmt worden.“ –

Die hier citirte Dissertation ist vielleicht nur in wenigen Exemplaren über das Weichbild der ehemaligen Universitätsstadt Rinteln hinausgekommen. Wenn bei der Aufhebung dieser Hochschule (durch die Westphälische Regierung, 1810) die Universitäts-Bibliothek an das Gymnasium übergegangen ist, so ist sicherlich dort das werthvolle Schriftstück zu finden, welches beweist, daß nicht erst von den Engländern Cavendish und Black, sondern gerade hundert Jahre früher von einem deutschen Gelehrten die Lehre von leichteren Luftarten und verdünnter atmosphärischer Luft aufgestellt wurde, welche letztere noch abermals weit früher schon von all’ den Kindern benutzt worden ist, die je eine Seifenblase in die Luft haben steigen lassen. F. H.     




Hauptmann Lüders. In Veranlassung des Aufsatzes in Nr. 17 unserer Zeitschrift: „Ein Besuch auf dem Kirchhof in Kissingen“ sind unserer Redaction Zuschriften zugegangen, welche den Beweis liefern, wie lebhaft noch immer das Interesse an den Ereignissen des Jahres 1866 in allen Kreisen der Gesellschaft vorherrscht. Auch sind uns von verschiedenen Seiten Beiträge offerirt worden, um das Grab des in dem Aufsatz erwähnten gefallenen Hauptmanns Lüders in einer entsprechenden Weise zu schmücken. Wir freuen uns, unseren Lesern mittheilen zu können, daß der betreffende Gegenstand inzwischen seine Erledigung gefunden hat. Die Wahrnehmungen unseres Verfassers rühren noch aus der letztvergangenen Kissinger Bade-Saison her.

Ziemlich gleichzeitig hat das fünfundfünfzigste preußische Infanterie-Regiment, welchem der verstorbene Hauptmann Lüders angehört hat, Kenntniß erhalten von dem in unserem Aufsatz geschilderten Zustand des betreffenden Grabes. Das Regiment, das in den verschiedenen Gefechten des Jahres 1866 fünfzehn Officiere und einhundertfünfunddreißig Mann verloren und bereits erhebliche Opfer gebracht hat, um das Andenken dieser Tapferen zu ehren, hat damals sofort Anstalten getroffen, um auch den Kissinger Gräbern alle mögliche Fürsorge zuzuwenden. Das Regiment hat nicht nur einen erheblichen Beitrag zu dem gemeinschaftlichen Monument in Kissingen gezeichnet, sondern die Badegäste in Kissingen werden sich in diesem Sommer mit uns freuen, das Grab des Hauptmanns Lüders mit einem schönen Gedenkstein in würdiger Ausstattung geschmückt zu sehen.





Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Todse