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Die Gartenlaube (1883)/Heft 41

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1883
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[661]

No. 41.   1883.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis Bogen. 0 Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Die Braut in Trauer.

Erzählung von Ernst Wichert.
(Fortsetzung.)

Onkel Grün wischte sich mit seinem rothen Taschentuche über die Augen.

„Von etwas Anderem!“ knurrte er. „Ja, womit unterhalte ich Dich denn, Lenchen? Von rechtswegen solltest Du mir die Neuigkeiten zutragen. Aber da fällt mir ein …“ Er öffnete einen kleinen Wandschrank und nahm einen Brief heraus. „Willst Du einmal lesen?“

„Von wem?“

„Von meinem Sohn, Lenchen.“

„Von Walter …“

Sie schien zu zögern.

„Lies nur, es sind keine Geheimnisse darin. Und über die gute Nachricht wirst Du Dich auch freuen, wenn Du dem Vetter Grün auch nicht sonderlich grün gewesen bist.“

Er lachte herzlich über das billige Wortspiel und schob ihr den Brief in die Hand. Dann konnte er aber doch nicht abwarten, bis sie ihn zu Ende gelesen hatte, obschon er inzwischen seine Taschenuhr mit den Wanduhren verglich und einige Zeiger stellte. „Das Beste steht zuletzt,“ rief er, „er hat nach glänzend bestandenem Examen hier eine Stelle am Gymnasium angenommen, kommt wieder zu seinem alten Vater zurück. Nun, sein Stübchen soll er in Ordnung finden.“

„Das wird Dir lieb sein,“ sagte Helene ohne sonderliche Bewegung. „Wie lange war Walter fort?“

„Fast drei Jahre,“ antwortete der Alte. „Er war ja noch Student, als er ging. Ganz richtig! Er wollte durchaus fort, als Du Dich mit Robert Berghen verlobt hattest. Er hatte sich’s nun einmal in den Kopf gesetzt, daß Du das Seminar durchmachen und Gouvernante werden solltest.“

Helene erröthete leicht.

„Er quälte mich wirklich ein bischen mit seinen pedantischen Grillen,“ sagte sie. „Ich konnte es ihm in nichts recht machen.“

„Seine Beweise von Zärtlichkeit waren freilich etwas bärenmäßig.“

„O! Er hatte sein grausames Vergnügen daran, mir fortwährend die Wahrheit zu sagen.“

Onkel Grün blinzelte mit den freundlichen Augen.

„Zu schulmeistern wird er jetzt nichts mehr finden.“

„Glaube das doch nicht, Onkelchen. Leute seiner Art können es nicht lassen. Und jetzt ist gewiß an mir noch viel mehr auszusetzen, als damals. Wenn Du schon mit mir nicht zufrieden bist …“

„O, o! Das ist etwas anderes."

„Nein, nein! Walter mit seinen scharfen Augen wird noch viel tiefer sehen oder zu sehen meinen. Er wird alles an mir unnatürlich, verschroben, unehrlich finden. Auf die Umstände Rücksicht zu nehmen, war er niemals geneigt. Weißt Du – ich fürchte mich recht vor ihm.“

„Aber Lenchen!“

„Du kannst mir das nicht so nachempfinden, Onkel,“ fuhr sie eifrig fort. „Recht habe ich doch. Und wenn er gar kein Wort sprechen würde, ich könnte ihm von den Augen ablesen, was er dächte.“

Der alte Herr schüttelte den Kopf und sah dabei schon ein wenig verdrießlich aus, obgleich der Mund das freundliche Lächeln festzuhalten suchte. „Da thust Du ihm gewiß zu viel,“ sagte er. „Du steckst voll Einbildungen, Kind.“

„So!“ entgegnete Helene in schmollendem Ton und zugleich weinerlich , „ist das auch Einbildung, daß er mir damals, als er wegging, offen herausgesagt hat …“ Sie stockte.

„Nun, was hat er Dir gesagt, Lenchen?“

„Es war eigentlich recht abscheulich. Er hat mir gesagt, er glaube gar nicht daran, daß ich Robert Berghen liebe. Das Wort hat mich tief gekränkt, Onkel, und ich kann’s ihm gar nicht verzeihen.“

„Lenchen!“

„Nein, nein! Es sollte mich vor mir selbst recht in den Staub hinabdrücken. Etwas Kränkenderes konnte mir gar nicht gesagt werden. Ich hätte gern davon geschwiegen, wie ich bis jetzt geschwiegen habe. Aber da Walter nun zurückkommt – und es Dir doch auffallen müßte, wenn unser Verkehr nicht so freundschaftlich ist, wie es sich für Verwandte schickt – und weil Du mir dabei eine Schuld beimessen könntest, von welcher ich mich frei weiß, darum habe ich gesprochen, Onkel. Aber es ist nur für Dich. Walter erfährt nichts davon, daß ich geplaudert habe – hörst Du? Das würde mich bei ihm in noch schlechteres Licht setzen.“

„Auf meine Verschwiegenheit kannst Da rechnen,“ versicherte er. „Aber es thut mir doch aufrichtig leid …“

Sie schloß ihm den Mund mit einem Kuß.

„Sorgen brauchst Du Dir deshalb gar nicht zu machen,“ sagte sie. „Aber damit er nicht wieder etwas äußert, was mich verletzen muß – über meine schwarzen Kleider etwa – erkläre ihm das alles, Onkelchen, recht aus meiner Lage heraus, und übernimm gegen ihn meine Vertheidigung, auch wenn Du ihm lieber zum Munde reden möchtest. Es wird sich dann schon nach [662] und nach verbluten. Und nun lebe wohl! Man wird zu Hause auf mich warten. Ich sehe bald wieder nach, wie Dir’s geht. Bis Walter kommt, dauert es ja auch noch eine Weile. Und nicht wahr, Du bist mir nicht böse, daß ich ihn verklagt habe? Ich wollte ihn auch gar nicht verklagen. Deinen Sohn! Wie könntest Du das denken! – Ach Gott, nun ist mir wieder recht schwer zu Muth. Aber es wird vorübergehen. Ade, Onkel Benjamin.“

Sie küßte seine Stirn und sein graues Haar, wischte eine Thräne von der Wange fort und verließ das Zimmer, ehe er ein Wort des Abschieds sagen konnte.

Die Uhren tickten ruhig weiter.




3.

Helene Grün war die einzige Tochter des verstorbenen Kaufmanns Emil Ferdinand Grün, dessen Name einmal an der Börse den hellsten Klang hatte. Er besaß eines der ersten Getreidegeschäfte in dieser Stadt, deren Wohlstand vornehmlich auf dem Getreidehandel basirt. Eine schwere Krankheit, in die er nach dem frühen Tode seiner geliebten Frau gefallen war, hinterließ bei ihm eine Reizbarkeit der Nerven, die den sonst so soliden Kaufmann zu waghalsigen Speculationen trieb und schließlich in der Gefahr um alle ruhige Ueberlegung brachte. Seine Gegner benutzten die Nothlage. Er machte Bankerott. Für sein einziges Kind konnte er nichts retten. Das zehrte an seinem Herzen; der Concurs war noch im Gange, als er sich auf’s Krankenbett legte und nach schweren Leiden starb. Es hieß, er habe keine Nahrung angenommen und dadurch sein Ende beschleunigt.

Helene war damals erst sechszehn Jahre alt. Sie hatte von den Sorgen ihres Vaters, von der Gefahr, in der er die letzte Zeit schwebte, keine Ahnung gehabt, ihr junges Leben in vollen Zügen genossen. Plötzlich mußte sie erfahren, daß sie ganz arm sei, und bald darauf der Leiche des theuersten Menschen folgen.

Der Onkel Benjamin Grün hatte sich ihrer angenommen. Die Vettern standen nicht sonderlich mit einander. Der Kaufmann fürchtete, durch häufigere und freundschaftliche Besuche zu beschweren, der Handwerker zu geniren. Keinem Theil fehlte es an Wohlwollen, aber die Lebensbedingungen und wohl auch die Charakere waren zu verschieden. Nun gab es für Onkel Benjamin keine andere Rücksicht, als die auf das gute Herz. So sehr er sich einschränken mußte, um das verwöhnte junge Dämchen bei sich aufnehmen zu können, keinen Augenblick hatte er doch geschwankt. Selbst das Opfer hatte er nicht gescheut, seinen Sohn, den Studenten, auszuquartieren.

Helene zeigte den besten Willen, sich in ihre Lage zu schicken. Sie sah ein, daß sie dem guten Onkel nicht für ungemessene Zeit zur Last fallen dürfe. Es stellte sich bald heraus, daß sie im väterlichen Hause vielerlei gelernt hatte, aber das Wenigste so planmäßig und gründlich, daß sie davon prakischen Nutzen ziehen konnte. Dessen wurde sie sich erst bewußt, als Walter sie examinirte. Es war das ihr eigener Wunsch gewesen; nun aber fühlte sie sich leicht verletzt, wenn sie schlecht bestand. Sie glaubte zu bemerken, daß er ein grausames Vergnügen dabei empfand, die Blößen ihres Wissens aufzudecken, um sich in seiner Ueberlegenheit zu zeigen, oder gar mit seinen Schulkenntnissen vor ihr zu glänzen. Er fing’s wirklich nicht sonderlich geschickt an, sich ihr Vertrauen zu gewinnen. Es war seine Art, überall die Dinge in ihrem ganzen Ernst zu nehmen und so wenig sich selbst als Andern Concessionen zu machen. Auch als sie dann das Seminar besuchte, um sich zu einer Stellung als Lehrerin vorzubereiten, hatte er fortwährend an ihrer Beschäftigungsweise zu kritteln. Manchmal wieder war er wunderlich sentimental, saß schweigsam ihr gegenüber, sah sie unverwandt an und seufzte, als ob ihn ein tiefes Leid drückte; oder er philosophirte weltschmerzlich und erklärte unverstanden zu bleiben. Dann wußte Helene gar nicht, was sie aus dem Vetter machen sollte. Suchte sie seine finstere Stimmung fortzunecken, so schien er jedesmal tief gekränkt; auf ernste Fragen, was ihn bekümmere, antwortete er aber in räthselhaften Wendungen. So fühlte sie sich in seiner Gegenwart immer bedrückt und unfrei. Nur mit Mühe konnte sie den Argwohn abwehren, daß er sie nicht möge, weil sie ihn halb und halb aus dem väterlichen Hause verdrängt habe. Und nun mußten doch noch ein paar Jahre hingehen, bis sie selbstständig für sich sorgen konnte! Was dann geschah, um die Situation plötzlich völlig zu ändern, hatte kein Theil auch nur im Traum vorausgesehen.

Der gefährlichste Concurrent Grün’s war der Consul Philipp Berghen gewesen, der ein altes, höchst solides Geschäft vertrat und bedeutendes Capital zur Verfügung hatte. Er hatte Grün, der bei seinem Vater die Handlung gelernt, längere Zeit freundschaftlich unterstützt und im Geschäft gefördert. Erst als Berghen’s älteste Tochter Selma seinen Buchhalter Osterfeld geheirathet hatte, dieser nun Compagnon geworden war und seinen geschäftlichen Einfluß täglich ausdehnte, änderte sich das Verhältniß. Osterfeld glaubte, bei irgend einer Gelegenheit einmal von Grün eine persönliche Kränkung erfahren zu haben, und trug ihm dieselbe nach. Der Consul, schwach von Charaker, seiner Tochter zärtlich zugethan und immer geneigt, dem Hausfrieden Opfer zu bringen, ließ sich unschwer von dem alten Freunde abdrängen und durch den ebenso geschäftskundigen als energischen Schwiegersohn auf andere Bahnen leiten. Nun entstand eine Rivalität zwischen beiden Häusern, die geradezu in Feindschaft ausartete, als Grün sich auf gewagte Speculationen einzulassen begann, die doch, wenn sie gelangen, ihm an der Börse einen Vorrang schaffen konnten. Berghen rieth, den Verlauf abzuwarten. Aber Osterfeld, mochte er nun wirklich besorgt sein oder nur begierig den Vorwand ergreifen, ging mit dem größten Eifer daran, die Gegner des lästigen Rivalen unter einen Hut zu bringen, überall Contreminen zu legen, seine Verbindungen zu untergraben. So kam es, daß schließlich Grün seinen Fall vornehmlich dem Hause Berghen u. Comp. zu danken hatte.

Consul Berghen hätte das Mißbehagen über diesen Ausgang des Kampfes, in dem er doch Sieger geblieben war, vielleicht nicht so schwer empfunden, wenn dem Fall des Hauses Grün nicht bald darauf auch der Tod seines letzten Inhabers gefolgt wäre. Seine Gewissenhaftigkeit kam über den Vorwurf nicht hinweg, daß er einen Theil der Schuld dieses frühen Hinscheidens trage, und die Beschäftigung mit diesen Gedanken wurde um so peinlicher, als er nachträglich bei einer Durchsicht der Bücher und Correspondenz sich meinte überzeugen zu müssen, daß Osterfeld schließlich nicht einmal vom kaufmännischen Standpunkt ganz lautere Mittel angewendet gehabt, den verhaßten Gegner niederzuwerfen. Von dieser seiner Einsicht in die Verhältnisse konnte er freilich nichts verlauten lassen, ohne Streit in die Familie zu bringen. Als aber nach kaum einem Jahre sein Brustleiden sich plötzlich so arg verschlimmerte, daß er an sein Ende denken mußte, fand er keine Ruhe, bis er seinen einzigen Sohn Robert, künftigen Chef des Hauses, an sein Krankenlager berufen und ihm das Kind des früheren Freundes empfohlen hatte. Er verhielt ihm nichts von dem, was er wußte. Er gedenke ihm keine bestimmte Vorschrift zu machen, sagte er ihm, von seinem guten Herzen und seiner edelmüthigen Gesinnnug erwarte er aber die freundlichste Berücksichtigung seiner Wünsche. Er selbst wolle in Frieden mit allen Seinigen sterben, und bitte ihn daher diesen Auftrag geheim zu halten.

Robert wußte wohl, daß der Kaufmann Grün eine Tochter hatte. Vor einer Reihe von Jahren, als die Familien noch in einer Art von gesellschaftlichem Verkehr standen, hatte er das kleine Mädchen auch öfters gesehen und sehr niedlich gefunden. Dann aber war er zu seiner geschäftlichen Ausbildung nach Hamburg und demnächst auf weite Reisen geschickt. Das hübsche muntere Kind war seinem Gedächtniß ganz entschwunden, als er in’s Vaterhaus zurückkehrte. In die geschäftlichen Angelegenheiten des Hauses mischte er sich nicht weiter ein, als seine Dienste gefordert wurden. Er lebte wie ein junger Cavalier und trieb allerhand Sport, wozu es dem einzigen, von der Mutter verhätschelten Sohne eines reichen Hauses an Mitteln nicht fehlte, suchte mit Vorliebe den Umgang mit Cavallerie-Officieren und setzte besonders seinen Stolz darein, die schönsten Pferde im Stall zu haben und für einen untadelhaften Reiter geachtet zu werden.

Er hatte das kleine Fräulein Grün gänzlich vergessen; nicht einmal der Vorname war ihm erinnerlich, als sein Vater ihm von der armen Waise sprach, der er sich in gewisser Hinsicht verschuldet fühle. Robert war allezeit ein guter Sohn gewesen. Im Aeußeren seiner Mutter sehr ähnlich, die einmal für schön gegolten hatte, harmonirte er im Charakter eigentlich mehr mit dem Vater, dessen weiches Gemüth auf ihn übergegangen war. So freute er sich [663] nun seines Vertrauens und gab dem geliebten Kranken die Versicherung, sofort Nachforschungen anstellen zu wollen. Er drückte ihm dann innig die Hand, sprach die Hoffnung aus, daß es bald zur Besserung gehen werde, und bat ihn, sich jetzt und in Zukunft ganz auf ihn zu verlassen.

Er hielt Wort, nicht nur weil er ein Versprechen gegeben hatte, sondern auch aus eigener herzlicher Theilnahme an dem Schicksal des armen Mädchens. Er frischte die Erinnerung an seine Besuche bei Grün auf und versetzte sich dabei in Räume, deren Ausstattung hinter der im elterlichen Hause gewohnten in Nichts nachstand. Wie schmerzlich mußte das Fräulein durch den Umschlag der Verhältnisse berührt sein! Er machte sich Vorwürfe, nicht schon selbst daran gedacht zu haben, was aus dem Mädchen geworden.

Seine Erkundigungen führten rasch zum Ziel. Er suchte den Uhrmacher Benjamin Grün auf, gab ihm seine Uhr zur Reparatur, kaufte eine andere und hielt sich möglichst lange in dem kleinen Laden auf, um sich dem Manne bekannt zu machen, vielleicht auch einmal dem Mädchen zu begegnen. Das gelang wirklich, und gleich der erste Eindruck war entscheidend. So schön hatte er sich Helene gar nicht vorgestellt. Er sprach sie an. Ob sie sich wohl seiner noch erinnere? Sie sah ihn mit ihren großen blauen Augen prüfend an und schien sich nicht sogleich zurechtzufinden. Dann war’s, als ob sie erschrak; die Wimpern zuckten und auf der Stirn zog sich ein feines Fältchen. „Wenn ich nicht irre, Herr Berghen“ – sagte sie, nicht gerade unfreundlich, aber mit erzwungener Gleichgültigkeit. Sie war im Ausgehen begriffen und meinte, sich auch seinetwegen gar nicht aufhalten zu sollen. Er aber setzte das Gespräch fort und hielt sie so noch eine Weile fest. Sie dürfe ihm nicht zürnen, was auch von seinem Hause gegen ihren Vater unternommen sei. Uebrigens dürfe er versichern, daß seinem Vater ihr Unglück sehr nahe gegangen. Helene entsann sich sehr bitterer Aeußerungen ihres Vaters über Berghen und antwortete deshalb kühl: „Ich verstehe von diesen Dingen nichts. Einen Vorwurf mache ich Niemand. Was Sie mein Unglück nennen, werde ich zu tragen wissen. Bedauert will ich nicht sein.“ Sie entfernte sich in stolzer Haltung. Er entschuldigte sich gleichsam bei ihrem Onkel, daß er’s gewagt habe, die alte Bekanntschaft zu erneuern, stotterte etwas von herzlicher Theilnahme an ihrem traurigen Geschick, suchte den alten Herrn auszuforschen, wie für ihre Zukunft gesorgt sei. Er erhielt ausweichende Antworten. Dem biederen Uhrmacher wollte es nicht einleuchten, was die Sache den jungen Herrn angehe.

Robert hatte viel überflüssige Zeit. Das schöne Mädchen kam ihm nicht mehr aus dem Sinn, alle seine Gedanken richteten sich auf die Frage: wie er weitere Begegnungen ermöglichen könne. Sonderbar, daß seine Uhr nicht in Ordnung kommen wollte! Endlich eröffnete er Grün ein Anliegen. Der wies ihn glatt ab. Das Mädchen habe noch einen alten Onkel, der allenfalls im Stande sei, zwei Kinder zu ernähren. Robert bat ihn, nicht vorschnell zu entscheiden, ihn vor Allem mit Helene selbst sprechen zu lassen. Das konnte er nicht gut ablehnen.

Aber bei ihr kam er noch schlechter an. Es werde ihr schon nicht leicht, sagte sie, von Verwandten Wohlthaten anzunehmen. Daß sie ein Fremder ihr darbiete, und gar der Mann, der ihrem armen Vater das Leben verkümmert habe, müsse sie als eine Kränkung empfinden. Wenn er ihr einen Beweis von Achtung geben wolle, möge er darauf nicht weiter zurückkommen.

Er sagte seinem Vater nichts davon, wie wenig er ausgerichtet habe. Der Kranke wurde täglich kränker und zuletzt ganz theilnahmlos. Nachdem er gestorben und begraben war, nahm Robert längere Zeit die Regulirung der großes Erbschaft in Anspruch.

Wie er dann eifriger darüber nachsann, auf welche Weise er dem stolzen Mädchen würde helfend zur Seite stehen können, da sie doch nach aller Wahrscheinlichkeit von ihm noch weniger als von seinem Vater etwas annehmen werde, wurde es ihm täglich klarer, daß es nur einen einzigen Weg gebe, auf dem sich ihr unbedenkliches Entgegenkommen erhoffen lasse. Und nun glaubte er auch zu wissen, daß er vor dem Augenblicke, wo er Helene gesehen, ernstlich an gar nichts Anderes gedacht habe, als sich ihre Neigung zu gewinnen. So überlegte er denn nicht mehr lange, ging eines Tages zu Benjamin Grün und hielt feierlich um ihre Hand an.

Den alten Uhrmacher überraschte diese Erklärung sehr. Weniger Helene selbst. Sie hatte ja genug Beweise erhalten, daß sie ihm gefiel. Nur darüber konnte sie sich nicht sogleich versichern, daß die Neigung eine wechselseitige sei. Sie forderte Bedenkzeit. Inzwischen sollte er sie sehen und sprechen dürfen. Sie selbst machte Vetter Grün noch denselben Abend von dem Geschehenen in ruhiger Weise Mittheilung. Noch war bei ihr von leidenschaftlicher Betheiligung so wenig die Rede, daß sie ihn gut freundschaftlich um Rath angehen konnte, was sie thun solle. Aber er gebehrdete sich sogleich so närrisch, daß sie wohl diese Vertraulichkeit für übel angebracht halten mußte. Ob er glaube, daß es je vergessen werden könne, wie sein Vater gegen ihren Vater gehandelt habe? Ob der Bursche meine, mit einem goldenen Pflaster die Wunde schließen zu können? Sein Antrag sei beleidigend. „Aber Leute dieser Art bilden sich ein,“ rief er, „daß sie nur die Hand ausstrecken dürfen. Ihnen gehört ja die Welt! Warum soll sich nicht auch eine Frau kaufen lassen? Ah! die Speculation auf die liebe Eitelkeit mag wohl selten fehl gehen. Wenn ich mir vorstelle, daß Du Dich so entwürdigen könntest, Helene –!“ Und nun folgte im heftigsten Tone eine Fluth von Angriffen gegen die armen Mädchen, die durchaus „versorgt“ sein wollen und für erbärmlichen Tand auf die heiligsten Rechte des Herzens verzichten. Ein leichtfertiges Ding sei ihm lieber und achtenswerther, als eine so kluge Rechnerin. Er redete sich so in Eifer, daß sein Vater es nöthig fand, sich einzumischen und vor übereilten Schlüssen zu warnen.

Auf Helene machte sein heftiges Dreinfahren durchaus nicht den erwünschten Eindruck. Sie wußte nur zu gut, daß der Vetter in seiner üblen Laune ebenso Robert Berghen, als ihr selbst Unrecht that. Er war ja mit Allem unzufrieden, was ihre Person betraf, wie hätte er in diesem Falle sich rücksichtsvoller benehmen sollen? Sein Uebereifer wirkte komisch. Was wollte er denn? Am Ende, daß sie gar nicht heirathen sollte?

„Was hat nur Walter gegen ihn?“ fragte Helene einmal nach einer recht unartigen Begegnung. Der Alte zuckte die Achseln und machte dabei ein wunderlich pfiffiges Gesicht. „Unsinn,“ sagte er, „Unsinn! Er weiß selbst nicht, was er will und kann. Ein Student!“ Durch diese Charakeristik wurde ihr der Vetter nicht verständlicher.

Helene gab ihr Jawort. Robert war außer sich vor Freude darüber. Sie wurde aber bald gedämpft, als er zu Hause glückstrahlend von seiner Verlobung Anzeige machte und nur lange Gesichter zu sehen bekam. Seine Mutter schien sich ernstlich auf eine Erörterung gar nicht einlassen zu wollen. Selma sprach von der Romantik, die sich leider in der Praxis oft so schlecht bewähre. Vera hatte erwartet, daß er sich seine Braut unter ihren Freundinnen aussuchen werde. Osterfeld lachte ihn geradezu aus.

So verdrießlich es Robert war, mußte er doch Helene bitten, für jetzt nicht zu verlangen, den Seinigen vorgestellt zu werden. Sie trat sofort zurück. Nur dann könne sie ihm nun noch angehören, wenn seine Mutter selbst sie aussuche und für ihren Sohn werbe. Bis dahin dürfen sie einander nicht wiedersehen.

Robert gab die Partie nicht verloren. Mit einer Energie, die man an ihm ganz ungewohnt war, betrieb er seine Herzensangelegenheit bei der Mutter, wohl wissend, daß sie die entscheidende Stimme habe. Anfangs setzte sie freilich seinen Ansinnen ein empörtes: „Niemals!“ entgegen. Aber das Mädchen fing ihr doch an zu imponiren, das diese Forderung gestellt hatte und darauf in stolzester Haltung bestand. Robert drohte in’s Ausland zu gehen, das schien ihr unerträglich.

So entschloß sie sich denn, nachzugeben. Als sie einmal dieses Schwerste überwunden hatte, erledigte sie denn die heikle Angelegenheit auf die liebenswürdigste, auch für Helene freundlichste Weise. Nur nicht die Leute über Dinge reden lassen, die bei den Betheiligten schon abgethan waren. Und vor Allem den Töchtern und dem Herrn Schwiegersohn gegenüber die volle Autorität beweisen! Wer nicht wußte, was hinter den Coulissen gespielt hatte, mußte glauben, daß allen Familienangehörigen nichts Erwünschteres sich hätte ereignen können, als diese Verlobung, die nun wenige Wochen später mit so viel würdiger Repräsentation öffentlich gefeiert wurde, als bei der noch fortdauernden Trauer um den verstorbenen Chef des Hauses schicklich und zulässig schien.

Es folgte dann für das junge Paar eine sehr glückliche Zeit. Helene war bald der erklärte Liebling der Mama und die vertraute [664] Freundin der Schwestern Robert’s. Die Frau Consul hatte Bedenken, ob der Verkehr der jungen Leute im Hause des Uhrmachers nicht Anstoß erregen könnte, und sprach deshalb den Wunsch aus, Helene möchte sich schon jetzt als ihre Tochter betrachten und ganz zu ihr ziehen. Dagegen konnte Onkel Benjamin nichts einwenden, wennschon er nun völlig vereinsamte, da sein Sohn Walter die Stadt verlassen hatte. Helene konnte nur die gütige Hand küssen, die so mütterlich ihre Führung übernahm.

Der Hochzeit wäre mchts im Wege gewesen, hätte nicht das Trauerjahr abgewartet werden müssen. Helenen war diese Frist nicht unlieb; sie meinte, ihren Bräutigam noch so wenig zu kennen, ihn erst recht lieben lernen zu müssen. Um so ungeduldiger zeigte er sich. Sobald der gesellschaftliche Anstand es erlaubte, drang er auf Festsetzung des Hochzeitstages. Und nun war Alles bereit; in einer Woche sollte ihm sein Glück gewiß sein. Da ereignete sich der Unglücksfall, der jede Hoffnung vereitelte.

Robert’s Liebhaberei für schöne Pferde hatte sich auch in dieser Zeit nicht verleugnet. Seine größte Freude war es, Helene neben sich zu Pferde zu sehen oder sie auf einem mit zwei feurigen Rossen bespannten Wägelchen, das nur für Zwei Raum hatte, selbst spazieren zu fahren. Es kostete sie anfangs einige Ueberwindung, ihrer Aengstlichkeit Herr zu werden, aber bald machte ihr das Reiten auf einem gutgeschulten Pferde viel Spaß, und die Sicherheit, mit der er die Zügel führte, verminderte auch bei den wildesten Fahrten das Gefühl der Beklommenheit. Eines Tages rollte das Wägelchen auf einer der Chausseen vor den Stadtthoren. Vom Exercirplatz her kam ihnen ein Trupp Soldaten entgegen. Spielleute marschirten voran. Gerade, als das Fuhrwerk seitwärts vorüberfuhr, setzten sie mit ihren Trommeln und Pfeifen ein. Die Pferde scheuten, drängten zum Graben, wurden wild und gingen durch. Robert verlor die Gewalt über sie. Er dachte nur an die Gefahr für seine Braut. Noch wenige hundert Schritte, und die Chaussee nahm eine Wendung nach rechts. Folgten ihr die wilden Thiere, so mußten sie den leichten Wagen herumschleudern und zu Fall bringen; rannten sie auf die Bäume auf, so war noch Schlimmeres zu befürchten. Zu langer Ueberlegung blieb ihm nicht Zeit, der schreckhafte Gedanke, Helene könnte beschädigt werden, verwirrte ihn ganz. So versuchte er das Unsinnigste, sie zu retten: er sprang mit den Zügeln in der Hand ab und ließ sich schleifen. Wirklich gelang es ihm auf diese Weise die Pferde zum Stehen zu bringen, aber er hatte von den Hufen der Rosse und von den Steinen, gegen welche er geworfen wurde, die schwersten Beschädigungen davongetragen. Ohnmächtig wurde er von den Officieren, die nachgeeilt waren, aufgehoben und von den Soldaten nach Hause getragen.

Unbeschreiblich war der Jammer seiner Angehörigen – der Braut, die das Entsetzliche mit ansehen mußte, der armen Mutter, der Schwestern, die in den Anordnungen für das Hochzeitsfest überrascht wurden. Die Aerzte stellten eine schwere Verletzung der Brust fest, wagten kaum einige Hoffnung zu geben. Der Zustand des Verunglückten verschlimmerte sich trotz der sorgsamsten Pflege von Tag zu Tag. Linderung seiner Leiden schien er nur zu fühlen, wenn Helene seine Hand hielt oder ihre Wange an die seinige lehnte. Das Sprechen wurde ihm schwer.

Er mochte sein Ende herannahen fühlen und sprach so dringend den Wunsch aus, sein Testament zu errichten, daß man ihm wohl nachgeben mußte. Als der Richter sich einfand, verlangte er mit demselben allein zu bleiben. Osterfeld, der ihn – vielleicht nicht ohne Absicht – in’s Krankenzimmer begleitet hatte, mußte sich zum Rückzug verstehen. Was er letztwillig verordnet hatte, erfuhr Niemand. In der nächsten Nacht starb er.

Helene flel in Folge der Aufregung und Ueberanstrengung in ein Nervenfieber. Bald nach dem Begräbnißtage war sie selbst aufgegeben. Aber ihre kräftige Natur widerstand. Monate vergingen freilich, bis sie für hergestellt erklärt werden konnte.

(Fortsetzung folgt.)




Vom zweiten deutschen Bergmannstag.

Von Theodor Gambe.00Mit Illustrationen von Paul Heydel.


In den Muldenhütten.

„Ihr, die ihr sorgt, daß in dem Reiche
Sich munter alle Räder dreh’n,
Daß Kohlendampf zum Himmel steige,
Daß alle Hämmer ringsum geh’n,
Ihr Kenner, Meister der Metalle,
Die deutsche Erde in sich schließt;
Ihr Reichthumspender, Alle, Alle
Seid uns mit Herz und Hand gegrüßt.“

Mit diesen Worten begrüßte am 2. September der Vicepräsident des deutschen Reichstages, Ackermann, eine Versammlung auf dem „Belvedere“ zu Dresden, die an geistiger und vokswirthschaftlicher Bedeutung wenige ihres Gleichen haben dürfte. Das Wohl und Wehe einer Viertelmillion Menschen, einer Viertelmillion Bergleute „vom Leder“ ist diesen 300 Bergleuten „von der Feder“ anvertraut, die hier zusammen kamen; der Mineralreichthum unseres Vaterlandes ruht in ihrer Hand: sie sind ferner die Träger derjenigen deutschen Wissenschaft, welche sich in allen erzführenden Gebirgen der Erde das Bürgerrecht erworben, und gewiß wird auch das deutsche Volk von einer solchen erlauchten Versammlung gern etwas vernehmen wollen.

Aber wo anfangen und wo aufhören? – Fünf Tage, einschließlich der Vorversammlung, währte dieser Bergmannstag, fünfzehn größere Vorträge wurden gehalten mit einer Menge Debatten im Gefolge, drei gemeinschaftliche Ausflüge wurden unternommen und auch die Festessen, Frühstücke und Toaste gaben eine Fülle von Material, weil sie schon durch ihre fachmännische Eigenart Interesse wachrufen würden; wir müssen uns aber mit [665] wenigen Spalten bescheiden und können darum nur des Wichtigsten gedenken.

Jedenfalls hat auch die Wahl des Ortes Dresden für den zweiten deutschen Bergmannstag ihren Antheil an der ausgezeichneten Stimmung, die von vornherein alle Theilnehmer beseelte. Dresden mit seinen Naturschönheiten liegt am Fuße des Erzgebirges, in der Nähe von Freiberg, der classischen Bergmannsstadt; Dresden ist die Residenz eines Landes, dessen ganzer Habitus vom Bergbau herrührt, dessen Dampfhämmer ihren Urahn im Bergmannsfäustel haben und dessen Glanz und Reichthümer zum nicht geringen Theil aus der Erde geschürft worden sind. Am Sedanstage Abend kamen die Herren zur ersten Begrüßung auf dem „Belvedere“ zusammen. Sofort fiel ein Umstand Jedermann in’s Auge, und das waren die auffällig zahlreichen Charakterköpfe. Der gewaltige Ernst des Berufes, die außergewöhnlich große Verantwortlichkeit, welche auf diesen Männern lastet, der historische Zug, der dem ganzen Stande etwas Eigenartiges verleiht, und die gewaltigen Räthsel des Erdinnern, an denen derselbe seit Jahrhunderten seinen Scharfsinn übt, mögen vereint gearbeitet haben, um diese ungewöhnlich große Zahl fesselnder Gesichter herauszubilden.

Im „Carola-Schachte“ zu Zaukeroda.

Die wissenschaftlichen Vorträge begannen am Montag in der prächtigen Aula des neuen königlichen Polytechnicums. Am Aufgang hatten sich zu beiden Seiten auserwählte Bergmannsgestalten als eine Art Ehrencompagnie aufgestellt; einige derselben, wahrlich keine Theaterbergleute, brachte unser Zeichner auf seinen Bildern als Staffage an, da für eine Gesammtansicht leider der Raum zu beschränkt war.

Von den Vorträgen selbst haben wir nur zwei zu erwähnen, welche durch ihren Stoff weit über das fachmännische Interesse in das allgemein menschliche hinausragen. Der erste dieser Vorträge berührte ein dunkles, unheimliches Capitel. Bergrath Haßlacher aus Berlin sprach über die sogenannte preußische Schlagwettercommission, welche eigens eingesetzt wurde, um den entsetzlichen Massacres der Bergleute durch schlagende Wetter Einhalt zu thun und den grimmigsten Feind des Bergbaues zu bändigen.

In den letzten zwanzig Jahren sind in den preußischen Bergwerken 1850 Explosionen dieser dem Erdinnern entströmenden Gase vorgekommen - das ist eigentlich ein entsetzliches Ergebniß der Statistik.

Welche Massen verstümmelter Leichen, jammernder Wittwen und Waisen tauchen da vor unserer Phantasie auf! – In jeder Woche mehr als eine Explosion. – Es sind allerdings auch zwei Dritttheile aller preußischen Kohlengruben mit Schlagwettern behaftet, und das erklärt uns wohl die beklagenswerthen Verhältnisse, aber tröstet uns nicht darüber.

Die größte Zahl der Unglücke wurde durch offene Grubenlichter herbeigeführt, dann und wann haben jedoch auch die sogenannten Sicherheitslampen ihrem Namen keine Ehre gemacht, und ein kleinerer Theil ist ferner durch die Sprengungen herbeigeführt worden, das heißt die Pulver- oder Dynamitgase haben die schlagenden Wetter entzündet. – Der Vortragende führte eine glänzende Reihe von Sicherheitsmaßregeln auf, aber man mußte sich doch am Schlusse des Vortrages eingestehen, daß der Mensch noch ziemlich machtlos diesen Gefahren gegenübersteht. Riesenventilatoren, Abkühlungseinrichtungen, um die Entzündbarkeit der Gase zu vermeiden, die Sicherheitslampen – alles, alles hat den Bergmann schon treulos im Stich gelassen, und die Schlagwettercommission mag für menschliche Fähigkeit Glänzendes geleistet haben, aber den Gefahren gegenüber ist es leider noch blutwenig.

Fast ununterbrochen strömen diese dämonischen Gase aus, und der Bergmann spielt zuweilen mit ihnen wie mit den unschuldigsten Dingen von der Welt; der Verfasser selbst sah, wie ein Steiger in einem Zwickauer Kohlenwerk das offene Grubenlicht an eine Erdspalte hielt, und jedesmal züngelten die blauen Flämmchen um den Spalt wie Irrlichter. Das waren schlagende Wetter. Natürlich haben so schwache Ausströmungen bei guter Ventilation keine Gefahr – es ist aber doch ein etwas unheimliches Spiel.

Freundlicher war das Bild, das der Oberberghauptmann von Dechen aus Bonn in seinem Vortrage über den Mineralreichthum Deutschlands den Hörern vorzauberte. Deutschland ist darin ein reiches Land, mindestens viel reicher als unser großer Rivale Frankreich. Deutschland besitzt an der Ruhr, in Oberschlesien, an der Saar und am Fuße des Erzgebirges vier [666] großartige Kohlenbecken, unsere Salzlager werden an Masse und Güte von keinem Salzlager der Erde übertroffen, ebenso erfreut sich Deutschland zu Beuthen in Oberschlesien des größten Zinkbergbaues der Welt. Der Silberbergbau im Harze und im Erzgebirge ist zwar vom Westen Nordamerikas weit überflügelt, doch sind die Erträgnisse durch die Fortschritte in der Verhütung der Erze größer als je.

1820 wurden nach Dechen an der Ruhr 500,000 Tonnen Steinkohlen gefördert, im Jahre 1880 war dieses Quantum auf 20,000,000 Tonnen angewachsen. Insgesammt wurden 1880 aus deutscher Erde 282,000,000 Tonnen Kohle gehoben.

Vom Bergbaue leben in Deutschland gegenwärtig 291,000 Männer, also mehr als zwei Menschen vom Hundert suchen ihr Brod „tief unter der Erde“.

Das edelste Product aber, was der deutsche Bergbau dem Weltmarke zuführt, ist nicht Kohle, nicht Silber und Gold – es ist das bergmännische Wissen. – Der deutsche Bergbeamte ist ein Kosmopolit geworden, in den entlegensten Gegenden der Erde, wo nur ein Bergmann die Haue einsetzt, ist er zu Hause, beliebt und geehrt, und von seiner Wissenschaft fällt auch ein Schimmer auf seine Heimath und seine Nation. –

Am 4. September dampfte der gesammte Bergmannstag nach den Muldenhütten bei Freiberg, jenen kolossalen Erzschmelzen, welche wir den Lesern der „Gartenlaube“ schon einmal vorführten (Jahrgang 1879, S. 666). Wir könnten bei der Durchwanderung kaum etwas Neues auftischen, und so begnügen wir uns mit dem Hinweise auf die belastende Paul Heydel’sche Illustration. Dieselbe stellt die Ehrenpforte vor den Muldenhütten dar, und war dieselbe besonders dadurch verschieden von den üblichen Ehrenpforten, daß auf den Säulen leibhaftige Bergleute die Bekrönung darstellten. Im Hintergrunde werden Theile der Muldenhütten sichtbar, und links in der Ecke entströmt das feuerflüssige Metall einem sogenannten Pilz’schen Hochofen. Der Paradebergmann daneben ist aus dem Treppenhause des Dresdener Polytechnicums dahin versetzt worden.

In Freiberg selbst fand wie in Dresden officieller Empfang statt. Eine größere Zahl der Gäste hatte sich jedoch zerstreut und besuchte die weltbekannten Erzgruben Himmelfahrt, Himmelsfürst und andere, wo der Begriff vom Himmel auf den Kopf gestellt worden ist.

Erst vor dem „Kaiser-Wilhelm-Erbstollen“ fanden sich die Theilnehmer wieder zusammen zu fröhlicher „Einfahrt“ und einer originellen „Schicht“. Der Zeichner giebt uns nur den oberen Theil dieses Erbstollens wieder, welcher mit seinen strammen Bergmannsfiguren den Kopf für ein Bild abgiebt, das seiner Natur nach nicht nach Freiberg, sondern nach dem Plauenschen Grunde gehört.

In gebückter Haltung und erwartungsvoll fuhren die Leuchten der bergmännischen Wissenschaft ein, doch man traf da drinnen auf keine neuen Räthsel des Erdinnern, man traf nicht einmal auf die ärmsten Blei-Erze, dafür aber that sich eine wunderliebliche goldhelle Quelle auf, an der denn auch wacker geschürft, oder richtiger gesagt geschlürft wurde. Der Stollenmund führte nämlich zu dem freundlichen Gasthaus „Zum baierischen Garten“, und die Schicht bestand in einem solennen Imbiß.

Gegen Abend wand sich der Zug von hier ab mit „bedächtiger Schnelle“ zur berühmtesten bergmännischen Hochschule, zur Freiberger Akademie. Man sah es den Herren an, das war ihnen kein fremder Boden, sie wußten sich so ziemlich Alle zurecht zu finden, und ihre Gespräche knüpften meistens an goldene Jugendtage an, die sie hier verlebt. Die wenigen aber, die hier zum ersten Mal einkehrten, waren insbesondere erstaunt über den Reichthum des Mineralogischen Museums.

Der vierte Tag brachte nicht weniger denn sieben wissenschaftliche Vorträge und die unvermeidlichen Discussionen dazu. Einen davon hörte auch der oberste Bergherr des Landes, König Albert von Sachsen, mit an – gewiß seines humanitären Stoffes wegen. Derselbe beschäftigte sich mit der Arbeiterfrage, natürlich mit specieller Berücksichtigung der Bergarbeiter. Der Vortragende, Dr. Ullrich von Clausthal, hat seine Laufbahn als gewöhnlicher Lohnarbeiter begonnen, hatte später 3000 Bergarbeiter unter sich und darf darum wohl Anspruch darauf erheben, daß er die Verhältnisse genau kennen muß, wer aber diese genau kennt, das heißt wer als Arzt eine richtige Diagnose stellen kann, der verdient auch im Uebrigen Vertrauen. Dr. Ullrich sieht die Lösung der Arbeiterfrage in der Pflege gesunder patriarchalischer Verhältnisse zwischen Arbeiter und Arbeitgeber; der letztere soll mehr der Vater und Fürsorger als der Herr sein, er soll nicht meinen, er habe genug gethan, wenn er einen anständigen Lohn auszahle, er soll seine Erfahrung, seine Bildung, seine höhere Intelligenz auch für den Arbeiter anderweit dienstbar machen, indem er wohlthätig auf sein Familienleben einzuwirken sucht; er will die Kluft aus der Welt schaffen, die sich durch die socialen Bewegungen der letzten Jahrzehnte so weit aufgethan und die unüberbrückbar zu werden droht.

Unter allen Umständen verlangt Dr. Ullrich eine humane Behandlung auch Elementen gegenüber, die sich dessen nicht gerade würdig zeigen, und in scharfen Worten verurtheilt er die üblichen Härten und Schimpfereien des Aufsichtspersonals, die leider in sehr vielen Gruben noch als Attribut und Vorrecht eines Aufsehers in Geltung stünden. Dadurch werde nur das Volksgemüth verbittert, und ein Vortheil einer solchen Behandlung sei absolut nicht einzusehen, Autorität und Ansehen würden nie durch Haß oder Furcht gefördert.

Der Redner fand reichen, sehr reichen Beifall, und darüber darf man sich besonders freuen; wie schon früher gesagt wurde, sind die Hörer über Hunderttausende von Bergarbeitern gesetzt, es war also ganz der rechte Boden, auf dem Dr. Ullrich die goldenen Weizenkörner der Humanität ausstreute, und der Beifall läßt erwarten, daß manches Wort aus der Aula der technischen Hochschule zu Dresden in die Tiefen der Erde hinabdringt und dort zum Segen Aller Anwendung findet.

Am Nachmittag desselben Tages unternahm der gesammte Bergmannstag auf einem hübsch decorirten Dampfschiff, das die Stadt Dresden zur Verfügung gestellt hatte, einen Ausflug in die alte Markgrafenstadt Meißen. Die Albrechtsburg, der Dom und die Porcellanfabrik wurden besichtigt und man versüßte sich im Uebrigen den Aufenthalt und den Meißner Wein durch bergmännische Bonmots. Nachzutragen ist hier, daß auch die Meißner Behörden den stattlichen Heerzug officiell begrüßten.

Der letzte Bergmannstag, Donnerstag der 6. September, entführte sämmtiche Theilnehmer schon in aller Frühe auf einem offenen Lowryzug nach dem Plauenschen Grund bei Dresden. Hier hat bekanntlich die Natur ein Miniatturkohlenbecken, wie es scheint, eigens für Dresden angelegt. Wenn auch die bescheidenen Verhältnisse den Herren vom Rhein, von der Ruhr und Oberschlesien wenig imponiren konnten, so ist der eigenartige Abbau dieses Beckens doch für den Fachmann von besonderem Interesse, und an rationellem Betrieb stehen die Werke des Plauenschen Grundes keinem der Welt nach.

Den Hauptanziehungspunkt bildete augenscheinlich eine neuangelegte elekrische Eisenbahn in der Tiefe des Carola-Schachtes zu Zaukeroda. An bergmännischen Ehrenwachen und Paraden vorüber wendete sich der Zug diesem Schachte zu und wurde in Förderkörben in die Tiefe hinabgelassen. Am sogenannten Füllort bestiegen die Herren den elektrischen Bahnzug. Derselbe bestand aus sechszehn Hunten und der Locomotive, der wir heute nicht näher gedenken können, so sehr sie es auch verdient. So rollte der Zug, wie es jeder andere auch gethan haben würde, durch die Eingeweide der Erde dahin, und wenige Minuten später entlud sich derselbe an einem Querschlag wieder von seiner kostbaren Fracht.

Eines Transparentes müssen wir hier erwähnen, das mit wenigen Mitteln, aber recht eindringlich die Geschichte der Kohlenförderung wiedergab. Mit dem Tragkorb ist zu Großvaters Zeiten schüchtern begonnen worden, dann verstieg man sich zur Schubkarrenbeförderung, dann kam der zünftige Bergmannshunt, der erst von sogenannten Huntejungen und später von Pferden getrieben wurde, bis vor Kurzem die Electrizität diese armen Thiere aus ihrer lebenslänglichen Gefangenschaft 300 Meter tief unter der Erde befreite.

Bei dem schon erwähnten Querschlag that sich plötzlich ein Bild auf von einer wahrhaft bestechenden Romantik, und wäre Fräulein Shehezerade mit im Zuge der Bergherren einhergeschritten, sie würde ihre Märchen von Tausend und eine Nacht gewiß auf tausend und zwei Nächte completirt haben. Ein großer ausgemauerter Hohlraum, phantastisch ausgeschmückt, schimmerte im wunderbaren Glanze Edison’scher Glühlichter, mehrere Büffets mit [667] den auserlensten Gaben der Oberwelt waren aufgebaut, und eine Zahl schmucker Bergknappen empfingen den Bergmannstag als dienstbare Geister und credenzten das feurige Naß mit solcher Anmuth, als hätten sie im Leben nichts Anderes gethan, als die Servietten statt der Fäustel geschwungen. Unser Zeichner giebt (vergl. S. 665) von diesem unterirdischen Frühstückssaal sogar zwei Ansichten, und derselbe verdient diese Auszeichnung vollauf. Freilich die überraschten Gesichter selbst der erfahrensten Bergbeflissenen und die höchst angenehm erregte Stimmung kannte derselbe nicht wiedergeben.

Selbstverständlich sprangen bald wieder die Toaste wie Fontainen in luftigen, schimmernden Weisen, aber auch ernste Worte fielen dazwischen, und eine einzige Bemerkung hätte die Versammlung fast tragisch stimmen können. Die Werkbeamten theilten mit, daß in etwa dreißig Jahren diese gesammten Baue, die gegenwärtig wie ein Ameisenhaufen von Leben erfüllt sind, einsam und öde stehen und der Urnacht, die vordem hier geherrscht, wieder anheimfallen werden. Die Kohlen sind dann zu Ende, der letzte Bergknappe fährt aus, und dann wird es wieder still in der Tiefe sein, still für ewig.

Die sogenannte Sächsische Semmeringbahn, die Kohlenbahn des Plauenschen Grundes, nahm sich des Bergmannstages nunmehr an und brachte die Herren von Schacht zu Schacht. Herrliche klare Herbstluft, malerische Bergparaden, Ehrenpforten, Glückauf-Rufe, Ansprachen wiederholten sich so oft, daß der arme Berichterstatter hoffnungslos den Bleistift möchte sinken lassen. Die schönste der Ehrenpforten am Glückauf-Schacht giebt der Zeichner wieder, umrahmt von zwei historischen Bergmannsgestalten vom Jahre 1636, und damit könnten wir es genug sein lassen; auch ein Stückchen Bergparade ist auf dem Bilde sichtbar (vergl. S. 668).

Endlich lief der Bergmannstag auf der „Goldenen Höhe“, hoch über allen Schächten, in eine Art Hafen ein. Der Freiherr von Burgk, der glückliche Besitzer einiger solcher Goldgruben, hatte hier den Herren ein Festessen bereiten lassen, das letzte in einer langen, langen Reihe. Ermüdung war nicht zu spüren, die elektrische Uebertragung der Geistesblitze ging lebhafter von statten denn je, die Toaste schlugen ein wie die Junigewitter, und besonders helles Gelächter erscholl, als der Freiherr von Burgk den Ort selbst bergmännisch erklärte: man säße nicht einmal auf Kohlen, trotz des Namens „Goldene Höhe“.

Dies der zweite deutsche Bergmannstag. Schließen wir mit dem Trinkspruche eines alten Harzers:

„Es grüne die Tanne, es wachse das Erz,
Gott schenke uns Allen ein fröhliches Herz!“




Der französische Hermann der Cherusker.

Von Dr. Karl Seldner.

In den Stunden, die ich im August dieses Jahres bei meiner Anwesenheit in Paris dem Musée des Antiquités Nationales in dem stattlichen Schlosse Franz’ I. in St. Germain en Laye widmete, reiste bei der Betrachtung der gallischen Alterthümer, der wunderschön ausgeführten Modelle des alten Alesia, der ganzen Belagerung und der Belagerungsmaschinen der schon vorher gehegte Vorsatz, auf der Rückreise in die Heimath an dem Original nicht vorüberzufahren.

So dampfte ich denn, erfüllt und überfüllt vom Babel an der Seine, am 24. früh sieben Uhr vom Lyoner Bahnhofe ab, an Fontainebleau, Montereau vorüber, dann an Sens, das die alten Senones noch im Namen führt, durch fruchtbares, wohl angebautes Hügelland, immer nach Südosten, bis der Zug um die Mittagszeit die Cotes d’Or erreichte.

Ich hatte in diesen Stunden vollauf Zeit, meine Reisegesellschaft zu studiren. Sie bestand aus zwei mittelalterlichen, aber noch französisch-graziösen Damen und drei jungen Militärs, Telegraphisten, wie ich nach und nach aus ihrer Unterhaltung und dem zackigen Blitz am blauen Kragen der schwarzen Uniform merkte. Das Coupé war bald in lebhaftem Gespräch, nur mir gegenüber, der durch Gestalt und blonden Vollbart den Deutschen nicht verleugnete, höflich ablehnend. Allmählich näherte sich der Zug meinem Ziele, der Station les Laumes, daher setzte ich mich über die ablehnende Haltung meiner Reisegenossen hinweg und erkundigte mich in meinem besten Französisch nach dem, was man für den Aufenthalt in dem kleinen Orte wissen mußte, Gasthaus und Zeitdauer des Ausflugs nach Alise-Ste.-Reine, wie heute Alesia heißt. Ein gerade eingestiegener redseliger Provinzler, wie es schien, ein kleiner Gutsbesitzer der Gegend, Localpatriot, gab mir bereitwillig Auskunft.

Les Laumes! Der Zug hielt, und ich stieg aus.

In dem dem Bahnhof gegenüberliegenden Wirthshaus des Ortes erhielt ich ein gutes Zimmer und eben solches Dejeuner mit dem unvermeidlichen mouton (Hammelfleisch). Die aus Bürgern des Ortes, die Flaschenbier tranken (in der Bourgogne! – überhaupt scheint sich das Bier in Frankreich immer mehr Platz zu erobern), und einem das große Wort führenden, aus Paris gekommenen jungen Mann bestehende Tischgesellschaft kannegießerte über die guten Aussichten der Republik.

Nachdem ich etwas der Ruhe gepflogen, machte ich mich, als die ärgste Hitze nachließ, auf nach der Höhe, von der die Statue des Vercingetorix wie ein segenspendender Genius in’s Thal herabschaut. Der Weg führt an dem durch den Lärm wieder an unser Jahrhundert gemahnenden Bahnhof durch die etwa eine Stunde breite Plaine des Laumes, dann nach einem halben Stündchen Steigens durch die ersten Häuser des Dorfes Alise-Ste.-Reine weiter den Berg hinan. Da begegnete mir ein junger Bauer, den ich, um sicher zu gehen, nach dem Wege fragte.

Er antwortete erst französisch, fuhr aber dann fort: „Der Herr ischt wohl e Dütscher? ’S freut mi, Ihne z’ treffe; ichch bin en Elsässer, ichch bin hier employiert bi de Hängschte (Hengsthalter). Ichch ging gärn mit Ihne, awwer ichch hä na allerhand z’ bsorge, ichch hä mi erscht vor zwei Täg mit eme Mädel von hier verheiert.“ Er fragte noch nach meiner Heimath; auf meine Antwort: „Mannheim“ war die seinige: „ah, wo die Maschine herkumme, sell ischt im Badische, n’est-ce pas?“ Ich sprach ihm meine Freude aus, einen Landsmann zu treffen, wünschte ihm Glück zu seinem jungen Ehestand, in dem sich Neudeutschland und Frankreich verbänden, und danke ihm für sein freundliches Anerbieten; dann trennten wir uns mit kräftigem Händedruck.

Nach einigem Steigen stand ich auf dem Plateau und vor mir ragte, mit dem Sockel etwa zehn Meter hoch, Vercingetorix auf: ein jugendkräftiger Mann, barhäuptig, mit wallendem Haar und herabhängendem Schnauzbart, trotzigen Blickes: unter dem Brustpanzer ein faltiges Gewand mit kurzen Aermeln, auf die rechte Schulter zurückgeworfen der Mantel, der bis zur Erde hinabwallt, um die Handgelenke Spangen, die Beine behoft und kreuzweis mit Binden umschnürt, die Füße in derben Schuhen, gestützt auf sein langes Schwert, an der linken Seite den Dolch, hinter sich auf dem Boden den Spitzhelm – so schaut er weit hinaus in die Lande. Und ringsum feierliche Stille statt des Brausens der Weltstadt, das mich noch am Morgen umtönte; das Gras, in das ich mich geworfen, zitterte im Winde, der von der Seite der Heimath kam, die Käfer summten und die Schmetterlinge gaukelten.

Meine Gedanken zogen in den Sommer des Jahres 52 vor Christo. Im siebenten Jahr des Kampfes der Gallier gegen Cäsar stand, zum ersten und letzten Mal, das ganze Volk mit wenigen Ausnahmen von den Pyrenäen bis zum Rhein für Freiheit und Volksthum unter den Waffen. Zum Führer hatten sie diesen Vercingetorix, einen Adeligen von fast königlichem Ansehen, gewählt; er, ein stattlicher, tapferer, kluger Mann, hatte das Landvolk der Arverner (Auvergne)-stammes, das der dort herrschenden Oligarchie ebenso feind war wie den Römern, zugleich zur Wiederherstellung des arvernischen Königthums und zum Krieg gegen Rom aufgerufen. Nachdem zuerst in erfolgreichem Widerstand sein Feldherrntalent die Kriegführung geändert hatte, begann auch bald der Sieger-Nimbus Cäsar’s zu erblassen. Hatte nämlich früher Cäsar seine Siege Schlag auf Schlag erfochten und wurde Stadt um Stadt in sicher fortschreitender Einschließung erobert, so bedurfte es jetzt zu beiden langdauernder angestrengter Kämpfe. So bekamen die Gallier Vertrauen auf [668] ihren Führer. Cäsar zog deshalb notgedrungen seine bisher getheilte Macht hier, um diesen Berg von Alesia, zusammen, auf dessen Plateau und Abhängen Vercingetorix sich festgesetzt hatte. Diesmal gelang es jedoch letzterem nicht, wie früher, sein Fußvolk unter dem Schutz der Festungsmauern aufzustellen und durch seine Reitermassen die Verbindungen nach außen hin sich offen zu halten, während er die des Feindes zu unterbrechen gedacht hatte. Seine Reiterei wurde von Cäsar’s deutschen Berittenen in jedem Zusammentreffen geschlagen; auf den umliegenden Höhen wie in der Ebene campirten in größeren und kleineren befestigten Lagern (von acht solchen hat man bei den von Napoleon III. veranlaßten Nachgrabungen Spuren entdeckt) die römischen Legionen und zogen mit eiserner Beharrlichkeit um den ganzen Festungsberg Verschanzungslinien; diese wurden durch dreiundzwanzig kleine Redouten gesichert, und an Stellen, wo leicht beizukommen war, das Vorland durch Verhacke, Wolfsgruben und Fußangeln geschützt. Die Belagerten sahen den Ring sich langsam, da er etwa vier Stunden lang war, aber sicher schließen.

Von meinem Standpunkte aus konnte ich mir die Linie sehr gut in die Landschaft hineindenken; sie ist auf der beigegebenen Karte gezeichnet.

Auf eine Einschließung aber war Vercingetorix nicht gefaßt: er hatte unter den Mauern der Stadt kämpfen wollen, nicht sich belagern lassen; für seine 80,000 Mann Fußvolk, 15,000 Reiter und die zahlreichen Stadtbewohner genügten die aufgespeicherten Vorräthe bei weitem nicht. Er mußte sehen, daß er diesmal verloren war, wenn nicht die gesammte Nation herbeieilte und den eingeschlossenen Feldherrn befreite. Daher entließ er im letzten Augenblick, als der Weg wenigstens für Berittene noch frei war, seine ganze Reiterer und entsandte zugleich an alle Stammeshäupter die Weisung, alle Mannschaft aufzubieten und sie zum Entsatz heranzuführen. Er selbst, entschlossen, die Verantwortung für den von ihm entworfenen und fehlgeschlagenen Kriegsplan auch persönlich zu tragen, blieb in der Festung, um im Guten und Bösen das Schicksal der Seinigen zu theilen. Cäsar aber machte sich gefaßt, zugleich zu belagern und belagert zu werden. Er gab daher Befehl, das Heer mit Lebensmitteln auf dreißig Tage für Mann und Roß zu versehen, und richtete seine Umwallungslinie auch an der Außenseite zur Vertheidigung ein, das heißt er zog parallel mit der inneren eine äußere; von beiden sind Reste aufgefunden worden. Der Umfang der letzteren mag über fünf Stunden betragen haben und zog sich, den Bodenverhältnissen folgend, durch die Ebene, Abhänge hinauf, über die Plateaus und wieder die Abhänge hinunter, bis sie die innere ganz umschlossen hatte.

Die Tage verflossen: schon hatte man in der Festung kein Getreide mehr, schon hatten die eigenen Landsleute die unglücklichen Stadtbewohner austreiben müssen, die dann zwischen den beiderseitigen Verschanzungen, von den Ihrigen wie von den Römern unbarmherzig zurückgewiesen, elend umkamen. Welche Bilder unsäglichen Jammers müssen diese Felsabhänge damals geschaut haben! Ein hochstehender Gallier wies die Belagerten sogar auf die, wie Cäsar sagt, „frevelhafle Unmenschlichkeit“ hin; wenn alle Nahrungsmittel aufgezehrt seien, sich vom Fleische der kriegsuntüchtigen Greise zu nähren! Doch so weit sollte es nicht kommen.

In der letzten Stunde zeigten sich auf den Höhen hinter Cäsar’s Linien die unabsehbaren Züge des Entsatzheeres, angeblich 250,000 Mann zu Fuß und 8000 Reiter, unter dem Oberbefehl


Vom zweiten deutschen Bergmannstag: Im Plauenschen Grunde.
Originalzeichnung von Paul Heydel.

[669] von Commius, Viridomarus, Eporedirix, Vercassivellaunus, Häuptern verschiedener Stämme. Cäsar’s Heer, sehr hoch auf 50,000 Mann geschätzt, hatte also, mit Front nach zwei Seiten, gegen eine siebenfache Uebermacht zu kämpfen! Fußvolk erfüllte die Höhen dort im Westen, wo jetzt im Sonnenglanze die friedlichen Fluren und Dörfer von Mussy und Venarey sichtbar sind. Vom Canal bis zu den Cevennen hatten die Völker jeden Nerv angestrengt, um den Kern ihrer Patrioten, den Feldherrn ihrer Wahl zu retten. Nur die Männer eines Stammes, einsichtslos und eigensinnig, hatten geantwortet, daß sie wohl gegen die Römer, aber nicht außerhalb der eigenen Grenzen zu fechten gesonnen seien.

Denkmal des Vercingetorix.
Nach einer Photographie.

Plan der Belagerung von Alesia durch Cäsar..
Die dicken Linien bedeuten die beiden Umwallungslinine Cäsar’s gegen Alesia und die Entsatzarmee. – I bis VIII die acht Lager. – o o die 23 Redouten. – I a auf dem Westvorsprung des Mont Auxois ist die Statue des Vercingetorix.

Auf dieser Westseite fand jedenfalls der erste Sturm statt, den die Belagerten von Alesia aus und die Entsatztruppen draußen auf die römische Doppellinie unternahmen. Er dauerte unter Anspannung aller beiderseitiger Kräfte, da auf der leicht übersehbaren Wahlstatt weder Tapferkeit noch Feigheit unbemerkt blieb, von Mittag bis Sonnenuntergang, bis endlich Cäsar’s germanische Reiter die gallischen Reiter und Bogenschützen und die Legionen das übrige Fußvolk in die Stadt zurückwarfen. Aber als nach eintägiger Rast um Mitternacht der Angriff wiederholt ward, gelang es in der Dunkelheit an einer Stelle, wo die Umwallungslinie über den Abhang eines Berges – im Nordosten, bei Bussy – hinlief und von dessen Höhe herab angegriffen werden konnte, die Gräben zuzuschütten und die Vertheidiger vom Wall herunterzuwerfen. Der Augenblick war kritisch. Da nahm Labienus, Cäsar’s fähigster Unterfeldherr und rechte Hand, die nächsten Cohorten zusammen und warf sich, mit unwiderstehlicher Wucht ausfallend, auf den Feind. Unter den Augen des von den Seinen für unbesiegbar gehaltenen Imperators, der selbst, an seinem rothen Kriegskleid weithin erkennbar, in dem gefährlichsten Momente erschien, wurden in verzweifelten Nahgefecht die Stürmenden zurückgejagt; die mit Cäsar eingetroffenen Reiterschaaren und Cohorten faßten die Flüchtenden im Rücken und vollendeten ihre Niederlage. So hatten Kriegskunst und kalte Entschlossenheit über Tapferkeit und edle Begeisterung, die aber der Ordnung ermangelten, gesiegt. Es war aber mehr als ein großer Sieg; über Alesia, ja über die gallische Nation war damit unwiderruflich entschieden. Das Entsatzheer, völlig entmuthigt, verlief sich unmittelbar vom Schlachtfeld nach Hause. Vercingetorix hätte vielleicht noch jetzt fliehen, wenigstens durch das letzte Mittel des freien Mannes sich erretten können; er that es nicht, sondern erklärte im Kriegsrath, daß, da es ihm nicht gelungen sei die Fremdherrschaft zu brechen, er bereit sei, sich als Opfer hinzugeben, um so weit als möglich das Verderben von der Nation auf sein Haupt abzulenken. So geschah es. Die Gallier lieferten ihren von dem ganzen Volke feierlich erwählten Feldherrn dem Landesfeind zu geeigneter Bestrafung aus. Hoch zu Roß und in vollem Wäffenschmuck erschien der König der Arverner vor dem römischen Proconsul und umritt dessen Tribunal; darauf gab er Roß und Waffen ab und ließ sich schweigend auf den Stufen zu Cäsar’s Füßen nieder. Fünf Jahre später, als Cäsar nach der Entscheidungsschlacht von Pharsalus einen glänzenden Triumph feierte, wurde der Held von Alesia hinter dem Imperator-Triumphator durch die Gassen der italischen Hauptstadt geführt und dann als Hochverräther an der römischen Nation, während sein Ueberwinder den Göttern seinen feierlichen Dank auf der Höhe des Capitols darbrachte, an dessen Fuß enthauptet. Gegen besiegte Feinde haben die Römer immer brutal gehandelt, wenn nicht die Staatsraison es anders gebot.

Mommsen schließt seine Darstellung dieses Kampfes: „Wie nach trübe verlaufenem Tage wohl die Sonne im Sinken durchbricht, so verleiht das Geschick noch untergehenden Völkern wohl einen letzten großartigen Mann. Also steht am Ausgang der gallischen Geschichte Vercingetorix. Er vermochte nicht sein Volk von der Fremdherrschaft zu erretten, aber er hat ihm die letzte noch übrige Schande, einen ruhmlosen Untergang, erspart. Er hat nicht blos gegen den Landesfeind kämpfen müssen, sondern vor Allem gegen die antinationale Opposition verletzter Egoisten; ihm sichern seinen Platz in der Geschichte nicht seine Schlachten und Belagerungen, sondern daß er es vermocht hat, einer zerfahrenen und in Particularismus verkommenen Nation in seiner Person einen Mittel- und Haltpunkt zu geben, wenn auch seine gewaltigen Thaten und seine hochherzige Aufopferung nur ein kurzer Sommer einschließt. Das ganze Alterthum kennt keinen ritterlicheren Mann, in seinem innersten Wesen wie in seiner äußeren Erscheinung. Aber der Mensch soll kein Ritter sein und am wenigsten der Staatsmann. Es war der Ritter, nicht der Held, der es verschmähte sich aus Alesia zu retten, während doch an ihm allein der Nation mehr gelegen war als an hunderttausend gewöhnlichen tapferen Männern. Es war der Ritter, nicht der Held, der sich da zum Opfer hingab, wo durch dieses Opfer nichts weiter erreicht ward, als daß die Nation sich öffentlich entehrte und ebenso feig wie widersinnig mit ihrem letzten Athemzug ihren weltgeschichtlichen Todeskampf ein Verbrechen gegen ihren Zwingherrn nannte. Es ist nicht möglich ohne geschichtliche und menschliche Theilnahme von dem edlen Arvernerkönig zu scheiden; aber es gehört zur Signatur der gallischen Nation, daß ihr größter Mann doch [670] nur ein Ritter war.“ – Für sie war sein Verlust unersetzlich; mit ihm war Einheit in die Stämme gekommen, mit ihm entwich die Einheit. Die Gesammtvertheidigung wurde nicht fortgesetzt, mit den Einzelnen wurde Cäsar leicht fertig, Finis Galliae!

Es war eine Schuld der französischen Nation, die Napoleon III. einlöste (ihm verdankt überhaupt Frankreichs Geschichtsforschung vieles), daß er nach den Ausgrabungm Vercingetorix das schöne Denkmal setzen ließ. Wie das unseres glücklicheren deutschen Römerbekämpfers Hermann ist dieses Kunstwerk Meillet’s auch aus Kupfer getrieben. Napoleon ließ darunter schreiben: La Gaule unie formant une seule nation animée d’un même esprit peut défier l’univers. Vercingétorix aux Galois assemblés. Caes. de bell. Gall. l. VII. c. XXIX. Napoléon III. empereur des Francais à la mémoire de Vercingétorix[1] – Worte, die Cäsar an obiger Stelle als von dem großen Arverner beim Aufruf zum Kampfe gegen den Landesfeind zu seinen Landsleuten gesprochen überliefert hat.

So gleich ist sich das Volk in seiner Sprechweise geblieben; dieselben Zeilen könnten in Aufrufen Carnot’s, des ersten und dritten Napoleon, Gambetta’s, Victor Hugo’s stehen. Die Statue ist zugleich ein Denkmal Napoleon’s: zur Zeit seiner größten Macht, als er befahl, daß sie entstehe, dachte er wohl kaum daran, daß er, geschmäht von dem Volke, das damals sein vive l’empereur erschallen ließ, auf fremder Erde sterben würde, daß das Nachbarvolk, das er schwach zu erhalten bestrebt war, erstarken und, selbst durch Blut und Eisen geeinigt, „das vereinigte Gallien“, das es leichtfertig herausgefordert, niederwerfen würde, alle wie ein Mann, selbst die jüngsten mit. Ein solcher jüngster, ein Schulcamerad von mir, der zum Neid der andern, die das Unglück hatten für „zu jung und schwach vermeint“ zu werden, die Bänke der Unterprima hinter sich lassen durfte, um in den heiligen Krieg zu ziehen, war als Patrouillenführer in einer Winternacht an diese elastische Stätte verschlagen worden. Als er vom Thale aus die Riesengestalt bemerkte, die sich von den breiten Linien des Horizonts am Nachthimmel abzeichnete, fragte er den beholzschuhten Bauer, der in sanftem Zwang die Prussiens durch das schneebedeckte Land führte, was das sei.

„Ah, monsieur, voilà le Vercingétorix“ war die Antwort, mit welcher die Tertianerschulstube sich dem jungen Vaterlandsvertheidiger wieder in mächtiger Erinnerung aufdrängte, zu ungewöhnlicher Stunde, an noch ungewöhnlicherem Orte.

Ich hatte mich längere Zeit hindurch so ganz in die Vergangenheit zurückversetzt, daß herankommende Schritte mich unangenehm aus meinen Phantasien, erfüllt von „Schild- und Schwerterschall, Kampfgeschrei und Toben“ hochgewachsener Gallier und behender Legionäre, aufschreckten. Ich erhob mich; die sich näherten, waren zwei geistliche Herren, ein älterer und ein jüngerer. Sie waren sichtlich erstaunt mich mit Karte und Buch hier zu treffen; um ihnen das Erstaunen zu benehmen, fragte ich nach dem, was mir von der Oertlichkeit noch unklar geblieben. Auf’s Bereitwilligste gab man mir Auskunft; besonders der ältere, wie sich später bei gegenseitiger Vorstellung herausstellte, Mr. l’Abbé L., Chanoine von Dijon, der früher Pfarrer in der Nähe von Alise war, hatte sich selbst auf’s Eingehendste mit der Localität beschäftigt und war eine Autorität bei den Ausgrabungen gewesen. Er gab mir schließlich die Adresse eines Mr. Perney, der das Museum unter sich habe. Wir trennten uns; nach einem Abschiedsblicke auf Vercingetorix stieg ich abwärts und bog nach Süden um das Plateau, um in das Dorf zu kommen. Dieses liegt, theilweise förmlich angeklebt an die steilabfallenden Felswände, an dem Südwestabhange des Mont Auxois und scheint wohlhabend zu sein. Mr. Perney war leider nicht zu Hause; an seiner Stelle zeigte mir ein weiblicher dienstbarer Geist das „Musée“. Diese stolze Aufschrift trägt ein kleines Gartenhaus, welches in einigen Glaskästen Reste von Waffen, Münzen, Gefäßen, menschlichen Gebeinen enthält; den Löwenantheil der Ausgrabungen hatte seiner Zeit die Sammlung in St. Germain erhalten.

Nachdem ich eine Erfrischung eingenommen, und zwar auch wieder Bier (aus Dijon) in dem Weinlande, stieg ich die andere breite Straße des Ortes hinan. In einem kleinen Kramladen bei einer alten Frau fand ich unter Heiligenbildern (ich glaube, in Alise existirt ein wunderthätiges) die Photographie der Statue des stolzen Galliers, deren Holzschnittwiedergabe diesen Artikel ziert. Beim Heraustreten hatte ich die Freude wieder, diesmal allein, Mr. le Chanoine zu begegnen; der liebenswürdige Greis ließ es sich nicht nehmen, mich zu führen. Er ging mit mir nach Osten längs des Südabhangs, wo die Felsen des Plateaus am steilsten sind und wo die Gallier sicher keine Mauern brauchten. Er zeigte mir da ein wohlconservirtes gallisches Grab und knüpfte im Laufe der Unterhaltung längere Reflexionen an die Katastrophe von Alesia, indem er meinte, daß jetzt, „zwischen christlich-katholischen Völkern“ wohl nicht mehr die unnützen Esser einer belagerten Stadt zum Hungertode zwischen zwei feindlichen Wällen verdammt würden, und daß man tapfere Feinde jetzt nicht mehr hinrichte, wie er an Abd-el-Kader bewies. Auf dem Rückwege erzählte er mir, er weile zur Cur in dem Spitale des Dorfes; hier sei eine Heilquelle gefaßt, deren Kraft das Volk besonders rühme, weil das Wasser durch die Asche verbrannter Städte fließe. Er bedauerte sehr, mir andern Tages die Reste der Umwallungslinien im Thale und auf den umliegenden Höhen nicht zeigen zu können, nachdem ich ihm gesagt, daß meine Zeit beschränkt sei. Ich dankte ihm für seine Freundlichkeit und schied mit den herzlichsten Worten, die mir mein Französisch eingab: „Ich bin glücklich, daß ich einen Franzosen gefunden habe, welcher einen Deutschen nicht als ein Ungeheuer ansieht,“ was mir ja mehrfach begegnet war.

Mit raschen Schritten eilte ich, da es dunkel wurde, les Laumes zu. Hier saß die Gesellschaft von Mittags gerade wieder beim Diner. Frech geworden durch meine sprachlichen Erfolge des Nachmittags, nahm ich lebhaften Theil an der Unterhaltung, suchte den Herren die Meinung beizubringen, daß es doch das Beste sei, wenn Franzosen und Deutsche jetzt, nachdem Jeder habe, was ihm gebühre, sich in Frieden ließen, und daß ich besonders kein Spion, sondern nur aufgestiegen sei, um ihren großen Vorfahren Vercingetorix zu besuchen. Einen kleinen Erfolg glaube ich in der Sache davongetragen zu haben, weniger in der Sprache, denn die kleine Burgunderin, die uns bediente, kam fast nicht aus dem Lachen heraus.

Bis zum Eilzug um Mitternacht hatte ich noch einige Stunden Zeit, um zu ruhen und die Eindrücke des Tages zu verarbeiten. Der Zug kam mit einer halben Stunde Verspätung an; als er nach Dijon weiter sauste, an dem mondscheinbeglänzten Vercingetorix vorbei, war es mir, als nicke der letzte Ritter der Gallier von der Höhe mir seinen Abschiedsgruß zu. Sicher kann er sein, daß ich von der Stätte, die er geheiligt, die schönsten Erinnerungen mit in die Heimath nahm.




Dann geh’ zu ihr …

Das Beste ist, auf Dich allein zu bauen,
Doch wo nicht klar genug die Augen schauen,
Und Dich verläßt das muthige Vertrauen,
Aus eig’ner Kraft den Knoten zu durchhauen –
Den Rath der Männer suche ohne Grauen.

Wenn aber Zweifel Dir am Herzen nagen,
Dann geh’ zu ihr mit Deinem bangen Zagen,
Die unter ihrem Herzen Dich getragen,
Und frage Dich, kannst Du sie selbst nicht fragen:
Was würde wohl die Mutter dazu sagen?

Albert Traeger.



[671]

Die Sage vom Doctor Faust.

Von Fr. Helbig.
I.
Faust und der deutsche Volksgeist. – Die Faust-Prometheus. – Urkundliche Existenz des Doctor Faust. – Glauben und Wissen. – Die Magie. – Die Faust-Idee. – Das Faust-Buch von Spieß. – Marlow. – Englische Komödianten. – Das Puppen- und Volksspiel. – Faust wird „gerettet“. – Lessing. – Das Münchener Faust-Drama.

Der Genius des deutschen Volks darf es sich zu hohem Ruhme anrechnen, daß er die tiefsinnigste aller Sagen, die Sage von Dr. Faust, zur Existenz und zugleich zur höchsten künstlerischen Entwickelung gebracht hat. Im Schooße der romanischen Völker konnte nur ein Don Juan, kein Faust entstehen. Und als dieser romanische Don Juan doch über die deutsche Grenze hinüberging, schlüpfte er ganz unversehens in das Gewand des weiland „Doctors und Magisters“, das heißt er erhielt ein höheres geistiges Relief. Auch der polnische Faust kommt nicht über den alten Don Juan hinaus. Die Faust-Sage ist aber auch mit dem deutschen Volksgeiste auf’s Innigste verwandt. Es steckt in ihr ein gut Stück davon, wenn nicht das Ganze.

Die Idee der Faust-Sage finden wir schon im hellenischen Alterthum, ein Umstand, der eben nur die nahe Verwandtschaft des griechischen mit dem deutschen Geiste documentirt. In dem praktischen Realismus der Römerwelt freilich konnte keine Faust-Sage erstehen. Eine gewisse Faust-Idee lag den Eleusinischen (Dionysos-)Festen zu Grunde, welche den Kampf des Geistigen mit dem Fleische, des Irdischen mit dem Göttlichen symbolisieren. Noch greifbarer trat sie zu Tage in der Sage von Prometheus und Dädalus-Icarus. Auch Dädalus und Icarus strebten, dem Faust vergleichbar, über die Erde hinaus der Sonne zu und büßten die vermessene Ueberhebung mit der Erkenntniß menschlicher Ohnmacht. Auch Faust-Prometheus wollte den Menschen das Licht, die Erkenntniß, bringen, aber die eifersüchtigen Götter warfen den verwegenen Himmelsstürmer zurück auf die Erde und straften ihn mit ewig nagender Pein, wie seinen späteren deutschen Nachfolger mit den Qualen der Hölle. Die Entwicklung der deutschen Faust-Sage ist indeß eine ganz selbstständige, wenn auch einzelne altgriechische Motive, wie z. B. die Entführung der Helena, hinein verwebt sind.

Die erste Frage, welche uns zu beschäftigen hat, würde zunächst wohl die sein: Hat ein Doctor Faust überhaupt gelebt? Durch zeitgenössische Zeugnisse wird diese Frage auf das Bestimmteste bejaht. Schon das älteste literarische Document der Faust-Sage, das im Jahre 1587 gedruckte Faust-Buch des Buchdruckers Spieß, deutet in der einleitenden Widmung darauf hin. „Es sei,“ heißt es dort, „seit vielen Jahren schon eine gemeine und große Sage in Teutschland Doctor Johannis Fausti, des weitbeschreiten Zauberers und Schwarzkünstlers, gewesen und allenthalben eine große Nachfrage bei Gastungen und Gesellschaften nach des gedachten Fausti History gewesen.“ Der Verfasser schickt dann auch eine genaue Lebensbeschreibung Faust’s voraus, läßt ihn in Roda bei Weimar geboren sein, schildert ihn als einen „geschwinden Kopf“, der zu allerlei Muthwillen aufgelegt gewesen sei und für die Theologie, zu der ihn seine Eltern bestimmt hatten, keine rechte Zuneigung empfunden, es gleichwohl aber durch seine geistige Findigkeit und Geschicklichkeit schon im sechszehnten Jahre zum Magister und Doctor der Theologie gebracht habe. „In dieser wissenschaftlichen Unbefriedigtheit,“ heißt es in dem Buche weiter, „wandte er sich nach Krakau, einer Hochschule der Zauberei, und studirte Tag und Nacht die nekromantischen und andere Bücher, wollte sich nachher keinen Theologen mehr nennen lassen, ward vielmehr ein Weltmensch, zugleich auch ein Arzt, der vielen Leuten half, ein Astronom und Mathematiker.“

Aber auch schon vor dem Erscheinen des Spieß’schen Faust-Buchs wird der Person des Faust mehrfach urkundlich Erwähnung gethan. So in einem Briefe des Abts von Sponheim Trithemius vom 20. August 1507. Dort erscheint er unter dem Namen Georg Sabellicus, und in der That scheint dies sein rechter Name, und der Name Faustus - der Glückliche - nur ein Beiname gewesen zu sein. Trithemius nennt ihn „einen Landstreicher, Schwätzer und Betrüger, der sich eher einen Narren als einen Meister nennen sollte“; Beghardi in seinem „Zeyger der Gesundeheit“ (1525) einen tapferen Mann, der fast durch alle „Landschaften, Fürstenthümer und Königreiche“ gezogen und die Kunst der Nekromantie, Physiognomie und der Visionen der Krystalle gezeigt habe.

Ebenso gedenkt Johann Gast, ein protestantischer Theologe, in seinen 1554 erschienenen Tischreden seiner, und Johann Manlius erwähnt in seiner Sammlung von Gemeinplätzen aus den Reden Melanchthon’s und anderer berühmter Leute (1566) der persönlichen Bekanntschaft Melanchthon’s mit Faust. Melanchthon erzählt dort von ihm, Faust sei aus Kundlingen in Schwaben, nahe von Melanchthon’s Geburtsort Bretten, gebürtig gewesen, habe in Krakau die Magie erlernt und sei sich geheimer Künste rühmend an vielen Orten umhergezogen, auch mehrfach der Gefangennahme durch Häscher entwischt. Selbst in Luther’s Tischreden wird eines Schwarzkünstlers Faustus gedacht, an den Luther seine Ansichten über den Teufel anknüpft.

Conrad Geßner schreibt in einer Epistel vom 16. August 1560 an den kaiserlichen Leibarzt Kreto von Krafftsheim von einem Faust, der vor nicht langer Zeit gestorben sei und einen außerordentlichen Ruf gehabt habe. Ein gleiches Zeugniß finden wir bei Johann Wier 1565 in dessen Werke über die „Spuren der Dämonen“. Auch der Jurist Camerarius will 1602 ältere Leute gesprochen haben, welche den Johann Faust von Kundlingen noch gekannt und viel von ihm gehört hatten, während der Theolog [ADB:Bullinger, Heinrich|[Heinrich Bullinger]] 1575 ihn unter seine Zeitgenossen zählt und Leonhard Thurtneißer in seinem Zaubertheater ihn den Zauberern beigesellt. Auch Franz von Sickingen hat aus seiner Burg eine zeitlang die Gesellschaft des Faustus Sabellicus jun. genossen.

Daß Faust längere Zeit an der Universität Erfurt gelehrt und dort sein Wesen getrieben haben soll, scheint eine Angabe von Mutianus Rufus[WS 1] zu bestätigen, indem derselbe 1513 in einem Briefe an einen Freund schreibt: „Es kam vor acht Tagen quidam Chiromanticus (ein gewisser Schwarzkünstler) nach Erfurt Namens Georg Faust, ein Prahler und Schwätzer.“

Aus dem Allen scheint hervorzugehen, daß Faust eine Art verdorbener Gelehrter war, der in der Weise der fahrenden Schüler ohne feste amtliche Stellung zum Aergerniß der Gelehrtenzunft, von der er abgefallen war, abenteuernd im Lande umherzog und das Volk durch allerlei Kunststücke und Eulenspiegeleien haranguirte. Wahrscheinlich hat es auch mehrere solche Fauste gegeben, da wir einem Faustus jun. begegnen.

Zur Feststellung des erst volksthümlich und zuletzt literarisch berühmt gewordenen Faust sind dann eine Anzahl von Zügen und Handlungen anderer theils sagenhafter, theils zu einer historischen Merkwürdigkeit gelangter Personen, wie z. B. des Zauberers Virgilius, des Theophrastus Paracelsus, verwendet und mit dieser Person dann die Faust-Idee selbst in Verbindung gebracht worden.

Diese Idee war aber ein Product ihrer Zeit, sie lag gleichsam

[672]

Valentin’s Tod.
Aus der Faust-Aufführung im Leipziger Stadttheater, 1. Tagewerk 4. Act 10. Scene.
Originalzeichnung von E. Limmer.

[673]

Faust läßt vor dem kaiserlichen Hofe Helena und Paris erscheinen.
Aus der Faust-Aufführung im Leipziger Stadttheater, 2. Tagewerk 1. Act 8. Scene.
Originalzeichnung von E. Limmer.

[674] in der Luft. Sie spricht sich bereits im Eingange des Spieß’schen Faust-Buchs aus, wenn es dort heißt: „Faust nahm sich Adlersflügel, wollte alle Gründe im Himmel und auf Erden ausforschen, denn sein Fürwitz, Freiheit und Leichtfertigkeit stachen ihn und reizten ihn nur, daß er deshalb den Teufel vor sich gefordert.“ Es war der in jene Zeit hineingeworfene Zwiespalt zwischen Glauben und Wissen, ein Zwiespalt, welcher der kindlicheren Lebensanschauung des Mittelalters nach fremd war. Für das Ansehen der Kirche drohte diese Erneuerung des philosophischen Denkens, dieses Streben nach Erkenntniß, das besonders durch die neu ausgegrabene Literatur der alten Welt gefördert worden war, sehr verhängnißvoll zu werden. Sie war daher rasch mit ihrem Fluche bei der Hand und erklärte alles Streben und Forschen nach Dingen, die außerhalb der gemeinen Erkenntniß lagen und den Glaubenssätzen der Kirche widersprachen, für einen Abfall von Gott und folgerecht für eine Verbindung mit dem Widerpart Gottes, dem Satan. Für einen solchen Abfälligen verschloß sich auf immer das Thor ihrer Gnade, der Eingang zum Himmel. Für einen Don Juan hatte sie, wenn er sich zu Reue und Buße bekehrte, noch Gnade, für einen Faust – niemals.

Zu dem kam noch ein anderer Umstand. Neben dem kirchlichen Glauben hatte sich im Schooße des Volkes noch eine Art Afterglaube, der Aberglaube, entwickelt. Derselbe hatte seinen Ausgang im altgermanischen Heidenthum. Die Kirche hatte zwar einen Theil dieses altheidnischen Cultus in christliche Formen zu bringen verstanden. Es blieb aber noch Mancherlei übrig, das im Schooße des Volkes sein heimlich genährtes Dasein fristete. Das Volk glaubte noch an geheimnißvolle Naturkräfte, welche durch Dämonen vertreten und in Bewegung gesetzt würden. Durch die Kenntniß dieser Naturkräfte konnte man übernatürliche Wirkungen hervorbringen und sich in den Besitz von Dingen und Genüssen versetzen, die auf den gewöhnlichen Wegen unerreichbar blieben. Dazu mußte man freilich die Gunst jener Dämonen erringen. Diese Dämonen aber standen außerhalb des Christenthums. Wer sich mit ihnen verband, fiel von dem Christenthum ab und folgerecht der Hölle anheim.

Weiter hatte sich schon unter den alten Aegyptern, Chaldäern und Griechen eine geheim gehaltene Wissenschaft entwickelt, welche den Wissenden die Kenntniß übernatürlicher Dinge und die Macht übernatürliche Wirkungen hervorzubringen, das ist zu zaubern, in gleicher Weise vermittelte. Diese von den Arabern dann noch besonders ausgebildete Wissenschaft führte den Namen der Magie – im Grunde war dieselbe nichts weiter als ein Spiel mit leeren Formeln – und war inzwischen vom Morgenlande nach dem Abendlande gekommen. Sie wurde von der wissensdurstigen Zeit begierig aufgegriffen. Auch diese Magie wurde von der christlichen Kirche, von der sie theilweis ihre Formen borgte, verurtheilt und ihre Anhänger wurden geächtet.

Endlich hatte die Wiedererweckung der Antike in jener Zeit der Renaissance auch das heitere Sinnesleben des Alterthums mit geweckt. Die Kirche aber war dem weltlichen Treiben abhold, sie verlangte Entsagung und Abkehr von den Freuden dieser Welt. Wer den letzteren zu stark sich hingab, machte sich des Bündnisses mit den Mächten der Hölle in gleicher Weise verdächtig; daher wurde auch Don Juan in den alten spanischen Sagen eines solchen Bundes geziehen.

Aus diesen Widersprüchen und Anschauungen heraus erwuchs nun die Faust-Sage, in der sich dieselben gleichsam verdichteten. Gehen wir nun zu den einzelnen dichterischen Bearbeitungen derselben über.

Das Faust-Buch von Spieß erzählt uns, wie Faust in einem Walde bei Wittenberg die Beschwörung der höllischen Mächte vorgenommen. Die Hölle folgt dem an sie ergangenen Rufe und sendet ihren Abgesandten Mephistopheles; die einzelnen Punkte der vorläufigen Uebereinkunft werden verabredet. Faust verlangt, daß der Geist ihm unterthänig sei und Alles thue, was er begehre; dieser wieder, daß Faust den christlichen Glauben verleugne. Nach vierundzwanzig Jahren will der Teufel ihn holen, bis dahin soll er Alles haben, wonach sein Herz gelüste. Der Verfasser des Buchs theilt die Verschreibung sogar wörtlich mit.

Nachdem der Pact also abgeschlossen und mit Faust’s Blut besiegelt ist, regt sich sofort Faust’s dürstende Wißbegierde, und er stellt an den im Gewande eines Mönchs auftretenden Mephisto allerlei Fragen über das verborgene Wesen der Dinge. Mephistopheles läßt sich nur ungern in die gelehrten Disputationen ein und giebt allerlei ausweichende Antworten. Doch entwirft er eine Art Weltentstehungslehre, schildert den Himmel und mit besonderer Vorliebe die Hölle nach den Anschauungen damaliger Zeit. Als Faust daran nicht genug hat und immer gieriger nach Erkenntniß strebt, als er insbesondere darüber Auskunft verlangt, wie Gott die Welt erschaffen habe, da giebt ihm, wie es im Texte heißt, der Geist einen falschen und gottlosen Bericht. Unbefriedigt über die erlangte Weisheit, beginnt Faust nun die Wahrheit in der Welt selbst aufzusuchen, indem er dieselbe auf einem Drachenwagen an allen Orten und Enden durchstreift. Auf diesen Reisen wird der Gelehrte zum Zauberer und Hexenmeister, der den Papst und Sultan vexirt, dem Kaiser Karl V. die Gestalten der Antike wieder erscheinen läßt und vor dem gemeinen Volke bis zum Hokuspokus eines Taschenspielers herabsteigt. Bei diesem schalen Treiben faßt ihn mehrfach der Ueberdruß und die Reue, die Sehnsucht nach dem verscherzten Himmel, die ihm Mephistopheles durch den Genuß immer neuer Sinnesfreuden zu vertreiben weiß. Alle schönen Frauen des Erdballs führt er in seine Arme. Selbst Helena, das Schönheitsideal der alten Welt, erweckt er wieder zum Leben und verleiht ihm sogar den Scheingenuß ehelichen Glücks an ihrer Seite. Als die Frist abgelaufen ist, verfällt Faust in die kläglichste Verzweiflung. Den Ausbruch seiner Reue und Zerknirschung parodirt Mephisto mit wahrhaft teuflischem Spott. „Du solltest dem Teufel nicht so viel vertraut haben,“ lallt er ihm zu, „denn der Affe Gottes ist ein Lügner und Mörder. Hättest Du Gott vor Augen gehabt und Dich mit den Gaben, so er Dir verliehen, begnügen lassen, dürftest Du diesen Reihentanz nicht tanzen.“

Faust lädt in Folge dessen die Genossen seiner Freunde in der letzten Nacht zu einem Nachtmahle und hält ihnen eine bußfertige Predigt, indem er sie ermahnt, immer Gott vor Augen zu haben und ihn zu bitten, daß er sie vor des Teufels Arglist behüte. Um Mitternacht tobt gräßlicher Lärm um’s Haus und am Morgen findet man von dessen Herrn nichts weiter als sein verspritztes Gehirn. Eine ermahnende, christliche Moral schließt das Buch.

Nach dem Erscheinen des Spieß’schen Faust-Buches bemächtigt sich auch bereits die gestaltende Poesie des anziehenden Stoffes. Schon im Jahre 1594 brachte der englische Dichter Marlow, ein Vorläufer Shakespeare’s, ihn in die dramatische Form. Das im Jahre 1604 zuerst gedruckte Drama schließt sich eng an das Spieß’sche Faust-Buch an, das der Dichter gekannt haben muß. Das Stück beginnt im Studirzimmer Faust’s mit einem Monologe von demselben Gedankeninhalte, wenn auch nicht von derselben Gedankentiefe wie bei Goethe. Faust hat alle Wissenschaften durchstudirt; keine gewährt ihm Befriedigung. Er wirft sie zur Seite und eilt in die Arme der Magie. Durch sie will er zur Gottheit empor. Nun folgen im Stücke die gleichen wißbegierigen Fragen nach den höchsten Dingen, das Durchstreifen der Welt, die Zaubereien und Phantasmagorien, das Begehren nach dem Weiblichen wie bei Spieß. Himmel und Hölle werden als guter und böser Engel personificirt in Scene geführt. Beide streiten sich um Faust. Jener sucht ihn der Tugend, diese dem Laster in die Arme zu führen. Zu dem guten Engel gesellt sich noch Faust’s Vater, der den Sohn flehend bittet, vom Bösen zu lassen. Faust ringt wiederholt mit Reue und Umkehr, aber Mephisto gewinnt immer wieder den Sieg.

Englische Schauspieler, welche namentlich in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges in Truppen Deutschland durchzogen, brachten Marlow’s Drama zu uns, und aus ihm bildete sich dann unter Benutzung der einheimischen Traditionen das deutsche Volksschauspiel vom Doctor Faust, das bald auf dem Marionettentheater, bald auf der lebenden Bühne erschien. Diese deutschen Schau- und Puppenspiele, deren Wilhelm Creiznach in seiner Schrift „Versuch einer Geschichte des Volksschauspiels von Dr. Faust“ (1878) nicht weniger als acht aufführt, sind in der Hauptsache sich gleich und nur im Einzelnen von einander verschieden. Eigenthümlich ist allen das der Handlung vorausgehende Vorspiel in der Hölle. Hier beschwert sich Charon bei Pluto gegen die Furien, weil sie ihm keine Seelen mehr brächten. Pluto läßt die Furien kommen und ermahnt sie, die Menschen besser zu bearbeiten, sie zu lehren, Böses zu thun, und beauftragt insonderheit den Mephisto, den Dr. Faust in Wittenberg für die Hölle zu erobern, Faust, der seiner Gesinnung nach schon der Ihre sei.

[675] Hier erscheint Faust schon in etwas idealerer Fassung. Noch aber steht der eigentliche Teufelspact im Mittelpunkte der Handlung; noch ist der Fluch der Kirche nicht von ihm genommen. Erst in der Mitte des vorigen Jahrhunderts, als eine neue geistige Strömung in die Zeit hineindrang und die gefesselten Geister entfesselte, nahm die Faust-Sage eine mächtige Wendung. Faust wurde nicht mehr gerichtet, er wurde gerettet. Und der zuerst diese rettende That vollzog, war kein Geringerer als Lessing. Lessing hatte im Jahre 1753 in der Schuch’schen Bretterbude auf dem Gensd’armenmarkte in Berlin das alte Volksschauspiel vorstellen sehen und sich dadurch zur dramatischen Bearbeitung des Stoffes angeregt gefühlt. Gleich wie Goethe, hat er den Stoff sein ganzes Leben lang mit sich herumgetragen. In der ersten Bearbeitung schloß er sich noch an die alte Faust-Fabel an, in einer zweiten brachte er die Sage dem menschlichen und zeitlichen Empfinden näher. Von dem erstern dieser beiden Lessing’schen Fauste sind uns nur einzelne Bruchstücke überliefert worden; das Manuscript des zweiten ging Lessing nach seiner eigenen Angabe auf einer im Jahre 1775 unternommenen italienischen Reise spurlos verloren. Neuerdings hat man zwar gemeint in einem in demselben Jahre zu München ohne Angabe des Verfassers gedruckten Faust-Drama den verlorenen Lessing’schen Faust wiedergefunden zu haben, es ist jedoch diese von Engel aufgestellte Annahme besonders von Kuno Fischer bestimmt widerlegt worden. Nur die Idee des Stücks und der ungefähre Gang der Handlung lassen sich aus den zerstreuten Andeutungen Lessing’s und seiner Freunde erkennen. In einer Rathsversammlung des Teufels, in welcher die einzelnen Sendboten der Hölle über den Erfolg ihrer Absendung nach der Erde ihrem Obersten Beelzebub Bericht erstatten, meldet einer dieser Unterteufel, er habe auf Erden einen Menschen gefunden, dem durchaus nicht beizukommen sei. Er habe keine Leidenschaft, keine Schwachheit, nur einen Trieb und eine Neigung: einen unauslöschlichen Durst nach Wissenschaften und Kenntnissen.

„Ha,“ ruft Beelzebub aus, „dann ist er auf immer mein, sicherer mein, als bei jeder andern Leidenschaft.“

Nun erhält Mephisto den Auftrag, diesen Faust der Hölle zu gewinnen; eine Stimme vom Himmel aber ruft: „Ihr sollt nicht siegen!“

Die Geister der Hölle wähnen nun zuletzt doch, gesiegt zu haben, und stimmen bereits einen Triumphgesang an.

„Triumphirt nicht,“ ruft ihnen die Schaar der Himmlischen zu, „Ihr habt nicht über die Menschheit und Wissenschaft gesiegt. Die Gottheit hat dem Menschen nicht den edelsten der Triebe gegeben, um ihn ewig unglücklich zu machen. Was Ihr sahet und zu besitzen glaubet, war nur ein Phantom.“

Ein Engel hatte vorher den echten Faust in einen tiefen Schlummer versenkt und an seiner Statt ein Schemen geschaffen, mit dem die Teufel ihr betrogenes Spiel trieben.

Damit ist Faust mit einem Male dem Banne der alten kirchlichen Tradition entrückt und das spätere Goethe’sche: „Wer immer strebend sich bemüht“, bereits vorbereitet. Der Höllenpact, früher die Hauptsache, ist jetzt ganz nebensächlich geworden; selbst dem Gebiete der Magie ist der Held bereits entzogen.

Auch in dem gedachten Lessing’schen Pseudo-Faust von einem unbekannten Verfasser geht der Himmel siegreich aus dem Kampfe hervor. Faust, der bereits am letzten Tage seiner Erdenfrist angelangt ist, erklärt dem Mephistopheles, daß er die ihm vom Teufel gegebene Macht nur dazu verwandt habe, Wohlthaten auszuüben, und Mephisto beweist ihm mit vernichtendem Hohne, daß er mit all diesen Wohlthaten nur Böses gestiftet habe.

Gleichwohl gewinnt auch in diesem Drama Faust den Himmel. „Die Wage der Gerechtigkeit,“ kündet zuletzt der Engel des Lichts, „ist zwar bei ihm zu leicht gefunden worden, aber die unendliche Barmherzigkeit hat seine Laster weit überwogen.“ Es ist der die Zeit bereits durchwogende Humanitätsgedanke, der hier siegreich triumphirt!




Blätter und Blüthen.

Faust als Mysterium auf der Bühne des Leipziger Stadttheaters. Im Anschluß an Fr. Helbig’s Aufsätze über die Faust-Sage bringen unsere Illustrationen Scenen aus der Leipziger der beiden Theile von Goethe’s „Faust“ als Mysterium, in der Einrichtung Otto Devrient’s.

Aus Devrient’s Annahme, daß Goethe in der Dichtung selbst die dreitheilige Bühne fordert, wofür die Worte des Directors im „Vorspiel auf dem Theater“:

„So schreitet in dem engen Bretterhaus
Den ganzen Kreis der Schöpfung aus
Und wandelt, mit bedächt’ger Schnelle,
Vom Himmel durch die Welt zur Hölle“

in’s Treffen geführt werden, könnte man erwidern, daß der Dichter an eine Bühnenaufführung des „Faust“ zunächst wohl gar nicht gedacht hat und seine dichterische Phantasie durch keine Fessel beengte. Dies zugegeben, bleibt dennoch die Thatsache bestehen, daß der Faust-Stoff, wie ihn Goethe vorfand und in den Umrissen beibehielt, für die Mysterienbühne zurechtgeformt war und ohne gewaltsame Einengung der modernen Bühne nicht angepaßt werden konnte. Gleich im „Prolog im Himmel“ ist die Dreitheiligkeit der Bühne nach mittelalterlichem Muster eine gebotene Nothwendigkeit, um Himmel, Erd’ und Hölle gleichzeitig dem Auge vorzuführen. Aber die Fabel des Gedichtes fordert nicht nur die mittelalterliche Bühne, sondern auch die mittelalterliche Naivetät des Herzens, das fromme Gemüth treuherziger Zuschauer, um die Sage von verkaufter Seligkeit, Hexenspuk, Zauberwerk und betrogenem Teufel gläubig entgegen zu nehmen.

Die Mysterienbühne gliedert den Raum der Scene in drei Theile. Die ebene Vorderbühne umfaßt etwa ein Drittel der Scene, der mittlere Raum füllt das zweite Drittel derselben auf etwa drei Meter Höhe, das letzte Drittel beherrscht den Hintergrund, welcher bis zu doppelter Höhe der Mittelbühne ansteigt. Zu den Emporräumen führen verstellbare Treppen, welche es gestatten, der Scene die jeweilige Gestalt anzupassen. In den einfachen Scenen, in denen die Tiefe der Bühne nicht nothwendig ist, begnügt sich die Darstellung mit dem ebenen Vorderraum. So bleibt für die Scenen in Faust’s Studirzimmer, in der Hexenküche, in „Auerbach’s Keller“ etc., welche in Leipzig sämmtlich in geschlossener Decoration spielen, die Dreitheiligkeit der Bühne ganz außer Betracht. - Die Mysterienbühne bietet mithin den allergrößten Spielraum für scenische Effecte, ohne im Geringsten die Vortheile einfacher Scenierung aufzugeben.

Otto Devrient’s Faust-Einrichtung verwerthet nun die Dreitheiligkeit des Bühnenraumes zur Gewinnung decorativer Arrangements, durch welche die zusammengehörenden, aber örtlich aus einander liegenden Scenen einen gemeinsamen Schauplatz erhalten. Dies geschieht namentlich mit den Gretchen-Scenen, den Scenen in der kaiserlichen Pfalz und der classischen Walpurgis-Nacht. Daß die steigende Bühne den Scenen, die im Himmel spielen, besonders zu statten kommt, hat sich bald herausgestellt. – In diesen gliedert sich der Schauplatz in Hölle (Tiefe aus der Versenkung), Erde (ebene Vorbühne mit der Mittelbühne) und Himmel (Emporbühne). Auf der höchsten Höhe, in lichten Wolken, durch welche das Gottesauge strahlt, erscheinen die in Anbetung versunkenen Engel in mattfarbener Gewandung. Die Erde wird durch Felsengruppen dargestellt. In der Tiefe des Vordergrundes, in einer Felsenkluft, gähnt der teufelspeiende Höllenrachen, dem Mephisto entsteigt. Auf der felsigen Halbhöhe spielt die Scene mit dem Herrn.

Dieselbe Deoration bildet auch den Schluß des zweiten Theils. Diesmal ist der Himmel anfangs geschlossen: sieben Wolkenschleier, die sieben Himmel darstellend, öffnen sich erst nach und nach und zeigen die himmlischen Heerscharen, zuletzt aus höchstem Wolkenthrone die Mater gloriosa, im Strahlenglanze, eine Schaar schwebender kleiner Engel um sie gruppirt.

Unten treiben kurz vorher die Trabanten Mephisto’s ihren Teufelsspuk. Nachdem die schlotternden Lemuren Faust’s Grab ausgeworfen und dessen Körper der Erde zurückgegeben, beginnt der Kampf um seine Seele. Die Dick- und Dünnteufel wollen dieselbe haschen, werden aber durch den Anblick des Erzengels und der Rosen auf das Grab streuenden Büßerinnen, darunter Gretchen, bestrickt und geblendet, welchem Zauber auch Mephisto erliegt und als der dumme betrogene Teufel des Mittelalters zornsprüend durch den Höllenrachen den Rückzug in’s Reich der ewigen Finsterniß nimmt.

Die Scene, gehoben durch die weihevollen Engelchöre, steigert sich am Schlusse zu wahrhaft überwältigender Wirkung, ergreifend, zur Andacht zwingend – ein Beispiel, wie die Kunst der Religion dienen kann, wie sie in ihren erhabensten Werken Religion ist!

Unsere erste Illustration (S. 672) zeigt die Decoration, in welcher sich die gesammten Gretchen-Scenen abspielen. Auf der Höhe des Hintergrundes erhebt sich der Dom, vor welchem die erste Begegnung mit Faust stattfindet, im Mittelgrunde rechts Gretchen’s Haus, eine breite Straßentreppe, wie man sie in älteren Städten noch häufig findet, führt in eine tiefer gelegene Gasse, in welcher links sich das Haus der Frau Marthe Schwertlein mit Vorgarten befindet. In diesem Gärtchen spielen die Liebesscenen. Unter Gretchen’s Fenster befindet sich der Brunnen, an welchem Lieschen ihre Schmähungen ergießt, und am Fuße der Treppe die Mater dolorosa den Dolch im Herzen. Die Fenster Gretchen’s sind, nach mittelalterlichem Muster, zur Seite zu schieben und gewähren so einen vollen Einblick in das von süßem Dämmerschein durchwebte Heiligthum.

Dieses Arrangement ermöglicht es, die gesammten Scenen der Gretchen-Episode ohne Verwandlung, ja ohne Unterbrechung durchzuspielen, denn die zeitlichen Zwischenräume, welche die einzelnen Vorgänge trennen, werden durch die scenischen Hülfsmittel, durch Uebergang von Tag zur Nacht etc., wie durch die vermittelnde und verbindende Musik überdrückt. Die Vereinfachung des scenischen Apparates drängt die Dichtung zusammem, dieselbe wird nicht mehr durch unzählige Verwandlungen fortwährend unterbrochen und zerrissen, sondern giebt sich als ein geschlossenes Bild, welches uns durch keinerlei technische Vorrichtungen gestört oder beeinträchtigt wird. Dazu geben sich alle Arrangements leicht, ungesucht und wirkungsvoll. Die dargestellte Scene zeigt uns Valentin’s Tod. [676] Wie natürlich ergiebt sich das Herbeieilen Gretchen’s auf den ersten Hülferuf, der Zuruf Martha’s an Valentin aus ihrem Garten, das Arrangement der umstehenden Gruppen und der hieran sich sofort anschließende Gottesdienst im Dome, für welchen wir den Priester mit Ministranten bereits auf der vor der Kirche liegenden oberen Straße erblicken.

Von größtem Gewinne jedoch zeigt sich die Faust-Einrichtung als Mysterium und Devrient’s Bühnenbearbeitung im zweiten Theile des Gedichtes. In diesem giebt es jetzt nur volle Acte und eine zusammenhängende Folge der Scenen, welche es selbst den naivsten Laien ermöglicht, den rothen Faden des Inhalts durchweg festzuhalten. Zu einer Darlegung des Scenenganges ist hier nicht der Raum, es sei nur noch erwähnt, daß alle Scenen, die in der kaiserlichen Pfalz spielen, wie jene der classischen Walpurgisnacht zu je einem Arte zusammengefaßt und so, ein folgerecht gegliedertes Ganzes, in ihrer Gestaltung überall interessirend, in ihrem gedrängten Inhalt spannend und bühnenwirksam sind.

Unsere zweite Illustration (S. 673) zeigt uns den Schluß des ersten Actes. Auf des Kaisers Verlangen hat Faust als Geistermeisterstück Helena und Paris aus der Unterwelt heraufgezaubert und führt diese nun im Schauspiel vor. Der obere Banketsaal hat sich hinter dem geschlossenen Vorhange in einen antiken Palast verwandelt und bildet den Schauplatz des Spiels. Im Halbkreise sitzt unten der Hof, die Vorstellung glossirend. Mephisto steht links auf der Treppe oben. Faust ihm gegenüber. Es ist der Moment aufgefaßt, wo Faust hingerissen von Helena’s Erscheinung, beschließt, das Dunstbild durch die Kraft des Schlüssels, den er von den Müttern der Tiefe geholt, zum körperlichen Wesen zu gestalten.

Die Leipziger Bühne hatte sich die Faust-Aufführungen zu einer Ehrensache gemacht und stattete das Werk scenisch und decorativ völlig neu und auf das Glänzendste aus. Es fehlte nicht das große und kleine Himmelslicht, es wimmelten die Straßen in den Volksscenen von malerischen Gruppen, unter denen namentlich die Landsknechte durch historisch treue, effectvolle Costüme auffielen. Herr Director Max Staegemann bewies mit der Vorführung des größten deutschen Dichtwerkes, daß er seine Mission als Leiter der Leipziger Bühnen in echt künstlerischem Sinne erfaßt hat und durchzuführen gedenkt.

Dafür sprach auch die bis in die kleinsten Rollen vorzügliche Besetzung des Werkes, für welche das gesammte Opernpersonal zugezogen war. – Otto Devrient gastirte in dem ersten Cyclus der Aufführungen als Mephisto und erntete als Bearbeiter und Darsteller doppelten Lorbeer.[2]

Goethe’s großes Werk lebt fortan nicht mehr im Buche allein, der großen Menge verschlossen, es steht lebendig, verkörpert vor uns und mit dem Fortschreiten der Kunst wird es uns im ganzen Glanze seiner ewigen Schönheit voll und uneingeschränkt erstehen. Hierfür gebührt dem rastlos strebenden Künstler Otto Devrient, wie dem kunstfördernden Director des Leipziger Stadttheaters, Kammersänger Max Staegemann, und seinem Oberregisseur, Ernst Gettke, nicht wen der volle Dank des Leipziger Publicums, sondern auch ein anerkennendes Wort der nationalen Kunstwelt. –

„Heilige Poesie,
Himmelan steige sie,
Glänze, der schönste Stern,
Fern und so weiter fern!
Und sie erreicht uns doch
Immer, man hört sie noch,
Vernimmt sie gern!“

singt der Chor zu Euphorion’s Leyer, des Sohnes Faust’s und der Helena, dessen Bild unsere Titelvignette (S. 671) bringt.

– M. –




Eine Romanbibliothek. Unser Blatt ist so glücklich gewesen, im Laufe der Jahre eine Reihe verschiedenartiger Erzählungen darbieten zu können, die seit ihrem ersten Erscheinen in seinen Spalten zu den werth- und wirkungsvollsten Erzeugnissen deutscher Novellistik gerechnet werden. Es ist Thatsache, daß viele derselben eine ganz ungewöhnliche Aufmerksamkeit und Theilnahme erregt, Berühmtheit erlangt und sich dauernd in der Gunst unzähliger Leser erhalten haben. Der Plan, die besten dieser beliebten, weit und breit als musterhaft anerkannten Schöpfungen in einer leichter zugänglichen Sammlung, einer „Romanbibliothek der ‚Gartenlaube‘“, zu vereinigen, bedarf daher wohl kaum einer besonderen Erklärung und Befürwortung. Wissen wir doch aus eigener Wahrnehmung, daß der Gedanke vom Publicum aus angeregt wurde und die Verlagsfirma mit der Ausführung endlich einem Wunsche, einem oft ihr nahegelegten Verlangen großer deutscher Kreise des In- und Auslandes entgegen kommen will. Die ausgesandte Ankündigung zeigt den Charakter, den Umfang, die Begrenzung des Unternehmens. Dasselbe beschränkt sich auf die mit dem Aufgang Marlitt’s eingeleitete Epoche und konnte nicht bezeichneter eröffnet werden, als durch die Geschichte des blondhaarigen Mädchens, jenes einst so zauberhaft wirkende dichterische Gebilde, das in den beängstigenden Kriegsstürmen des Sommers 1866 plötzlich vor den Augen der Nation aufstieg und überraschendes Entzücken, wohlthuende Erfrischung, einen warmen Strahl erhebender Freude und sänftigenden Friedens in Tausende von Seelen strahlte. Mit „Goldelse“ und dem darauf folgenden „Geheimniß der alten Mamsell“ hat E. Marlitt nicht blos ihren Ruhmesweg, ihre eigene glanzvolle Laufbahn betreten, sondern auch entschieden den Anstoß zu einer neuen Aera des Volks- und Frauenromans gegeben. Sie hat sichtlich Schule gemacht und verwandte Talente erweckt, sodaß sich der Einfluß ihrer stil- und stimmungsvollen, mächtig fesselnden und ergreifenden Schilderungsweise, der anmuthsinnigen Poesie, des volksthümlich-freisinnigen, sittlich edlen Gehalts ihrer Darstellungen in einer Reihe von selbstständig schaffenden Nachfolgerinnen deutlich erkennen läßt.

Mit vollem Rechte werden also die sämmtlichen bereits in einer erheblichen Zahl starker Auflagen verbreiteten und doch unablässig von Neuem begehrten Romane der verehrten Meisterin, von „Goldelse“ bis zu „Amtmanns Magd“ in der neuen Sammlung erscheinen. Ferner wird die Bibliothek die gleichfalls hochgeschätzten, durch scharfe Charakteristik, durch schwungvolle und spannende Kraft ausgezeichneten „Gartenlauben“-Romane E. Werner’s bringen, denen sich als gewiß nicht minder willkommene Collection die interessanten, von jugendfrischer Herzensinnigkeit durchhauchten Gestaltungen W. Heimburg’s anschließen werden. Mannigfaltiges, in einem Wechsel von namhaften Einzelwerken verschiedener Autoren, die den Lesern der „Gartenlaube“ seit lange durch bedeutsame Leistungen rühmlich bekannt und vertraut geworden sind, reiht sich zwischen die Werke der genannten Erzählerinnen; so Amelie Godin’s gemüthvolles und elegant gezeichnetes Familiengemälde „Mutter und Sohn“, Frau von Hillern’s eigenartig geistsprühendes, voll modernen Ideenstürmen bewegtes Lebensbild „Aus eigener Kraft“, ferner die kleineren, durch leidenschaftliche Gluth und düstere Tragik erschütternden Novellen der unglücklichen E. Werber und endlich eine Leistung ganz anderer Art: G. v. Meyern’s eindrucksvoller Roman „Teuerdank’s Brautfahrt“, dieses ebenso großartig gedachte als herrlich ausgeführte Kleinod historisch-poetischer Schilderung, ein Meisterstück des leider zu früh hingegangenen Dichters. Eine hinlängliche Fülle also von erprobter Schönheit, von Geistesglanz und Herzensgenuß für die Hausbibliotheken deutscher Familien und zur Beruhigung der zahlreichen Familienväter, denen unter den heutigen Verhältnissen literarischer Production an einer bildenden, erhebenden, von reinem und edlem Sinne getragenen und doch einem gewissen philiströsen Genre sich fernhaltenden Unterhaltungslectüre für ihre Frauen und Töchter gelegen ist. Die Anschaffung der ganzen Bibliothek ist durch den gestellten Preis und die terminweise Ausgabe der Lieferungen wesentlich erleichtert. Die bereits erschienenen Lieferungen zeigen das handliche Format und die nicht luxuriöse, aber solid elegante Ausstattung der Sammlung.




manicula000Einladung zum Abonnement000manicula
auf die soeben erscheinende
Romanbibliothek der Gartenlaube
ca. 130 halbmonatliche Lieferungen von 5-7 Bogen
à 1 Mark 20 Pfennig,
eine Muster-Unterhaltungs- und Hausbibliothek von bleibendem Werthe, enthaltend:

E. Marlitt’s Erzählungen: Goldelse. – Das Geheimniß der alten Mamsell. – Die zweite Frau. – Haideprinzeßchen. – Reichsgräfin Gisela. – Thüringer Erzählungen (Inhalt: Die zwölf Apostel, Blaubart). – Im Hause des Commerzienraths. – Im Schillingshof. – Amtmanns Magd.

E. Werner’s Erzählungen: Am Altar. – Gartenlaubenblüthen (Inhalt: Ein Held der Feder, Hermann.). – Gesprengte Fesseln. – Glück auf. – Um hohen Preis. – Vineta. – Frühlingsboten.

W. Heimburg’s Erzählungen: Aus dem Leben meiner alten Freundin. – Lumpenmüllers Lieschen. – Kloster Wendhusen.

A. Godin, Mutter und Sohn. – W. von Hillern, Aus eigener Kraft. – G. von Meyern, Teuerdank’s Brautfahrt. – E. Werber, Feuerseelen (Inhalt: Der Aerolith, Eine Leidenschaft, Ein Meteor, Der canadische Achilles, Charlotte Venloo, Pater Gregor).

Alle soliden Buchhandlungen Deutschlands, Oesterreich-Ungarns, der Schweiz und des Auslandes nehmen Bestellungen an und können eine Probelieferung zur Einsicht vorlegen.
Die Verlagshandlung von Ernst Keil in Leipzig.




Inhalt: Die Braut in Trauer. Von Ernst Wichert (Fortsetzung). S. 661. – Der zweite deutsche Bergmannstag. Von Theodor Gampe. S. 664. Mit Illustrationen von Paul Hendel. S. 664, 665 und 668. – Der französische Hermann. Von Dr. Karl Seldner. S. 667. Mit Abbildungen. S. 669. – Dann geh’ zu ihr. Gedicht von Albert Traeger. S. 670. – Die Sage von Doctor Faust. Von Fr. Helbig. I. S. 671. Mit Illustrationen von E. Limmer. S. 671, 672 und 673. – Blätter und Blüthen: Faust als Mysterium auf der Bühne des Leipziger Stadttheaters. S. 675. – Eine Romanbibliothek. S. 676.


Dieser Nummer ist Nr. 8 unserer Zwanglosen Blätter" beigelegt.

Unter Verantwortlichkeit von Dr. Friedrich Hofmann in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Das vereinigte Gallien, bildend eine einzige, von demselben Geiste beseelte Nation, kann dem Weltall Trotz bieten. Vercingetorix an die versammelten Gallier. Caes. de bell. Gall. VII. Buch, XXIX. Cap. Napoleon III., Kaiser der Franzosen, dem Andenken des Vercingetorix.
  2. Sein Portrait wird eine der nächsten Nummern unseres Blattes schmücken.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Martinus Rufus