Die Gartenlaube (1883)/Heft 40
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No. 40. | 1883. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Die Braut in Trauer.
- „Hat das Trauergewand seinen Grund in dem Bedürfniß des Gemüths, der Stimmung des Schmerzes äußeren Ausdruck zu geben? So scheint es. Was ist natürlicher, möchte man sagen, als daß die düstere Stimmung zur düsteren Farbe greift? Wenn der Sonnenschein des Lebens der Nacht gewichen ist, so kleidet sich das Leben in die Farbe der Nacht: in Schwarz. Die Auffassung hat etwas Bestechendes, aber sie erweist sich bei näherer Betrachtung als nicht stichhaltig. Das Schwarz ist nicht des Trauernden, sondern der dritten Personen wegen da, mit denen er in Berührung tritt, es ist nicht die Farbe des Hauses, sondern des Verkehrs, darum wiederholt sie sich außer an dem Kleide und dem Hute (beim männlichen Geschlecht als Flor) auch an dem schwarzen Rande der Briefcouverts, des Papiers, Siegellacks, kurz, die schwarze Farbe kehrt ihr Antlitz nicht dem Trauernden, sondern der Außenwelt zu, sie ist eine unablässig in Erinnerung gebrachte Todesanzeige. Das Schwarz soll eine Scheidewand ziehen zwischen dem Schmerz und dem Scherz, dem Kummer und der Freude, es soll den Trauernden sichern gegen die Heiterkeit der Welt und die Heiterkeit der Welt gegen ihn.“
Die bekannte Equipage mit den beiden Braunen hielt vor dem Consul Berghen’schen Hause in der Liventstraße.
Zu beiden Seiten der Thür hatten sich, wie regelmäßig in diesem Fall, einige Krüppel, alte Weiber und bleiche Kinder aufgestellt, die Abfahrt der gnädigen Frau zu erwarten. Sie wußten, daß es dann für die Bettler jedesmal eine kleine Ernte gab, und ließen sich deshalb die Weile nicht lang werden. Der Kutscher in seiner dunkelgrünen Livree mit schwarzen Aufschlägen saß steif auf dem Bock und ließ nur mitunter die Spitze der Peitschenschnur tupfend auf den Hals oder Rücken der Pferde fallen, wenn sie sich irgend eine kleine Ungehörigkeit erlaubten. Seine würdige Haltung gab keinem Zweifel Raum, daß er sich voll bewußt war, in wessen Diensten er stand.
Endlich bewegte sich die schwere Thür, an der die Messingbeschläge bei der Bewegung aufblitzten. Eine Matrone, ganz in schwarzen Atlas gekleidet, trat am Arm einer schönen jungen Dame heraus, deren Anzug gleichfalls nur die schwarze Farbe erkennen ließ. Sie theilten nach rechts und links Gaben aus und empfingen dafür den üblichen „Gottes Lohn“. Es folgte der Diener mit Mänteln und Fußdecken, und ein Mädchen, das in der einen Hand einen Kranz von Immortellen, in der andern ein Körbchen mit Blumen nachtrug. Die junge Dame half der älteren in den bequemen Wagen und stieg dann selbst ein, der Diener rückte das Fußkissen zurecht und stopfte die Decke unter dasselbe, das Mädchen legte Kranz und Blumen auf den Rücksitz. Die alte Frau nickte freundlich dazu, der Diener schwang sich zum Kutscher auf den Bock und fort ging’s in scharfem Trabe durch die Speicherstraßen am Fluß über die Brücken der Vorstadt zu.
Das Ziel – der Kirchhof nahe am Thor – war als bekannt vorausgesetzt. Die Fahrt dorthin wiederholte sich fast täglich. Das Wetter mußte schon sehr unfreundlich oder ein Unwohlsein die Ursache sein, wenn sie einmal ausfiel. Der heutige Frühlingstag war kühl, aber hell, und die Sonne stand am blauen Himmel noch ziemlich hoch. Die Straßen zeigten sich belebt von Geschäftsleuten, aber auch von Spaziergängern, die sich die günstige Stunde zur Erholung nicht entgehen lassen wollten.
Die schöne junge Dame unterhielt sich lebhaft mit ihrer Begleiterin, half ihr auch das Rückenkissen zurechtlegen, das Kopftuch gegen die Windseite vorziehen und die Decke über den Knieen fester ziehen. Das Gespräch und diese kleinen Dienstleistungen hinderten sie nicht, ihre Aufmerksamkeit auch dem Straßengewühl zuzuwenden, das sie mit seiner bunten Abwechselung zu interessiren schien. Sie hatte den schwarzen Spitzenschleier hoch aufgeschlagen, sodaß er nur die Stirn beschattete, und ließ, ohne den Kopf viel zu bewegen, die Augen munter ausschauen.
„Da geht Lieutenant Kern von der Artillerie,“ sagte sie; „er wird grüßen, Mamachen.“ Dann wieder: „Herr von Blömel reitet ein schönes Pferd, es erinnert ein wenig an Robert’s Fuchs; aber er sitzt schlecht und führt es ungeschickt. Findest Du nicht auch?“ Bald darauf: „Das ist Emma Stein, mit der ich zusammen nach der Schule gegangen bin. Ich glaube, sie hat’s jetzt recht kümmerlich, seit ihr Bruder seine Stelle verloren hat, der die ganze Familie unterhielt, und ist doch zu stolz, sich mit einer Bitte an uns zu wenden. Onkel Benjamin wußte, daß sie Musikstunden suche, aber wenig dabei verdiene. Sie hat ihm ihre Uhr verkaufen wollen, aber er hat sie nicht angenommen und ihr lieber ein Darlehen gegeben. Sie thut mir recht leid. Osterfeld ist doch wohl zu hart gewesen.“
„Mein Schwiegersohn sieht auf Pünklichkeit im Geschäft vor Allem,“ antwortete die Frau Consul, „und der junge Mann hat’s sehr daran fehlen lassen. Für das arme Mädchen wird man ja etwas thun können. Erinnere mich daran, Helenchen. Wär’s nicht übrigens Zeit, liebstes Kind,“ nahm sie nach kurzem Schweigen wieder das Wort, „daß wir unsere Gedanken sammeln und uns auf den Besuch bei unserem theuren Robert im Herzen vorbereiten?“
„Ich brauche eine solche Vorbereitung gar nicht, Mamachen,“ antwortete Helene, mochte aber wohl merken, daß die Frau Consul [642] die Lippen fester zusammenschloß, und versenkte sich nun in den Anblick des Kranzes ihr gegenüber. Die frischen Farben wichen rasch von ihrer Wange, und bald rollte auch eine Thräne über dieselbe hinab auf die schwarze Busenschleife.
Nun hielt der Wagen vor der Pforte des altstädtischen Kirchhofs. Der Todtengräber und seine Frau, die in der Nähe arbeiteten, eilten herbei und waren sehr devot beim Aussteigen behülflich. Die Frau konnte gar nicht genug rühmen, wie schön das Wetter sei und wie hell der Sonnenschein, und wie sie sich freue, die Frau Consul bei gutem Wohlsein zu sehen. Und was noch die größte Neuigkeit sei: es habe sich eine Nachtigall eingefunden, die wunderschön schlage. „Das ist wohl dem jungen Herrn Berghen zu Ehren geschehen, liebes Fräulein,“ meinte sie.
Die Frau Consul tupfte mit dem Tuch die Augen.
„Er hört sie nicht mehr,“ sagte sie schwermüthig und seufzte tief. „Mein einziger Sohn!“
„Aber wir hören sie, Mamachen,“ suchte Helene zu trösten, und sind dankbar, „daß sie sein Grab aufgesucht hat, zu seinem Andenken mit ihrer süßen Stimme ihr Lied zu singen. Sie mahnt uns, daß die Welt auch über Gräbern schön ist und die Natur ein ewiges Auferstehungsfest feiert. Wir sollen durch die Trauer um das Verlorene nicht unsern Sinn dagegen verhärten.“
Die alte Dame schien wenig damit einverstanden.
„Es ist doch unser bester Trost,“ entgegnete sie mit einiger Schärfe, „daß wir den Lieben, die uns vorangegangen sind, bald nachfolgen. In ihnen leben wir.“
Helene wendete ihr rasch das Gesicht zu, als ob sie lebhaft antworten wollte, besann sich aber eines Anderen und senke den Blick zur Erde. Wie sie bedenklich das Köpfchen auf- und abbewegte, konnte man erraten, daß der Gegenstand sie noch weiter beschäftigte und nur die Rücksicht auf die Matrone ihr Schweigen aufnöthigte.
Der Diener trug den Kranz und das Blumenkörbchen nach. Jetzt, in der Nähe eines Eisengitters von schöner Arbeit, nahm das Fräulein ihm die Sachen ab und gab ihm einen Wink zurückzubleiben. Die Frau des Todtengräbers öffnete die schwere Thür und entfernte sich dann ebenfalls. Die beiden Damen traten in den inneren Raum. Er war sehr sauber gehalten, rundum mit frischen Tannen ausgelegt. Links in dem Gartenbeet lag eine Steinplatte, deren Inschrift kündete, daß darunter der Consul Philipp Berghen ruhe: vor etwa vier Jahren war er verstorben, wenig über fünfzig Jahre alt. Daneben rechts erhob sich ein Postament aus Granit, das eine weibliche Figur von Marmor trug, einen Engel mit gesenkten Flügeln und Palmenzweig. In die vordere Wand war ein Portrait-Medaillon von Marmor eingelassen. Es zeigte den Profilkopf eines noch sehr jungen Mannes, unverkennbar der alten Dame ähnlich. Darunter stand nur der Name „Robert“. Das Mounment war von Topfgewächsen umstellt, Kränze hingen auf den Ecken der Platte.
Die Beiden standen eine Weile und schauten schweigend darauf hin. Das geschah so jedesmal bei diesen Besuchen. Sie sprachen vermutlich ein stilles Gebet, denn die Frau Consul sagte „Amen“, und gab damit das Zeichen, daß sie in ihrer Andacht nicht weiter gestört werde. Sie selbst begann das Gespräch mit einem Lobe der Tugenden ihres verstorbenen Sohnes und erzählte aus seiner Kindheit, wie klug und gutherzig zugleich er gewesen sei, in Vielem seitnem trefflichen Vater ähnlich, aber noch geistig belebter und heiterer. Man hatte dieselben Dinge schon so oft durchgesprochen und kam doch nicht damit zu Ende. Darauf wurden mit einer zierlichen Harke die trockenen Blumen rings um den Steig fortgeschafft und frische Blumen aus dem Körbchen an die Stelle gestreut. Der Kranz fand seinen Platz auf dem Grabe des Consuls, der doch nicht ganz leer ausgehen durfte.
Damit war der Kreis dieser Liebespflichten erfüllt. Diesmal aber schien sich die alte Dame damit nicht begnügen zu wollen. Sie setzte sich auf das eiseene Sprossenbänkchen gegenüber den Monumenten und lud Helene ein, ihrem Beispiele zu folgen.
„Man ist hier recht geschützt gegen den Wind,“ sagte sie, „und die Sonne bedenkt uns freundlich. Sitzen wir noch ein Weilchen.“
Helene leistete sogleich Folge, blickte nun aber neugierig durch die Stäbe des Gitters nach andern Kirchhofsbesuchern aus oder in die erst halbbelaubten Kronen der alten Linden hinein, deren Geäste der Spielplatz der munteren Vögel war.
„Woran denkst Du, Helenchen?“ fragte nach einer kleinen Weile die alte Dame.
„An nichts, Mamachen,“ antwortete das Fräulein ganz unbefangen.
„Das ist aber doch nicht recht,“ verwies jene. „Man darf sich nicht überall durch die Außendinge zerstreuen lassen; es giebt Orte, die uns auffordern, unsere Gedanken zusammenzuhalten. Ich meine, an einem solchen befinden wir uns.“
„Gewiß!“ entgegnete Helene, das Köpfchen traurig senkend. „Aber wir sollten uns doch nicht zwingen, Empfindungen in uns über ihre natürliche Dauer hinaus zu verlängern. Es kommt mir das immer wie eine Unwahrheit gegen sich selbst vor.“
Die alte Dame wiegte den Kopf.
„Ich verstehe Dich nicht,“ sagte sie. „Wie kann da von Zwang die Rede sein, liebes Kind? Wir sitzen hier am Grabe meines einzigen Sohnes und Deines Bräutigams. Können da andere Empfindungen in uns lebendig sein, als die der Liebe und der Trauer über den unersetzlichen Verlust?“
„Aber ich habe nicht so stark, wie Du, das Bedürfniß, sie in mir durch die Betrachtung der Ruhestelle des lieben Todten erwecken zu lassen,“ wendete das Mädchen schüchtern ein. „Ich stehe immer und überall unter ihrer Herrschaft – einen leidenschaftlichen Ansturm wehre ich nicht ab, reize mich aber auch nicht dazu. Brauche ich mir denn vorzuhalten, was ich verloren habe? Kann es einen schmerzlicheren Verlust geben als den meinigen? Aber man muß ja doch das Leben ertragen und der Gewohnheit ihr Recht lassen. Sind doch bereits zwei Jahre darüber hingegangen, seit wir hier an dem offenen Grabe standen.“
Die Frau Consul nickte.
„Zwei Jahre - ja, ja! Aber zählt man da nach Tagen und Jahren? Darf man der Zeit erlauben, unser Gefühl abzustumpfen? Weil’s in der Welt gemeinhin so zugeht, daß man den schwersten Kummer überwindet, muß man da nicht um so ängstlicher über sich selbst wachen, daß man die Erinnerung in sich stark erhält für das ganze Leben?“ Sie nahm die Hand des Mädchens in die ihrige und streichelte sie zärtlich. „Ich weiß,“ fuhr sie fort, „Du hast Robert geliebt und kannst keinen Menschen mehr lieben, wie ihn. Aber es hat manchmal den Anschein … wie soll ich’s sagen? als ob Du Dich schon gelassener in die Nothwendigkeit fügst, den Kummer, ihn verloren zu haben, tragen zu müssen – als ob Du gleichgültiger an die Zeit zurückdenkst, wo er Dir gehörte. Das tut mir weh. Ich habe mir schon lange vorgenommen, mit Dir darüber ein mütterlich-ernstes Wort zu sprechen. Beruhige mich, wenn Du kannst.“
Das Mädchen bückte sich rasch und küßte ihre Hand.
„Du siehst es so an,“ sagte sie bewegt, „und – bist die Mutter. Ich werde Dich nicht überzeugen können, daß Du Unrecht hast, und doch kann ich mir keine Schuld geben. Du hast das schöne Talent, Dir den Tag einteilen zu können nach seinen mancherlei Bedürfnissen. Diese Stunden sind Deinen Töchtern, diese Deiner Wirthschaft, diese Deiner Vereinsthätigkeit, diese Deinen gesellschaftlichen Pflichten oder der Lectüre bestimmt – und dann hast Du auch eine, die ganz und voll der Erinnerung an Deinen Sohn geweiht ist. Du gehst zu ihm, wie Du in die Kirche gehst, und Du gehst von ihm wie aus der Kirche: mit ganz befriedigtem Gemüth. Ich kann mir’s nicht so geben. Ich bin immer im Ganzen; was meinen inwendigen Menschen beeinflußt, das giebt ihm mehr eine allgemeine Stimmung, jede Stunde nimmt gleichmäßiger daran Theil. Besinnst Du Dich wohl? Als Robert noch lebte – hast Du mir da nicht manchmal den Vorwurf gemacht, daß ich in seiner Gegenwart nicht merklich genug froh werde, daß ich zu wenig zärtlich, zu kühl für eine glückliche Braut erscheine? Ich konnte aber nur mein Glückgefühl nicht aufsparen für die Stunde des Beisammenseins; ich empfand es immer mit gleicher Stärke und vermochte es dann kaum noch zu steigern, wenn es sich nach Dritter Erwartung beweisen sollte. So ist’s auch im Leid. Es verläßt mich nie ganz, es hat aber auch nicht seine vorbestimmte Stunde.“
Die alte Dame zog sie an sich und küßte ihre Stirn.
„Ich will überzeugt sein,“ sagte sie, „daß Du ihn noch immer liebst, wie Du ihn geliebt hast, daß Du ihm in Ewigkeit nicht untreu werden kannst. Versprich mir an seinem Grabe, daß Du seine Braut bleiben willst, so lange Dein Herz schlägt, und ich werde ganz beruhigt sein, nie eine geliebte Tochter zu verlieren.“
[643] „Aber wozu ein solches Versprechen, Mamachen?“ rief Helene, offenbar erschreckt und beängstigt. „Hast Du Grund, an mir zu zweifeln? Habe ich selbst Grund, mir die Fessel eines Gelübdes anzulegen? Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich jemals anders empfinden könnte, als ich jetzt empfinde. Laß mir diese Zuversicht!“
Die Frau Consul war durch diese Antwort nur halb zufrieden gestellt.
„Liebes Kind,“ sagte sie, „das menschliche Herz ist schwach – tausend Erfahrungen sprechen leider dafür. Die Todten, meint man, seien todt, und man könne sie nicht mehr verletzen durch Vergessen. Aber sie sind nur todt, wenn man sie vergißt, und was ihnen entzogen wird, das wird denen entzogen, die ihr Andenken treu und unverbrüchlich bewahren. Eine Mutter kann des Sohnes Recht nicht verkümmern lassen in ihrem Herzen. Und darum, theuerstes Kind, wenn Du mich lieb hast, nimm allezeit freundliche Rücksicht auf meine eifersüchtige Schwäche. Ich will kein Gelöbniß verlangen. Zeige Dich mir aber immer so, als ob Du es gegeben hättest, und mein Dank soll Dir gewiß sein.“
Sie streichelte wieder ihre nun ganz kalte und schlaffe Hand. Helene sah vor sich hin auf die Erde.
„Wie ich auch nachdenke,“ entgegnete sie, „ich kann eine Veranlassung zu diesem sonderbaren Gespräche nicht finden, das mich ernstlich beunruhigen könnte. Ist mein Benehmen –“
„Nein, nein!“ unterbrach die alte Frau. „Ich habe Dir alles gesagt, was ich auf dem Herzen hatte. Und daß ich Dir’s nur gestehe – ich hatte dabei etwas im Sinn, woran Du nicht denken konntest. Vielleicht habe ich’s recht ungeschickt angefangen, da vorzusorgen. Aber Du sollst alles wissen, und am besten sogleich. Mein seit des theueren Robert’s Tode so stilles Haus wird sich bald wieder der Gesellschaft freier öffnen müssen. Herr Hauptmann von Gräwenstein hat gestern brieflich bei mir um meiner Vera Hand angehalten. Das Ereigniß war vorherzusehen, wie er sich in letzter Zeit zur Familie stellte. Er ist ein sehr achtbarer Mann, den mein guter Philipp, so wenig er sonst für das Militär schwärmte, gewiß gern zum Schwiegersohn angenommen hätte.“
Helene hatte auf der Bank eine halbe Wendung gemacht, um ihr besser in’s Gesicht sehen zu können.
„Ach!“ rief sie, „ist’s möglich? Aber Vera hat mir kein Wort gesagt.“
Die Frau Consul lächelte.
„Wie sollte sie? Der Herr Hauptmann hat sich natürlich erst meiner Zustimmung versichern wollen. Sie wird im Stillen vermuthet haben –“
„Es überrascht mich doch. Ihre Aeußerungen über Herrn von Gräwenstein waren nicht der Art.“
„Sie ist sich vielleicht wirklich ihrer Neigung erst jetzt recht bewußt geworden.“
„Das müßte es sein. Ich kann mir’s nur noch schwer zurechtlegen, wie diese beiden Menschen ein so inniges Verhältnis zu einander finden konnten. Vera ist eine so sensible Natur. Sie schien mir immer zu erschrecken, wenn er das Wort ergriff oder lachte.“
„Es ist für Vera gewiß ein Glück, daß sie eine feste Stütze für’s Leben erhält, wie sie ihrerseits wieder mildernd und veredelnd auf den Mann einwirken wird, der sie liebt. Ein sehr passendes Paar, denke ich. Wie dem sei, die Verlobung wird in den nächsten Tagen gefeiert werden, und es steht nichts im Wege, die Hochzeit sehr bald folgen zu lassen. Ein Brautpaar im Hause – das verändert gleich die ganze Situation. Ich verkenne nicht, liebstes Kind, daß Deine Lage eine schwierige ist. Eine gewisse äußerliche Betheiligung kann Dir nicht erspart bleiben, und doch darfst Du nicht vergessen, daß Du Deinem geliebten Todten um so mehr die zarteste Rücksicht schuldig bist. Ich meine, Du wirst Dich noch mehr – wie soll ich sagen? – klösterlich einschränken müssen, um Dein Wesen mit Deiner äußeren Erscheinung in Harmonie zu zeigen. Es ist Dir tiefstes Bedürfniß, das Trauerkleid nicht abzulegen; sorge nun aber auch dafür, daß man Dich so versteht … selbstverständlich , ohne die Gesellschaft zu verstimmen, die keinen Grund hat, sich Deinetwegen einen Zwang aufzulegen. Achte freundlich auf meine kleinen Winke, und Deine Aufgabe wird sich erleichtern. Du bist ja überzeugt, daß es Niemand auf der Welt mit Dir so gut meint, als ich, die Mutter Deines Robert. Und nun laß uns nach Hause eilen – es wird schon empfindlich kühl im Freien.“
Helene küßte ihre Hand, stand dann auf und öffnete die Gitterthür. Sie entgegnete nichts, aber ihre finstere Stirn und die gepreßten Lippen hätten eine Antwort geben können. Doch war sie auf dem Gange nach dem Wagen bemüht, die alte Dame davon nichts merken zu lassen. Während der Fahrt wurden nur gleichgültige Worte gewechselt. Erst in der Langgasse bat sie aussteigen zu dürfen, um dem alten Onkel Grün einen Besuch abzustatten, auf den er gewiß schon sehr lange warte. Frau Berghen widersprach nicht gerade, stimmte aber auch nur halb zu. Das Fräulein hielt den Entschluß fest und gab dem Kutscher das Zeichen zu halten.
„Darf ich Dir den Wagen schicken?“ fragte die Frau Consul.
Helene danke. „Ich möchte nicht so sehr an die Zeit gebunden sein,“ sagte sie und huschte fort.
Der „alte Onkel Grün“ war Uhrmacher und hatte sein kleines Geschäft in einer lebhaften Seitenstraße. Er war ein Vetter von Helenens verstorbenem Vater und ihr einziger Verwandter in der Stadt, überdies ihr Vormund.
Die Frau Consul hatte gegen ihn nichts weiter einzuwenden, als daß er den alten Handwerksgebrauch beibehielt und an seinem Werktisch unter dem Fenster vom Morgen bis zum Abend fleißig arbeitete, statt in einem seinen Local den Uhrenhandel kaufmännisch zu betreiben. Die Bedürfnisse des Wittwers waren die mäßigsten; er begriff nicht, warum er sich Sorgen und Lasten aufbürden sollte, da ihn seine Geschicklichkeit doch gut nährte. Wirklich war er ein sehr gesuchter Arbeiter; wenn es ein besonders künstliches Werk zu repariren galt, wandte man sich nur an ihn und wußte ihn trotz des einfachen Schildes an seiner Thür und des schmucklosen Schaufensters allemal zu finden.
Als das Fräulein eintrat, saß er auf seinem gewohnten Platz im grauen Arbeitsrock, den grünen Blendschirm über der Stirn, die Augen mit einer mächtigen Brille bewaffnet, die einem kurzen Opernglase ähnlich sah. Vornübergebeugt setzte er mit einer feinen Zange ein kaum sichtbares Stiftchen in ein Uhrgehäuse ein. Unter einer Glasglocke neben ihm lagen noch mehr dergleichen zierliche Sächelchen, außerhalb aber die mannigfachsten Werkzeuge, Bürsten und weiche Läppchen. Er war so eifrig beschäftigt, daß er gar nicht umschaute, als die sich öffnende Thür eine Glocke über derselben in Bewegung setzte.
„Was steht zu Befehl?“ fragte er nur zurück.
Helene horchte ein Weilchen auf das Ticken der vielen großen und kleinen Uhren an den Wänden ringsum. Dieses Geräusch machte auf sie jedesmal denselben ganz eigenen Eindruck. Als Kind hatte sie immer behauptet, daß sie sich die Ohren zuhalten müsse, wenn sie sprechen wolle, da die Uhren gar so eifrig wären ihr zuvorzukommen. Der alte Herr mußte seine Frage noch einmal stellen.
„Guten Tag, Onkelchen,“ sagte sie nun und trat hinter ihn.
Er ließ sich nicht stören.
„Du bist’s, Lenchen!“ rief er nun, offenbar sehr erfreut. „Gieb mir einen Kuß auf die Backe, aber stoße mich nicht an, sonst fällt mir das da aus einander und ein Paar Stunden Arbeit sind umsonst. Ein sehr merkwürdiges Werk aus dem vorigen Jahrhundert, keine Fabrikwaare. Damals gab’s noch Uhrmacher, heut ist eigentlich nur noch der Name davon übrig geblieben. Die Maschinen schaffen’s auch accurater, aber an einer geschickten Hand hat man doch größere Freude. So eine alte Uhr ist etwas für sich, hat ihren eigenen Charaker. Was man jetzt kauft, ist immer nur eins von vielen Tausenden – eine langweilige Gesellschaft, Kindchen.“
Helene begrüßte ihn mit aller Vorsicht.
„Wende nur gar nicht den Kopf,“ bat sie; „ich setze mich hier zu einem gemüthlichen Plauderstündchen in Deine Nähe. Darf ich?“
„Lege doch ab. Wie geht’s, wie steht’s? Hast Dich lange nicht blicken lassen.“
„Es ist auch gar nichts Wichtiges vorgefallen, Onkelchen.“
„Und heut –?“
[644] „Heute auch nicht. Es war mir nur so um’s Herz, Dich wieder einmal zu sehen und sprechen zu hören.“
„Das freut mich, das freut mich. So – da sitzt der Stift fest. Nun hat’s weiter keine Gefahr mehr.“
„Aber sputen sich Deine Uhren komisch!“ rief das Mädchen lachend. „Es ist, als ob sie um die Zeit wettlaufen wollten.“ „Sie sind die Zeit,“ meinte er, „mit jedem Pendelschlag grenzen sie ein Stückchen Ewigkeit ab. Könnte man’s nur dahin bringen, daß sie so genau gingen wie die liebe Sonne, nach der sie sich richten sollen. Aber sie haben alle ihre Nücken. – Von wo kommst Du?“
„Vom Kirchhofe, Onkelchen.“
„Vom Kirchhofe – immer vom Kirchhofe!“ knurrte er. „Was will denn ein so frisches junges Ding immer bei den Todten?“
Helene seufzte.
„Wenn’s da seinen Bräutigam hat …“
„Ah! das ist ein trauriges Erlebniß – schreibt sich schon tief genug in’s Gedächtniß ein. Muß man denn immer stacheln?“
Das Mädchen schwieg und senke die Augen.
„Ich denke mir,“ fuhr er fort, ein kleines Rad putzend, „wenn Einer eine tiefe Wunde empfangen hat, die lebensgefährlich war, so soll er sie ausheilen lassen, so gut es gehen will, und nicht immer wieder geflissentlich aufreißen, um sich neuen Schmerz zu verursachen. Es dauert so schon lange genug, bis sie sich schließt. Wenn sie sich aber mit der Zeit schließt, so ist’s doch wohl ein Zeichen, daß das nach der Natur der Dinge so sein soll. Ich rede wahrlich dem Leichtsinn nicht das Wort, hab’ selbst ein schweres Gemüth und stoße nur langsam ab, was darauf drückt. Wenn man den Tag über immer schweigsam bei der Arbeit sitzt, über sein handwerksmäßiges Thun nicht viel nachzudenken hat und selten zerstreut wird – Du kannst Dir’s denken. Und ich habe eine Frau begraben, von der ich in alle Wege nur Liebes erfahren, und zwei Kinder, die reiche Hoffnung gaben. Ich hab’ mir’s nicht abgewehrt – bei Leibe nicht. Recht versenkt hab’ ich mich in meinen Schmerz und Kummer, und wohl auch gemeint, nie mehr gesund werden zu können. Aber gewaltsam widersetzt hab’ ich mich der Heilung nicht und dem Leben sein Recht gelassen. So bin ich denn wieder in’s Gleichgewicht gekommen. Wenn das einem alten Menschen gelingt, der schon im Absterben ist und von der Welt nicht mehr viel zu erwarten hat, wie viel mehr eignet es sich für einen jungen und kräftigen, dem sie noch mit allen ihren Herrlichkeiten offen steht! Warum soll der mit allen seinen Gedanken immer nur zurück zu dem Verlorenen? Das ist ein gemachtes Wesen, dem ich nicht das Wort reden kann.“
In ihr Gesicht schoß die Röthe.
„Glaubst Du denn, daß ich unwahr gegen mich bin?“ fragte sie.
„Hm – hm!“ brummte er. „Ein klein wenig doch. Es mag Dir selbst nicht recht klar werden. Ich kenne Dich ja von frühester Kindheit an, Lenchen. Ist das wahr? Du bist in Deines Vaters Hause ein so munteres Dingelchen gewesen, als nur eines in der Welt herumspringen kann, und das Unglück, das Dich durch seinen Tod traf und Deine Verhältnisse gar sehr veränderte, hat Dich um Deinen natürlichen Frohsinn nicht bringen können. Ich habe Dich ja alle die Zeit immer unter Augen gehabt, bis die Frau Consul Dich in ihr Haus nahm. Du hast damals einen starken Willen bewiesen, Dir selbst durchzuhelfen, und ich meine, der würde sich auch jetzt bewähren, wenn Du Deinem Herzen Ruhe lassen könntest. Ist es denn wirklich ganz gebrochen? Das wirst Du dem alten Onkel doch nicht einreden.“
„Ich will’s auch nicht,“ sagte sie, den Kopf noch tiefer senkend, in trotzigem Tone.
„Nun also! Da gehst Du nun schon fast zwei Jahre lang in tiefster Trauer –“
„Das ist der Wunsch meiner Wohlthäterin, Onkel.“
„Ja so! Die Frau Consul schreibt’s vor.“ Er hob die große Brille von der Nase und legte sie auf den Tisch.
„Sie schreibt’s nicht vor,“ antwortete das Mädchen. „Aber ich weiß, daß sie sich’s gar nicht anders vorstellen kann, als mich in Trauerkeidern zu sehen. Und warum soll ich der alten schwergeprüften Frau, die so engelgut ist, nicht diese rein äußerliche Beruhigung gewähren? Ich selbst … ja, wie weißt Du denn, daß ich nicht einem herzlichen Bedürfnisse folge?“
Sie wagte dabei doch nicht aufzublicken. Es mochte ihr durch den Sinn gehen, was eben nur auf dem Friedhofe verhandelt war. Hätte er das mit angehört!
Onkel Grün ließ sich auch gar nicht irre machen. Er hatte nun auch seinen grünen Schirm abgelegt und den Stuhl herumgewendet, und sah sie nun mit seinem freundlichen alten Gesichte etwas ungläubig an, doch immer nickend, als ob er ganz einverstanden wäre.
„Ja, ja,“ sagte er, „sie haben Dich tüchtig eingesponnen und sprechen Dir’s täglich vor, daß Du die Flügelchen gar nicht mehr brauchst. Und wenn Du hübsch artig bist und an ihren Fäden nicht zerrst, so thun sie Dir alles Erdenkliche zu Liebe, tragen Dich auf Händen und verhätscheln Dich. Aber gieb nur Acht: Was Du jetzt meinst freiwillig zu geben, werden sie bald glauben als eine Pflicht fordern zu dürfen. Sein und Schein wird für Dein Gefühl immer mehr aus einander gehen, und das erträgst Du nicht ohne schwere Einbuße. Darum rathe ich bei Zeiten: prüfe die Flügelchen und schwinge Dich auf!“
Er hatte ihre beiden Hände gefaßt und betrachtete sie abwechselnd. Von der rechten hatte sie den schwarzen Handschuh abgenommen, und die Grübchen in der zarten Rundung schimmerten röthlich. Der Gegensatz schien ihm recht in die Augen zu springen, und auch sie merkte wohl, daß er einen schalkhaften Hintergedanken hatte. Sie lächelte, da er gar nicht fertig werden konnte, sein Spiel zu wiederholen, und seufzte dann recht wehmüthig.
„Du meinst es gut mit mir,“ sagte sie nach einer Weile und stand auf. „Aber mir ist nicht mehr zu helfen. Ich kann doch nicht, wie ich will, und – ich weiß auch nicht einmal, was ich will. Wenn ich mich nur einmal recht aussprechen dürfte! Aber das darf ich nicht – selbst Dir gegenüber nicht. Es ist mir, als ob ich den guten Menschen schweres Unrecht thäte, die mich in ihrer Art so lieb haben und recht auf Händen tragen. Laß mich’s nur still mit mir ausmachen: es ist schon dafür gesorgt, daß ich innerlich nicht allzu schwarz werde.“
Dabei faßte sie seinen weißen Kopf und küßte ihm die Stirn.
„Und nun von etwas Anderem, Onkelchen!“
Im Kampf um’s Recht.
Das Märchen vom Dornröschen kommt dem unwillkürlich in den Sinn, der in den letzten Jahren, seit Deutschlands Blicke mehr nach Osten schweifen, das allmähliche Aufdämmern der Kenntniß jener Länder und jener Völker verfolgte. Jahrhunderte lang hatte die Dornhecke um die Kenntniß des deutschen Lebens in Siebenbürgen gewuchert, starr, undurchdringlich schien sie zu sein – da kamen die Ritter vom Geist, den alten Bann zu brechen, und es gelang.
Leider geschah dies erst, nachdem namentlich bei dem Sachsenvolke Siebenbürgens die in Jahrhunderten aufgebauten und in unaufhörlichen Kämpfen befestigten nationalen Zustände, die Grundsäulen seines Glückes, mit dem Todesstoße bedroht wurden. Wohl hatten in früheren Jahrzehnten viele junge Männer aus Ungarn und Siebenbürgen auf deutschen Hochschulen ihre Studien vollendet und Kunde gebracht von Land und Leuten ihrer Heimath; auch Deutsche der Zips und Siebenbürgens waren zahlreich darunter. Damals litt jedoch der Deutsche noch an der Schwäche der Bevorzugung alles Fremden, das ungarische Wesen imponirte ihm, und da beide damals einen gemeinsamen Feind hatten: das Metternich’sche System, so war eine innige Verbindung beider ganz natürlich. Daher kam es auch, daß man mit den Magyaren auf die Deutschen der Zips und Siebenbürgens oft geringschätzig hinblickte.
So blieben diese stammverwandten Völker uns fremd. Den deutschen Augen ging erst ein Licht über die wahren Verhältnisse im Leben und Wesen derselben auf, als die Magyaren in Folge [645] des sogenannten „Ausgleichs“ die Herren und in demselben Augenblick die Verächter und Widersacher des Deutschthums im Bereich der „Stephanskrone“ geworden waren.
„Die Zertrümmerung des Sachsenlandes“ hieß die Schrift, welche unsere Theilnahme aufrief und seit dem Beginn dieser Kämpfe um das Fortbestehen deutschen Wesens in jenem fernen Lande an der Grenze europäischer Cultur war die Presse redlich bemüht, die große Vergangenheit wie die qualvolle Gegenwart des Sachsenvolkes den Deutschen des neugewonnenen Reichs vor die Augen zu führen und an’s Herz zu legen.
Ueber diese schwere Zeit bis zum letzten Kampf um das Schicksal der „Mittelschulen“ können wir unsere Leser auf unsere Mittheilung im Jahrgang 1881, S. 375 und 402 unseres Blattes verweisen. Zu den Vorkämpfern in diesem geistigen Krieg in Ungarn und insbesondere für die Rechtsstellung des sächsischen Volkes, gehören die drei Männer, die wir heute in Bild und Wort unsern Lesern vorführen. Ihre politische Thätigkeit ist auch für uns von größtem Werth, denn ihren mannhaften Reden im ungarischen Reichstag, ihrem entschiedenen Auftreten ist es mit zu verdanken, daß das Dunkel sich allmählich lichtet, das über unsern Kenntnissen der Zustände in Ungarn-Siebenbürgen lag, und wir allmählich heller sehen.
Ein gut Stück politischer Vergangenheit und Gegenwart knüpft sich an die drei Kämpfer, deren Namen zuletzt die bewundernswerthe Haltung in der Mittelschuldebatte in Deutschland bekannt gemacht hat.
Der älteste von ihnen ist Joseph Gull, jetzt Reichstagsabgeordneter des Großauer Wahlkreises, bis zu seiner Wahl Bürgermeister in Schäßburg. Einem alten Bürgerhaus jener Stadt entsprossen, geboren 1819, hat er, öfter mit der Noth des Lebens ringend, das deutsche Gymnasium seiner Vaterstadt besucht. In diesen Lernjahren wurde der ernststrebende Jüngling ausgestattet mit der Fülle der Charakterbildung, die heute bei dem Uebermaß der Eindrücke und der übergroßen Menge des der Jugend gebotenen Bildungsstoffes schwerer erlangt zu werden scheint als früher. Nachdem er, der Sitte der Zeit folgend, in Vasarhely (Neumarkt) seine juristischen Studien beendigt hatte, kehrte er in seine Vaterstadt zurück, in deren Dienst er nun sein Leben lang stand, von unten auf dienend, bis das Vertrauen seiner Mitbürger ihn zu ihrem Bürgermeister erhob.
Das ist der äußere Rahmen, in dem ein reiches Leben liegt, voll von edlen Thaten und männlicher Arbeit für das sächsische Volk. Die anerkannte Tüchtigkeit des Mannes bewog seine Volksgenossen schon frühe, ihn zu ihrem politischen Vertreter zu wählen. Als solchen sandten sie ihn wiederholt in die sächsische Nationsuniversität (die Vertretung des Sachsenlandes), ebenso 1863 bis 1864 auf den Hermannstädter Landtag, von dort in den Reichstag nach Wien, 1865 in den Klausenburger Landtag, 1867 in den Pester Reichstag, in dem er nur während der Jahre 1875 bis 1881 nicht Mitglied war, ferngehalten durch sein städtisches Amt und durch Krankheit.
Seine ganze reiche Thätigkeit zu schildern, kann nicht unsere Aufgabe sein. Es geht durch dieselbe wie ein rother Faden durch: die Sorge für das sächsische Volk, der Kampf für das Recht desselben. Der letzte Act des Kampfes, der heute noch nicht ausgespielt ist, beginnt auf dem Klausenburger Landtag 1865. Als die magyarische Majorität dort den Beschluß faßte, daß, weil in Folge der Union Siebenbürgens mit Ungarn 1848 ein siebenbürgischer Landtag nicht mehr existire, die Abgeordneten nach Pest gerufen werden sollten, da der ungarische Reichstag allein das Recht habe, Gesetze auch für Siebenbürgen zu geben, da war Gull einer der tapfersten Kämpfer gegen diese Maßregel. Mit den Waffen der [646] Gesetze erkärte er: jene Union habe nie die volle Legalität erlangt, gefährde die Rechte und Selbstständigkeit Siebenbürgens, die Mehrzahl der Bewohner Siebenbürgens erblicke darin die ernsteste Gefahr für ihr Nationalität, Sprache und Religion; wenn eine Union geschlossen werden solle, müßten die Bedingungen derselben durch einen Staatsvertrag dauernd verbürgt werden.
Daß Gull und seine Genossen nicht zu schwarz gesehen, sollte sich bald nur zu sehr zeigen. Trotzdem derselbe Klausenburger Landtag feierlich die Aufrechthaltung der Rechte der sächsischen Nation verheißen hatte, ließ sich die ungarische Regierung am 8. März 1867 vom Abgeordnetenhaus „freie Hand“ geben, in Siebenbürgen bezüglich der Regierung, Verwaltung und Rechtspflege nach Gutdünken zu verfügen! Die sächsischen Abgeordneten, die dagegen sprachen, erreichten nichts. Die Folge davon war unter Anderem, daß der auf Lebenszeit gewählte Sachsencomes Conrad Schmidt seines Amtes, ohne eine Untersuchung, ohne einen Schein des Rechts, entsetzt wurde und ein Werkzeug der Regierung seine Stelle einnahm, die geehrteste im Sachsenlande. Die Reden der sächsischen Abgeordneten im Reichstag, welche den Gewaltact kennzeichneten, waren Muster von Geist, Kenntniß und Mannesmuth, aber was vermochten sie gegen die im Voraus fertigen Beschlüsse einer übermächtigen Mehrheit?
In Folge einer schweren Krankheit war Gull genöthigt, Jahre lang dem öffentlichen Leben fern zu bleiben. Gerade diese Jahre waren für die sächsische Nation voll Kampf und Anfechtung. Aber je bedrängter die Lage wurde, um so höher stieg der Kampfmuth in den besten Männern des Volks; in die Reihen der alten traten neue Kämpfer ein, darunter der schneidigsten einer: Karl Wolff. Ebenfalls in Schäßburg geboren (1850), der Sohn eines wohlhabenden Arztes, konnte er nach der Absolvirung des Schäßburger Gymnasiums die juristischen Studien in Wien und Heselberg, wo er promovirte, beginnen, in Hermannstadt, Klausenburg und Wien fortsetzen. Eine feurige, urkräftige Natur, wandte er sich in Wien der Journalistik zu und war bei der „Neuen freien Presse“ thätig. Da traf ihn die Aufforderung, die Leitung eines neuzugründenden Blattes in Hermannstadt zu übernehmen, das sich zur Aufgabe setzte, ein Herold im Kampfe für das Recht der Deutschen in Ungarn zu sein, die Besten des sächsischen Volkes zu edler Arbeit für die idealen Güter desselben zu vereinigen und diesem Volke den Glauben an sich selbst zu erhalten und zu stärken. Diesem Rufe sich nicht zu entziehen hielt Dr. Karl Wolff für seine Ehrenpflicht, und so begann denn das „Siebenbürgisch-deutsche Tageblatt“ in Hermannstadt unter seiner Leitung 1874 seine Laufbahn, die es heute noch geht, hochangesehen, ein Spiegel der deutschen Gesinnung im Sachsenvolke, dem als Alles beherrschende Pflicht gilt: der heilige Kampf für die Erhaltung deutschen Rechtes, deutscher Bildung und Gesittung auf dem Fleckchen Erde in Siebenbürgen, das die Väter deutschem Wesen erobert haben!
Ein solcher Kampf in so schweren Zeiten kann nur geführt werden in schneidiger Art. Es gehört dazu nicht nur Wissen und Charakter, sondern auch die Gabe, rasch sich zu entscheiden und in kritischen Augenblicken nicht zu zaudern und das Schlagwort, das den Kern der Sache trifft, in die Menge zu schleudern, die nur mit dem Herzen, selten mit dem Verstande Politik macht. Wer nur einen Jahrgang des „Tageblatts“ durchblättert, wird diesen Charakter, es ist der seines Leiters, ihm aufgedrückt finden: thatkräftig und entschlossen verfolgt es sein Ziel, getragen von der heiligen Liebe zum sächsischen Volke.[1]
So sehen wir den einen Mann als Schriftsteller und Parlamentsredner zugleich auf dem Kampfplan, und er hielt im erbittertsten Streite mit Wort und Feder aus, selbst in dem tiefsten Schmerz, der den jungen Vater am Sarge seines geliebten Kindes darniederbeugte. Nur eine Heldennatur kann aus Liebe zum Volke und zur Freiheit so das erschütterte Herz bezwingen.
Inzwischen ging das magyarische Zerstörungswerk in Siebenbürgen weiter vor sich. Obwohl das vielgenannte Gesetz von 1868 dem Sachsenlande die „auf Gesetzen und Verträgen“ beruhenden Rechte zusicherte, der Nationsuniversität ihren bisherigen Wlrkungskreis gewährleistete (mit Ausnahme der richterlichen Befugniß), dem Sachsenlande ein besonderes Municipalgesetz verhieß, geschah 1876 das gerade Gegentheil davon, und da jenes Unionsgesetz die Stelle eines Vertrags vertritt, so kann dem ungarischen Parlamente der Vorwurf nicht erspart werden, daß es sich hier eines Vertragsbruchs schuldig gemacht hat! Freilich nur dem sächsischen Volke gegenüber! Aber indem es geschah, wurde das deutsche Leben in Siebenbürgen schwer geschädigt.
Das ist in den Verhandlungen des ungarischen Reichstages in den Tagen vom 22. bis 27. März 1876 von den sächsischen Rednern schlagend nachgewiesen worden.
Unter diesen befand sich damals schon auch Adolf Zay, der in kurzer parlamentarischer Laufbahn sich einen Namen gemacht hat, welcher über den ungarischen Reichstagssaal hinausgeht. In Hermannstadt geboren (1850), hat er die juristischen Studien in Hermannstadt (1867 bis 1870), dann in Wien (1870 bis 1872) gemacht und sich dann der Advocatur gewidmet. Im Jahre 1875 wurde er von der Stadt Mühlbach, 1878 vom Burzenländer Oberland, l881 vom ersten Wahlkreis der Stadt Kronstadt in den ungarischen Reichstag gewählt.
Es traf in eine Zeit ernstester Art. Neben die altgedienten Parlamentarier der Sachsen, den hochverdienten Friedrich Kapp und den unerschütterlichen E. Gebbel, trat in ebenbürtiger Weise Zay. In jener Debatte über die Zertrümmernug des Sachsenlandes sprach er das muthige Wort:
„Es giebt Gesetze, deren Abänderung schon deshalb nicht im souverainen Belieben der Gesetzgebung steht, weil sie den Charakter eines zweiseitigen Vertrages haben und aus ihnen wohlerworbene Rechte erwachsen sind,“ und: „Hinter uns steht das ganze sächsische Volk; die sächsische Nation wird eine Confiscation ihrer auf Gesetz und Vertrag beruhenden Rechte nimmermehr als rechtsgültig anerkennen; sie wird auf ihr gutes Recht niemals Verzicht leisten, in Anhoffung einer schöneren Zukunft und im Vertrauen auf die Gerechtigkeit ihrer Sache.“
Die Schlacht ging für den Augenblick verloren. Aber die Getreuen waren nicht besiegt. Die ungarische Regierung schritt fort auf der unheilvollen Bahn der Magyarisirung; sie brachte im Jahre 1879 einen Gesetzentwurf ein, nach welchem in jeder Volksschule das Magyarische gelehrt werden müsse – und das in einem Staate, in dem zwei Drittel Nichtmagyaren einem Drittel Magyaren gegenüberstehen. Der sächsische Abgeordnete E. Gebbel hatte Recht, als er diesen Zwang zur Erlernung dieser Sprache „eine neue Art des grundherrlichen und unterthänigen Verhältnisses, eine geistige Leibeigenschaft“ nannte. Die sächsischen Abgeordneten, darunter auch A. Zay, wiesen nach: das Gesetz sei abermals ein Rechtsbruch, indem es die Autonomie der confessionellen Schulen, die in Ungarn der einzige Hort der nationalen nichtmagyarischen Bildung sind, schwer schädige und die Volksbildung hemme, weil sein Zweck nicht Bildung, sondern – Magyarisirung sei.
Mit scharfen Worten geißelte Adolf Zay die Thatsache, daß die innere Politik Ungarns zum Theil von Renegaten gemacht werde, und „daß das Schmarotzergeschlecht der Neophyten nur dort zu Einfluß und Macht gelangen kann, wo das öffentliche Leben krank ist“, und schloß die Rede mit dem Wunsche, „daß es dem magyarischen Stamme rechtzeitig gelingen werde, sich aus dem Taumel des forcirten Patriotismus dieser Tage zu ernüchtern“.
Ein vergeblicher Wunsch! Der Trank des Chauvinismus wirkt nicht nur berauschend, er läßt den einmal Gefangenen nicht mehr frei.
Zur Magyarisirung der Volksschule war der erste Schritt gethan; Gymnasium und Realschule sollten rasch folgen. Im März dieses Jahres kam das Mittelschulgesetz zur Verhandlung vor den ungarischen Reichstag, dessen Zweck kein anderer war, als die Magyarisirung der Mittelschulen. Und doch giebt es heute schon keine anderen deutschen Gymnasien in ganz Ungarn als die sächsischen in Siebenbürgen. Die anderthalb Millionen Deutsche in Ungarn haben zur Erziehung ihrer Intelligenz blos – magyarische Anstalten!
Das Mittelschulgesetz ist in Deutschland vielfach erörtert worden und darum wohl bekannt: es zwingt alle nichmagyarischen Anstalten zur obligaten Erlernung des Magyarischen in weitem Ausmaß, fordert magyarische Lehramtsprüfung von allen Candidaten, erschwert damit insbesondere den Deutschen den Besuch [647] der deutschen Hochschulen, verbietet die Unterstützung evangelischer Anstalten von Seiten auswärtiger Herrscher und Staaten, während die Verbindungen der römisch-katholischen Behörden mit dem Ausland hiervon ausgenommen werden.
In diesem schweren Kampfe um die höchsten Güter sind die sächsischen Abgeordneten im Pester Reichstage Schulter an Schulter gestanden, allen voran Joseph Gull, Dr. Karl Wolff, Adolf Zay. Wir können, was sie geredet, hier nicht einmal auszugsweise andeuten. Die Reden sind gedruckt und seien hiermit jedem deutschen Manne, der die Ehre des deutschen Geistes hoch hält, dringend zur Beachtung empfohlen. („Der Mittelschulgesetzentwurf im ungarischen Reichstag. Uebersetzung aus den stenographischen Reichstagsberichten.“ Hermannstadt, 1883. J. Drotleff[WS 1].) Es giebt Zeiten, wo schon das Wort eine That ist. Solche Worte sind jene Reden! Sie sind es in ihrer Entschiedenheit, in ihrer Berufung auf das Gesetz, in ihrer Sachlichkeit, und all das um so mehr, als es sich nur zu wahr gezeigt, was Gull bezüglich einer Rede des Ministerpräsidenten Tisza sagte, in der dieser in gewohnter Weise, ohne Gründe, gegen die Sachsen „gehetzt“ hatte: „Ich wußte es sofort, daß, nachdem nun der Damm durchbrochen worden, das gewisse getrübte Wasser in mächtigen Wogen hervorbrechen werde!“
Und wie trüb und wie schmutzig!
Wir aber freuen uns, daß das deutsche Recht solche Vorkämpfer in Ungarn gefunden, und sprechen mit den Worten der Zustimmungsadresse, die mit vielen tausend Unterschriften den sächsischen Abgeordneten den Dank des Sachsenvolkes darbringt: „So wenig die Aussichtslosigkeit des Kampfes Sie abgehalten hat, Ihre Pflicht zu thun, ebenso wenig wird der augenblickliche Mißerfolg uns abhalten, zu glauben, daß das gebeugte Recht doch noch Anerkennung finden werde!“[2]
Für dieses gebeugte Recht auch in der sächsischen Nationsuniversität (früher politische Vertretung des Sachsenlandes, jetzt Verwalterin des sächsischen Nationalvermögens) einzutreten, hat das sächsische Volk die drei Männer, Gull, Wolff und Zay, im Mai dieses Jahres auch als ihre Vertreter dorthin gewählt. Unmittelbar nach der Mittelschuldebatte bedeutet das zugleich eine glänzende Anerkennung ihrer Haltung – der Haltung deutscher Männer!
In den Schlössern der Maria Stuart.
Warum ist das Interesse an Maria Stuart noch nicht erloschen? Weshalb suchen nicht nur Dichter und Maler, sondern auch Geschichtschreiber immer wieder die Gestalt der unglücklichen Königin aus Jahrhunderte langem Schlummer zu wecken? War sie etwa eine große Fürstin? Zeichnete sie sich durch Seelenadel und Tugenden vor ihren Zeitgenossen aus? Kann ihre Schönheit den Antheil erklären, den wir Alle an ihr nehmen? Sind wir vielleicht Sclaven des romantischen Hauches, welcher die harten, alltäglichen Linien in den Zügen der Männer und Frauen des Hauses Stuart verhüllt? Verdeckt uns nicht der süße, sentimentale Nebel die nüchterne Wahrheit, daß ein Element des scheinbar auf der Königsfamilie lastenden Fluches nichts anderes ist, als die naturgemäße Strafe für alle die Fehler, welche aus den geistigen und sittlichen Mängeln ihrer Glieder entspringen: aus der Unfähigkeit, ihre Zeit zu begreifen, aus überspanntem Idealismus, falscher Ritterlichkeit, unkluger Hartnäckigkeit und der Vorliebe für krumme Wege? Läßt das Unglück der schönen Frau eine Saite in unserem Herzen anklingen? Spricht das Geheimniß, welches noch immer ihr Leben umschwebt, zu unserer Phantasie? Oder verlangt es eine Lösung von unserem Verstande? Ja, was bewegt mich denn, die schmutzige Hauptstraße des schottischen Städtchens hinabzuwandern?
Ich beantworte diese Fragen nicht nur nicht, sondern ich stelle mir obendrein die neue, ob diese Umgebung der Ehre würdig ist, der Geburtsort Maria Stuart’s zu sein …
Dort stand das Haus, aus welchem Hamilton den Regenten erschoß, sagt mein Begleiter, im Begriff, mich zu verlassen. Wie ich mir die Begebenheit recht lebendig vorstelle: ein Haufen Gewappneter reitet hinab die schmale, vom Pferdegetrappel widerhallende Straße; der Regent, inmitten schottischer Ritter, schaut hinauf zu den Fenstern, aus denen sich neugierige Gesichter drängen; jetzt übertönt ein Schuß das Rauschen des Zuges, der Regent taumelt, Verwirrung in den stockenden Reihen, Edle drängen sich um Murray, Andere springen vom Pferde, schlagen die Hausthür ein – da erblicke ich an eben dieser Thür, sanft an die steinerne Einfassung gelehnt, ein Mädchen von fremdartiger Schönheit. Schwarzes Haar umrahmt die breite Stirn. Die Augenbrauen beschreiben einen klar gezeichneten Bogen um die großen, tief leuchtenden Augen. So üppig der rosige Mund! Und wie das großcarrirte Tuch, welches sie um die runden Schultern hält, zu den kräftigen Farben ihres gebräunten Gesichtes paßt! Eine echt keltische Erscheinung, die man selten in Norfolk und Suffolk finden würde. Und vielleicht bildet die schmutzige Stadt mit den dunkeläugigen Keltenmädchen und der Erinnerung an ein Verbrechen doch den passenden Eingang zum Stuart-Schlosse Linlithgow.
Jetzt erblicke ich zum ersten Mal seine düsteren Umrisse. Den Kiesweg hinaufschreitend, an der alten Kirche vorüber, werde ich den massenhaften Charakter des viereckigen Gebäudes gewahr. Noch stehen die Mauern des ausgebrannten Schlosses unerschüttert, aber es kann auch dem flüchtigsten Beschauer das Gepräge des Ruinenhaften nicht verbergen. Die hohen Fensteröffnungen sind nicht leer, denn Dohlen und Krähen, die gewöhnliche Beigabe alter Schlösser, fliegen dort krächzend ein und aus. Eigenthümlich ruhig erscheint neben dem schweren, starren Gemäuer der glatte See, der sich zur Linken an den sanft abfallenden Rasengrund schmiegt und sich still zu den gegenüberliegenden Hügeln dehnt. Welches bunte Gewoge von Damen und Rittern, von schlanken Schotten und anmuthigen Französinnen in diesem Parke, auf jenem See, als Jakob V. und Maria von Guise hier ihren prunkenden Hof hielten! …
Eben bedeutet mir ein Mann in Uniform und mit einem schweren Schlüsselbunde in der Hand, ihm in das Schloß zu folgen. Wir gehen unter einem einfachen Porticus, durch eine dröhnende Halle hinab in den rechteckigen Hof. In der Mitte liegen die Trümmer eines alten Brunnens. Die vier Wände laufen in vier runden Thürmen zusammen, deren schraubenförmig über einander aufsteigende Fenster auf eine im Innern befindliche Treppe hindeuten. Die uns gegenüberliegende nördliche Façade ist am gegliedertsten und leichtesten. Sie wurde erst von Jakob VI., dem Sohne der Maria Stuart, gebaut und enthält zahlreichere Fensteröffnungen als die ältern Theile des Schlosses. Rechts auf der Ostseite befindet sich der ehemalige Haupteingang, ein weites gewölbtes Thor. Die größte Bedeutung desselben verkündet ein verwitterter Schmuck über dem Thorbogen. Der untere Theil der Zierrath, drei leere, hohe Nischen, fesselt einen Augenblick unseren Blick. Dann gleitet er höher hinauf, wo sich verstümmelte Engel auf der Mauer ausbreiten.
Wir gehen durch die Thorhalle und gelangen am anderen Ende vor einen tiefen verwilderten Graben. Ehemals verband eine Zugbrücke das Schloß und das jenseitige Ufer. Auf demselben ist der Weg, welcher in früheren Zeiten auf den Eingang zuführte, noch deutlich erkennbar. Von hohen Bäumen eingefaßt, biegt er nach rechts durch den Park. Links schimmert der See silbern durch’s Gebüsch.
Auf dem Rückwege in das Innere des Schlosses bleibt mein Führer nach einigen Schritten stehen, nimmt ein Döschen aus der Tasche und empfiehlt mir Aufmerksamkeit. Jetzt beugt er sich vornüber, zündet ein Streichhölzchen an und wirft es in einen finsteren Spalt. Wir sehen es eine zeitlang fallen und dann plötzlich verlöschen. Dies war der Kerker des Schlosses, erzählt er, mich bedeutungsvoll ansehend. Wie angenehm mußte es für die [648] Könige des Hauses Stuart gewesen sein, ihre Feinde unter dem Thore ihres Palastes in einer feuchten, dunklen Grube zu wissen!
Erst wenn man die Treppen hinaufsteigt, wird der Zustand der Verwüstung, in welcher sich das Schloß befindet, recht ersichtlich. Der Stein tritt überall nackt an’s Licht; die Decken sind eingestürzt; von oben, von den Seiten blickt der graue, schottische Himmel in die Ruine hinein. Und doch war Linlithgow noch im vorigen Jahrhundert einer der schönsten Paläste Schottlands, bis die Dragoner des englischen Generals Hawley in der Nacht vor der Schlacht bei Falkirk im Jahre 1745 in einem Zimmer ein Feuer ausbrechen ließen, welches das ganze Gebäude zerstörte.
Wir gehen rasch durch den ehemaligen Parlamentssaal, der mehrere Feuerherde von unglaublicher Größe aufzuweisen hat, wir verweilen einen Augenblick in der anstoßenden Capelle, wo, nach der Ueberlieferung, eine Erscheinung den König Jakob IV., den Großvater Maria’s, vor dem Kriege gegen England warnte, und betreten darauf den westlichen, den ältesten Flügel, welcher die Privatgemächer der königlichen Familie enthält. Ein weiter Raum wird als das Wohnzimmer der Königin bezeichnet; in dem anstoßenden etwas kleineren fand die Geburt Maria Stuart’s am 8. December 1542 statt. Beide Zimmer haben eine liebliche Aussicht auf den Rasengrund und den See. Die Wände sind so dick, daß auf den Fensterbänken jedes Fensters vier Personen Platz finden.
Als die Prinzessin hier geboren wurde, lag ihr Vater in einem entfernten Schlosse im Sterben. Auf die Nachricht von der Geburt Maria’s sagte er schwermüthig: „Es kam mit einem Mädchen und es wird mit einem Mädchen zu Ende gehen!“ Das waren die letzten, bitteren Gedanken des noch jugendlichen, unglücklichen Königs. Es fehlt auch selbst hier nicht an der für ein Stuart-Schloß charakteristischen Umgebung. Denn in dem anstoßenden Gemache wird uns eine geheime Treppe gezeigt, auf welcher Jakob III. den Nachstellungen seines rohen Adels, der ihm nach dem Leben trachtete, mit knapper Noth entkam.
Langsam steigen wir nun eine der Wendeltreppen hinan und schauen, auf dem damaligen Dache angekommen, längs der senkrecht emporsteigenden, rauchgeschwärzten Mauern in die stillen, trümmerbedeckten Räume. Eine gewundene Treppe, welche noch höher führt, scheint in der Luft zu schweben. Die Verlockung ist so gewaltig, daß wir rasch hinaufeilen. Mit der letzten Stufe haben wir den höchsten Punkt des Schlosses erreicht. Rings liegt das Land ausgebreitet vor uns. Gegen Norden, hinter den Hügeln, welche den See umgeben, streckt sich die helle Fläche des Meerbusens von Forth (Firth of Forth) in’s Land. Auf dieser Seite begrenzen den Blick die edelgeformten kräftigen Berge der Grafschaften Fife und Kincardine. Südlich erhebt sich schönes, das Städtchen Linlithgow umgrenzendes Hügelland. Und jetzt, wo wir die Aussicht nach einer andern Richtung genießen wollen, verdeckt uns den Blick ein kleines, achteckiges Thürmchen, vor dessen Thür wir stehen und welches wir bisher nicht bemerkt hatten. Wir treten neugierig durch den niedrigen Eingang ein, wir befinden uns im Lieblingsstübchen der Königin Margarethe (Queen Margaret’s bower). Hier saß die Fürstin, die Großmutter Maria Stuart’s, tagelang, nachdem ihr Gemahl Jakob IV. in den Krieg gegen England gezogen war, und schaute sehnsuchtsvoll hinüber nach den Hügeln, in der Hoffnung, den Zug der wiederkehrenden Krieger zu erspähen. Endlich ward ihr die Kunde, daß der Gemahl mit allen seinen Mannen auf dem Schlachtfelde zu Flodden Field erschlagen liege. Einige Verse Walter Scott’s über der Thür deuten die Stimmung der unglücklichen Fürstin an, und wahrlich, wenn man an einem schwermüthigen, schottischen Herbstabend hoch über dieser Trümmerwelt steht, dann flößen die beängstigende Stille, welche auf der Landschaft ruht, und die Bilderkette von Rohheit, Verrath, Mord und Unglück, welche das alte Schloß vor unserer Seele entrollt, etwas von der grenzenlosen Einsamkeit und Trauer der hoffenden und verzweifelnden Königin in das Gemüth. So groß ist sie, daß man sich versucht fühlt, die Geschichte Margarethens für die Erfindung eines Dichters zu halten, der, seine Phantasie entlastend, die Gestalt der unseligen Fürstin aus seinen Empfindungen schuf, um in Anderen einen Nachhall der Gefühle zu wecken, welche ihn hier durchbebten. So stark ist sie, daß man hinuntereilt, um das alte, ungastliche Gemäuer zu verlassen und den düsteren Empfindungen, welche es hervorruft, zu entrinnen.
Und schon dampfen wir durch die hügelige Gegend. Das Land dehnt sich bald zu einer weiten Ebene aus. Rechts erheben sich die Pentland-Hügel. Die Häuser ballen sich allmählich dichter zusammen. Wir fliegen durch einen Tunnel, halten, steigen eine Treppe hinauf und befinden uns in Princes’ Street in Edinburgh. Es giebt vielleicht keine Straße in Europa, welche sich an eigenthümlicher Schönheit mit ihr messen kann. Auf der Nordseite stehen stattliche, hohe Häuser; von der Südseite, welcher neben mehreren öffentlichen Gebäuden besonders das Walter Scott-Denkmal zur Zierde gereicht, hat das Auge einen entzückenden Blick auf ein im üppigsten Grün schimmerndes Thal, dessen gegenüberliegender Abhang schroff und steil zu der ausgedehnten Hochfläche emporsteigt, auf welcher die schweren Massen von Edinburgh Castle lasten. Schöne Brücken überspannen die Schlucht. Eine derselben führt uns aus der eleganten Neustadt, an deren Saume wir uns befanden, [649] in die winklige, steile Altstadt hinauf. Wo die Straße freier wird, erblicken wir den Aufgang zu dem Bergschlosse vor uns. Der Burgberg erscheint hier, wo wir den Südabhang sich fast senkrecht aus der Ebene erheben sehen, höher und steiler, als von Princes’ Street aus.
Edinburgh Castle ist heutigen Tages eine Caserne. Daran gemahnt uns die breitschultrige Schildwache in Hochland-Uniform, die, wie alle englischen Soldaten, auf Wache eilig auf- und abläuft und scharf Kehrt macht. Es ist fast selbstverständlich, daß sich in früherer Zeit auch ein Staatsgefängniß hier befand. Das allererste Gebäude, welches der Besucher betritt und unter welchem der Aufgang zum Schlosse durchführt, enthält den Kerker, in welchem der Marquis von Argyle die letzte Nacht vor seiner Hinrichtung zubrachte.
Nachdem wir, langsam aufsteigend, den Gipfel des Berges erreicht haben, entfaltet sich vor unseren Augen ein Landschaftsbild von überraschender Großartigkeit. Edinburgh Castle ist mit der Akropolis von Athen verglichen worden. Rings um den Burgberg lagert ein schornsteinreiches Häusermeer; an dem malerischen Calton Hill vorbei wogt es nach der in Rauch gehüllten Hafenstadt Leith, dem schottischen Piräus, hinab. Dahinter der glitzernde Meerbusen des Forth, zwischen der nach Norden biegenden Südküste und den edelgeschwungenen Bergen von Fife, dem schottischen Argos, in den deutschen Ocean hinausrollend. Es fällt nicht schwer, sich ein im Meerbusen liegendes Eiland als Aegina vorzustellen. Hinter uns streben die Arthur’s Seat[WS 2] und Salisbury Craigs[WS 3] genannten Hügel empor; in größerer Entfernung thürmen sich die Portlandberge auf.
Wer das Schloß besucht, ist auf den Anblick zweier Zimmer gespannt, welche Maria Stuart als Gemahlin Darnley’s bewohnte. In dem ersten hängt ein in Oel gemaltes Bildniß der Fürstin. Es entspricht nach meiner Meinung am meisten dem Eindrucke, welchen ihre Lebensschicksale hervorrufen. Leider ist es von allen Abbildungen der Königin am wenigsten bekannt. Die Photographien geben auch nicht im Entferntesten den Charakter des Gesichtchens wieder: die Heiterkeit, die Herzensgüte, die unbewußte Sinnlichkeit, kurz, das ewig Weibliche ihrer Erscheinung. Kein Zug, der auf geistige Kraft oder Energie des Charakters schließen ließe! Die Natur hat sie dazu bestimmt, in friedlicher Zeit zu leben, zu lieben und geliebt, bewundert, angebetet zu werden. Welches muß ihr Loos sein, wenn sie ohne den Schutz eines Vaters, eines Bruders, eines Gatten, umgeben von Intriguanten und Schurken, ohne königliche Macht, dem Ehrgeize und der Selbstsucht roher Barone preisgegeben wird!
Sie ist als die Braut des Dauphins dargestellt. Ein reicher Goldschmuck windet sich um das zarte Hälschen, unter dem zierlichen Häubchen drängt sich braunes, fein gekräuseltes Haar hervor. Die Stirn wölbt sich fast kindlich über den braunen, schelmischen Augen; jugendlich zart sind die unberührten weichen Lippen. Es ist schade, daß kein deutscher Maler in einer Copie, welche die verblichenen Farben des Originals aufblühen läßt, uns den ganzen holden Reiz dieses Antlitzes offenbart hat. In dem anstoßenden Zimmer gebar Maria Stuart Jakob VI. von Schottland, bekannter unter dem Namen Jakob I. Die aus dem sechszehnten Jahrhundert stammende, wohl erhaltene, getäfelte Decke ist in Fächer eingetheilt, auf welchen abwechselnd die von einer Krone überragten Initialen J. R. und M. R. angebracht sind. Auf der Wand unter dem schottischen Wappenschild steht eine Inschrift mit dem Datum: „19th IVNII, 1566“.
Beim Verlassen des Schlosses gelangt man in die ziemlich steil abfallende High-Street, die bedeutendste Verkehrsader der [650] Altstadt. Sie wurde im vorigen Jahrhundert für eine der schönsten Straßen Europas gehalten, warum, ist uns heute unverständlich. Die Gebäude sehen vernachlässigt aus, aber der Historiker und Antiquar treibt sich gern in dieser Gegend umher. Dort steht, etwas in die Straße vorspringend, das Haus des schottischen Reformators John Knox. Aus dem Eckfenster des ersten Stockes predigte er oft seinen in High-Street versammelten Anhängern. Es wäre der Mühe werth, die Außentreppe hinaufzusteigen, in die kleinen düsteren Zimmer einzutreten und einen Augenblick auf dem Stuhle des fanatischen Geistlichen auszuruhen, welche Ehre jedem Besucher angeboten wird, aber unser Weg führt uns vorüber. Unser Ziel ist Holyrood Palace, welcher High-Street im Osten abschließt.
Der Palast hat weder eine hervorragende Lage wie Edinburgh Castle, noch besitzt er den Zauber des Alters, wie das Schloß zu Linlithgow. Es ist ein keineswegs imposantes viereckiges Gebäude in ebener Lage, welches erst in der zweiten Hälfte des siebenzehnten Jahrhunderts errichtet wurde. Ein alter, auf dieser Stelle stehender Palast brannte im Jahre 1542 nieder. Das Schloß, welches nach dem Brande wieder aufgebaut wurde, bewohnten Lord Darnley und die Königin nach ihrer Rückkehr aus Frankreich. Ein großer Theil desselben wurde im Jahre 1650 ein Raub der Flammen. Glücklicher Weise blieben die Privatgemächer der Maria Stuart und ihres Gemahls verschont. Beim Neubau wurden sie dem jetzigen Gebäude einverleibt und bilden die Nordwestecke des heutigen Schlosses. Von dem inneren rechteckigen Hofe führt eine Treppe in die Zimmer Darnley’s, in denen nur Eins den phantasievollen Reisenden anzieht: eine schmale offene Thür. Durch diesen Ausgang blickt man auf die berüchtigte steinerne Wendeltreppe, welche in Verbindung mit dem Maria Stuart als Schlafgemach dienenden Raume steht. Auf den schmalen, halb in Dunkel gehüllten Stufen drang Darnley an der Spitze einiger Freunde in die Zimmer der Königin, um ihren Geheimsecretär zu ermorden.
Die Gemächer Maria Stuart’s liegen einen Stock höher. Es sind vier unregelmäßig gebaute Zimmer von ungleicher Größe. Zuerst gelangen wir in das halbdunke Audienzzimmer. Hinter der Thür wird uns auf den Dielen ein großer Fleck gezeigt mit dem Hinzufügen, daß sich hier Rizzio verblutet habe. Der zweite Raum war das Schlafgemach der Königin. In demselben steht noch das vermoderte, zerfetzte Himmelbett Maria’s und einige alte Möbel. Auf der Ostseite mündet die vorher erwähnte Wendeltreppe. Einen Schritt von ihr entfernt, auf der Nordseite, gelangt man durch eine niedrige Thür in ein schmales hohes Zimmer. Hier speiste die Königin mit Rizzio und einigen Freunden an dem Abend, welchen Darnley zur Ausführung seines Verbrechens erwählt hatte. Unbemerkt waren die Mörder in das Schlafgemach gelangt und drangen plötzlich in das enge Zimmer. Der Italiener klammerte sich voller Todesfurcht an das Kleid der Königin. Darnley suchte ihn aus dem Zimmer zu reißen, um ihn vor den Gemächern seiner Gemahlin zu tödten. Aber in der Ungeduld der Mordgier versetzte ihm Einer einen Dolchstoß, worauf auch die Uebrigen über Rizzio herfielen. Halb entseelt ward er durch das Schlafzimmer und das Audienzzimmer geschleppt und sank, aus dreiundfünfzig Wunden blutend, in der Nähe der Treppe todt zusammen. Die vierte, unregelmäßig gebaute Kammer benutzte die Königin als Ankleidezimmer. Es ist ein nüchterner, in keiner Beziehung merkwürdiger Raum.
Man verläßt den Palast gern, wie alle Stuart-Schlösser. Denn fast jedes erweckt schmerzliche, niederdrückende Erinnerungen, welche kein erhebender Gedanke erträglich machen kann. Ueberall unmännliche Gewaltthat oder feige Hinterlist eines rohen, gesetzlosen Adels! Wir athmen auf, wenn wir wieder das offene Land vor uns erblicken, welches der Schnellzug mit uns durchbraust. Noch einmal haben wir Gelegenheit, Linlithgow Castle rechts von uns auf dem Hügel zu sehen. Jetzt eilen wir über das Schlachtfeld, auf welchem der volksthümliche Held Schottlands, William Wallace, die entscheidende Niederlage erlitt, die ihr letztes trauriges Nachspiel in der Hinrichtung des edlen Patrioten fand. Oben links, für das bloße Auge kaum erkennbar, steht ein kleines weißes Denkmal an der Stelle, von welcher er, angesichts des prächtigen Meerbusens und der hochragenden Berge, den Kampf gegen den englischen König leitete.
Nun liegt das Schlachtfeld von Falkirk vor uns. Hier besiegte „Prinz Charlie“, der junge Prätendent, zum letzten Male die englischen Truppen. Schon fliegen wir an Bannockburn vorüber, wo Robert Bruce die Truppen Eduard’s II. vernichtete. Das Schloß, welches wir in diesem Augenblicke auf steiler Höhe schimmern sehen, ist Stirling Castle. Auf jener luftigen Höhe hat Maria Stuart oft residirt und einige ungetrübte Stunden verlebt. Aber da das Schloß keine besonders werthvolle Erinnerung an die Königin birgt, lassen wir uns vom Dampfroß weiter durch stille Thäler, an hohen Bergen vorüber tragen und gelangen nach mehrstündiger Fahrt an die Ufer des Loch Leven. Der weite, schöne See wird im Süden von einer Bergreihe begrenzt, im Norden breitet sich die Ebene von Kinroß aus. Ungefähr eine Viertelstunde vom Ufer entfernt liegt eine keine Insel, über deren Baumkronen ein viereckiger Thurm, an den sich verfallenes Gemäuer lehnt, ein wenig hervorragt. Dort wurde Maria Stuart gefangen gehalten, nachdem sie im Jahre 1567 in die Gewalt der aufständischen Lairds gefallen war. In einem Thurmzimmer verlebte sie neun Monate, Tag und Nacht bewacht, bitter gekränkt und mit erfinderischer Lust erniedrigt von der Mutter des Regenten, welche einstens die Gunst Jakob’s V., des Vaters der Maria Stuart, genossen hatte.
Nach einem Versuche Maria’s, in den Kleidern einer Waschfrau zu entkommen, bei dem sie von den Bootsleuten erkannt und gezwungen worden war, in den Thurm zurückzukehren, gelang es endlich George Douglas, die Schlüssel des Schlosses an sich zu bringen und mit der Königin in der Nacht des 2. Mai 1568 über den See zu entfliehen. Die Schlüssel, welche er in den Loch Leven warf, sowie ein Elfenbeinscepter der Königin wurden im Anfange dieses Jahrhunderts auf dem Boden des Sees wiedergefunden und werden in der Residenz des Grafen von Morton aufbewahrt.
Während wir am Ufer des Sees sitzen, ist die Nacht hereingebrochen. In den Häusern blitzen die Lichter und am Himmel die Sterne auf. Wie die Dunkelheit sich auf die plätschernden Wellen senkt und die stille Außenwelt weniger und weniger das Gemüth beschäftigt, ziehen um so lebensvollere Bilder aus dem ferneren Schicksale der freudlosen Fürstin an dem inneren Auge vorbei. Bald nachdem sie Loch Leven Castle verlassen hatte, trieb sie eine unglückliche Schlacht über die Grenzen ihres Reiches. Den schottischen vertauschte sie mit einem englischen Kerker. Indem unser Blick nach der finsteren dunkelnden Masse ihres ersten Gefängnisses hinüberschweift, steht eine andere Ruine, Hunderte von Meilen entfernt, vor unserer Seele: Fotheringhay Castle in Northhamptonshire.
Der Letzte von Hohen-Realta.
„Aus dem dunkeln Geklüft und zerriss’nen Gestein
Was stürzet dort siegend hervor?
Es ist der gewaltige, freie Rhein,
Der sprengte das Felsenthor.“
Wer kennt nicht wenigstens vom Hörensagen jene großartige Alpenschlucht, welche anderthalb Stunden lang, von über tausend Fuß hohen Felswänden eingeengt, das angestaunte Kleinod des an Naturschönheiten so reichen Cantons Graubünden bildet? Wer kennt nicht die Via mala, den „bösen Weg“, auf dessen Grunde der jugendliche Rhein bald ruhig seine schimmernden Wellen spielen läßt, bald, durch Schmelzwasser der Berge aufgeregt, mit wildem Getose dahinbraust? Einst zogen hier die Kriegsheere verschiedener Nationen über den sich aufthürmenden Alpenkamm, und mühsam beförderten hier die Säumer ihre Waaren, gegen Raubritter die Sicherheit des Handels und Wandels mit Geld oder bewaffneter Faust, je nach der Zeiten Lauf, erringend. Und wo am Eingang zu dieser finsteren Schlucht das liebliche Domleschgerthal seine Reize entfaltet, blinkten vor Zeiten von den [651] Kuppen der einzelnen Berge viele herrliche Burgen, in denen das laute, übermüthige Ritterleben in Saus und Braus dahinflog und tief im Thale wenig erfreulichen Widerhall weckte.
Heute hört man sie nicht mehr, die feierlich kriegerischen Klänge und begeisterten Harfengesänge, entschwunden sind für immer unseren Blicken „jene Ritter voll Muth“ und „Fräulein so hold und gut“. Nur die alten Burgen am Rhein träumen noch von jenen Tagen, wiewohl
„Verfallen und wehmuthsvoll schauen
Zu Thale, die Thürme, die grauen, –
Ein geisterhaft Flüstern um sie.“ –
Ja, die Geister der Volkssage werden immer müde, und was die geschriebene Geschichte nicht zu erzählen weiß, davon pflegen sie den kommenden und gehenden Geschlechtern zu berichten. So haben sie denn auch die höchste jener Burgen, gleich einer Königin, mit ihrem schimmernden Glanze gekrönt.
Da erhebt sie sich auf hoher Felsenstufe, himmelanragend, die ehrwürdige Ruine der Burg von Hohen-Realta (auch Hohenrhätien genannt). stolz blickt sie von ihrer Höhe auf das Domletschger Thalgefild hinab und scheint wie ein vereinsamter Wachtposten den Eingang der Via mala zu hüten. Die Geschichte berichtet uns, daß sie einst eine gewaltige Veste war, ausgezeichnet durch ihre Lage und ihre Bauwerke. Vier Thürme beschützten sie, und noch heute sieht man von dem nördlichsten derselben stattliche Reste.
Ein sagenhafter König Rhätus soll sie schon im dritten Jahrhundert v. Chr gegründet haben, und in den zwei Jahrtausenden, die seitdem verflossen, schaute die Burg auf Handlungen und Wandlungen[WS 4], welche der Lauf der Geschichte zu ihren Füßen im Thal hervorbrachte. Aus einem stolzen königlichen Sitze wurde sie selbst zu einer Ritterburg, in welcher die Zwingherren des Landes nach ihrer Weise schalteten und walteten.
Und merkwürdig! Ebenso dunkel wie die Entstehung ist auch das Ende Hohenrhätiens. Aber sein Untergang mußte mit tragischen Kämpfen verbunden sein, denn was uns die Sage davon berichtet, das zeugt von tollkühnem Mute und blinder Verzweiflung.
Der letzte der Herren auf Hohen-Realta, genannt der rauhe Conrad, soll die schöne Tochter des greisen Andreas von Ehrenfels (der benachbarten Burg) geraubt haben. Der Raub sollte nicht ungestraft bleiben, und die Mannen des Ehrenfelser und die Bauern der Umgegend stürmten das Schloß. Als nun der Sieg den Gegnern des Hohenrhäters zugefallen war, da hat Conrad seinem Rosse die Augen verbinden lassen, ihm die Sporen gegeben und sich so vom Felsen in den Rhein hinabgestürzt. Erst nach zweitägigem Suchen wurde die Tochter im Burgverließ gefunden und ihrem bekümmerten Vater zugeführt.[3]
So erzählen sich die Einen im Volke. Aber es giebt noch andere Varianten der Sage. Eine im Jahre 1742 erschienene Beschreibung von Graubünden durch R. Gererhard spricht in folgender Weise von Hohenrhätien:
„Ein Stück ob Sils sind die Rudera des ältesten Schlosses von ganz Bünden, nämlich: Alta Rhätia von Rhäto circa 300 Jahre vor Christi Geburt erbauet. Dieses Hohen-Rhätien stehet nächst ob Thusis auf einem sehr hohen perpendicular aufrecht stehenden Felsen, an welchem der Hinterrhein hinfließet. Man erzählet ein artiges, wie man des letzten Zwingherrn aus alta Rhätia los worden. Nämlich als seine Feinde, die er lang genug tyrannisirt hatte, ihn in seiner Festung eingesperrt gehabt, daß er nirgends mehr echappiren können, faßte er diese desperate Resolution, und verbande seinem Pferd die Augen, setzte sich darauf, und gab ihm den Sporn und sprengte es furiose über den entsezlich hohen Felsen hinaus in die Luft, da soll auch unden observirt worden seyn, daß das Pferd ein gut Weil vor dem Mann in der Tiefe angelanget, und dem in der Luft der Bauch zersprungen, daß ihm die Därm ausgehanget, ehe er auf den Boden kommen ist. Dies war ja eine harte Cavalcade. Es wäre diesem Cavalier oder Reuter auf dem fahlen Pferd wohl bekommen, wann sein Pferd dem Pegaso gleich gewesen wäre und hätte fliegen können. –“
Hat nun die erste Variante dieser Sage Nina Camenisch, der anmuthigen Nachtigall des Domleschger Thales, den Vorwurf zu einem kurzen Roman geliefert, so dürfte die letztgenannte Erzählung durch Friedrich Neßler ihren veredelten poetischen Abschluß gefunden haben. Ihrer Auffassung entspricht wenigstens zum Theil das Gedicht „Der letzte Zwingherr Bündens“, welches den Untergang des letzten Hohenrhätiers also schildert:
Da wo der junge Rhein erzürnt und wild
Der finstern Viamalaschlucht entschießet
Und abwärts durch’s Domleschger Thalgefild
In tausend Wirbeln seine Wasser gießet;
Im Schloß, das weithin in die Schlucht hinein
Den Weg nach Welschland räub’risch kann belauern,
Der letzte Zwingherr Bündens steht allein,
Geharnischt auf der Zinne seiner Mauern.
Der Bauernaufruhr schwoll zum Schloß empor,
Im Blute liegen, die es sollten schirmen,
Empörung klopft mit starker Faust an’s Thor
Und rüttelt an den Mauern, an den Thürmen.
Des Ritters Aug’ von Berg zu Berge schweift,
Ob irgendwo noch Rettung zu erpochen;
Doch alle Burgen ringsum sind geschleift
Und alle Warten, alle Thürm’ gebrochen!
Mit hohlen Augen, wie aus off’nem Grab,
Grinst ihn der Tod an aus des Thales Schlunde,
Gebrochen ist des Adels Herrscherstab –
Er fühlt es tief und spricht mit stolzem Munde:
„Zum mächt’gen Riesen wuchs heran der Zwerg,
Die Ritter können ihn nicht mehr besiegen,
Die Landesherrlichkeit ist von dem Berg
Hinab zum Bauern in das Tal gestiegen.
Der Letzte bin ich und zum Tod bereit;
Allein der Feind soll meinen Leib nicht haben,
Mit ihm will ich die alte Ritterzeit,
Hinunterspringend in den Rhein, begraben!“
So sprechend, stürzt im Harnisch er beherzt
Hinunter in die Tiefe vom Castelle,
Und über seinen Leichnam spielt und scherzt,
Aufschäumend im Triumph des Stromes Welle.
Aber damit war die weitere Entwickelung der Sage nicht abgeschlossen. Der Raub der Jungfrau und der Kampf des untergehenden Adels mit dem um seine Freiheit kämpfenden Volke der Schweiz wurden zu einem Ganzen verbunden, und damit wurde eine neue künstlerische Ausbeutung des Stoffes ermöglicht. In diesem neuen Gewande würde die Erzählung etwa folgendermaßen lauten:
Eine vielleicht in irgend einem Grade leibeigene Tochter feiert im Thale von Domleschg die Hochzeit; sie bedurfte dazu die Erlaubniß ihres Grundherrn, weil das Verhältniß desselben zu ihren Nachkommen vorher festzustellen war. Die Sache scheint nicht ganz geordnet zu sein, und der Ritter hilft sich durch eine Gewaltthat, indem er die Braut raubt. Damit hat er wider sein Recht gehandelt und ist zum gemeinen Räuber geworden. Das im Krieg und Frieden an treues Zusammenhalten gewohnte Landvolk, zum weitaus größten Theil schon freie Leute, eilt, nachdem es sich rasch gesammelt, zur Burg hinauf und erstürmt sie. Der Ritter, keinen Ausweg findend, will sich mit der Geraubten in die tiefe Schlucht stürzen, aber das Mädchen wird ihm noch im letzten Augenblick entrissen, und er tut den entsetzlichen Sprung allein.
Das ist der Untergang des letzten Ritters von Hohen-Realta, wie ihn der berühmte schweizerische Maler E. Stückelberg, der schon durch seine Gemälde in der neuen Tells-Capelle unsern Lesern bekannt ist, in dem großartig aufgefaßten, unsere heutige Nummer schmückenden Bilde darstellt.
Mag nun diese Auffassung der wirklichen Geschichte des Domleschger Thales und des Cantons Graubünden nicht entsprechen, so bleibt ihr doch ein hoher historischer Werth erhalten. Der Schreckensruf „Tod den Tyrannen!“ ist wohl in dieser Weise niemals in jenen Bergen zur Geltung gelangt. Eine unparteiische geschichtliche Forschung ergiebt vielmehr, daß zwar die Unklarheit der Rechte und Pflichten, sowie der kriegerische Zeitcharakter im Mittelalter da und dort gewaltsame Selbsthülfe hervorrufen mußten. Aber es war in Rhätien immer so gemeint, daß Jeder bei seinen Rechten und Diensten zu bleiben habe, nach altem Herkommen. Die Conflicte, hier „Stöße“ genannt, führten allmählich zu vielen kleinen Bünden, in welchen alle Stände eines Gebietes zusammenschwuren und in welchen immer die Sicherung von Recht und Gerechtigkeit für Jedermann das Hauptziel war. Die kleinen
[652][653] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [654] Bünde verschmolzen später in drei große Bünde, und diese verbanden sich etwa im Jahre 1470 zu dem gemeinsamen Staate der „ewigen drei Bünde in Rhätien“, welcher 1803 als Canton Graubünden der schweizerischen Eidgenossenschaft beitrat.
Aber vom allgemein geschichtlichen Standpunkte und gewissermaßen allegorisch aufgefaßt, predigt uns die gewaltige Composition Stückelberg’s in beredter Sprache eine nicht abzuleugnende und wahre Thatsache.
Der an Gewaltstreiche gewöhnte Ritter ist der Vertreter des Mittelalters und steht hier dem für Rechte und Sicherheit zusammenhaltenden Landvolke gegenüber. Ihn und mit ihm gleichsam das Mittelalter läßt der Künstler durch ihre eigene Schuld auf großartige Weise untergehen, während das Volk sich selbst zu helfen weiß und durch sein Zusammenhalten und seine Bündnisse einer neuen, geregelten Staatsordnung entgegengeht.
Das Thermometer in der Familie.
Täuscht mich mein Gedächtniß nicht, sehr geehrte Frau, so kamen Sie, als ich Ihr Kind vor etwa acht Tagen zum ersten Male einer plötzlichen fieberhaften Erkrankung wegen besuchte, mir mit den besorgten Worten entgegen: ‚Ich glaube, meine Kleine hat Fieber!‘ Und als ich, leider im Augenblicke kein Krankenthermometer bei mir führend, Sie fragte, ob Sie nicht im Besitze eines solchen seien, äußerten Sie: ‚Das kenne ich gar nicht; aber ich habe ein Badethermometer!‘ – Außer demselben brachten Sie, mit zitternder Hand, von Ihrem Schreibtisch noch ein aus einem kleinen Marmor-Obelisken befestigtes elegantes Stubenthermometer herbei. Beides konnte ich, zu Ihrem Befremden, für diesen Zweck nicht brauchen, allein nach annähernder Taxation des Fiebers und unter Berücksichtigung der übrigen Krankheitssymptome ließ sich immerhin eine treffende Diagnose stellen, und ich ordnete alles Nöthige an. Dabei sprach ich den Wunsch aus, Sie möchten sich ein gutes Krankenthermnometer anschaffen, nannte Ihnen die Bezugsguelle und erkärte mich bereit, Sie im Gebrauche des Instrumentes zu unterwerfen.
Wie Sie mir gegen Abend bereits das Thermometer zurecht gelegt hatten, mit Gelehrigkeit und Eifer meiner kurzen Erkärung lauschten und die Anwendung, sowie das Ablesen der Temperatur verfolgten, wie geschickt und genau Sie es dann zu den Ihnen angegebenen Stunden selbst wiederholten und den Befund notirten – mit Vergnügen erinnere ich mich, trotzdem es für Sie recht schwere Stunden am Krankenbette des eigenen Kindes waren, Ihrer Lehrzeit. Von Tag zu Tag wuchs Ihre Sicherheit. Klar entrollte sich Ihnen das Bild der allerdings ernsten Erkrankung; mit dem Gange der Fiedercurve schwanke zwar auch Ihr Herz mit zwischen Furcht und Hoffen, aber beides war nicht übertrieben, sondern durch die Erkenntniß in maßvollen Schranken gehalten. Es war an Stelle unbestimmter, in Extremen sich bewegender Gefühle die bestimmte ernste Ruhe der Beobachtung jeder Nüance des Krankheitsverlaufs, gewissermaßen das Verständnis für Ihre Aufgabe am Bettchen der kleinen Tochter gekommen. Wenn ich an die Pünktlichkeit denke, mit der Sie zur rechten Zeit, bei richtiger Fieberhöhe das abkühlende Bad genau nach Vorschrift bereiteten, wie sich an dies Verfolgen des Fiebers zugleich eine erhöhte Genauigkeit in Beachtung sonstiger Krankheitszeichen, ein richtiges Handhaben der Diät und Pflege schloß – sagte ich mir: Jede Mutter ist doch, von Haus aus, das Muster einer Krankenpflegerin! Und als Sie mir zum ersten Mal freudestrahlend mit der stark herabgegangenen Temperaturcurve entgegenkamen (denn auch solche zu zeichnen hatten Sie rasch begriffen und Ihre Zeichenmappe längst bei Seite gelegt, um nur diese ernsten bedeutungsvollen Linien mit geübter Hand zu Papier zu bringen), da wußte ich, daß Sie für die Thermometrie gewonnen waren. ‚Dies war die Krisis! Nicht wahr?‘ flüsterten Sie an jenem Morgen und suchten in meinen Augen die Antwort zu lesen. Ich vertröstete Sie auf den Abend; und als dieser nur geringe Steigerung brachte, auch am andern Morgen die Temperatur mäßig blieb, während zugleich die kleine Patientin überhaupt offenbar wohler sich befand, waren Sie über Ihre neugewonnenen Kenntnisse der Krankenbeobachtung und der Krankenpflege seelenvergnügt, ja Sie wären am liebsten gleich selbst als Apostel dafür aufgetreten.
‚Wenn Sie mir für meine entfernt wohnende Schwester eine kurze Schilderung dessen geben könnten, was Sie mich persönlich gelehrt haben, ich wäre Ihnen ungemein dankbar. Sie hat ebenfalls keine Kinder und von allen diesen so wichtigen Dingen so wenig Ahnung, wie ich sie hatte.‘
Ihre Schwester, sehr geehrte Frau? Sagen Sie lieber Ihre Schwestern, das heißt die meisten Frauen und Jungfrauen sind in gleicher Lage wie Sie.
‚Um so segensreicher würde hier eine Belehrung sein.‘
Sie haben Recht und im kleinen Kreise suche ich täglich die Kenntniß der Thermometrie zu verbreiten, wodurch ich schon manchen Nutzen gestiftet zu haben glaube. Jedoch über diesen Kreis hinaus reicht mein Wort nicht.
‚Aber das geschriebene Wort, von einem Weltblatte verbreitet über die fernsten Lande, bei Arm und Reich, zumal in das Haus, in die Familie getragen!‘
Diesen Einwurf mußte ich gelten lassen, und ich versprach Ihnen einen offenen Brief über die Bedeutung des Thermometers in der Familie.
Sie sehen, daß ich mein Versprechen nicht vergessen habe. In der Sommerfrische, fern von meiner Wirkungsstätte, greife ich zur Feder und sende eine Art „Weltpostbrief“, dessen Entstehung Sie am besten kennen, heim; dort wird er in der Presse seine Auferstehung feiern, und das geflügelte Rad wird dann das Weitere übernehmen. Von den Kinderstuben unserer Heimath bis nach denen der andern Halbkugel unserer Erde ist freilich ein weiter Weg, und verschieden sind die nationalen und geographischen Verhältnisse, Klima und Sitte, Lebensweise und Comfort. Aber [655] der menschliche Organismus unterliegt denselben Bedingungen und die liebevolle Mühe, ein Kind gesund zu erhalten, ist im Herzen dortiger Frauen nicht minder lebendig. Man spricht nur zu einer unbekannten, ungezählten Gemeinde, in einem unermeßlichen Auditorium, dessen gewölbte Decke der Sternenhimmel ist, und doch im Grunde nur zu des Kindes Mutter, zu der sorglichen Schwester desselben, zu seiner mütterlichen Freundin oder treuen Pflegerin – kurz zur ‚Frau‘!
Soll ich eine sehr gelehrte Miene annehmen? Soll ich Ihnen eine systematische, gründliche Abhandlung schreiben? Nein! Erschrecken Sie nicht! Ich will lieber verständlich auch für die ‚Nicht-Aerztin‘ sein und mich noch rechtzeitig daran erinnern, daß die Gesundheits- und Krankenpflege volksthümliche Verbreitung finden müssen, wenn sie dem Volke nützen, in Fleisch und Blut desselben übergehen sollen. Allerdings ist, und zwar mit Recht, das Popularisiren theoretischer Wissenschaften bei Fachmännern verpönt, denn es erzeugt Verwirrung, Halbwissen, Selbstüberhebung. Hingegen ist es, wie jeder Vernünftige zugeben muß, Pflicht, die Kenntniß dessen zu verbreiten, was dazu dienen kann, das Erkranken zu verhüten, rechtzeitig zu erkennen und correct zu beobachten.
Vermeidet man dabei, zu sehr in’s Einzelne zu gehen und den Laien zu selbstständigen Diagnosen bestimmter Krankheitsformen, zum eigenmächtigen Eingreifen zu verleiten – dann bleibt man in den Grenzen, welche eingehalten werden müssen, um die Erkenntniß nicht zu einem zweischneidigen Schwerte werden zu lassen.
Folgen Sie mir im Geiste in die Kinderstube eines wohlgeordneten Hausstandes. An einer schattigen Stelle vor dem Fenster ist ein Thermometer befestigt, und die sorgliche Mutter wirft des Morgens, ehe die größeren Kinder zur Schule gehen, die kleineren angekleidet werden, einen prüfenden Blick auf dasselbe. In Verbindung mit der Windrichtung, die sich nach dem Fluge des Rauches gegenüber befindlicher Schornsteine (gute Windfahnen mit feststehender Angabe der Himmelsgegend sind leider Seltenheiten) zu beurtheilen gelernt hat, weiß sie jetzt, daß ein Ostwind weht und daß heute nur 6° R. sind.
Sie kleidet die Kinder dem entsprechend, ermahnt das Eine, auf dem Schulwege den Mund hübsch zuzuhalten, und läßt das Andere, das etwas empfindlich ist, erst Mittags in’s Freie, wo einige Grade mehr in der Luft sind. Im Hochsommer wird sie, wenn das Quecksilber schon Vormittags eine ungewöhnliche Höhe erreicht hat, die Kleinen, um sie vor Sonnenstich zu schützen, erst bei beginnender Abendkühle wieder hinauslassen. Tritt ein greller Temperaturwechsel ein – und ein solcher ist oft viel gefährlicher als anhaltend hohe oder niedere Temperatur – dann wird es ihr Auge nach eher gewahr als ihr Gefühl. Der treue Warner, das Thermometer, spricht eine stille, aber bestimmte Sprache, seine Zahlen reden, und wer sie beachtet, schützt sich, vor Allem aber die viel empfindlicheren Kinder, vor manchem Ungemach. Und nicht blos zu Haus, auch auf Reisen ist es ein guter Berather, zumal auf Bergen oder an der See, wo Wärme und Kälte oft unerwartet schnell sich ablösen.
Sehen wir uns jetzt in der Kinderstube um! Da hängt an der Wand das Badethermometer in seiner bekannten Holzhülse. Es ist jetzt gerade ‚außer Diensten‘, das heißt es versieht gegenwärtig – wie zum eigenen Vergnügen die Stelle eines Stubenthermometers. Wir haben einen kalten Wintermorgen, das Thermometer verkündet uns, daß, nachdem das abendliche Feuer im Ofen längst erloschen, die normale Temperatur (15 bis 16° R.) bei weitem nicht mehr vorhanden ist. Die Zimmerluft ist 10 bis 11°, also für das Kleine dort in der Wiege zu empfindlich, selbst für das Größere mit seinem Katarrh. Rasch ‚etwas‘ heizen. Es giebt dienstbare Geister, zumal vom Lande, welche diesem ‚etwas‘ eine große Ausdehnung geben; ihre dicke Haut, ihr mangelhaftes Urtheil und ungeschultes Gefühl läßt sie nie dazu kommen, kalt, kühl, lau, warm und heiß richtig zu unterscheiden. Nach einer Stunde betritt die Mutter wieder den Raum. Sie glaubt ihren Augen nicht zu trauen. ‚Zwanzig Grad!‘ ruft sie aus und macht sich daran, den Fehler der Ueberheizung durch Oeffnen eines Nebenzimmers wieder auszugleichen.
Ein Kind hat kühle Händchen und Füßchen – die Mutter sieht, daß die Temperatur des Zimmers zu niedrig ist. Ein Kind hat Fieberhitze, und der Arzt hat kühles Verhalten angeordnet; eine kurze Beobachtung des Thermometers und die Mutter kühlt die von der Sonne schon zu sehr erwärmte Stube durch Sprengen, durch aufgehängte nasse Laken u. dergl. m. ab, schließt die Jalousien und erniedrigt die Temperatur um 2° R., eine Mühe, die sich rasch lohnt, indem das bis dahin unruhige Kind in einen sanften Schlummer sinkt. Bald ist es am Ofen zu heiß, am Fenster zu kalt – das Thermometer giebt zuverlässige Auskunft und lehrt, sich nicht mit unbestimmten Vorstellungen zu begnügen.
Jetzt naht die Badestunde. Das Thermometer wandert in die beretts halb gefüllte Badewanne, und während noch kaltes oder warmes Wasser zugegossen wird, bewegt man es, um die wärmeren und kälteren Partien des Wassers besser zu mischen, hin und her, zeitweilig den Stand des Quecksilbers beobachtend. Sie wissen, geehrte Frau, wie verschieden warm die Kinder zu baden gewöhnt sind oder von Jugend auf zu baden gewöhnt werden, wissen aber auch, daß man nicht über 28° R. hinausgeht, auch wohl für gewöhnlich nicht unter 26° R. abwärts. Diese Grenzen durch bloßes Schätzen mit dem Ellbogen (dem üblichen Thermometer mancher Kinderwärterinnen) oder mit der Hand zu bestimmen, ist wenig zuverlässig, ja kaum möglich.
Eine gewissenlose Kinderfrau, die vom Thermometer nichts verstand, soll auf die Frage, woran sie erkenne, ob das Bad zu heiß oder zu kalt sei, die Antwort gegeben haben: ‚Wird das Kind roth, so ist das Bad zu heiß, wird es blau, so ist das Bad zu kalt.‘
Wenn das auch nur ein grausamer Scherz ist, so ist er doch aus dem Leben gegriffen.
Vor einer Reihe von Jahren starben in der Praxis einer bestimmten Hebamme einer ostdeutschen Stadt zahlreiche Kinder: sie erlagen einer Art Starrkrampf. Die räthselhafte Epidemie wurde erst durch die Medicinalbehörde aufgeklärt, deren Nachforschung der Nachweis gelang, daß die Frau die Neugeborenen ohne Badethermometer, nach bloßer Abschätzung der Badewärme, viel zu heiß gebadet hatte.
Oft genug kommt in einzelnen Fällen Aehnliches vor. Zumal aber eignet sich nicht für jedes Kind ein und dieselbe Temperatur des Bades; ein blutarmes, schwächliches wird nicht so kühles Wasser vertragen, wie ein vollsaftiges, robustes Kind, dem dies wohltuend und angenehm ist. Und wie sollte man die ärztlichen Verordnungen bezüglich der Badewärme, der abkühlenden Bäder bei Fieber befolgen, ohne die Grade genau abmessen zu können? Nur Zahlen sind hier maßgebend und beweisend, nur sie geben die Bürgschaft exacten Handelns.
Ich sehe Sie im Geiste verständnißinnig lächeln; denn jetzt taucht vor Ihnen die Erinnerung auf an die schweren, zum Glück nun gut verlaufenen Tage, in denen Sie sich so rasch die Fiebermessung angeeignet und mit dem Krankenthermometer vertraut gemacht haben. Dieses, ein feiner gearbeitetes Thermometer, ist nach Celsius in 100° (vom Null- bis zum Siedepunkte) eingeteilt; da jedoch die Körpertemperatur, auf deren Messung es in diesem Falle nur ankommt, selbst in krankhaften Zuständen nicht unter 33,5° C. zu sinken und nicht über 42,0° C. zu steigen pflegt, so ist beim Krankenthermometer alles, was unter und über diesen Grenzen ist, im Grunde unnötig. Deshalb sehen Sie eben gerade diesen Theil der Scala sorgfältig ausgeführt und jeden Grad noch in Zehntel eingeteilt. Denn bei Messungen von solcher Bedeutung kommt es auf Bruchteile eines Grades an, die man entsprechend dem Stande der dünnen, feinen Quecksilbersäule entweder mit bloßem Auge oder mit einer Loupe ablesen muß.
Nicht jedes Krankenthermometer, welches man in einem Geschäft kauft, ist excact genug gearbeitet. Erkundigen Sie sich deshalb bei Ihrem Hausarzt nach einer Quelle besonders zuverlässiger Instrumente und lassen Sie, wenn Sie besonders sicher gehen wollen, das gewählte Thermometer noch controlliren. Das eine geht vielleicht 2/10 Grad zu hoch, das andere 3/10 zu tief, ein anderes bedarf in seiner oberen, das andere in seiner unteren Partie einer Correctur, die Sie sich dann auf das Glas mit einritzen lassen. Diese Differenz bei jedem Befund mit zu- oder abzurechnen, ist kinderleicht und giebt Ihren Beobachtungen den Werth größter Genauigkeit. Aber auch ohne diese Vorsichtsmaßregel wird es immer schon verdienstlich sein, ein Thermometer aus guter Werkstatt gut benutzen zu lernen, und das Instrument genügt (nach Jürgensen), wenn es bei wiederholter Messung der Achselhöhlentemperatur bei einer gesunden Person, eine Stunde nach dem Frühstück, ungefähr 37,0 zeigt.
[656] Mit dem Thermometer vertraut, wird eine Mutter nicht mehr nöthig haben, zu sagen: ‚Ich glaube, mein Kind hat Fieber!‘ An die Stelle des Vermuthens, des bangen Zweifelns tritt das Wissen, die Bestimmtheit. Freilich läßt sich hier nicht das Wesen des Fiebers, die Lehre vom Wärmehaushalt des Körpers und seiner krankhaft erhöhten Wärmebildung erläutern; ich habe dies in einem mit vielen Abbildungen versehenen Werke ‚Das Kind und seine Pflege im gesunden und kranken Zustande‘, zweite Auflage (Leipzig, J. J. Webers ausführlich, in Verbindung mit der Lehre von den Krankheitszeichen des Kindes und der Lehre von der Krankenpflege, erörtert. Sie wissen jedoch, und das muß hier genügen, daß der menschliche Körper eine Normal-Temperatur besitzt, die allerdings zwischen 36,5° und 37,5° C. schwankt, aber doch im Wesentlichen in diesen Grenzen bleibt. Auch dürfen Sie getrost, besonders beim Kinde, noch eine Temperatur von 36,0 und 38,0 als ziemlich normal betrachten, ohne sich Bedenken hinzugeben. Nur was darunter oder darüber ist, das ist als verdächtig anzusehen und ernster zu nehmen.
Nach aufwärts zu pflegt man ein Steigen bis 38,5 als ‚leichte Fieberbewegung‘, bis 39,5 als ‚mäßiges Fieber‘, bis 40,5 als ‚beträchtliches Fieber‘ zu bezeichnen. Höchstes Fiebers ist ein Ansteigen der Körperwärme bis etwa 42,0. Sinkt andererseits die Temperatur bis auf 35,0 so ist dies ein ‚mäßiger Verfall‘. Ein Sinken bis auf 33‚5° C. deutet auf ‚tiefen Verfall‘.
Daß über 42,0° der Körper die Fieberhitze kaum erträgt, unter 33,5 die Lebensenergie sinkt, werden Sie sich ohne Weiteres selbst sagen. Solche Extreme hält eben der Organismus nicht lange aus.
Machen wir nun die Probe und messen wir die Hautwärme des Kindes. Ist es noch klein, das heißt in den ersten Lebensjahren, so bietet die Achselhöhle noch zu wenig Raum für das Quecksilbergefäßchen des Thermometers. Sie legen deshalb das Kindchen auf die Seite, etwa wie Sie es vom Klystier-Geben schon gewöhnt sind, und führen, nachdem Sie das längliche, cylindrische Quecksibergefäßchen (runde sind nicht empfehlenswerth) mit Mandelöl bestrichen haben, vorsichtig etwa 4 Centimeter weit in den Mastdarm ein. Freilich muß dieser erst von etwaigem Inhalt durch ein laues Wasserkystier befreit sein. Jetzt ist das Quecksilber, rings von Schleimhaut umgeben, im Inneren des Körpers und Sie werden, da diese Messung deshalb ziemlich schnell und genau zu bewirken ist, nach 5 Minuten (nach der Uhr gesehen!) wohl kaum noch ein Steigen des Quecksilbers bemerken. Wenn Sie 2 oder 3 Mal in Zeiträumen von je einer halben Minute bestätigt finden, daß die Temperatur sich gleich bleibt, lesen Sie mit Sorgfalt die ganzen Grade und die kleinen Zehntelstriche ab, nehmen das Thermometer vorsichtig heraus und reinigen es sofort, um es dann, in seiner Holzhülse, wieder an einen sicheren Platz zu legen.
Den Befund notiren Sie, unter Angabe der Zeit der Messung, in ein Büchlein, nicht auf ein loses Blatt; z. B.: am 6. October früh 7 Uhr – 38,8.
Bei manchen Krankenthermometern sind die ganzen Grade blos in Fünftel, bei manchen in Zehntel eingeteilt. Ersteres geschieht nur, um das Ablesen zu erleichtern, weil das Auge durch 4 kleine Theilstriche nicht so leicht, wie durch 9, zu Irrthümern veranlaßt wird. Natürlich bedeuten bei einer Eintheilung in Fünftel die kleinen Striche nur die geraden Zehntel(2/10, 4/10, 6/10, 8/10; die ungeraden Zehntel fehlen, doch können Sie dieselben ja ohne Schwierigkeit sich abzählen. Werfen Sie einen Blick auf beifolgendes vergrößert dargestelltes Stück einer solchen Thermometerscala! 39,1 würde sich zwischen 39,0 und dem ersten kleinen Strich, 39,3 zwischen dem ersten und zweiten Strich befinden. In diesem Falle ist das Quecksilber zwischen dem zweiten und dritten Strich stehen geblieben; Sie notiren also 39,5. Daneben sehen Sie ein Stück eines in Zehntel eingeteilten Krankenthermometers; hier zählen Sie einfach vom letzten ganzen Grad, also im vorliegenden Falle von 38,0 an, aufwärts; Sie zählen 8 Striche, notiren daher als das Ergebniß Ihrer Messung 38,8.
Sie sehen, die Sache ist sehr einfach. Sie erfordert nur Geduld, Sorgfalt und ein etwas scharfes Auge, die bekannten Requisiten für jede excacte Beobachtung. Ungeduld, welche es nicht erwarten kann, den Befund abzulesen und das Thermometer herauszunehmen, ist eine schlechte Eigenschaft; denn meist ist der Zeitpunkt, in dem das Quecksilber zur Ruhe kommt, noch nicht erreicht und darum der Befund ungenau. Allerdings scheinen sich die vorgeschriebenen Minuten der erwartungsvoll gespannten Beobachterin endlos auszudehnen, und auch das Kind wird ab und zu unruhig, und man hat alle Mühe, es zu verhüten, daß es sich herumwälzt, das Thermometer abbricht oder sich zu sehr aufregt. Aber Ueberredung, gutes Festhalten und Selbstbeherrschung und nun sorgfältig genau ablesen! Denken Sie an diese Hauptbedingung, und, wenn es zu dunkel oder Ihr Auge nicht scharf genug ist, gilt es, ein Stümpfchen Licht und ein Vergrößerungsglas bereit halten, um gerade die dem Arzte erwünschten Zehntel gut zu erkennen.
Bei einem größeren Kinde (natürlich auch beim Erwachsenen) genügt das Einlegen des Thermometers in die am bequemsten zugängliche Achselhöhle, deren Haut man sorgsam abtrocknet. Beachten Sie hierbei nur, geehrte Frau, daß das Quecksilbergefäßchen überall von der Haut umgeben sei, nirgends von Luft oder Leibwäsche, und halten Sie 10 Minuten den Arm sanft gebeugt und angedrückt, während Sie die teilweise entblößte Brust leicht bedecken.
‚Zehn Minuten?‘ fragen Sie mich. Allerdings, meine sehr gelehrige Schülerin. Die äußere Haut ist stets, selbst wenn sie ‚im Fieber glüht‘, noch einige Zehntel kühler, als das Innere des Körpers; die an letzterer gefundene Temperatur ist also im Grunde nicht ganz der des Körpers entsprechend und die Mastdarm-Temperatur ein wenig genauer. Doch mögen Sie die Differenz ruhig vernachlässigen, wenn Sie nur die Achselhöhlen-Temperatur nicht eher ablesen, als bis das Thermometer einige Minuten lang gleichen Stand gezeigt hat; denn etwas Zeit ist hier zu Gewinnung eines sicheren Resulutates nöthig.
Auch hier ist der Befund genau abzulesen, so lange das Thermometer noch in der Achsel liegt. Sie – als nunmehrige Kennerin – werden fast ungläubig lächeln, wenn ich Ihnen berichte, daß Neulinge zuweilen mit dem aus der Achselhöhle genommenen Thermometer erst nach dem Fenster gehen, um dort, bei besserem Lichte, den Quecksilberstand (der ja inzwischen schnell gesunken ist) abzulesen. Das dürfte man sich höchstens bei einem sogenannten Maximal-Thermometer erlauben, dessen Quecksilber in Folge einer sinnreichen Einrichtung fest auf dem höchsten Punke stehen bleibt und noch nach Stunden das Ablesen ermöglicht. Für Ihren gewöhnlichen Gebrauch bedürfen Sie dieses etwas subtilen, leicht aus der Ordnung kommenden Instrumentes nicht.
So messen Sie nun, wenn Ihnen Ihr Arzt keine anderen Zeiten vorgeschrieben hat, früh 7 Uhr, Mittags 1 Uhr, Abends 7 Uhr und so fort und notiren sich den Befund recht übersichtlich, stets unter Angabe des Datums. Der Tag der Fieberbeobachtung beginnt und endet mit den Glockenschlägen der Mitternacht, ganz wie der Tag, nach dem die Eisenbahnen rechnen. Die Frühmessung und Abendmessung sind es nun, auf die es hauptsächlich ankommt. Ist schon die Temperatur des gesunden Menschen nicht ganz feststehend, sondern früh einige Zehntel niedriger, als Abends, sodaß sie gewissermaßen eine leichte Wellenlinie darstellt, so ist dieser Unterschied bei Fieber viel greller, und es bleiben weder die Höhen der Morgen- noch die der Abendtemperatur sich gleich. Hebungen und Senkungen kommen, wenn man sich die gefundenen Temperaturen graphisch darstellt, in großer Mannigfaltigkeit, aber doch bei einzelnen Krankheiten in bestimmten Formen zum Vorschein. –
‚Graphisch darstellen! Bitte nicht so gelehrt, lieber Doctor!‘ höre ich Sie jetzt, und zur rechten Zeit, mich ermahnen. Und dennoch sind wir schon mitten in der Erklärung eines Begriffs, der Ihnen vielleicht auch noch nicht vorgestellt war: ‚Temperatur-Curve‘. Sie haben doch gewiß schon jene räthselhaften Wellenlinien in Veröffentlichungen der Meteorologen, der Statistiker etc. gesehen, welche das, was in Zahlen gefunden wurde und erst Vorstellungen nöthig macht, bildlich, für das Auge sofort und viel klarer übersehbar darstellen. In ähnlicher Weise können Sie sich die mit dem Krankenthermometer gefundenen Zahlen auf ein [657] Gitterwerk übertragen, welches Sie ohne Schwierigkeit sich auf einem Blatte Querfolio mit Bleistift und Lineal selbst herstellen können, wenn Sie es nicht vorziehen, es sich in sauberer Herstellung fertig zu kaufen.[4] Sie nehmen schon Ihr halbvergessenes Zeichenmaterial hervor, und bereits liegt ein halbirter Bogen Schreibpapier vor Ihnen ausgebreitet! Nun denn, machen Sie sich die Temperaturtabelle selbst; das ist jedenfalls, wenn man sie erst kennen lernen will, nützlicher.
Sie werden aus dem beifolgenden stark verkleinerten Schema, das Ihnen als Vorlage dienen mag, sich leicht zurechtfinden.
Links sehen Sie in senkrechter Richtung das Abbild eines Theiles der Celsius-Scala, welche, damit man nicht durch zu viele Theilstriche irre wird, nur in Fünftel getheilt ist. Die ganzen Grade gehen als stärkere, die Thellstriche als dünnere horizontale Linien weiter. Ferner sehen Sie abwechselnd stärkere und dünnere senkrechte Linien. Die stärkeren bedeuten Mitternacht, die dünnen Mittag. Zwei stärkere Linien umschließen einen ganzen Krankheitstag. Die Morgenzeit wird also zwischen die starke und dünne Linie, die Abendzeit umgekehrt zwischen die dünne und starke Linie fallen.
Sie bemerken früh, daß ein Ihnen anvertrautes Kind mit Unwohlsein und etwas Hitze erwacht, und die Messung ergiebt Ihnen 38,4. Diesen Befund tragen Sie zunächst in Ihr Notizbuch ein und gleichzeitig markiren Sie ihn auf der Temperaturtabelle an richtiger Stelle (mit Tinte) durch einen Punkt. Mittag ein Uhr messen Sie wieder. Sie finden 38,8 und markiren sich auch dies. Ihre Hoffnung, daß Bettruhe und entsprechendes Verhalten diese offenbar erhöhte Temperatur wieder ausgleichen würde, hat sich nicht erfüllt; Sie finden Abends 39,6 und ein Blick auf die mit Lineal hergestellte Verbindung dieser drei durch Messung gefundenen Punkte zeigt Ihnen deutlich ein Ansteigen der Körperwärme. Sie werden nicht zögern, einen Arzt zu Rathe zu ziehen, und wenn Sie ihm lediglich diese Beobachtungen mittheilen, ohne sich ein Urtheil über die Deutung derselben zu erlauben, wird er von diesen objektiven Wahrnehmungen, die ihm die Diagnose sehr erleichtern können, angenehm berührt sein und sich freuen, wenn die Notizen gewissenhaft fortgesetzt werden. Das Entsetzliche für den Arzt sind nur die ihm von halbunterrichteten Müttern entgegengebrachten, natürlich meist falschen Diagnosen, die übertriebenen Aeußerungen mancher Frauen, ganz besonders bezüglich des Fiebers. Vergessen Sie darum nicht, daß selbst hohe Fiebersteigerung bei Kindern schnell vorübergehend und sehr bedeutungslos sein kann und daß zuweilen von geringfügigen Störungen gerade das Kind eine scheinbar stürmische Vermehrung der Körperwärme erfährt, die sich ebenso schnell wieder ausgleicht.
Im vorliegenden Falle finden Sie die kleine Patientin am anderen Morgen nicht fieberfrei; die Temperatur ist nur wenig gesunken; sie hat die Norm nicht erreicht. Ihr Arzt constatirt dies bei dem Morgenbesuche; er verordnet das Nöthige, und Sie haben ihm durch die vorherige Messung Zeit und Mühe gespart. Bis zum Abend ist die Temperatur noch höher gestiegen, bis auf 40,3. Jetzt hat der Arzt ein Bad von 26° R. angeordnet, das nach und nach durch Zugießen von kaltem Wasser bis auf 20° R. abgekühlt werden soll, worauf dann zum Schluß noch eine Uebergießung von 16° R. über Hinterkopf und Nacken des fieberhaft aufgeregten Kindes stattfinden sollte. Sie befolgen dies getreulich und sehen zu Ihrer Freude, wie die Temperatur alsbald und am andern Morgen dauernd wesentlich herabgegangen ist, wie sie – und das ist maßgehend – am Abend nicht wieder gestiegen, sondern zur Norm zurückgekehrt ist, um sich aldann nur noch in deren Grenzen zu bewegen.
Nicht immer verläuft ein Fieber so rasch und günstig, wie Sie es bei diesem ziemlich harmlosen Debut erlebt haben. Zuweilen bewegt es sich wochenlang in hohen Regionen und zeigt nur geringen, morgendlichen Abfall oder steile Thäler und Erhebungen. Manchmal fällt es in langsamen Stufen allmählich ab, manchmal sinkt es rasch bis zur Norm oder selbst unter dieselbe – das Bild der sprichwörtlich gewordenen „Krisis“.
Diese Curve hat natürlich bei jeder fieberhaften Krankheit, wie Wechselfieber, Masern, Scharlach, Pocken, Lungenentzündung, Halsentzündungen etc., einen ziemlich gesetzmäßigen Verlauf, der aber bei jedem Menschen Verschiedenheiten darbietet. Aha! Jetzt sehe ich förmlich, wie Sie das Ohr spitzen – denn nun, denken Sie, kommt die Hauptsache! Jetzt werde ich lernen, wie ich aus der Temperaturcurve erkennen kann, welche Krankheit ich vor mir habe.
Leider muß ich so ungalant sein, Ihnen diesen Wunsch zu versagen. Der Laie soll ‚nicht mit dem Feuer spielen‘, das heißt: er soll nicht über das hinaus wollen, was ihm frommt. Ueberlassen Sie die Beurtheilung, die Deutung Ihrer Beobachtungen vertrauensvoll und bescheiden dem auf wissenschaftlichem Boden stehenden Arzt und bedenken Sie, welche Summe von Fleiß, welche Unzahl von Beobachtungen dazu gehört hat, ehe Kliniker und Aerzte wie Bärensprung, Traube und Wunderlich die Lehre von der Krankenthermometrie wissenschaftlich begründen, Andere, wie Ziemssen, Thomas, Jürgensen, Liebermeister, Bartels, Obernier, sie weiter ausbauen konnten. Was solche Fachmänner zum Theil als Hauptaufgabe ihrer Thätigkeit betrachteten, dies einem Nichtarzte im Handumdrehen beibringen zu wollen, wäre eine sinn- und zwecklose Profanation. Bedenken Sie ferner, daß die Wärmemessung ja nur ein kleiner Theil der Fieber- und Krankenbeobachtung ist und daß man ihre Ergebnisse nur im Zusammenhange mit allen anderen Symptomen richtig würdigen kann, wozu nur der Arzt befähigt ist.
Gewiß werben Sie darnach einsichtsvoll Ihre Hand davon lassen, ein gefährliches Spiel mit Ihnen nur halbverständlichen wissenschaftlichen Mitteln zu wagen.
Bleiben Sie bei der Uebung in der Technik der Thermometrie, in dem Gebrauche des Thermometers, und Sie werden schon sehr Vieles und sehr Ersprießliches leisten.
Der Wunsch, diese Kenntniß und Fertigkeit in immer weitere Kreise, zumal von Frauen, zu tragen, erfüllt wohl jeden Arzt. Was mich betrifft, so habe ich mich bemüht, dem Uebelstande, daß ein Krankenthermometer nach Celsius in so wenigen Familien vorhanden ist, meist nur ein Stuben- oder Badethermometer nach Réaumur, durch Angabe eines neuen Thermometers abzuhelfen, das, ohne theurer und größer als ein Krankenthermometer zu sein, doch zugleich für Luft-, Stuben,- und Bademessung leicht verwendbar ist. Ich habe das kleine nützliche Instrument, das auf der ‚Hygiene-Ausstellung‘ zum ersten Male an die Oeffentlichkeit trat und das jeder geschickte Thermometerfabrikant herstellen kann (vorschriftsmäßig vorräthig ist es bei R. H. Paulcke in Leipzig), wegen seiner vielfachen Verwendbarkeit, die allen Zwecken der häuslichen Gesundheit- und Krankenpflege dient, ‚Universal-Thermometer‘ getauft, um dem Kinde einen Namen zu geben.
Wollen Sie wissen, wie es aussieht und verwendet wird? Sehr gern! Beistehend eine bildliche Darstellung! Sie sehen zunächst ein Krankenthermometer vor sich, welches Sie auf den ersten Blick wohl nicht von dem üblichen unterscheiden werden. In Wirklichkeit besteht der Unterschied darin, daß die Quecksilbersäule, etwa von 34,0° C. aufwärts bis 43,0° C. dünner, darunter und darüber dicker ist. Dadurch rücken innerhalb dieser Grenzen die Grade aus einander und gestatten Eintheilung in Zehntel. 37,5° ist mit einem rothen, 36,5° mit einem blauen Strich markirt, da [658] diese beiden Zahlen die Grenzen der normalen Temperatur angeben.
Links von der Quecksilbersäule finden Sie die Eintheilung nach Celsius (für Krankenmessung), rechts die nach Réaumur (für Luft-, Stuben,- und Badetemperatur noch immer die volksthümlichste Eintheilung) durchgeführt, letztere natürlich, wie immer üblich, nur in ganzen Graden. Durch die verschiedene Dicke der Quecksilbersäule wurde es erreicht, dem Thermometer, ohne es ungebührlich zu verlängern, die Verwendbarkeit für alle die erwähnten Zwecke zu ermöglichen und es so recht eigentlich zu einem Haus- und Familienthermometer zu machen. Wenn es Ihnen als Wasserthermometer dienen soll, brauchen Sie es nur von oben in die daneben abgebildete Holzhülse zu stecken, und das Badethermometer ist fertig. Dies wurde dadurch erleichtert, daß der sanft in der Mitte befindliche Griff der Holzhülse nach rückwärts verlegt wurde. Darnach ließ sich oben eine Oeffnung (o) zum Einsetzen des Thermometers anbringen, ohne daß Charniere oder Haken, die dann rosten, oder complicirte Schrauben oder Pflöcke, welche verquellen, nöthig geworden wären. Das Wasser umspült bequem das Thermometer (bei den Oeffnungen FF), und die aus einem Stücke Holz höchst einfach hergestellte Hülse dient, wenn sie nach dem Gebrauche abgetrocknet ist, wieder dazu, das Thermometer an der Wand aufzuhängen, wenn man die Temperatur der Außen- und Stubenluft bestimmen will. Als gute Hausfrau werden Sie nach dem Kostenpunkte fragen. Gewiß wird es Sie befriedigen, wenn Sie hören, daß dies eine Thermometer mit seiner Hülse, das 3 andere Thermometer ersetzt, nur halb so viel kostet, wie die letzteren, die man sich wohl unter 6 Mark nicht beschaffen könnte.
Also ein Hinderniß, das Thermometer immer weiter in Familienkreisen einzubürgern, die Kenntniß seines Werthes und seiner Anwendung zu verallgemeinern, besteht wahrlich nicht. Wollen Sie als Pionnier mit dafür wirken? Sie werden es nicht bereuen; bald werden Sie sich und Anderen dadurch Beruhigung, bald Gewißheit verschaffen. Sie werden sich überzeugen, daß da, wo Kinder im Hause sind, das Thermometer in den guten Tagen der Gesundheit ein treuer Freund, Warner und Berather, in den schlimmen Zeiten der Krankheit aber ein zuverlässiger Gehülfe ist, immer aber zu ersten Beobachtungen anleitet und das angeborene Talent der Frau zu sorgsamer Krankenpflege weckt. Sie werden sich selbst eine Genugthuung, dem Arzte eine wesentliche Unterstützung gewähren, wenn Sie im Thermometriren geübt sind.
Und nun zum Lebewohl den Wunsch: Möge es Ihnen erspart bleiben, in Sorgen und Kummer von der neuen, ernsten Kunst Gebrauch zu machen; möge aber, wenn Unvermeidliches an Sie herantritt, Ruhe, Sammlung und Fassung Ihnen nicht fehlen! - Jedoch bei Zeiten an’s Werk, nicht erst im Augenblicke der Noth und Verlegenheit. Denken Sie an des alten Gellert Worte:
- ‚Im Unglück lern’ an’s Glück, im Glück an’s Unglück denken.‘
Und damit - Gott befohlen! Ihr sehr ergebener
Blätter und Blüthen.
Heinrich Heine’s Buch der Lieder, illustrirt von Paul Thumann. In den ersten Tagen des Monats October erscheint das schon seit langer Zeit im Buchhandel angekündigte und von der deutschen Leserwelt gewiß mit großer Spannung erwartete Prachtwerk, in welchem der gefeierte Künstler Professor Paul Thumann die Lieder eines der volksthümlichsten Dichter Deutschlands durch seine genialen Compositionen unserem Verständnisse näher rückt. Wie nicht anders zu erwarten war, ist in den Thumann’schen Zeichnungen mehr die ideale Seite der Heine’schen Poesie zur Geltung gelangt, während die oft störende Ironie des Dichters von dem Maler gewissermaßen in den Hintergrund gedrängt wird. Das gereicht jedoch dem Werke keineswegs zum Nachtheile, hebt vielmehr seinen Werth bedeutend, da auf diese Weise das wahrhaft Schöne und Ideale dem Auge des Beschauers vorgeführt und jeder Mißton vermieden wird. Das neue, im Verlage von Adolf Titze in Leipzig erschienene Werk ist mit zwölf Lichtdruckbildern und hundert Text-Illustrationen geschmückt, und es reiht sich in vollendeter Weise den allbekannten Prachtausgaben Thumann’s an, unter denen wir nur „Frauen-Liebe und Leben“ von Adalbert von Chamisso und „Amor und Psyche“ von Robert Hamerling besonders hervorheben. Was das Werk bietet, davon zeugt das feinempfundene, unsere heutige Nummer schmückende Bild „Die Geisterinsel“, welches nach einem der Lichtdrucke für die „Gartenlaube“ in Holzschnitt ausgeführt wurde.
„Ein westfälischer Dichter“ – so wurde Levin Schücking im Jahrgang 1862 der „Gartenlaube“ bezeichnet, als dieselbe ihn dem großen Leserkreis, den er schon damals für sich gewonnen hatte, in Bild und Wort vorstellte. Seit 1858, wo er mit seiner Erzählung „Der gefangene Dichter“ in der „Gartenlaube“ auftrat, ist er derselben ein treuer und stets beliebter und geehrter Mitarbeiter gewesen, ja, er ist es über das Grab hinaus geblieben, denn eine noch ungedruckte Novelle von ihm wird nun, nachdem er uns am 31. August durch den Tod entrissen worden ist, als letzte Gabe seines Geistes sein Gedächtniß bei unseren Lesern neu beleben und dankbar ehren.
Bernhard Levin Schücking kann ein Kind des Glücks unter den deutschen Dichtern genannt werden. Die Poesie in den liebsten und liebenswürdigsten Gestalten stand an seiner Wiege, geleitete ihn durch Kindheit und Jugend, führte ihn, als die Sorglosigkeit, die ihm bisher das Dasein erhellt, plötzlich schwand, in neue freundliche Umgebung, bis der Mann in voller Selbstständigkeit am eigenen Herde ganz und frei dem dankbaren Dienst seiner Beschützerin, Führerin und Göttin leben konnte. So wohl wird es nur selten den „Pflügern mit dem Geist“. Und nachdem er die große Zeit des Vaterlandes, die auch er, der treue Patriot, mit herbei gesehnt und geführt, stolz und froh mit erlebt hatte, starb er in den Armen seiner Lieben, beweint nicht blos von diesen. sondern betrauert von allen Gebildeten seiner Nation. Auf sein Grab kann man mit Recht neben den Eichen- und Lorbeerkranz einen Rosenkranz legen.
Schücking’s Familie hatte sich schon mehrere Generationen aufwärts durch geistvolle Männer und Schriftsteller hervorgethan. Sein Vater war hannöverischer Amtmann, eine jetzt verschwundene Stellung, die an Macht und Ansehen der eines französischen Präfecten gleichkam. Er „residirte“ in dem fürstbischöflichen Schlosse Clemensworth und stand mit dem umwohnenden Adel in geselligem Verkehr und gleichem Ansehen, sodaß sein Sohn in Folge dieser Verbindungen den westfälischen Adelsnamen „Levin“ in der Taufe erhalten konnte. Auch liebte und übte er die schönen Künste und Wissenschaften, und da Levin’s Mutter, Katharina, eine hochgebildete Dame und zu ihrer Zeit sogar eine gefeierte Dichterin war, so wuchs der Knabe und der Jüngling in einer Atmosphäre auf, in welcher das angeborene Talent gedeihen mußte.
Elise von Hohenhausen war es, die uns („Gartenlaube“ 1868, Nr. 43) einen klaren Einblick in das rührend schöne Verhältniß eröffnete, in welchem Levin zu der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff stand. Levin’s Mutter wird von derselben als eine „ausgezeichnete Persönlichkeit voll Schönheit, Anmuth und hoher Weiblichkeit“ geschildert, „eine einsame Blume der Haide“, die mit den reichen Blüthen ihrer Poesie nur ihre Umgebung erfreuen, unter den damaligen Verhältnissen aber nicht zu weiter oder gar allgemeiner Anerkennung gelangen konnte.
Diese auch in ihrer Lebensstellung hervorragende Frau wurde für das junge Dichterherz Annette’s der Gegenstand einer Verehrung, welche zu einem innigen Freundschaftsbunde zwischen Beiden führte. Als Katharinas Sohn, Levin, den sie am 6. September 1814 geboren hatte, zum ersten Mal das Elternhaus verlassen mußte, um in Münster das Gymnasium zu besuchen, gab sie ihm einen Empfehlungsbrief an Annette mit, die damals auf ihrem väterlichen Rittergute Hülshoff wohnte. Das schon herangewachsene Fräulein empfing den jungen Menschen fast mit derselben Befangenheit, mit welcher dieser vor ihr stand, und die landesüblichen gegenseitigen Höflichkeiten waren damals das einzige Ergebniß dieser Sendung. Levin bezog später die Universitäten in Heidelberg und München und lebte von dem stattlichen väterlichen Wechsel ein flottes Studentenleben, in welchem dem Jus, seinem Brodstudium, gerade nicht überviel Zeit gewidmet, dagegen die Pflege der schönen Künste und Literatur fröhlich geübt wurde. Da traf die Familie der schwerste Schlag, der sie treffen konnte: Levin’s Mutter starb, und mit ihr ging der Segen des Hauses zu Grunde. Trotz des gewohnten großen Aufwandes war sie stets im Stande gewesen, durch strenge Ordnung das Gleichgewicht zwischen Einnahme und Ausgabe aufrecht zu erhalten. Diese wirthschaftliche Fähigkeit entbehrte Levin’s Vater, und so ging der Hausstand in kurzer Zeit reißend rückwärts, denn eine zweite Frau konnte weder den Kindern die Mutter ersetzen, noch den Ruin des Hauses aufhalten. Ein Bankerott brachte den Amtmann um Stellung und Vermögen, und der Sohn stand nun verarmt am Ende seiner Studienzeit.
Die allgemeine Theilnahme, welche dieses Mißgeschick der hoch geachteten Familie in ganz Westfalen erregte, erinnerte auch die Dichterin Annette wieder an den empfohlenen Sohn ihrer Freundin, und die Ausübung wahrer Freundespflicht wurde nun ihr Trost bei dem schweren Verlust. Sie machte es ihm möglich, seine Studien zu vollenden, und mit eisernem Fleiß brachte es Levin bald so weit, daß er sich zum Staatsexamen melden konnte. Aber nun trat ihm der ehemalige Reichthum Deutschlands an Vaterländern hemmend in den Weg. Denn da Levin in Hannover, wo man gegen seinen Vater so hart verfahren war und das damals durch das Schicksal der sieben Göttinger Professoren in absonderlichem Rufe stand, kein Staatsamt begehrte, meldete er sich zum Examen in Münster, das ja 1815 wieder an Preußen gekommen war. Dort aber wollte man ihn nicht als Preußen anerkennen und wies ihn zurück.
Und wieder war es die Freundin seiner Mutter, welche dem Zurückgestoßenen die hülfreiche Hand reichte. Ihre Schwester war die (dritte) Gemahlin des alten Freiherrn Joseph von Laßberg auf der Meersburg am Bodensee geworden. Dieser originelle alte Herr, dessen Bildniß den Artikel (1868, S. 685) schmückt, auf den wir uns hier beziehen, hatte auch die poetische Schwester seiner Gattin zu sich genommen, und da er als Gemahl der Fürstin von Fürstenberg in der Lage gewesen war, seinem Sammeleifer nach Herzenslust zu fröhnen, und auf seinem Schlosse Eppishausen
[659]Aus Heine’s „Buch der Lieder“.
Mein Liebchen, wir saßen beisammen
Traulich im leichten Kahn;
Die Luft war still und wir schwammen
Auf weiter Wasserbahn.
Lag dämmernd im Mondenglanz;
Dort klangen liebe Töne,
Und wogte der Nebeltanz.
Dort klang es lieb und lieber
Wir aber schwammen vorüber
Trostlos auf weitem Meer.
[660] ein höchst werthvolles Museum von Manuscripten, darunter der älteste Nibelungen-Codex, Büchern und Kunstschätzen aller Art anzulegen, das er nun nach der Meersburg hatte schaffen lassen, so kann ihm natürlich der Vorschlag seiner Schwägerin, einen jungen gelehrten Dichter zur Ordnung dieser Schätze zu berufen, ganz gelegen. Dieser junge Dichter war Levin Schücking. Die köstliche Zeit, die er in dieser romantisch-poetischen Umgebung in einem Paradiese Deutschlands verlebte, hat er selbst oft warm und farbenreich geschildert, besonders in seinem „Lebensbild der Annette von Droste“.
Wenn man weiß, daß die gastfreie Burg am Bodensee eine Wallfahrtsstätte bevorzugter Geister war, daß Männer wie Uhland, Heinrich von Wessenberg, die Brüder Grimm, Görres, Gustav Schwab, Pfeiffer, Schott, Pertz, Reinh. Köstlin etc., Leute aus dem Rheinland, aus Schwaben, Franken, der Schweiz und Oesterteich dort Stammgäste waren, so kann man sich ein Bild von dem Leben und Treiben auf der Meersburg zusammensetzen, und vor Allem von dem Fleiße im Museum, dessen merkwürdigstes Stück der alte „Meister Sepp von Eppishausen“, wie er sich gern nannte, offenbar selbst gewesen ist.
Schücking schied von der Meersburg im Frühjahre 1842, um zu Ettingen in Franken, der Residenz des Fürsten Wrede, die Studien der Söhne desselben zu leiten. Später begleitete er den Fürsten in seine Sommerresidenz Mondsee in Oesterreich ob der Enns, wo er seinen ersten Roman „Ein Schloß am Meere“ schrieb und die Freiin Louise von Gall kennen lernte, die er im October 1843 als seine Gemahlin heimführte. Auch sie war eine dichterische Natur, nach Geist und Herz ihrem Manne innigst verwandt. Leider starb sie schon im Jahre 1855, und dem trauernden Gatten blieb nur der Trost, ihr mit ihrem eigenen Buche „Frauenleben“ ein dauerndes Denkmal setzen zu können.
Das schriftstellerische Leben Schlücking’s war nur in seinen ersten Ehejahren ein bewegtes, solange noch der Dichter und der Journalist in ihm um den Vorraug stritten. Im Jahre 1844 bewog ihn die Einladung der Redaction der „Allgemeinen Zeitung“ zur Uebersiedelung nach Augsburg. Hier nahm seine Pflichtarbeit ihn nicht so in Anspruch, daß er nicht noch Muße gefunden hätte zur Schöpfung eines neuen Romans „Die Ritterbürtigen“. In diesem Werke offenbart sich bereits eine innere Wandelung durch die Einflüsse des äußeren Lebens: die realistische Auffassung gewinnt über die ehedem vorherrschend romantische Richtung den Sieg. Der Klang seines Namens wurde in immer weiteren Wellenkreisen über Dentschland getragen. Daher geschah es, daß er nach einer Badecur in Ostende und während einer Rheinreise im Sommer 1845 von der damals neu organisirten Redaction der „Kölnischen Zeitung“ den Antrag erhielt, die Leitung des Feuilletons derselben zu übernehmen. Der Rhein und die Nähe Westfalens zogen mit gleichen Kräften an ihm, und so ging er nun nach Köln. Vorher hatte er bei Cotta einen Band „Gedichte“ drucken lassen.
Auch hier theilte sich seine Thätigkeit in die des journalistischen Berufs und des poetischen Schaffens. Je mehr aber die letztere durch die erste beengt und gestört wurde, desto mehr mußte die Sehusucht nach Abschüttelung des Zwangs wachsen.
Und so sehen wir ihn, nachdem er sich auf einer italienischen Reise neue Kräfte und Anschauungen geholt, auch von Köln scheiden. Im Jahre 1852 wärmte er den Herd auf seinem eigenen Boden, indem er sich auf seinem Gute Sassenberg bei Warenborf im Münsterlande für immer niederließ.
Was er von da an geschaffen, gehört zu den besten und gediegensten Werken, von denen nicht wenige sicher sind, von den Sturmfluthen der Romanliteratur nicht hinweggeschwemmt zu werden. Unsere Leser erlassen uns die Aufzählung der einzelnen Zeugnisse seiner rastlosen Thätigkeit, welche sich der Lyrik und dem Drama, vor Allem aber dem Roman widmete; sie haben die Meisterschaft des Erzählers durch dessen Beiträge zu unserer Zeitschrift kennen gelernt und längst sich selbst ihr Urtheil über dieselbe gebildet. Was aber unser alter Mitarbeiter Schmidt-Weißenfels an den Schluß seines Lebensbildes von Levin Schücking setzte, das wollen wir hier wiederholen. „Die Schücking’schen Romane,“ sagt er, „bieten in volksthümlichen Sittenschilderungen, welche selbst mit Hülfe archivalischen Details gegeben werden, das Beste, was wir in dieser Art besitzen. Die ruhige Behaglichkeit der Erzählung, welche an Walter Scott mahnt, die Natürlichkeit der Conflicte und ihrer Auflösungen, die vielfach locale Färbung des Dialogs, der anmuthige Herzenshumor, der oft aus dem Dichter spricht – alle diese Eigenschaften erhöhen in den Romanen Levin Schücking’s die harmonische Grundstimmung. Die Phrase, die Raffinerie der Erfindungen, die künstliche Mache der Mode ist in ihnen nicht vertreten, wohl aber die feine Sinnigkeit, das frische Talent, deutscher Geist und deutsche Herzlichkeit, welche aus der Geschichte des echten, charaktervollen Volkslebens unseres Vaterlandes kostbare Gemälde zu schaffen wissen.“
Das Buch dieses Geistes und Herzens ist geschlossen. Wieder einer der treuen Alten ist heimgegangen. Immer kürzer wird die Reihe jener Zeit-, Kampf- und Strebensgenossen. Und wer dieser kurzen Reihe angehört, dem legt sich, wie Einer um den Anderen von hinnen scheidet, Flor um Flor um’s Herz und im Ohre summt das leise Wort:
„Warte nur, balde
Ruhest du auch.“
an Deutschlands allverehrden Gunst- un Maler-Meester
den Herrn
Professer Dr. Adrian Ludwig Richter
in Loschwitz bei Dräsen.
Ze seinen achzigsten Geburtsdage,
d. 28. Sept. 1883,
ehrforchtsvoll dargebracht
von ännen alden Leibz’ger.
’S war in der Resedenstadt Dräsen
Vor grade achzig Jahr’n gewesen,
Da steckt’ ä junger Springinsfeld
Sei Schniffelnäschen in de Welt.
Se ahnjeguckt mit Seelenruh
Von rechts un links, von om un unden
Un diese Welt gans hibsch befunden,
Da kriegt’ er iwwer all den Gucken
„Fix,“ rief er, „gebt ä Bleistift mir –
Ich bringe alles ze Babier!“ –
Un siehe da, gesagt, gedhan,
Mei Ludwig fängkt ze malen ahn.
Un Sonnenschein un Wedderstrahl
Un Boom un Bach un Feld un Flur
Malt er von jetzt in eener Dur.
Un was in Lifden zibbelzabbelt,
Un was de huppst un was de springkt
Un was de biepst un was de singkt,
Was surrt un gurrt, was schwirrt un summt,
Was quietscht un fietscht, was brillt un brummt,
Das fällt zer Beide seiner Gunst.
Doch Mägd- und Knäblein, Weib- un Männichen
Malt eegal er dorch acht Dezennichen –
Gorz, schließlich frägt ä jeder sich:
– Denn wenn (wie manchmal jetzt ’s Gerede)
De Welt ämal erfrieren dheede,
Indem de Sonne streikt’ un spreeche:
Mei Gohlenvorrath geht zer Neege –
Den liewen Gott hernachens ein:
Das bischen Welt war doch recht scheen,
Ich will noch ’mal an’s Schaffen gehn! –
Un wenn er dann nich gleich am Ende
Was meent ihr wohl, was er da machde?
Er winkde seinen Betrus sachde:
„Freind,“ spreech er, „geh ämal ä Gangk
In unsern Gunst- un Biecherschrank
Mir Ludwig Richter’sch Obera!“ -
Bald dheet’ uf seinen Schooß de Mabben
Er schmunselnd ausenander klabben
Und schief de neie alde Welt,
Dann residirt’ er Stick fer Stick
Das All mit seinen Schepferblick
Un spreeche froh un wohlgemuth:
„Ich wußt’ es, das Rezept is gut!“
Kleiner Briefkasten.
K. L. in Osnabrück. Das dramatische Luther-Festspiel, welches in Jena aufgeführt werden soll, ist von Otto Devrient gedichtet worden. Die Aufführungen finden zunächst am Sonnabend, den 13., und Sonntag, den 14. October, statt, werden an den gleichen Tagen der folgenden Wochen fortgesetzt und am 10. und 11. November geschlossen werden.
B. G. in Berlin. Nach dem soeben von Dr. Fr. Schneider herausgegebenen „Jahresbericht für 1882 über die aus Selbsthülfe gegründeten deutschen Erwerbs- und Wirthschaftsgenossenschaften“ (Leipzig, Julius Klinkhardt, 1883) beträgt die Gesammtzahl dieser Vereine im deutschen Reich 3550. Ihnen gehören rund 1,100,000 bis 1,200,000 Mitglieder an, und ihre geschäftlichen Leistungen kann man auf einen Umsatz von mehr als 2000 Millionen Mark veranschlagen.
Inhalt: Die Braut in Trauer. Erzählung von Ernst Wichert. S. 641 — Im Kampf um’s Recht. Ein Zeitbild aus Siebenbürgen. S. 644. Mit Portaits. S. 645 — In den Schlössern der Maria Stuart. Von Wilhelm Hasbach. Mit Illustrationen auf S. 648 u. 649. — Der Letzte von Hohen-Realta. Von St. v. J. S. 650. Mit Illustration von F. Stückelberg. S. 652 u. 653. — Das Thermometer in der Familie. Offener Brief an eine Mutter. Von Dr. L. Fürst. S. 654. Mit Abbildungen. — Die Geisterinsel. Gedicht von Heinrich Heine. Mit Illustration von Paul Thumann. S. 659. — Blätter und Blüthen: Heinrich Heine’s Buch der Lieder, illustrirt von Paul Thumann. Ein westfälischer Dichter. S. 658. — Juwelgruß. Gedicht von Edwin Bormann. — Kleiner Briefkasten. S. 660.
- ↑ Eine solche rasch entschlossene und gelungene That war, um auch aus dem nichtpolitischen Leben Wolff’s ein Beispiel anzuführen, die Gründung des „Siebenbürgichen Karpathenvereins“, den er wie mit einem Schlage 1880 auf 1881 in’s Leben rief und der heute 1300 Mitglieder zählt (Vorstand Dr. Conrad in Hermannstadt) und mit größtem Erfolge daran arbeitet, die Schönheiten der siebenbürgischen Geblrgswelt den Reisenden zu öffnen.
- ↑ Wir fügen hinzu, daß denjenigen, die sich über Vergangenheit und Gegenwart des tapferen sächsischen Volkes und die Kämpfe des Deutschthums in Ungarn belehren wollen, nicht dringend genug empfohlen werden kann: G. D. Teutsch, „Geschichte der Siebenbürger Sachsen.“ Leipzig, Hirzel, 2. Auflage, 1874. – R. Heinze, „Hungarica.“ Freiburg und Tübingen, 1882. – K. Ludolf, „Der Sprachen- und Völkerkampf in Ungarn. Ein Bericht und Mahnwort an das deutsche Volk.“ Leipzig, 1882, Mutze.
Die Red. der „Gartenlaube“.
- ↑ Vergl. „Thusis und die Hinterrheinthäler“. Von Ernst Lechner. Chur 1875.
- ↑ In Leipzig hat der Lithograph Fritzsche, Langestraße, solche Tabellen vorräthig.
- ↑ Unter den vielen Glückwünschen, welche dem Jubilar zu seinem 80. Geburtstage eingesandt worden, befindet sich auch der obige „Juwelgruß“, den wir seiner gelungenen Form und originellen Auffassung wegen gern als eine Probe unserer Dialektdichtung nachträglich veröffentlichen.