Die Gartenlaube (1887)/Heft 43
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No. 43. | 1887. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.
Lisa’s Tagebuch.
Ach – ich möchte so gern Etwas wissen – aber wie soll ich es heraus bekommen! Ich glaube nicht mehr, daß Herr Heinrich sich viel aus der Kousine Bertha macht – aber wenn ich nur wüßte, ob er eine Andere gern hat …
Als ich Onkel wegen der Pinsel frug (ich stotterte etwas!), hat er mich gleich für eine Skizze festgehalten. Ich wußte ja, daß ihm mein Anzug gefallen würde.
„Unterhalte sie, Heinz, daß ihr die Zeit nicht lang wird,“ sagte er. Der liebe, gute Onkel, wie er immer an Alles denkt!
Eine Viertelstunde habe ich so still gestanden , da rief Tante, daß der Wagen warte – leider!
Und seitdem möchte ich so gern wissen – niederschreiben kann ich’s nicht –
Während wir zu Nolimé’s fuhren, hielt Tante eine Lobrede auf den Trauermantel, ich dachte an etwas ganz Anderes.
„Tante,“ fing ich an, als sie eine Pause machte, „wie hat denn Onkel um Dich angehalten?“
Sie sah mich mit einem sonderbaren Blicke an: „Hat Herr von Trauermantel-Papier etwas gesagt, was Dich auf diese Frage bringt?“
(Gut, daß sie immer nur an den denkt!)
„Nein. Aber ich kann mir gar nicht recht vorstellen, wie Onkel es gemacht hat.“
„Sehr einfach …“ Die Erinnerung stand ihr gut, sie sah auf einmal ganz belebt aus.
„Hattest Du Onkel vorher schon sehr lieb?“
„Komisches Kind! Hätte ich ihn sonst geheirathet?“
„Tante, woran hast Du denn gemerkt, daß er Dich lieb hatte?“
„So etwas fühlt sich heraus; jeder Mann hat seine besondere Art. Wenn Du ein bescheidenes und verständiges Mädchen sein willst, Lisi, so glaube ich, daß Jemand, auf den ich große Stücke halte …“
(Sollte er vielleicht gar vierspännig fahren?)
„… Dir auf seine Art zeigen wird, wie man eine Frau lieb hat.“
Ich fragte nicht weiter; mir war ganz heiß geworden, wie wird das mit dem coup de foudre enden! Jeder hat also seine besondere Art, und das fühlt sich heraus? Aber wenn ich nun etwas herausfühlte und dann wäre es nicht das Richtige? O – mein Gott, wie mich das quält! Die ganze Zeit, während wir bei den Nolimé’s waren, habe ich darüber grübeln müssen und da hatte ich ein paar Mal wieder keine Antwort bereit.
Es war nur eine kleine Gesellschaft, aber sehr „comme il faut“, meinte Tante. Die Gräfin war eine liebenswürdige Wirthin, obgleich sie nicht gut hört und sehr zerstreut ist. Sie hatte eine Seite ihrer Locken noch aufgewickelt, als sie uns empfing. Keiner wollte es ihr sagen. Als sie beim Spiegel vorbeikam und es bemerkte, lachte sie sehr und zog die Wickeln vor aller Welt heraus. Der Salon war etwas dunkel, weil das Licht durch rothseidene Gardinen fiel, die man zugezogen hatte. Aber der rothe Schein verschönerte Alle. Selbst Tante sah leidlich aus. Junge Herren gab’s nicht, nur ältliche und alte. Wenig Damen. Eine Baronin Papier fiel mir auf. Verwandte der Trauermäntel. Sie besah mich von unten bis oben, als wollte sie mich kaufen und vorher prüfen. Eine große,
[710] schmale Frau war sie, mit einer Oberlippe, wie Papa, wenn er sich nicht rasirt hat, und sprach mit einer Husarenstimme. Gegen Tante schien sie gereizt, ich weiß nicht weßhalb. Ihre Tochter ist sehr hübsch, sie hat traurige Augen und einen lachenden Mund. Die alte Baronin trug eine verblichene Atlastoilette, die Tochter aber war frisch und kleidsam angezogen.
Herr von Trauermantel-Papier war noch um zehn Grad wärmer als am Vormittag. Er stand an der Thür, als wir eintraten, und griff nach meiner Hand, sobald er Tante begrüßt, die ihn schon ganz bekannt anlächelt.
„Ich bin so glücklich, Sie abermals zu sehen,“ redete er mich an, „freuen Sie sich denn auch ein Bischen darüber?“
Ich verzog keine Miene. „Ich freue mich immer, mit Tante in Gesellschaft zu gehen.“
„Sie ist noch ein scheues Ding, die das rechte Wort nicht findet,“ sagte Tante und kniff mich dabei in den Arm.
„Wer wollte sie anders wünschen! Diese jungfräuliche Herbheit ist ja ein besonderer Reiz!“ aber er seufzte doch dabei.
Ich glaube, die Baronin mit der Husarenstimme hätte es gern, wenn ihre Tochter auch ein coup de foudre für den Trauermantel wäre, wenn ich nur wüßte, wie ich ihr dazu verhelfen könnte! Sie kam immer, wenn er sich gerade neben mich setzen wollte, und fing ein Gespräch mit ihm an.
„Mein lieber Vetter – warum sieht man Sie denn gar nicht mehr in der Ostra-Allee?“
„Die Blumenausstellung zum Besten der Volksküchen hat mich sehr in Anspruch genommen.“
„Was macht denn Ihre Musik?“
„So so – la la! – Gnädiges Fräulein sind auch musikalisch?“ wendete er sich an mich.
„Ich höre gern Musik …“
„Das ist freilich genügsam,“ sagte die Baronin, „Annette hat zwei reizende vierhändige Piècen von Schullzoff zu Hause – wann wollen Sie mit ihr spielen?“
„Nächste Woche … ich kann den Tag noch nicht bestimmen …“
„Annette, Du sollst etwas musiciren,“ rief sie dem jungen Mädchen zu.
„Nicht doch, Mama!“
Aber Herr von Tranermantel war sogleich aufgesprungen und hatte das Piano geöffnet.
„Fräulein Annette wird vorspielen,“ rief er der Gräfin Nolimé ins Ohr und führte das junge Mädchen dann ans Instrument. Sie ließ sich nicht lange bitten.
Tante sah sich etwas beleidigt nach der Husarenstimme um, als ob sie ihr einen Vorwurf mache, Herrn von Trauermantel von meiner Seite entfernt zu haben. Er kam leider bald zurück, schob seinen kleinen Sessel noch etwas näher an meinen Stuhl als vorher und flüsterte mir zu. „Ich begünstige die Musik, weil wir uns dabei ungestörter unterhalten können – begreifen Gnädige?“
Ich begriff. „Aber ich liebe die Musik und möchte zuhören!“ rief ich schnell. Ich fange an, mich vor ihm zu fürchten.
Er lehnte sich zurück und sah mich von der Seite an.
Das junge Mädchen war sicher eine echte Künstlerin. Ihr Spiel glich mehr ihren traurigen Augen als dem lachenden Munde. Sie fixirte manchmal ein ihr gegenüberhängendes Oelbild, aber ich glaube nicht, daß sie den Ritter mit schwarzem Barett und langer weißer Feder sah, der darauf gemalt war. Ihre Gedanken schienen auch nicht allein bei der Musik zu sein – vielleicht hat’s ihr auch Jemand angethan, daß sie immerfort an ihn denken muß! …
Drei alte Herren in einer Fensternische fuhren trotz des Spielens fort, sich zu unterhalten. Der eine sprach sogar heftig und gestikulirte dabei.
Herr von Trauermantel zuckte die Achseln, als ich eine mißbilligende Bewegung machte.
„Bei dem Leichenmarsch kann man es ihnen nicht verdenken,“ flüsterte er mir zu.
Es schien mir, als ob die alte Baronin seine Worte errathen hätte.
„Spiele doch etwas Pikantes – etwas Heiteres, Annette!“ kommandirte sie nach dem Flügel.
Da schloß das junge Mädchen mit einem ungeduldig hingeschleuderten Accord ihr Adagio und begann Cadenzen zu rollen, erst mit einer, dann mit der andern, dann mit beiden Händen. Drauf legte sie die Rechte bei Seite, als sollte die sich ausruhen, und spielte im Baß allein mit der Linken. Plötzlich fuhr die Rechte wieder dazwischen, beide Hände sprangen im höchsten Diskant abwechselnd in die Höhe wie junge Ziegen auf einer Wiese, wirbelten dann mit fabelhafter Geschwindigkeit in den Mitteltönen herum und paukten die Schlußaccorde so laut, als sollte man sie in der nächsten Straße hören.
„Bravo – bravo! Ja, sie versteht’s!“ schrie jetzt der Trauermantel und klatschte, was das Zeug hielt. Und die Gräfin Nolimé, die den Spektakel auch gehört, klatschte ebenfalls – wie alle Welt, selbst die drei Schwadroneurs in der Nische. Die Papierbaronin aber sah sich sehr befriedigt um.
Ich ging auf das junge Mädchen zu und drückte ihr die Hand. Ihr lachender Mund schien mir in der Nähe weniger von einer fröhlichen Stimmung abzuhängen als von einer etwas kurzen Oberlippe, welche die schönen Zähne fast immer ein wenig sichtbar ließ. Sie sah mich befremdet, fast feindselig an. Gleich stand auch der Trauermantel neben uns. Er machte ihr Komplimente über ihr Spiel.
„Dein Lob will nichts sagen,“ rief sie mit einem pikirten Ausdruck, „Du hast nur Jahrmarktsgeschmack!“
Dabei wandte sie uns den Rücken. Die Herren in der Nische waren unterdeß schon wieder an einander gerathen.
„Wie kann man sich in einer Gesellschaft so zanken!“ sagte ich zu Herrn von Trauermantel.
„Zanken! Gnädige, Sie profaniren den Eifer für die Wissenschaft durch dieses Wort. Gelehrte nehmen es mit ihrer Meinung immer ernst. Onkel Nolimé ist aber stolz, diese geistigen Berühmtheiten in seinem Hause zu empfangen – sehen Sie nur, wie er schmunzelt!“
Wirklich; der alte Graf – sehr alt und runzlig, aber in einem ganz hellen Anzug und hellblauem Schlips – saß zwischen den Streitenden und lächelte bald dem einen, bald dem andern zu.
„Ich dachte, über so eine alte Geschichte, wie die der Jungfrau von Orleans, könnte man nicht mehr verschiedener Meinung sein?“
Trauermantel blickte mich zum ersten Male etwas überlegen an: „Ich habe der Debatte im Anfang beigewohnt. Sie ist höchst interessant. Es handelt sich nämlich darum, wie die heutige Karte von Frankreich aussehen würde, wenn die Engländer die Jungfrau von Orleans damals nicht verbrannt hätten. Professor Gründlich spricht den Franzosen in diesem Falle den ganzen südlichen Theil von England zu.“
„So war es doch wohl gut, daß man die Arme verbrannte?“
„Für uns jedenfalls. Aber dabei beruhigen sich die Herren noch lange nicht. Sie werden heut kaum zu einem Resultate kommen.“
Während eine große Baisertorte herumgegeben wurde, sah ich Herrn von Trauermantel auf einem Puff neben Tante. Sie sprachen ebenfalls sehr eifrig, ein paar Mal richteten sich Tantens Augen nach mir. Wenn sie nur nicht etwa darüber disputirt haben, wem ich einmal zufallen soll! … Ehe ich diesem Trauermantel gehörte, da wollte ich noch lieber von Engländern verbrannt werden, wie die Jungfrau von Orleans – ja wahrhaftig, das wollte ich!
Als wir heimkamen, sagte Onkel zu Tante: „Ihr kommt recht spät. Heinrich wollte Dir gern sein Kompliment machen und hat gewartet und gewartet. Er wurde zuletzt ganz ungeduldig.“
„Das ist ja etwas ganz Neues,“ entgegnete Tante. „Gewöhnlich hält er mich seiner gelehrten Gegenwart gar nicht für werth.“
„Ich weiß nicht, was er hat,“ fuhr Onkel fort, „er ist in der letzten Zeit recht nervös geworden. Ich denke, sein Verleger chikanirt ihn. weil er das Werk über die Astronomie der Alten nicht für den Osterverlag druckfertig hatte. Der könnte mir auch gestohlen werden, der Bilder und gelehrte Werke nach der Uhr schafft!“
„Er hat eben seine Launen – das ist Alles!“
„Nein – er hat keine Launen!“ fuhr Onkel auf „Er meint’s ernst mit seinem Beruf und ist kein Frauenzimmerheld. Aber das will kajolirt sein – das will flattirt sein! Versteht’s Einer nicht, gleich muß er ,Launen‘ haben. Du wirst ihn übrigens bald los – er geht in den nächsten Tagen nach Leipzig zurück!“
Ich glaubte zu wissen, warum er auf uns gewartet hat – es machte mich froh … aber daß er fort geht, daß ich ihn vielleicht nie wieder sehe! … das machte mich traurig.
Ich trat schnell ans offene Fenster, damit man meinem Gesicht die Gedanken nicht anmerkte.
[711] „Bist Du denn noch nicht müde?“ rief Tante, „jetzt giebt’s draußen doch nichts zu betrachten.“
„Wie deutlich man die Musik vom Schillerschlößchen bei Euch hört – eben spielen sie den „Tannhäuser“-Marsch …“ sagte ich, als hätte ich nur deßhalb den Kopf hinausgesteckt. Wie ich schon anfange, mich zu verstellen!
Den 26.
Eben aufgestanden. Sehr unruhige Nacht. Bis drei Uhr alle Stunden schlagen hören. Abwechselnd glücklich und unglücklich – manchmal gewünscht zu sterben. Das Leben ist sehr schwer. – Heut früh wieder etwas mehr Lebensmuth. Es kann ja noch Alles gut werden!
Später.
Tante sehr liebevoll beim Frühstück; nannte mich: Lisi und: geliebtes Herz.
Lisi bedeutet: ich bin sehr mit Dir zufrieden. Lisa: nicht gut, nicht böse. Elisabeth – darauf folgt meist ein Donnerwetter.
„Du siehst ein Bischen blaß aus, Herzenskind – es fehlt Dir doch nichts?“ fängt sie an, sobald Onkel ins Atelier gegangen ist.
„Mir? O nein ich bin sehr wohl.“
Ich wurde dabei roth, sie schien das natürlich zu finden, es hängt ja mit dem coup de foudre für sie zusammen.
„Ich begreife, daß Du aufgeregt bist, meine Lisi. Es kann Dir ja nicht verborgen bleiben, was Dir bevorsteht … jede hat da etwas Aufregung durchzumachen, aber daran stirbt man nicht – im Gegentheil! Ja – geliebtes Kind – ein großes Glück scheint Dich zu erwarten!“
(Jetzt kommt das Gespräch während der Baisertorte! dachte ich, aber ich ließ mir nichts merken.)
„Hat Mama geschrieben, daß sie mich von Dresden abholen will?“ fragte ich.
„Du weißt recht gut, daß es sich um etwas Anderes handelt, schlimmes Kind!“ rief Tante und drohte mir mit dem Finger. „Es kann Dir ja nicht entgangen sein, daß Du das Herz eines seltenen Mannes gewonnen hast, der, obwohl ihm ganz andere Frauen zu Füßen liegen, nur an die kleine, unbedeutende Lisi denkt!“
Ich schwieg. Was sollte ich auch sagen!
„Es ist eine wichtige Sache, von der das Glück Deines ganzen Lebens abhängt, über die wir jetzt gemeinschaftlich berathen wollen – nimm Dir das zu Herzen!“
Im Augenblick, wo Tante die Miene annimmt, die sie für solche Predigten in Bereitschaft hat, wird sie mir immer ein Bischen komisch, es ist wie ein Verhängniß. Ich sah zu Boden, meine Lippen bebten etwas.
„Herr von Trauermantel-Papier – Du weißt, daß ich von ihm rede? …“
„Ja, Tante.“
„… hat sich durch die ganze Art und Weise, wie er in dieser Angelegenheit auftritt, meine höchste Achtung erworben. Er ist ein Ehrenmann, und Du kannst volles Vertrauen zu ihm haben – das ist das Wichtigste. Denn Du weißt, die Frau muß dem Mann unterthan sein!“
„Aber, Tante, Du bist Onkel doch auch nicht unterthan, im Gegentheil …“
„Elisabeth!“ unterbrach sie mich mit erregter Stimme. „Es gehört eine Engelsgeduld dazu, um bei Deinen Bemerkungen ruhig zu bleiben. Wie kannst Du Dir ein Urtheil in solchen Sachen erlauben! Man muß Dir zu Gute halten, daß Du nicht überlegst, was Du sprichst.“
„Was sagt denn Onkel dazu?“ fragte ich etwas kleinlaut.
„Ich habe mit ihm noch nicht darüber gesprochen. Er ist durch sein großes Bild jetzt sehr in Anspruch genommen. Man muß Künstlern von solchen Dingen erst dann reden, wenn man selbst ganz klar darüber geworden ist, man stört sie sonst nur in ihren Arbeiten. Onkel wird natürlich ganz mit mir übereinstimmen.“
Darüber hatte ich meine Zweifel.
„Herrn von Trauermantel,“ fuhr Tante fort, „geht häusliches Glück über jedes andere. Das ist bei seinem großen Vermögen, das ihm jeden Genuß erleichtert, sehr anzuerkennen! Solider Reichthum! Denke, daß er vorige Woche auf der Blumenausstellung hundert Mark für eine Theerose bezahlt hat!“
„Hat er Rosen so gerne“
„Wie schwer Du begreifst! Das beweist doch, daß er hundert Mark mir nichts, dir nichts wegwerfen kann – aus Wohlthätigkeit. Ein edles Herz; dabei hübsche Kenntnisse – viel für sich studirt …“
„Ja – in Paris, die Nächte.“
„Vorlautes Ding – was fällt Dir ein!“
„Aber, Tante, er hat mir gestern doch selbst gesagt, daß er in Paris manchmal wochenlang die Sonne nicht gesehen hat.“
Sie blickte mich scharf an: „Heilige Unschuld!“ sprach sie dann wie zu sich selbst und schüttelte den Kopf.
Nach einer kleinen Weile ging’s in ihrem Texte weiter: „Du bist fürs Landleben doch gerade wie geschaffen, Lisi! Wie Dir als Herrin auf einem schönen Rittergute wohl zu Muthe wäre! – he? Herr von Trauerwantel besitzt ein’s in der Nähe von Altenburg, es heißt Knollern. Ein großes Vermögen ist heute eine wichtige Sache, die man nicht unterschätzen darf. Versprich mir, Dich wenigstens jetzt noch nicht wider ihn zu entscheiden. Er will Dir Zeit geben, Dich zu sammeln; Du sollst ihn in den nächsten vierzehn Tagen manchmal sehen, und er hofft – ja er ist überzeugt, daß er Deine Liebe bei näherer Bekanntschaft gewinnen wird. Gestehe, daß kein Grund gegen ihn vorliegt!“
Die Verzweiflung ließ mich einen finden.
„Wenn einmal Krieg zwischen Rußland und Deutschland ausbricht und mein Mann marschirte gegen Papa – o, ich ertrüg’ es nicht – ich stürbe eher!“
Hier brach ich in Schluchzen aus, mir war gar so weh zu Muthe.
„Beruhige Dich, Lisi, beruhige Dich! Ich habe Dich noch nie so patriotisch gesehen – wie bist Du es nur mit einem Male so sehr geworden? Es ist immer ein schöner Zug – aber bedenke nur, daß Deine Mama auch eine Deutsche ist. Dein Papa ist ein Ostseebaron, also ebenfalls aus unserem Stamme, obwohl ein russischer Unterthan.“
„Aber mein Mann, der gegen Papa in den Krieg zöge – o mein Gott!“
„Es ist mir lieb, Herzenskind, daß Da Gefühl zeigst und diese Dinge ernst nimmst. Hier ist aber wirklich kein Grund zu solchem Jammer. Deine Vernunft wird Dir das selbst sagen, sobald Du Dich gefaßt. So – wir wollen die Sache für den Augenblick fallen lassen; Deine Augen sind schon ganz roth (sie küßte mich)! Sei jetzt meine gute, verständige Lisi und gehe ein paar Mal im Garten auf und ab, es wird Dir gut thun. Vergiß nicht, Deinen großen Strohhut aufzusetzen und lange Handschuhe anzuziehen, daß Dein Teint nicht leidet. Nach dem Regen brennt die Sonne.“
Ich war froh, ins Freie zu kommen, es athmet sich gleich leichter. Ich lief an den Beeten hin und her. Wie die Rosen so schön blühten und dufteten! Ich kann ein Dutzend brechen und das kostet nicht gleich hundert Mark –
Da kommt auf einmal Onkel mir entgegen. Er schwenkt einen Brief und sieht sehr lustig aus.
„Heda. Lisi – heut’ Abend giebt’s Maibowle, rathe weßhalb!“
Dabei ist er vor mich hingetreten und hat mir das Kinn in die Höhe gehoben.
„Ums Himmelswillen, Kind, was ist Dir? Hast Du Heimweh?“
„Nein!“
„Aber wie Du aussiehst … Thränenspuren!“
Er zog mich an sich … da – ja, ich war schwach, ich fing zum zweiten Male zu weinen an. Er küßte mich.
„Und willst Deinem alten Onkel nicht einmal sagen, was Dich quält?“
„Ach – ich darf nicht …“ war Alles, was ich hervorbrachte.
„Du darfst nicht? –- Das wollen wir doch sehen! Hat Dich Jemand gekränkt?“
Weinend erwiederte ich: „Nein!“
„Laß mich ’mal rathen – guck’ mich an. Tante thut recht geheimnißvoll … da ist ein alter Junggeselle mit sehr rothen Backen und einem Schmetterlingsnamen – wie, Lisi, ist Er der Verbrecher?“
Unter Thränen mußte ich lachen.
„Er will!“ fuhr Onkel fort, „sehr begreiflich. Sie will nicht – eben so begreiflich. Unser Schatz muß schöner sein, wie, Lisi?“
„Ach – Onkel!“
„Tröste Dich – er behagt mir auch nicht!“
„Aber, Onkel – ich habe nichts gesagt!“ Dabei klammerte ich mich an seinen Arm. Es fielen mir gleich zwölf Centnersteine von der Seele, da ich ihn auf meiner Seite hatte.
[712] „Schon gut, schon gut! Nur gräme Dich nicht! Wir lassen diesen Schmetterling laufen – oder fliegen, wenn’s ihm lieber ist. Mag er sich doch mit einer Andern in Knollern einspinnen – mit der Klavierprinzessin, wenn sie mag! – Jetzt freue Dich aber mit mir. Mein Heinz hat einen Ruf als Professor nach Zürich … Um Gotteswillen, was ist denn da schon wieder los? …“
Ja – ich muß leichenblaß geworden sein, meine Zähne schlugen gegen einander, ich konnt’s nicht hindern.
Er blickte mich mit seinen ernsten Maleraugen an; ich fühlte das, obgleich ich zu Boden sah. Dann schlug er sich vor den Kopf. „Ich alter Einfaltspinsel!“ rief er, „nun wird mir Manches klar!“
„Onkel – sei barmherzig!“
„Still, Liebling, still,“ und er drückte mir die Hand; dann streichelte er mich und quälte mich nicht mit Fragen. Ach – er ist ein Prachtonkel, in Gold zu fassen. Wie er immer gleich herausfühlt, was Einem wohl thut! Nachdem wir eine Weile – er den Arm um mich geschlungen – so schweigend neben einander gegangen sind, hält er mir den Brief von Herrn Heinrich hin.
„Da – lies einmal das …“
Ich las:
„Mein bester Freund und Berather!
Die Nachricht, von der ich Dir neulich sprach, ist eingetroffen – ich habe den Ruf nach Zürich erhalten. Es ist kein Peru, was man mir verspricht, Zürich ist ja auch nur Durchgangsstation. Vor Allem – es ist ein Anfang! Du wirst errathen, was mir diesen Anfang jetzt so werthvoll macht … Es handelt sich nun darum, ob ich als ein Glücklicher dahin abgehen darf, oder – aber Du wirst ja wissen, was ich meine – hier, wie überall, ist Deine Güte mir entgegengekommen …“
„Na – da sieh einmal, wie man zu unverdientem Lobe kommt!“ murmelte Onkel und lachte, aber nur ganz leise.
„Sobald ich die nothwendigen Briefe expedirt und Mama mich losläßt, bin ich bei Euch …“
Ich gab den Brief zurück – reden konnt’ ich nicht, die Kehle war mir wie zugeschnürt. Einen Augenblick nur war ich selig – dann packte mich ein furchtbarer Zweifel: wenn er die Kousine Bertha meint!
Es war, als ob Onkel meine Gedanken erriethe:
„Gelt – mein Kanaer, der kann Einem schon in die Augen stechen …“
„Sprich nicht weiter – wenn Du Dich täuschtest, es wäre entsetzlich – ich müßte unter die Erde sinken!“
„Quäle Dich doch nicht – ich will ja nichts wissen! … Denkst Du, Dein alter Onkel würde Dich verrathen? Es bleibt Alles unter uns, und wir Beide stehen zu einander!“
Ich lief in meine Stube zurück und schloß mich ab, mir war, als müßt’ ich mich vor aller Welt verstecken – ich war wie erstarrt.
O mein Gott – was ist das in mir! Ist das Liebe – solch eine Liebe, wie Natti sie für Dimitri fühlt? Lieb’ ich denn Herrn Heinrich? Und da fiel mir ein, daß Natti sagte: wenn ich Dimitri verlöre, wollte ich nicht weiter leben … Und Herr Heinrich gehört mir nicht einmal! Da wurde mir sehr beklommen und ich konnte mich nicht trösten. Es war, als wäre ich mit einem Male eine ganz andere Lisa geworden.
Später.
Bei Tisch war Tante sehr gesprächig, damit Onkel mein verstörtes Wesen nicht bemerkte. Sie glaubte gewiß, ich stellte mir nur immer den Trauermantel vor, wie er als Feind mit der Flinte auf Papa zielt.
Und Onkel wieder war auch sehr gesprächig, damit Tante mein verstörtes Wesen nicht bemerkte! Er erzählte allerlei Malgeschichten. Wegen der Bowle, das hatte er vorher schon mit ihr abgemacht. Sie scheint froh, daß er morgen geht! Ach – wie wird dieser Tag enden, davon hängt all mein Glück ab! Man kann nur einmal lieben – es ist für die Ewigkeit, und wenn sie Millionen Jahre dauerte … Da hab’ ich’s niedergeschrieben – es thut nichts. Heute Abend bin ich entweder glücklich, oder ich sterbe aus Gram – vorher verbrenne ich dann das Buch noch …
Nachts.
Wie soll ich Alles niederschreiben! Nein – das Buch wird nicht verbrannt!
Onkel holte mich nach Tisch hinunter, ich wußte weßhalb.
„Willst Du mir nicht ein wenig behilflich sein, liebes Kind, meine Renaissancefiguren abzuputzen?“ sagte er vor Tante, „der Staub hat sich arg hineingesetzt.“
„Ach – endlich kommst Du auch darauf Karl, daß Schmutz kein Konservationsmittel für Kunstwerke ist!“ rief sie ihm zu.
Wie so ein großer Künstler doch Alles herausfindet, was man tief im Herzen fühlt, ohne daß man’s ihm sagt! Es war gerade, als ob er wüßte, daß ich vor Unruhe fast verging, und daß eine Beschäftigung neben ihm wie Balsam für mich sein würde.
So putzte ich an einer lebensgroßen Holzfigur herum, während er, ohne zu reden, an seiner Staffelei saß. Ich wollte meine Gedanken sammeln – es ging nicht. Es war, als ob mein Herz den Takt dazu schlüge, bald heftiger, bald ruhiger – manchmal schien’s still zu stehen.
Plötzlich geht die Thorklingel; bald daraus höre ich Herrn Heinrich’s Schritt – ich kenn’ ihn längst. Onkel ihm entgegen – sie sprechen vor der Thür.
O mein Gott, sei barmherzig! O mein Gott, verlaß mich nicht! sag’ ich in einem fort vor mich hin, und dabei putze ich doch so eifrig an der Figur herum, als ob’s in der Welt weiter nichts für mich gäbe. Ich knieete auf der Erde, denn ich war gerade an den Füßen, da trat er herein – ohne Onkel. Er kommt auf mich zu und steht eine kleine Weile neben mir, ohne zu sprechen – und ich putzte nur immer weiter …
„Fräulein …“
Ich wende mich um – er reicht mir die Hand entgegen … ich sehe zwei große feuchte Augen auf mich gerichtet – die Augen kommen mir näher und näher, es ist, als ob eine unsichtbare Gewalt mich ihnen entgegenzöge … Alle Zweifel verschwinden, alle Qual … ich fühle mich so leicht, als ob ich Flügel hätte.
* | * | |||
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Auf einmal steht Onkel hinter uns – wie ich das uns nur so ruhig niederschreiben kann!
„Meine Kanaer!“ ruft er. Die Stimme klingt nicht recht fest, er läßt’s nicht gern merken, wenn er gerührt ist – „Meine Kanaer – ei, was treibt Ihr für Geschichten! … Tante, die wird aber Augen machen!“
„Rufe sie gleich, Onkel,“ sagte er, „ich kann jetzt Alles aushalten!“
„Was Du für Eile hast, Heinz, Deinen hübschen Schatz der Welt zu zeigen! Wart’, wir müssen die Sache erst in Scene setzen!“
Und dabei placirt er uns gerade, wie wir auf seinem Bilde neben einander sind, wirft uns auch die Draperien über. Drauf schreit er an der Thür sehr laut:
„Therese – schnell, Therese!“
Und wie sie, außer Athem vom Laufen, denn sie konnte sicher nicht begreifen, warum er solche Eile hätte, hereintritt, da weist er mit dem Malstock auf uns hin:
„Sieh einmal die Kraft der Wunder! Das alte Wunder hat ein neues bewirkt …“ weiter kam er nicht, Herr Heinrich zog mich an sich.
„Was für ein dummer Scherz!“ ruft sie ärgerlich, „Du weißt doch, Karl, daß Herr von Trauermantel ernste Absichten auf Lisi hat!“
„Der Schmetterling?“ jetzt lacht Onkel, „daß er Geschmack an dieser Blume findet, wollen wir ihm nicht übelnehmen – he, Heinz? Aber solche Blumen sind für solche Schmetterlinge auch nur zum Bewundern da!“
Tante aber schien da ernsthaft böse.
„Es ist eine alte Geschichte,“ schalt sie, „daß Künstler und Sterngucker keine praktischen Leute sind. Die Augen immer nach oben gerichtet, kommen sie leicht zu Falle, wo vernünftige Leute den Weg zu einem ruhigen Glücke finden. Oder denkst Du, ich habe das Glück meiner Nichte nicht im Auge gehabt? Sie hat kein Vermögen, Heinrich hat keins! … Es ist, als ob Du ganz vergessen hättest, was ein Hausstand in unseren Tagen kostet!“
Da war es wohl an mir zu sprechen. Ich faßte mir ein Herz, obgleich die Worte nicht recht gehorchen wollten.
„Tante … die Klümpen haben ihm neulich sehr gut geschmeckt … Ofengrütze und Palten kann ich auch machen … das sind Alles … billige Gerichte … und ich bin so jung … ich kann so viel noch lernen … wie man eine Wirthschaft … sparsam einrichtet …“
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[714] „Bravo, bravo!“ schrie Onkel und klatschte in die Hände.
Ach – was er da erst Alles gesagt hat – ich schreib’s nicht her – das vergess’ ich ihm doch nie!
„Therese“ – sprach Onkel, und wieder klang die Stimme nicht ganz sicher – „was Deinen Schmetterling anlangt, so will ich Dir dann Einiges aus seiner Naturgeschichte mittheilen, was ihn für unsere Nichte (er betonte das unsere) nicht recht geeignet macht. Danke Gott, daß es so gekommen! Kinder!“ rief er dann in einem ganz lustigen Tone, „meinen Segen habt Ihr! Und die Kanahochzeit auch – für den Erlös giebt’s schon eine recht nette Ausstattung.“
Darauf fielen wir Beide über ihn her, wie sich’s für so einen Onkel gehört.
Da küßte Tante mich auch:
„Sei glücklich, Elisabeth!“ sagte sie.
Ich weiß, morgen wird sie mich schon wieder Lisi nennen; sie ist ja so gut.
„Ach Tante – ist es nicht möglich, daß der Trauermantel das Mädchen mit den betrübten Augen heirathet? Ich bin sicher, sie hätte es sehr gern … und Du glaubst nicht, was ich für Sehnsucht habe, allen betrübten Menschen ihre Wünsche zu erfüllen!“
Es scheint, sein Buch hat in Zürich sehr gefallen. Das müssen gescheite Menschen dort sein, die’s gleich begriffen haben, was mein Heinrich Werth ist!
„Bist Du glücklich, Lisa?“ fragte er mich, als wir nach der Maibowle unter den herrlichen Sternen, die so bekannt auf ihn herunterschauten, neben einander im Garten gingen – „bist Du auch glücklich?“
„So – daß ich sterben möchte!“
„Um Gotteswillen – Liebste …“
„Ich fürchte mich, weiter zu leben – glücklicher kann ich nie werden!“
„Wir wollen sehen!“ sagte er und schloß mir die Lippen …
Die Bäume entlaubt des Herbstes Kuß;
Kühl weht sein Odem über den Fluß;
Da gleitet bei trüber Morgengluth
Ein Nachen durch die stille Fluth.
Die Letzte des alten Stammes, hinaus
In fremde Fernen, Gott weiß wie weit,
Die treue Zofe als einzig Geleit.
Am andern Ufer legt der Kahn
Hier wendet die blonde Maid den Blick
Noch einmal zum Hause der Väter zurück.
Dort drüben liegt’s so still und müd;
Der Morgenschein an den Mauern glüht
Nach Süden schweigende Vögel ziehn.
„Du Stätte, wo meine Wiege stand,
Wo ich der Jugend Freuden fand,
Wo meiner Ahnen Asche ruht.
Ihr Wandervögel, gegrüßt seid mir!
Ich hab’ keine Heimath, gleich wie ihr;
Auf den Himmel, der euch das Nest wird baun,
Muß auch das Waisenkind vertraun.“
„Ihr geht nicht allein ins fremde Land;
Es schlägt für Euch in Lust und Schmerz
Getreu bis zum Tode mein armes Herz.“
Die Jungfrau zieht in Wehmuth und Lust
Aus ihrer Wimper quillt’s heiß hervor …
Die Wellen murmeln, es rauscht das Rohr.
Anton Ohorn.
Der Raub in der Tierwelt.
Wir kommen zu den Würgern, diesen Vögeln von merkwürdiger
Doppelstellung, bei denen die Raubnatur mit dem
Anspruch auf ihre Stellung als Sänger in schroffem Gegensatz
steht. Doch wiegt bei der einen Art entschieden die eine, bei der
anderen ebenso entschieden die entgegengesetzte Stellung vor. Unzweifelhaft
ist der Raubwürger, unsere größeste Art, den Raubvögeln
am meisten verwandt. Mit ihnen theilt er noch, abgesehen
von der Schnabelbildung und dem vorwaltenden Gebrauch der
Füße beim Zerlegen und Tragen der Beute, das Rauben
in größerem Stil, die Beherrschung ausgedehnterer Flächen, sodann
das Ritteln und den Raubanfall der Vögel im Fluge. Gewöhnlich
sitzt er auf hoher Warte der Hecken und Bäume, nach allen
Richtungen hin das Jagdterrain der Nähe überschauend. Hat er
eine Maus, die er vorzugsweise gerne aufs Korn nimmt, entdeckt,
so stürzt er sich eilend auf sie herab, mit ausgebreiteten Flügeln
nach Genick und Kopf hastig auf einander folgende Schnabelhiebe
richtend. Stößt er fehl oder entwischt sie ihm, so giebt er die
Hoffnung auf baldige Wiederkehr derselben aus dem Zufluchtsort
auf. Stellt er sich aber rittelnd über die Flur, so hat die Maus
sich nur erst seinem Späherauge verrathen, und nun beginnt oft
eine sehr anstrengende Arbeit für ihn. So lang er es vermag,
hält er rittelnd aus, minutenlang; dann unterbricht er das Ritteln
durch einen Bogenflug, um sich sogleich wieder festzustellen. Tritt
Erschöpfung ein, so läßt er sich in der Nähe auf einer Erhöhung
auf den Boden nieder, hochaufgerichtet den Kopf nach dem Aufenthalte
des ausersehenen Opfers wendend. Nach einer Weile erhebt
er sich wieder und setzt die Versuche fort, bis endlich der günstige
Augenblick ihn zum Flugsturz veranlaßt. Goldammern und Sperlinge
jagt und verfolgt er durch das Geäste der Bäume, um sie zur
Flucht über freie Plätze zu nöthigen, wo er sie überfliegt und durch
Sturzangriffe zu stoßen und zu verwirren sucht. Interessant ist es,
wie er seine Anstrengungen verdoppelt, je näher der Flüchtling
der rettenden Deckung kommt; da geht er zu einem förmlichen
Purzeln über und verliert in der Hast selbst Halt und Sicherheit.
Im Winter bei Kälte und Schnee stößt er oft wochenlang täglich die Kleinvögel an Futterplätzen, wo sie entweder ermattet oder sorgenlos sich zusammenscharen. Und ob er nach und nach Dutzende im Laufe von Wochen raubt: die Genossen der zur Beute Gewordenen kommen nicht recht zur Erkenntniß seiner doch deutlich genug ausgesprochenen Feindschaft, sie erblicken in ihm nicht den Schrecken eines Raubvogels. Das kommt ihm denn natürlich sehr zu Statten, und er gehört zu denen, welche das Vertrauen zu jeder Zeit zu mißbrauchen bereit sind. Auch die Schwarzamsel, welche an Größe ihn etwas überragt, fällt er im Winter mörderisch an. Es ist wirklich ein kouragirter Räuber, dieser Würger, der sogar den staunenswerthen Erfolg zu erringen [715] weiß, dem Hühnerhabicht die Unternehmungen zu durchkreuzen und ihn angesichts der entsetzten Vögel buchstäblich in die Flucht zu schlagen.
Im Sommer legt sich der Raubwürger auf Auskundschaftung der Vogelnester, zumal zur Zeit, wo die Jungenpflege das Paar zur Verdoppelung seiner Austragungen bewegt. Es ist Würgerart, auf die Töne der Vögel zu lauschen und daraus den Stand des Restes und den Sitz der Jungen zu erkunden. Das thut auch der röthrückige Würger, den das Zirpen und Hungergeschrei der jungen Vögel zu ihren Schlupfwinkeln leitet. Wenn auch die Sättigung eingetreten ist, so hört beim Würger noch nicht die Mordlust auf. Er spießt die überflüssige Beute an Dornen an. Der Raub ist ihm Bedürfniß, der Mordsinn beherrscht ihn in hochgradiger Leidenschaft. Reizt ihn Beute, deren Aneignung durch Hindernisse oder entgegentretende Bedrohung seiner Sicherheit erschwert wird, dann kämpfen Vorsicht und Furcht mit Lüsternheit und Mordsinn, dann tritt dieser Seelenvorgang in dem charakteristischen Zeichen des wie ein Taktstäbchen hin- und hergeschwenkten gefächerten Schwanzes aus, und es bietet sich hier wieder eine schöne Gelegenheit zur Vertiefung thierpsychologischer Studien.
Lenken wir unsere Beobachtung auf unseren Storch, den gleichsam auch bei uns durch Schutz und Schonung, ja sogar durch die menschliche Hilfe zur Anlegung seines Horstes geheiligten Vogel. Betrachten wir nur seinen Schnabel, dessen Spießhiebe durch weites Ausholen des langen Halses sich so wirksam erweisen, und wir erkennen ihn sofort als einen gefährlichen Mordgesellen. Die Vögel der Flur zu ergreifen und hinunter zu werfen in den Schlund, ist ihm ein leichtes Spiel, die Maus, der Laubfrosch und die Eidechse verschwinden rasch unter würgender Bewegung. Vom jungen Häschen fliegen die Fetzen unter den Hieben, und von den zerlegten Theilen folgt einer dem andern in die hungergähnende Tiefe. Das Morden ist dem Storch eine Lust. Dieser Sinn lenkt seine Schritte in hochtrabender Gravität durch Wiese und Saatfeld, durch Sumpf und Moor. Ueberall späht scharf und gründlich das Auge umher, und mit der Entdeckung ist Stoß und Hieb so unmittelbar verbunden, daß an ein Entrinnen der Beute kaum zu denken ist. Wo sich's noch unter dem Rasen oder der Erdoberfläche sichtbar regt, da dringt wuchtig der Schnabel ein, zielbewußt und sicher gelenkt. Maulwurf und Feldmaus werden gar oft mit einem Bündel Rasen zum Horste getragen. Auf das Stoßen des Maulwurfs lauert der Räuber unbeweglich und schlagfertig, wie der Gärtner mit der Hacke. Auf überschwemmten Wiesen und an Gräben, welche Fische bergen, sehen wir ihn waten und mit Erfolg fischen. Freilich leistet der Reiher darin ungleich mehr, er ist ein unberechenbar schädigender Feind der Fischereien. Mit dem Tagesgrauen ist er da, auf seinem Zuge durch die Flussthäler an Stellen einfallend, wohin er sich am hohen Tage und beim Walten des Verkehrs nicht wagt. Seine Fertigkeit im Fischen ist bewundernswerth. Wer ihn mit dem Tubus in ungestörtem Treiben so oft wie wir beobachtet hat, der weiß die Tücke zu ermessen, mit der er überlistet, die Ausdauer, mit welcher er seinen Zweck erreicht, die Bosheit und Lüsternheit, mit der er seine Raubthaten ausführt. Aber doch bewahrt er bei aller Gewalt des inneren Dranges die nöthige Selbstüberwindung, um den rechten Zeitpunkt zum Zufahren abzuwarten und die Gunst des Augenblicks zu nützen. Da steht er am Ufer oder im Seichtwasser, regungslos den Blick geheftet auf den Wandel der Fische. Sie kommen heran zu seinen Ständern oder ziehen in erreichbarer Nähe an ihm vorüber, jedoch so, daß ihm der Eingriff noch nicht sicher genug dünkt. Er beherrscht sich noch, aber nun hat er sich mit einem Male ein Opfer ausersehen -: ein Spießwurf in das Wasser mit solch mitreißender Gewalt, daß der ganze Vogel bisweilen nach vorn überstürzt und der Flügelschlag hemmend eingreift – ein rasches Zurückziehen und Aufrichten der gestreckten Gestalt – ein Zurechtwerfen des erfaßten Fisches, daß dieser mit dem Kopf zuerst in den Schlund eintaucht – ein je nach der Größe der Beute mehr oder weniger anstrengendes nachdrucksvolles Würgen – und die Raubthat ist vollbracht.
Das bildsäulenartige Verharren in der angenommenen Stellung wendet der Reiher auch beim Herannahen ihm verdächtiger Erscheinungen an. Wer hätte nicht schon die Reiherfamilien in Sümpfen in solcher versteinerten Stellung gesehen? Dort ragt eine Statue hervor, da eine andere, drüben neben einander die dritte und vierte, als seien sie wie spitzzulaufende Grenzsteine von Menschenhand eingerammelt worden. Das sind unheimliche Gestalten, finstere, boshafte, widerwärtige Raubcharaktere, deren rauher Sägeton aus der Luft das Antipathische in der Seele des Hörers und Beschauers nur noch mehrt. Uebrigens müssen Jäger und Hunde beim Angreifen eines angeschossenen Reihers auf ihrer Hut sein, denn sie richten ihre Stöße heimtückisch boshaft nach den Augen.
Als Fischräuber tritt auch der Eisvogel auf, den wir bereits in der „Gartenlaube“ gegen die Verfolgung verblendeter Vertreter und Berather von Fischereivereinen neben der anmuthigen Wasseramsel in Schutz genommen haben. Diesmal gilt es nur, diese Vögel in der eigenthümlichen Art und Weise ihrer Raubunternehmungen zu kennzeichnen, und es bietet sich in ihren Seelenäußerungen bei denselben Anziehendes in reichem Maße dar.
Wir schleichen uns jetzt in die Nähe eines alten Eisvogels, der schon manches Jahr hindurch die beliebten Lauerstände eingehalten hat, wo die Erfahrung ihn zum Meister als Stoßfischer ausbildete. Wir finden ihn auf der Lauer, auf überhängendem dürren Aste eines Weidenbaumes. Nicht starr und regungslos, wie wir es beim Reiher und anderen Großvögeln gesehen haben, die im Bewußtsein ihrer auffallenden Erscheinung so sehr auf sich selbst bedacht sein müssen, sitzt der Eisvogel da, sondern er weiß, daß er eine winzige Erscheinung in Manneshöhe über der Wasserfläche bildet und die Fische unter ihm seine kleinen Bewegungen nicht wahrnehmen oder gar beargwöhnen werden. Eine bewegliche Rolle übernimmt vorzüglich das kurze, geschmeidige, auf und nieder und im Affekt auch seitlich geschwungene Schwänzchen. Auch ein leichter Bückling zeugt von seinem Wohlbehagen oder auch von seiner Erregung beim Anblick einer herannahenden Fischgruppe. Mit schiefgehaltenem Kopf lugt der Vogel in die Tiefe. Einen seiner Wahl an Größe entsprechenden Fisch faßt er scharf aufs Korn, rückt vor und stößt im Sturz unter die Wasserfläche nach ihm. Hat er ihn erfaßt, und dies geschieht jedesmal von der Querseite, so führt ihn die Wirkung des Stoßes noch eine kleine Strecke fort, dann aber rudert er mit den kurzen Flügeln in leicht ansteigender Linie empor und taucht auf, sogleich dem verlassenen oder einem nahe befindlichen anderen Sitz zufliegend. Hier wendet er den Fisch schlinggerecht und würgt ihn kopfüber hinab, alsdann das Gefieder schüttelnd und in starrer Stellung einige Augenblicke verharrend, als bereite ihm die verschlungene Beute Schmerz oder Unbehagen, als sitze der Raub noch nicht an der rechten Stecke. Ja bisweilen, was aber doch nur als Seltenheit und Ausnahme vorkommt, würgt er den zur Bewältigung zu großen Fisch so, daß er denselben weder ganz hinabzuschlingen vermag, noch das Ausschleudern ihm gelingt und er in Folge dessen erstickt. Wie sehr es aber der Uebung im Fischen beim Eisvogel bedarf, das sehen wir an den häufigen Fehlstößen der eben erst selbständig gewordenen Jungen. Selbst die alten Meister stoßen vielfach hinter einander fehl und haben oft unter wenig günstigen Witterungsverhältnissen ihre große Noth, sich die erforderliche Fischnahrung anzueignen. Das Fischraubgebiet des Eisvogels erstreckt sich sehr weit, oft drei- und viermal weiter als das der Wasseramsel, welche paarweise auf zwei bis drei Kilometer Entfernung ihre Heimstätte beschränkt.
Wir haben den Leser in großen Schnellzügen an Vielem vorübergeführt, bei dem wir gerne verweilt und unsere Führerschaft mit aller Treue der Naturwahrheit ausgedehnt hätten. Aber wir dürfen annehmen, daß diese Charakterschilderungen genügen werden, um einen tieferen Einblick zu gestatten in die Vorgänge des Seelenlebens der Räuber der Thierwelt durch die Offenbarungen ausgeprägter Familien- und Arteigenthümlichkeiten. Wir erkennen auch hier überall das Vorwalten der wunderbaren Naturgaben, welche in unübersehbaren Zeiträumen das Typische, die großen Urformen der Artung, nicht verloren haben, aber innerhalb ihrer eigentümlichen Kennzeichnung freien Einzelgestaltungen Raum und Zutritt gewähren, wodurch das Schablonenmäßige durchbrochen und durch das seelische Element der Erfahrungseinwirkungen und der Ueberlegung belebt und in höhere Beleuchtung gestellt wird.
Karli blieb unter der Hausthür stehen, schloß die Augen und drückte die Hand an die Stirn. Dann schüttelte er heftig den Kopf, als hätte er Alles, was drückend auf ihm lastete, gewaltsam von sich werfen mögen, sprang mit einem Satze über die drei hölzernen Stufen nieder, huschte hinter das Haus, schlich die Kegelbahn entlang, übersprang einen Zaun und eilte quer über die Wiesen der Straße zu, die nach dem Binderholze führte.
Als er den Waldsaum erreichte, stieg er über den Straßengraben hinweg, schleuderte den Hut bei Seite und warf sich der ganzen Länge nach ins Moos. Gleich aber richtete er sich halb wieder auf und lauschte gegen die Stelle, an welcher sich die Straße mit einer Biegung in den tieferen Wald verlor. Nun vernahm er den deutlichen Hall von Schritten, und da machte er schon Miene, zwischen die Bäume zu flüchten. Aber nein – vor dem, der dort einhergewandert kam, laut vor sich hinpfeifend, die eine Hand in der Hosentasche, die andere Hand am Stocke, mit dem er über der Schulter ein dickes Bündel trug – vor dem brauchte er sich nicht zu verbergen. Der war ja nicht aus dem Dorfe – von dem hatte er keine Frage zu befürchten, vor welcher er die Fäuste ballen oder die Augen hätte niederschlagen müssen.
Seufzend warf sich Karli wieder in das Moos zurück, verschlang die Hände hinter dem Nacken und schaute unter halbgeschlossenen Lidern hervor dem Näherkommenden entgegen, den man wohl für einen wandernden Handwerksgesellen halten konnte. Aber sicher hatte nicht er dem Meister, sondern der Meister ihm gekündigt – so meinte Karli, auf den der Fremde beim ersten Blick einen unbehaglichen Eindruck machte. Es war eine schlanke, kräftige Gestalt, die aber bei faulem Gange träg in sich versank. Das in halb städtischem, halb bäuerischem Schnitte aus schwarz und grün gewürfeltem Tuch gefertigte Gewand war zertragen und unsauber gehalten. Ein zerknitterter, hellgrauer Filzhut saß schief über den schwarzen, peinlich frisirten Haaren, die sich mit breiten Haken in die Schläfe krümmten, wodurch das blasse, scharfgeschnittene Gesicht noch schmäler erschien, als es war. Der dünne, schwarze Schnurrbart war in steif gewichste Spitzen ausgezogen; Kinn und Wangen waren sorgfältig rasirt. An der rechten Seite des Halses zeigte sich eine schlecht verheilte Schnittnarbe, die sich unter dem schneeweißen Papierkragen verlor. Eine bauschig gebundene, hellblaue Kravatte verdeckte nur halb die zerknüllten Brustfalten des unsauberen Hemdes.
Als sich der Fremde bis auf einige Schritte genähert hatte, drückte Karli die Augen zu – wenn er schlief, brauchte er nicht zu grüßen. Es schien auch, als wollte der Fremde vorübergehen; plötzlich aber hielt er die Schritte an, musterte den im Moose Liegenden mit einem stechenden Blick seiner grauschillernden Augen, überstieg den Straßengraben, puffte die Stiefelspitze an Karli’s Sohle und sprach ihn mit scharfer, spöttisch klingender Stimme an: „Geh Du, mach’ Deine Guckerln auf!“
Karli öffnete die Augen und heuchelte eine verschlafene Miene.
„Was is denn – bin ich da recht am Weg ins Ort ’nein?“ fragte der Andere und nannte den Namen des Dorfes.
„Natürlich – geht ja d’ Straßen g’rad aus!“
„Und ’s Wirthshaus? Is wohl net weit von der Straßen?“
„Hart dabei. Wer an Durst hat, verleid’t kein’ Umweg.“
„Wie schaut’s denn da mit der Unterkunft aus?“
„Für Unserein’ thut’s es. Aber für noblige Leut’ – natürlich, da wird’s spuken.“
„Und a saubere Kellnerin? Was?“
„Wann s’ Ihnen g’fallt! Ich hab’s noch nie drum ang’schaut.“
„Geh’!“ lächelte der Fremde und kniff die Augen ein, als fänden Karli’s Worte bei ihm keinen besonderen Glauben. Und als der Bursche verwundert aufschaute, sagte der Andere in einem ganz eigen gedehnten Tone: „Ich mein’, ich sollt’ s’ kennen – Euer’ Kellnerin. Sie is doch erst vor a paar Monat’ eing’standen? Oder net?“
„Was? D’ Walli? Die is so schon a drei a vier Jahr’ beim Zeug.“
Jetzt war an dem Andern die Reihe, ein verdutztes Gesicht zu zeigen. Und da hatte er nun auch mit einem Male ausgefragt. Eine Weile stand er schweigend, mit finster zusammengezogenen Brauen; dann nickte er dem Burschen einen ungezogen kurzen Gruß zu, sprang über den Straßengraben zurück, und während er mit trägen Schritten weiterbummelte, murmelte er bissig vor sich hin: „Verflucht – da hab’ ich am End’ gar den Ludersweg umsonst g’macht!“
Je weiter er sich von Karli entfernte, desto rascher wurde sein Gang. Nach einer Viertelstunde erreichte er das Wirthshaus und schob sich in der Stube hinter einen Tisch. Während die Kellnerin davonrannte, um den von ihm bestellten Krug Bier zu holen, lachte er spöttisch auf und schaute ihr mit Blicken nach, als vergliche er sie in Gedanken mit einer anderen.
Als die Dirne zurückkehrte, winkte er gegen die zitternde, hallende Decke und fragte: „Wen graben s’ denn da schon wieder ein?“
Die Kellnerin schaute ihn fragend an und kicherte dann: „Ah so – wer heirath’, meinen S’? Der Bauer auf der Point. Ja, a ganz an alter – und ganz a junge heirath’ er – sein’ Hauserin, die vor a paar Monat’ erst bei ihm eing’standen is. Mit der haben s’ uns auch ’was Saubers g’schickt – d’ Rosenheimer!“
Mit starren Augen schaute der Fremde auf die Lippen der Dirne. Nun sprang er auf und klatschte mit wieherndem Gelächter die Hand auf den Tisch.
„Ja was haben S’ denn auf amal?“
„Was ich haben thu’? Den Bauer muß ich mir anschauen – den Bauer – und sein’ Hochzeiterin!“
Mit grober Armbewegung schob er die Kellnerin bei Seite, eilte aus der Stube und sprang in langen Sätzen die Treppe hinauf. Mit Mühe nur vermochte er sich in den Tanzsaal zu drängen. Hier stand er in einer dichten Gruppe von Burschen und überflog mit funkelnden Augen das Gewirr der Tanzenden. Da zuckte es in Zorn und Spott über sein Gesicht, und unablässig folgten seine lauernden, stechenden Blicke einem Paare. Jetzt trat dieses Paar aus der Reihe der Tanzenden, und während sich der ermüdete Tänzer mit den Fäusten den Schweiß von den Backen wischte, fuhr sich Kuni mit einem weißen Tuch über Stirn und Wangen. Sie wollte schon wieder zu tanzen beginnen, als sie über ihre Schulter eine spöttische Stimme hörte: „Grüß’ Dich Gott, Hochzeiterin!“
Erschrocken fuhr Kuni zusammen, und die glühende Röthe ihres Gesichtes verwandelte sich jählings in fahle Blässe. Sie stand wie gelähmt, und ein starrer, angstvoller Blick war in ihren Augen.
„Grüß’ Dich Gott, hab’ ich g’sagt!“ wiederholte jene spottende Stimme. „Oder hat Dir die gache Freud’ ’leicht d’ Red’ verschlagen? G’laden hast mich freilich net zu Deiner Hochzeit, aber ich trag’ Dir’s net nach, ich bin schon amal so a guter Kerl – und da kannst g’rad sehen, wie gern als ich Dich hab’ – Tag und Nacht bin ich g’laufen, daß ich noch recht komm’ zu Dei’m Ehrentag. Und da wirst mir ja dengerst an Tanz verlauben – mir als Deiner nächsten G’freundschaft?“
Kuni schwieg; mit Augen, in deren Blicken sich zitternde Angst und glühender Haß verriethen, hing sie noch immer an dem Gesichte des Burschen und übersah die Hand, die er ihr entgegenbot.
Da trat er mit grinsendem Lächeln dicht an ihre Seite: „Oder – meinst vielleicht, es thät’ sich net schicken für Dich? Denn wenn auch schon bis heut’ den gleichen Namen tragen hast mit mir, so könntst Dir ja dengerst einbilden, daß Dein’ Familli die besser is als wie die meinig’?“
In scheuer Hast hob Kuni die Hand, als hätte sie dem Sprecher den lauten Mund verschließen wollen. Ihre Augen füllten sich mit Thränen; einen ängstlichen Blick noch warf sie auf die neugierigen Gesichter der Umstehenden und sank dann, einer Ohnmacht nahe, in die Arme des Fremden, der sie in tollem Wirbel mit sich hineinriß in das Gewühl der Tanzenden.
Im gleichen Augenblick drängte sich der Pointner aus der Thür des Nebensaales, mit brennendem Gesichte und mit den kreischenden Rufen:
„Karli! Bua! Ja wo is denn mein Karli? Hat denn Niemand mein’ Buben net g’sehen? Karli! Karli!“
[717] Da konnte der Pointner aber lange rufen und suchen. Wenn er seinen Buben hätte finden wollen, hätte er einen andern Weg nehmen müssen, als vom Tanzsaal in das Nebenzimmer, von dort in die untere Wirthsstube und von der Stube wieder in den Tanzsaal. Er hätte hinauswandern müssen ins Binderholz, wo Karli hoch oben saß im Wipfel einer tiefästigen Buche.
Vielleicht aber ahnte der Bursche, daß er im Wirthshause vermißt und gesucht wurde; denn seufzend und kopfschüttelnd warf er einen letzten Blick auf das stille Bygotterhäuschen und das öde Gehöft, ließ sich achtsam zwischen den Aesten niedergleiten, eilte lautlos den hohen Zaun entlang und schlüpfte durch die Birken- und Weidenbüsche, um den Fußweg zu gewinnen. Als er einer kleinen Lichtung
nahe kam, über welche der Pfad hinwegführte, blieb er lauschend und betroffen stehen. Durch dünnes Buschwerk scholl ihm ein sachtes Plätschern und ein halblauter Gesang entgegen, dessen schwermüthige Weise von dem monotonen Rauschen und Murmeln des Baches begleitet wurde. Eine jähe Röthe schoß ihm in die Wangen; mit zitternder Vorsicht theilte er die Büsche, und dann plötzlich sprang er durch die schlagenden Zweige mit jubelndem Aufschrei dem Ufer zu.
Erschrocken fuhr Sanni in die Höhe, und das weiße Linnen, das sie im rinnenden Wasser des Baches gespült hatte, sank ihr aus den Händen. Doch ehe sie noch ein Wort über die Lippen brachte, hatte der Bursche sie schon umschlungen, an seine Brust gerissen, und unter stammelnden Lauten überströmte er Sanni’s Mund und Wangen mit glühenden Küssen. Regungslos, als wüßte sie nicht, wie ihr geschähe, ließ sie all diese stürmische Zärtlichkeit über sich ergehen. Nun aber schien ihr die Besinnung zu kommen, sie riß sich gewaltsam los, und es war, als wollte sie fliehen. Doch blieb sie mit einem unsagbaren Blick an den Augen des Burschen hängen – und da hob sie nun selbst die zuckenden Arme, schlug sie in heiß erwachender Leidenschaft um Karli’s Nacken und drängte sich stammelnd und schluchzend an seine Brust, als wäre sie einsam, verlassen und verirrt in weiter Welt gestanden und hätte nun plötzlich ihr Heim und ihren Ort gefunden.
„Sannerl! Schatzerl! Deandl! Schau – jetzt is mir Alles eins! Jetzt kann meintwegen heirathen, wer mag! Weil nur wir Zwei wieder amal bei ’nander sind!“ jauchzte Karli, während er das Mädchen nach einem halb von Gebüsch umwachsenen Steinblock führte und an seine Seite zog. „Aber jetzt – jetzt sag’ mir nur gleich, ob auch Dein Versprechen g’halten hast und ob auch fleißig an mich ’denkt hast in die vier ewigen Wochen? Gelt – so oft hast g’wiß net an mich ’denkt, wie ich an Dich denkt hab’. Aber schau, wenn ich ’s Denken an Dich net g’habt hätt’ – ich hätt’ ja schiergar narrisch werden müssen in all meiner Kümmerniß. Aber – was schaust mich jetzt so an – verstehst mich denn net? Ja weißt denn am End’ gar net amal, was heut’ für a Tag is – was heut’ im Ort drin g’schieht?“
Wie hätte Sanni das wissen können! Seit Karli’s Abschied hatte sie keinen andern Menschen gesehen, als ihren Vater; seit langen Wochen war es heute zum ersten Male, daß sie den Bereich des umzäunten Hofes überschritten hatte.
In stockenden Worten gestand ihr Karli, was der vergangene Morgen über ihn gebracht. Doch schien diese Nachricht auf Sanni nicht die niederschmetternde Wirkung zu üben, welche Karli befürchtet haben mochte; denn als er sie an den „Besuch“ erinnerte, den sie vor langen Wochen an einem Fenster des Pointnerhofes gewahrt hatte, als er nach zögernden Umschweifen endlich damit herausplatzte, daß heute dieser „B’such“ mit seinem Vater Hochzeit hielte, fuhr dem Mädchen anstatt des erwarteten Schreckensrufes ein freudiges „Gott sei Dank!“ über die Lippen.
Mit verdutzten Augen schaute Karli auf „Was? Was, Gott sei Dank?“
„Daß – daß der selbige B’such Dei’m Vater ’golten hat und – net –“ Weiter kam Sanni nicht; in lieblicher Verwirrung barg sie ihr Gesicht an Karli’s Brust.
Nun verstand er sie, und eine leichte Röthe huschte über seine Züge, während er mit leisen Worten schmollte:
„Aber, Schatzerl, geh’, wie hast denn da an Augenblick lang eifern können? Und auf so Eine noch dazu.“
„Aber sie is halt gar so viel sauber g’wesen – und – und so glanzige Augen hat s’ g’habt!“ entschuldigte sich Sanni.
Karli lächelte und drückte das Mädchen glückselig an sich. „Ah na – wer Dich amal in die Gedanken hat, der schaut sich g’wiß auf nix anders nimmer um. Und weiter brauchst Dich auch net z’ kümmern wegen der g’spaßigen Heirath da. Seit wir Zwei mit einander gleich auf gleich sind, kümmert mich schon gar nix mehr! Mag der Vater hausen mit seiner Bäuerin – ich hab’ zwei junge Arm’, ich will mir schon a Heimatl schaffen für Dich und mich! Und überhaupts – mein Muttergut kann mir der Vater net verwehren! Und das will er auch net, ich weiß! Heut’ in der Fruh erst hat er mir’s g’schworen, und unser Herrgott hört an jeden Schwur und straft Ein’ um an jeden, der ’brochen wird –“
Karli verstummte, zu Tod erschrocken über die unverhoffte Wirkung seiner Worte. Sanni’s Wangen erblaßten, ein Zittern befiel ihren Körper, mit angstvollen Augen starrte sie ins Leere und schlug dann erschauernd die Hände vor das Gesicht.
„Ja – ja – er hört an jeden Schwur, und jeden straft er, der wo ’brochen wird!“ stöhnte sie unter Thränen. „Und ich – ich hab’ g’schworen – und – und –“ Tiefathmend ließ sie die Hände sinken und schaute mit nassen Augen zu Karli auf. „Aber ich kann ja nix dafür – ich hab’ net anders können – und es mag mich auch net g’reuen, und wann ich’s gleich büßen müßt’ an mei’m Leben.“
[718] Aufschluchzend umschlang sie ihn mit beiden Armen und schmiegte sich in Angst und Beben an seine Brust.
„Aber, Schatzerl – Jesus Maria – ja was is denn?“ stotterte der Bursche in beklommener Sorge. „Ja ich bitt’ Dich gottstausendmal – so sag’ mir nur g’rad –“
„Selbigsmal – Du weißt es ja noch – wie mir selbigsmal so an lieben Abschied g’sagt hast,“ zitterte es in fliegenden Worten von Sanni’s Lippen, „hast es denn selbigsmal net g’merkt, daß ich schier auf’n Tod erschrocken bin, wie ich Dich g’sehen hab’ –“
„Ja – aber –“
„Selbigsmal in der Fruh, da is ’was g’schehen – und ich kann’s net sagen – aber – aber da muß mei’m Vater ’was in’ Kopf ’nein ’kommen sein – was Seltsams, wo ich mir gar net denken kann – und da hat er mich an der Hand in die Stuben ’neing’führt – g’wiß wahr, ganz zum Fürchten is er g’wesen – und da hat er mich Sachen g’fragt, daß ich ganz erschrocken bin – und – ja – und wie ich ihm nix anders hab’ sagen können, als daß ich brav g’wesen bin mein Leben lang und daß ich mei’m lieben Herrgott ohne Scheu mein Herz auf d’ Hand hinlegen könnt’ – da hat er völlig aufg’schnauft, mein Vater – und g’halst und ’druckt hat er mich, daß mir schier Angst worden is – ja – und nachher hab’ ich ihm bei Blut und Leben schwören müssen –“
„Was, Sanni, was hast schwören müssen?“
„Schwören hab’ ich müssen, daß – aber ich kann Dir’s net sagen, wie’s der Vater g’sagt hat – weißt, g’meint hat er halt, es sollt’ für mich kein andres Mannsbild geben als wie der liebe Herrgott und der Vater, und an kein’ dürft’ ich denken, mit kei’m dürft’ ich reden, um kein’ sollt’ ich mich harben und kein’ dürft’ ich gern haben –“
„Na, na, jetzt da hört sich fein schon gar Alles auf!“ rief Karli mit zornbebenden Worten aus. „So a Vater – der so ’was von sei’m Deandl verlangen kann! Und bei so einer Narretei auch noch unsern Herrgott zur Aushilf’ nehmen! Geh’, Sanni, sag’ Dei’m Vater, wann er sich schon gar so gut auskennt im Testament, nachher soll er sich auch auf dieselbigen Sachen b’sinnen, wo für die andern Leut’ taugen, net g’rad für seine narrischen G’schichten allein – weißt – daß unser Herrgott in seiner Allgütigkeit amal g’sagt hat: Liebet einander – und – und es is net gut, wann der Adam allein is!“
Mit einem freudig aufleuchtenden Blick schaute Sanni in Karli’s Augen und schmiegte sich noch enger an ihn.
Karli aber, den die Wahrnehmung, daß er das beste Wort getroffen, ordentlich wachsen machte, predigte in flammendem Eifer weiter: „Ah na – das sag’ Dir ich – da brauchst Dich fein jetzt gar net z’ kümmern. Denn unserm lieben Herrgott sein Verstand geht dengerst noch über Dei’m Vatern sein’ g’spaßige G’scheitheit. Und für so an unsinnigen Schwur, zu dem Dich Dein Vater überhaupts noch ’zwungen hat, für so an Schwur hat unser Herrgott g’rad an Lacher! Bei so ’was sagt man halt Ja, daß man vor der Narretei sein’ Fried’ hat, und weiters braucht man sich net z’ halten. Das sag’ ich vor ei’m Jeden, und wann’s der Pfarrer is, und g’rad so sag’ ich’s Dei’m Vater, und wann’s mir einfallt, nachher geh’ ich schon auf der Stell’ auch ’nein zu ihm und sag’s ihm schnurg’rad ins G’sicht.“ Dabei schüttelte er die Fäuste, hob sich halb in die Höhe und that, als hätte er wirklich nichts Eiligeres im Sinne, als seine letzten Worte zur Wahrheit zu machen.
Erschrocken zog ihn Sanni wieder auf den Stein zurück.
„Mein Gott, Karli, laß Dir nur so ’was nie net einfallen! Du kennst mein’ Vater net! Und Gott sei Dank, heut’ könntst ihm schon gar nix sagen, heut’ is er gar net daheim. Am Sonnberg is er droben! Um Mittag erst is er fort, und da kann er auch vor Abend schier net daheim sein. Sonst hätt’ ich mich auch net weg ’traut vom Haus. Aber mir is g’rad g’wesen, als müßt’ ich wieder amal an andere Luft zum schnaufen kriegen als g’rad die unser’.“
„Hast schon Recht g’habt, Sanni, ganz Recht! D’ Viecher sperrt man hinter die Zäun’ und net die g’wachsenen Leut’. Aber was ich fragen will: der Sonnberg mit sei’m ganzen Holz, der g’hört ja zu unserm Hof. Was hat denn Dein Vater da droben zum schaffen?“
„Ich kann mir’s selber net denken. Er redt auch so über seine Sachen schier nie mit mir. Aber seit a paar Wochen hab’ ich’s schon öfter mit ang’sehen, daß er ganze Stund’ lang draußen im Hof g’standen is, und g’rad allweil hat er ’naufg’schaut gegen d’ Sonnbergplatten. Und was er jetzt droben thut, ich kann mir’s net denken.“
„Am End’ is er gar so gach in d’ Höh’ g’stiegen, weil er meint, da droben redt er sich leichter mit sei’m Herrgott, weil er ihm näher is – und ’leicht zündt er ihm wieder a Feuerl an.“ Dazu lachte Karli spottend auf. Dieses Lachen aber that ihm bitter leid, als er in Sanni’s angstvoll staunende Augen sah und den schmerzlich traurigen Zug gewahrte, der in ihrem Gesicht erschienen war. Mit sanfter Zärtlichkeit drückte er ihr Köpfchen an seine Brust und flüsterte: „Geh’, schau, mußt mir net harb sein, daß ich so dumm hab’ ’rausreden können. Aber weißt, mir is halt g’rad wieder eing’fallen –“
Und da erzählte er, auf welche Weise er an dem bewußten Morgen zum heimlichen Zeugen jenes seltsamen Vorganges geworden war.
Als er davon sprach, wie eigen das Alles auf ihn gewirkt hätte, zuerst belustigend, dann aber unheimlich, seufzte Sanni tief auf, nickte mit kummervollem Gesichte vor sich hin und flüsterte unter Thränen:
„Ich weiß ja, es is a Sünd’ für a Kind, bei sei’m Vatern an so ’was z’ denken; aber ich kann mir net helfen; oft kommt’s mich mit G’walt so an, daß ich denken muß, wie wann er diemal net ganz licht wär’ in sei’m Kopf. Aber natürlich, mein’ schuldige Lieb’, die redt mir’s allweil wieder aus, und nachher kann ich’s auch wieder mit ansehn, wie er schafft und umeinander hantirt im Haus, ich sag’ Dir’s, viel g’scheiter und anstelliger noch als hundert Andere. Darnach aber, da packt’s ihn auf amal wieder an, daß ich mir schier nimmer z’ helfen weiß vor Fürchten und Aengsten. Ich kann Dir’s net sagen, Karli, und Du kannst es net denken, wie er oft sein kann in sei’m Zorn, daß mir im Schrecken oft der Herzschlag aushalt’ – und – und net bloß im Zorn – g’rad so in seiner Lieb’.“
Sanni verstummte, und ein Schauer rüttelte ihre Schultern.
„Na, na, und da sollt’s gar kein’ Hilf’ net geben und kein Wehren?“ grollte Karli, während er den Arm noch fester um Sanni’s Nacken schlang.
„Im Anfang, weißt – wegen seiner g’spaßigen Glaubenssach’ – da hab’ ich allweil g’meint, wie wann’s nix anders wär’, als so a ung’scheite Einbildung, wo d’ Leut’ oft haben und dabei ganz g’scheit sein können. Jetzt aber weiß ich schon bald nimmer, was ich denken soll. Wann ihn nur g’rad hören könntst, wie er diemal redt – das is oft, daß ich kein einzigs Wörtl net versteh’, wenn ich auch gleich a jedweds Wörtl deutlich hören kann. Und an andermal redt er wieder, daß ich mein’, das hätt’ ich Alles schon g’hört – in der Schul’ oder in der Christenlehr’. Ganze Täg’ und Nächt’ lang sitzt er über seine Büchersachen – oder wann er allein in der Stuben is, da halt’ er ganze Predigten für ihm selber. Wann ich mein’, daß ich’s recht versteh’, so wart’t er auf a g’wisse Zeit, wo er nachher die Leut’ fromm machen will, und wo er Alles in der Welt wieder so richten möcht’, wie’s um Abraham’s Zeiten unter die Patriarchen g’wesen is. Ja, ich sag’ Dir’s – vom richtigen Gottesglauben zum lieben Heiland und seiner heiligen Mutter, da därf ich ihm gleich kein Sterbenswörtl net sagen – da kann er ganz aus einander kommen. Und auf die geistlichen Herrn – Du – da hat er’s erst abg’sehen. Die heißt er ein Pharisaer und ein Baalspfaffen um den andern hin und her – ja – daß ich mich heimlich oft kreuzigen thu’.“
„No – da – da wann der Pfarrer amal dahinter kommt, da kann’s was setzen!“
„Und was man am allerwenigsten mit ihm reden därf, das is von überm Wasser drüben – und von mei’m Mutterl selig. Und ich möcht’ doch diemal ’was davon erfahren, wie’s ihm drüben in Amerika ’gangen hat – ja – und ganz wohl thät’s mir, wann ich diemal mit ihm diskrieren könnt’ von mei’m lieben Mutterl. Aber wann ich anfang’ davon, da kann er ganz verblassen, und da macht er mir Augen an wie zwei feurige Kohlen, daß mir d’ Red’ gleich auf der Zung’ erstickt. Und so viel kann er in Zorn g’rathen, wann ich ihm diemal im Guten zusprich, daß er doch ’s richtige Schaffen und ’s Verdienen amal anfangen müßt’! Da hat er Dir gleich den lieben Herrgott in der Red’, der wo die Vogerln ernährt und die Bleameln auf’m Feld draußt [719] g’wanden thut. Und allweil ärger wird’s – allweil ärger mit jedem Tag. Und in der letzten Zeit da redt er g’rad allweil von der ‚Erleuchtung‘ – und von der ‚Vorbereitung zu Gottes Werk nach Gottes Willen‘ – und allweil hat er an ‚Ausgang‘ in der Sprach’ – was er da damit meinen kann, das weiß ich mir gar net z’ denken. Und ganze Täg’ lang thut er beten in seiner g’spaßigen Weis’ – und martern thut er sich und fasten, daß er schier ganz von die Kräften fallt.“
„O mein Gott, Schatzerl – ja da fehlt’s ja weit!“
„Ja – gelt?“ sagte Sanni weinend. „Und wie’s mir da dabei z’ Muth sein muß, das kannst Dir denken! Und am allerschwersten liegt’s mir am Herzen, daß der Vater auch mich mit G’walt von meiner Christenpflicht abhalt’. Ich kann ja bald die Tag’ nimmer zählen, daß ich kein’ Kirchen nimmer g’sehen hab’! Und seit der heiligen Osterzeit hab’ ich nimmer kummlicirt und bin bei keiner Beicht’ nimmer g’wesen. Da kann’s ja schiergar nimmer möglich sein, daß mich der liebe Herrgott auch noch a Bißl gern hat!“
„Aber geh’, wie kannst denn jetzt so daherreden! Der liebe Herrgott – und Dich net gern haben! Ja wen sollt’ er denn nachher mögen, wann er Dich net mag! Geh’, Schatzerl, Du bist ja eine von dieselbigen, die unserm Herrgott sein’ Sonntagsfreud’ ausmachen! Und weg’m Beichten? O Du Hascherl, Du! Was kannst denn Du zum Beichten haben?“
So tröstete Karli in zärtlichen Worten weiter, und als ihm die Worte schließlich ausgingen, half er sich mit Küssen und Küssen. Und ganz besonders diese letztere Sprache war es, welche auf Sanni’s Kummer die am besten tröstende Wirkung zu üben schien. Ihre Thränen versiegten; eine sanfte Röthe färbte ihre schmächtigen Wangen, und ihre Augen strahlten im Schimmer süßer Trunkenheit.
Als sie dann endlich einmal von einander ließen, schauten sie sich erröthend in die Augen, und Karli kicherte:
„Jetzt da schau, wie’s wir Zwei mit einander können! G’rad ein Bußl ums ander’ – gar nimmer zum zählen. Ja hast mir denn Du schon b’standen, daß Du mich mögen thust? Hab’ Dir denn ich schon g’sagt, daß ich Dich gern hab’?“
„Ich mein’, das wird’s jetzt nimmer brauchen!“ sprach Sanni lächelnd, und weil seine übermüthigen Blicke sie gar verlegen machten, wußte sie sich keine andere Hilfe, als ihr Gesicht an seine Brust zu drücken.
Da schlang er wieder die Arme um ihren Hals und lachte glückselig auf. Mitten in diesem Lachen aber verstummte er; es war ihm gewesen, als hätte er hinter sich einen knisternden Schritt, ein Rascheln in den Büschen gehört, und als er hastig über die Schulter blickte, sprang er erbleichend auf und taumelte, Sanni mit sich reißend, fast bis an das Ufer des Baches zurück.
Hinter dem Steine, von wirrem Gezweige halb verdeckt, stand der Bygotter, mit vorgestrecktem Halse, die eine Hand über dem kahlen Scheitel, die andere mit krallenartig gekrümmten Fingern weit ausgestreckt. Grauenerregend war sein fahles Gesicht verzerrt, und was aus seinen blutunterquollenen Augen funkelte, das war wie der Blick eines Raubthieres. Doch nur eine Sekunde stand er so; dann schlug er unter einem gurgelnden Laut die Büsche aus einander und stürzte mit erhobenen Fäusten auf Karli zu.
Ueber Bergsteigen und Bergsport.[1]
Die Reisezeit hat ihr Ende erreicht. Allmählich verschwinden aus der Tagespresse die Berichte über Unglücksfälle im Gebirge, welche in diesem Sommer eine beängstigende Höhe erreicht hatten. Mit ernster Sorge sieht man ein Unheil heranwachsen, das bereits unsäglichen Jammer in viele Familien gebracht und sich immer weiter zu verbreiten droht. Soll man diese Thatsache als ein unabänderliches Fatum ruhig hinnehmen, soll man mit offenen Augen alljährlich eine Anzahl in voller Jugendkraft stehender Männer dem Verderben entgegen eilen sehen, oder können Maßregeln ergriffen werden zur gänzlichen Beseitigung oder doch zur Verminderung dieser Unfälle? An eine vollständige Verhütung derselben wird wohl Niemand ernstlich denken, der die großartige Entwickelung unseres Verkehrslebens mit einiger Aufmerksamkeit verfolgt hat. Gleichzeitig mit dem mächtigen Reisefieber, das namentlich in Deutschland die weitesten Schichten der Bevölkerung ergriffen zu haben scheint, hat sich auch eine bestimmte Geschmacksrichtung ausgebildet, wodurch der Strom der Reisenden vorzugsweise nach gewissen Gebieten und namentlich nach den Gebirgen gelenkt wird.
Im Anfang, ja sogar noch bis in die Mitte dieses Jahrhunderts war die Herrlichkeit des Hochgebirges nur einer kleinen, auserwählten Gemeinde von Naturfreunden und Forschern bekannt. Der große Haufen der Reisenden bewegte sich auf den gangbarsten Thalwegen und wich nur wenig von den breiten Heerstraßen ab. Eigentliche Bergreisen und Hochtouren wurden allerdings auch damals schon ausgeführt; aber sie galten für gefährliche Expeditionen, denen man sich wohl aus wissenschaftlichem Interesse, nicht aber aus Vergnügen unterzog. Wie anders steht heute die öffentliche Meinung dem Gebirge gegenüber, als in der Zeit, wo Hugi, de Saussure, Agassiz, Desor, K. Vogt, Escher u. A. ihre berühmten Studien in den Schweizer Alpen ausführten! An Stelle der ehemaligen Scheu vor den „schauerlichen, unwirthlichen und unzugänglichen“ Gebirgsländern ist heute eine enthusiastische Bewunderung derselben getreten. Eine Aenderung der jetzt herrschenden Geschmacksrichtung, eine Rückkehr zu der Naturanschauung, welche in weiten, wohl bebauten Ebenen ihr Ideal fand, ist wenigstens in absehbarer Zeit nicht zu erwarten, und so werden denn unsere Gebirge in der Sommerzeit voraussichtlich stets mit einer von Jahr zu Jahr zunehmenden Wanderbevölkerung erfüllt bleiben.
Daß die zeitweilige Ansammlung und Bewegung einer solchen Menschenmenge mancherlei Gefahren mit sich bringt, daß beim einfachen Spazierengehen, bei kleinen Bergpartien, beim Blumenpflücken und namentlich beim Edelweißsuchen durch Unvorsichtigkeit, durch plötzliches Unwohlsein, durch elementare Ereignisse Unglücksfälle vorkommen werden, welche die Zahl derjenigen vergrößern, von denen die in den Bergen einheimische Bevölkerung bei ihrer regelmäßigen, häufig gefahrvollen Beschäftigung von jeher betroffen wurde, ist unvermeidlich, und da dieselben durch die Presse heute weit mehr als in früherer Zeit zur allgemeinen Kenntniß gelangen, so erscheint ihre Vermehrung viel erheblicher, als sie es in der That ist. Wenn es sich aber darum handelt, die durch das Bergsteigen und den Bergsport verursachten Unglücksfälle ins Auge zu fassen, so wird man billiger Weise alle vorgenannten Vorkommnisse in Abrechnung bringen müssen. Damit vermindert sich die Zahl der Unfälle auf eine ziemlich geringe Ziffer, die um so kleiner erscheint, wenn man sie mit der erstaunlichen Menge der dem Bergsteigen huldigenden Touristen vergleicht. Ja es darf kühnlich behauptet werden, daß kaum ein körperlicher Sport verhältnißmäßig weniger Opfer fordert, als das Bergsteigen. Aber immerhin sind die Unfälle noch zahlreich genug und meist auch von so furchtbaren Umständen begleitet, daß sie die öffentliche Meinung in hohem Grade beunruhigen. Wer könnte ohne tiefe Erregung an die Katastrophe auf dem Gipfel der Jungfrau (vergl. S. 563 der „Gartenlaube“) zurückdenken, welche sechs hoffnungsvollen jungen Männern das Leben kostete? Wer vermöchte den schauerlichen Absturz des Oberlehrers Prix von der Parseierspitze, die verhängnißvolle Glocknerfahrt des Marchese Pallavicini oder den grauenhaften Tod des kühnen Emil Zsigmondy vergessen? Daß diese und eine Reihe anderer Unglücksfälle, deren die Annalen des Bergsports nur zu viele verzeichnen, lediglich durch die in früherer Zeit unbekannte Leidenschaft des Bergsteigens veranlaßt wurden, steht außer allem Zweifel. Dürfen wir nun Angesichts solcher Vorkommnisse das Bergsteigen [720] und den Bergsport begünstigen oder haben wir nicht vielmehr die Pflicht, ihn mit allen Mitteln zu bekämpfen? Diese Frage hat in den letzten Wochen unendlich viele Gemüther beschäftigt, und es erscheint darum nicht ganz überflüssig, die Bedeutung des Bergsteigens allseitig zu prüfen und den Werth desselben gegenüber den damit verbundenen Gefahren sorgfältig abzuwägen.
Daß die ersten Besteigungen von Hochgipfeln wie überhaupt die früheste Bereisung entlegener Gebirgsgegenden zumeist in wissenschaftlichem Interesse ausgeführt wurden, habe ich bereits erwähnt. Die Erforschung des Hochgebirges war und ist von der größten Bedeutung für die Lösung wichtiger physikalischer, meteorologischer, geographischer, geologischer, botanischer und zoologischer Fragen. Wissenschaftliche Interessen sind aber heute in den weitesten Kreisen verbreitet, und da das Hochgebirge dem Forschungstrieb eine der vielseitigsten Fundgruben darbietet, so wandern alljährlich zahlreiche Jünger und Freunde der verschiedensten Disciplinen in die Berge und unterziehen sich dort nicht selten beschwerlichen und gefahrvollen Hochtouren. Wer im Dienste der Wissenschaft das Bergsteigen ausübt, hat die Verpflichtung, alle Vorsichtsmaßregeln anzuwenden; wird er dennoch vom Unglück betroffen, so fällt er, wie der Soldat auf dem Schlachtfeld, in der Erfüllung seiner Pflicht, und Niemand hat das Recht, einen Vorwurf gegen ihn zu erheben.
Freilich, von den zahlreichen Besuchern des Hochgebirges gehört nur ein kleiner Theil zu den Naturforschern oder Dilettanten auf dem weiten Gebiete der Naturwissenschaften. Was ist es also, das Tausende mit unwiderstehlicher Gewalt nach den Bergeshöhen zieht? Welcher Zauber führt diejenigen, welche das Hochgebirge kennen gelernt, immer und immer wieder dahin zurück? Wer je herabgeschaut von der beherrschenden Spitze eines Gebirgsstockes auf die schneegekrönten Hochgipfel und felsigen Zinnen der Umgebung, wer je staunend zu seinen Füßen glitzernde Firnfelder, bläulich schimmernde Gletscher, langgestreckte Gebirgskämme, grüne Thäler und mit silberglänzenden Flüssen und Seen geschmückte Ebenen ausgebreitet sah, wer die Farbenpracht der Alpenblumen und den wunderbaren Sonnenglanz in lichten Bergeshöhen kennen gelernt, wer, dem unruhigen Treiben der Menschen entrückt, glückliche Stunden in der Einsamkeit des Hochgebirges zugebracht, wer die köstliche, alle Lebensgeister anregende Wirkung der Höhenluft an sich empfunden – dem wird die Antwort auf jene Frage nicht schwer fallen.
Kaum giebt es einen das menschliche Gemüth tiefer ergreifenden und jedem Bildungsgrade verständlicheren ästhetischen Genuß, als die Betrachtung einer schönen oder großartigen Natur, und im Hochgebirge tritt sie uns vielleicht in ihrer erhabensten Gestalt entgegen. Allerdings muß dieser Genuß erkämpft werden und wird nur Demjenigen voll und ganz zu Theil, welcher die mit der Besteigung von Hochgipfeln verbundenen Beschwerden ohne Ermattung oder Gefährdung der Gesundheit zu ertragen im Stande ist. Und damit berühren wir eine der wichtigsten und bestrittensten Seiten des Bergsteigens.
Ueber den wohlthätigen Einfluß der Gebirgsluft und einer mäßigen Bewegung auf den menschlichen Organismus giebt es wohl kaum noch eine Meinungsverschiedenheit; dagegen sind die Ansichten über den hygienischen Werth anstrengender Bergtouren ziemlich getheilt. Entschieden schwächlichen, mit Herzfehlern behafteten oder zu Kongestionen neigenden Personen kann andauerndes Bergsteigen leicht verhängnißvoll werden, aber selbst für Menschen von normaler Gesundheit und Körperkraft bedarf es einer gewissen Schulung, um ohne Gefahr Hochtouren unternehmen zu können.
Auch das Bergsteigen muß gelernt werden. Erst durch allmähliche Gewöhnung an die Schwierigkeiten beim Gehen im Gebirge, durch die Bewältigung von anfänglich leichten und immer schwierigeren Aufgaben erlangt der Körper die nöthige Sicherheit, Kraft, Gewandtheit und Ausdauer. Wer ohne jede Vorbereitung sogleich die schwierigsten Gipfel erklimmen will, macht sich eines unverantwortlichen Leichtsinns schuldig, darf doch selbst der erprobte Bergsteiger nach längerer geistiger Berufsthätigkeit seine Ferien nicht mit einer scharfen Hochtour beginnen. Uebermäßige Ermüdung mit nachfolgenden Muskelschmerzen gehören zu den gelindesten Folgen eines Verstoßes gegen diese Regel. Die verständige Uebung im Bergsteigen gewährt dagegen eine Erholung, welche kaum mit einer anderen verglichen werden kann; sie erzielt häufig in kurzer Frist bessere Wirkungen, als ein wochenlanger Aufenthalt auf dem Lande oder in einem Badeort, bei dem mehr auf gute Verpflegung, Bequemlichkeit und angenehme Unterhaltung Bedacht genommen wird. Die allseitige Durcharbeitung des ganzen Körpers bei längeren Fußwanderungen und der damit verbundene energische Stoffwechsel haben eine Kräftigung der Muskeln, Nerven und der Lunge zur Folge, wie sie kaum durch eine andere Leibesübung erreicht wird.
Wem es gelingt, seinen Körper so weit auszubilden, daß die mit längerem Bergsteigen unvermeidlich verbundenen Schwierigkeiten spielend überwunden werden, wer selbst bei anstrengenden Märschen seine volle körperliche Frische und geistige Empfänglichkeit bewahrt und im Wandern, Steigen und Klettern, kurz im Besiegen natürlicher Hindernisse an und für sich eine Körper und Geist anregende Thätigkeit findet, der besitzt die zu schwierigen Hochtouren erforderliche Befähigung. Nicht Jedermann ist es vergönnt, diesen Grad von körperlicher Gewandtheit zu erringen, die Leistungsfähigkeit ist ja nach Alter, Geschlecht und physischer Beschaffenheit unendlich verschieden. Aber auch für schwächere Kräfte giebt es eine Fülle von lohnenden Bergtouren, so daß der Genuß des Hochgebirges nur Wenigen gänzlich versagt bleibt. Bei zweckmäßiger Ausbildung im Bergsteigen wird nicht allein die für Hochtouren durchaus erforderliche Sicherheit von Fuß, Arm, Auge und Kopf allmählich errungen, sondern es stellen sich auch die individuellen Grenzen der Leistungsfähigkeit bald heraus. Ich kenne Mitglieder des Alpenvereins, welche an Gewandtheit und Ausdauer den besten professionellen Bergführern gleich stehen. Wenn zwei oder drei solcher Virtuosen sich zusammen gesellen, so dürfen sie ohne Scheu Unternehmungen wagen, die anderen Sterblichen unerreichbar oder nur mit Beihilfe erprobter Führer gestattet sind.
Gegen elementare Gefahren, wie plötzliches Unwetter oder dichten Nebel, gewährt freilich, wie die Katastrophe auf dem Gipfel der Jungfrau beweist, auch die höchste körperliche und geistige Ausbildung keinen sicheren Schutz, während andere dem Anfänger verhängnißvolle Schwierigkeiten, wie Lawinen, Steinfall, ungünstige Terrain-, Schnee- oder Eisverhältnisse durch Erfahrung, genaue Ortskenntniß und Geschicklichkeit vermieden oder überwunden werden können. Unter allen Umständen bilden führerlose Besteigungen jungfräulicher Hochgipfel einen Sport, der nicht viel mehr Sympathie verdient, als das unsinnige Bestreben, eine verhältnißmäßig leicht zugängliche Bergspitze von einer Seite zu erklimmen, welche scheinbar unüberwindliche Hindernisse bietet. Führerloses Alleingehen oder geflissentliches Aufsuchen von Gefahr hat schon manches Opfer gefordert, und gerade solche Fälle haben mit Recht die öffentliche Meinung am meisten aufgeregt. Durch die Schilderung derartiger Unternehmungen, wobei die überstandenen Gefahren bald in den lebhaftesten Farben ausgemalt, bald mit einer gewissen Affektation als geringfügig dargestellt sind, werden namentlich jugendliche Gemüther zur Nachahmung angespornt und auf ein Feld geführt, auf dem sie mit verhältnißmäßig leichter Mühe Ruhm und Lorbeern pflücken zu können vermeinen. So lange noch solche Heldenthaten, zu denen jeder tüchtige Bergführer befähigt ist, Bewunderer finden, so lange nicht derartige Leistungen beurtheilt werden wie die eines Athleten, Kunstreiters, Taschenspielers oder dergleichen, werden Unglücksfälle, wie sie die Annalen des Bergsports nur zu reichlich aufweisen, immer und immer wiederkehren. Solchen Auswüchsen soll und muß die öffentliche Meinung mit Entschiedenheit entgegentreten, gegen sie können zwar nicht Gesetzesparagraphen oder polizeiliche Vorschriften Abhilfe schaffen, wohl aber ist es Pflicht der Presse und der alpinen Vereine, durch Belehrung und sonstige Maßregeln die überschäumende Kraft der Jugend in die richtigen Bahnen zu lenken.
Wurden in früherer Zeit die Gefahren des Hochgebirges überschätzt, so hat jetzt vielfach eine Unterschätzung derselben Platz gegriffen. Im Bergsteigen völlig Unerfahrene wagen sich nicht selten ohne Führer, ohne passende Kleidung, ohne genagelte Bergschuhe, ohne Ausrüstung mit Steigeisen, Seil, Bergstock oder Eispickel an die schwierigsten Hochtouren. Daß solche Unternehmungen leicht ein trauriges Ende finden, ist nur zu begreiflich.
Durch Anlage von Wegen, durch Markirung von Fußsteigen, durch Anbringen von Orientirungstafeln ist in den letzten Jahren in den Alpen unendlich viel geschehen, um Touristen oder Spaziergänger beim Besuche leicht zugänglicher Aussichtspunkte
[721][722] von der lästigen Begleitung meist unwissender Wegweiser zu befreien. Bei eigentlichen Hochtouren dagegen, namentlich wenn Gletscherwanderungen damit verbunden sind, sollte die Hilfe des erprobten Führers nie verschmäht werden. Es gehört zu den größten Verdiensten des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins, in allen besuchteren Theilen der bayerischen und österreichischen Alpen Führer herangebildet zu haben, welche an Geschicklichkeit, Ausdauer und Ortskenntniß mit den besten Schweizerführern wetteifern. Indem diese biederen Genossen dem Touristen alle Schwierigkeiten erleichtern, ihn mit eiserner Faust halten, wenn es gilt, über gefährliche Stellen hinwegzukommen, ihm die Sorge für den Transport von Gepäck und Proviant abnehmen, ihm bei der Herstellung einer frugalen Mahlzeit oder bei Bereitung des Nachtlagers behilflich sind, ermöglichen sie zahlreichen Wanderern den Zutritt zu der Herrlichkeit des Hochgebirges, denen dieselbe sonst unweigerlich verschlossen bliebe. Aber nicht allein durch Heranbildung von Führern, sondern auch durch Aufstellung bescheidener, von den Behörden genehmigter und beaufsichtigter Taxen, ferner durch die Verbesserung vorhandener oder Anlage neuer Pfade, sowie durch den Bau von nahezu 200 hochgelegenen, meist trefflich eingerichteten und theilweise bewirthschafteten Unterkunftshütten haben die alpinen Vereine den Besuch der deutschen und österreichischen Alpen in einer Weise erleichtert, daß hier Hochtouren nicht mehr zu den Privilegien der oberen Zehntausend gehören, sondern auch für minder Bemittelte möglich geworden sind.
Wenn trotz dieser Bemühungen und trotz aller Vorsichtsmaßregeln die gänzliche Verhinderung von Unglücksfällen ebensowenig möglich erscheint, wie die Beseitigung von Schiffbrüchen und Eisenbahnunfällen, so wollen wir deßhalb doch nicht das Bergsteigen überhaupt verdammen. Jene köstliche Quelle des ästhetischen Genusses, jener unversiegbare Jungbrunnen der körperlichen und geistigen Erquickung, jene unerschöpfliche Fundgrube der wissenschaftlichen Forschung, welche wir im Hochgebirge besitzen, soll der deutschen Nation durch keine philisterhaften Bedenken oder polizeiliche Maßregeln verkümmert werden. Sorgen wir aber auch dafür, daß die krankhaften Auswüchse des Bergsports nicht überwuchern und die gesunden Früchte des Bergsteigens vergiften. Dr. Karl A. v. Zittel.
Manch Einer, der nicht gern harte Brettchen bohrt und sich seiner gesunden Glieder nur freut, weil er damit der Arbeit rüstig aus dem Wege gehen kann, möchte gerne in das gelobte Land kommen, in welchem die gebratenen Tauben in der Luft herum fliegen, wüßte er nur den Weg dorthin. Selbst eine Luftreise würde er nicht scheuen, hätte er nur die Ueberzeugung, daß ihn der Ballon wirklich in das Land seiner Sehnsucht, in das Schlaraffenland bringen würde. Um diese armen Schelme von ihrer Qual zu befreien, will ich hier Mittheilung von einer großartigen Länderentdeckung machen, die ich zwar nicht durch schwierige, gefahrvolle Entdeckungsreisen in Afrika und anderen uncivilisirten Welttheilen, sondern vielmehr gerade dadurch gemacht habe, daß ich im Lande, resp. in der Stadt blieb und mich redlich nährte.
In der großartigen Anstalt, in der ungezählte Schätze der Vorzeit aufgestapelt sind, die uns manches, was wir als eine Erfindung der Neuzeit betrachten, als schon längst dagewesen kennen lehren, im Germanischen Nationalmuseum zu Nürnberg fand ich eine alte Landkarte, aus der Zeit gegen 1700 stammend, die sich auf den ersten Blick in nichts von den Landkarten jener Zeit unterscheidet und die ich zuerst für eine Karte von Nordamerika hielt; bei näherer Betrachtung aber fand ich die Bezeichnung: „Der Neuentdeckten Schalck-Welt oder des so oft benannten und doch nie erkannten Schlaraffenlandes neu erfundene lächerliche Landtabell“. Mir war bei dieser Entdeckung aber gar nicht lächerlich zu Muthe; im Gegentheil ein Hochgefühl eigner Art durchzog meine Brust: ich war mit einem Schlage ein zweiter Columbus geworden, hatte eine Entdeckung von unermeßlicher Tragweite gemacht, welche sogar die des Columbus noch weit übertraf; denn wer wollte zweifeln, daß durch die Entdeckung von Schlaraffenland die sociale Frage, welche die alte wie die neue Welt beunruhigt, auf die einfachste, aber auch gründlichste Weise gelöst ist? Wer des Sklavenlebens müde ist, kauft sich einfach eine Reproduktion dieser Karte, steckt sie in die Tasche und macht sich auf den Weg, den er mit ihrer Hilfe natürlich unmöglich verfehlen kann.
Schon die angeführte Titelinschrift macht den angenehmsten Eindruck; ist sie doch auf dem Boden eines Fasses angebracht, aus welchem sich in drei Strömen Meth, Bier und Wein ergießt; auf dem Fasse sitzt der Ueberfluß, mit vollen Händen das Geld um sich werfend, rechts ein Liebespaar, das sich nicht sehr zu geniren scheint; links kommt ein famoser Koch mit köstlicher Pastete. Statt nach Meilen rechnet man ganz einfach nach „Mäulern“ und zwar nach schlaraffischen, die durch ihre riesige Thätigkeit natürlich etwas größere Dimensionen haben als die, welche bei uns zu Lande üblich sind. Meinen Mitmenschen gegenüber halte ich es für eine Pflicht, sie so rasch als möglich über die Lage dieses sechsten Welttheils zu unterrichten, damit Diejenigen, welche dorthin auswandern wollen, einstweilen ihre Vorbereitungen treffen und sofort nach dem Erscheinen der Karte ihre Reise antreten können.
Die seitherige Annahme, daß das Schlaraffenland durch ein Reisbreigebirge eingeschlossen sei, wird durch die aufgefundene Karte als ein Märchen dargethan, nach welcher es im Osten und Westen durch zwei große Meere begrenzt wird. Im Osten finden wir das toll und volle Meer mit dem gefressigen, versoffenen und närrischen Meer; im Westen das Ludermeer. Mancher Auswanderer wird sich durch den Namen des letzteren Meeres zwar etwas getroffen fühlen und denselben anzüglich finden; er wird daher von Osten aus dem schönen Lande zustreben, wo das toll und volle Meer ihn gar mächtig anzieht, so zu sagen etwas Sympathisches für ihn haben mag. Da sich in dasselbe der Weinstrom, einer der mächtigsten des Landes, ergießt, der weit hinauf schiffbar ist, so hat man die schönste Gelegenheit, durch eine Fahrt auf demselben Land und Leute kennen zu lernen.
Der Weinstrom entspringt hoch oben im Norden bei Weingarten und führt zuerst den Namen Mostfluß, in welchen der Rebensaftbach mündet. Zunächst fließt der Weinstrom südwestlich, um dann eine rein südliche Richtung einzuschlagen. Links und rechts liegen aber keine idyllischen Landschaften mit malerischen Ruinen, sondern viel Besseres, nämlich die den Appetit reizenden und stillenden Ortschaften: Bratenweil, Lammsheim, Schafhausen, Nürnbraten, Rehbock, Kalbskopf, Kochheim, Garkuchen, Bratwurst, der Senfer See, der gebratene Vogelwald, der Spansaufluß, Schmeckenhausen, Speckher, Jungesau, Tellerleck, Kostnichts, Schnepfenreut, Hennenhofen, Hühnerstall, Entenbach, Fasan, Parma, Hering, Bickling, Lax, Austern und viele andere kleinere und größere Orte mit gleich verheißungsvollen Namen. Die Tausende von Leckerbissen, welche dieselben nicht umsonst bieten, reizen natürlich den Durst ganz gewaltiglich, und es ist ein Glück, wenn derselbe nicht das Schiff, auf dem man fährt, aufs Trockene setzt. Dem Durste entsprechend verändert sich nunmehr auch die ganze Landschaft; man kommt nach Vollenfaß, Nassenhals, Fuderwein, Bechersgmünd, Aimersheim, Schenkein, von welchen Ortschaften man dann in ganz konsequenter Weise nach Wohlbezecht, Rauschigheim, Ummundumm, Hadergern, Schickihnheim, Schwerezungen, Glotzaugen und anderen Ortschaften gleichen Kalibers gelangt, die man sonst gerne meidet. Auch die Grafschaft Rothnasonia liegt an diesem Flusse; in ihr liegen die Orte Kupfergsicht, Nasenfels, Rothvonwein u. a.
Die Hauptstadt des Schlaraffenlandes, Schlaraffenburg, liegt so ziemlich in der Mitte des Kontinents an einem Binnensee von beträchtlichem Umfange, dessen größerer Theil den Namen Trunkensee führt, während der kleinere der Schlamp Pampus genannt wird. Dieser See ist durch einen Ausfluß sowohl mit dem Weinstrom und durch diesen mit dem toll und vollen Meer, als mit dem Bierfluß und durch diesen mit dem Ludermeer verbunden. Eine schiffbare Wasserstraße, oder richtiger trinkbare Wein- und Bierstraße führt also quer durch den ganzen Kontinent. Südlich von dem Trunkensee liegt die Grafschaft Vollemannia mit Langzechen, Wirthshausen, Schluckershof, Bringmireins, dann die Aemter Narrenheim, Fluchenfein, Raufengern und Grobenhagen. Nördlich des Sees die Aemter Spielen, Schwelgendorf mit Tragauf und Prassenwerth, Faulenzen mit Arbeitnich und Lernnichts, das Amt Pralen mit Hochhinaus und Uebermuth, sowie das Amt Goldmachen mit Geldgenug, Gernreich und die Hauptstadt Schlaraffenburg. Durch seine günstige Lage ist dieselbe der beste Aufenthaltsort, von welchem man die schönsten Ausflüge in die so viel bietende und versprechende Umgegend machen kann.
Leider ist aber unsere Zeit zu gemessen und es bleibt nichts übrig, als sich wieder auf den Heimweg zu machen, der auf dem Bierfluß angetreten wird, welcher zunächst durch Landschaften fließt, deren Name uns bekundet, daß auch das Schlaraffenland hier und da nicht sehr angenehme Gegenden hat. Recht versprechende Namen führen auch einige Ortschaften daselbst, so Bierlümmelsreut, Schlackenau, Zum Trog, Nimmernüchtern und andere noch anzüglicherer Art. Der Bierfluß mündet, wie bemerkt, in das Ludermeer, und zwar in den „Tobak-Luder-Meer“ benannten Theil desselben, gegenüber der Insel Tobago. Letztere ist in das Zuller-, Schmaucher- und Schnupferland eingetheilt, allwo Rauchberg, Zündan, Lullenzapf, Langepfeiffen und andere schöne Orte liegen. Hätten wir noch Zeit, würden wir auch noch den südlichen Theil des Schlaraffenlandes besuchen, wo für Händelsüchtige die Insel „Balger-Regnum“ mit der Hauptstadt Duelleburg viel Anziehendes hat, während Tanzlustige lieber nach Spilmannia mit Geigenhall, Saitenspühl, Lautenbach, Schwingeberg und Springenfeld ziehen, Zuckermäuler nach Leckeronia mit den süßen Orten Methhausen, Marzipan, Zuckerhut, Leckersgmünd etc. sich wenden, Spielratten entweder für Glückshafnia oder Chartifolia sich entscheiden. Jeder findet eine Stadt oder eine Landschaft, die wie für ihn geschaffen erscheint und in welche er versetzt sich im siebenten Himmel fühlen wird.
Ich hoffe, diese wenigen Zeilen werden genügen, um den nach Schlaraffenland Seufzenden ein kleines Bild dieses herrlichen paradiesischen Landes zu geben, das bereit ist, alle Mühseligen und Beladenen, namentlich aber auch alle Faulen und Arbeitsscheuen, Immerdurstigen und Ewighungernden bei sich aufzunehmen, auf deren massenhaften Export, der nach dem Bekanntwerden dieser Mittheilung unzweifelhaft eintreten muß, sich unsere Transportgesellschaften schleunigst einrichten mögen.
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Johann Karl August Musäus. (Mit Portrait S. 709.) Am 28. Oktober sind es hundert Jahre, seitdem in Weimar der liebenswürdige Erzähler dahingeschieden, der neben einem Goethe, Herder und Wieland freilich nur auf einem bescheidenen Piedestal stand, dessen Werke aber zum Theil jetzt nach hundert Jahren sich noch so frisch erhalten haben, wie die Werke der Klassiker.
Musäus war am März 29. März 1735 in der Universitätsstadt Jena geboren. Sein Vater war dort Amtscommissarius und Landrichter und selbst eines Pfarrers Sohn, wie auch seine Mutter die Tochter eines Geistlichen. Der junge Musäus lenkte in die Bahnen seiner Vorfahren ein, studirte Theologie, kam aber nicht dazu, eine Kanzel zu besteigen; denn die Dorfgemeinde, der ihn die geistliche Oberbehörde zugewiesen hatte, weigerte sich, ihn zu wählen, weil er einmal als Kandidat sich an einem Tanzvergnügen betheiligt hatte. So begab er sich nach Weimar, wo er 1763 Pagenhofmeister wurde und seit 1770 eine Professur am Gymnasium bekleidete. Die sittenstrengen Bauern, die ihn als Seelenhirten ablehnten, haben sich damit ein Verdienst um unsere Litteratur erworben: denn als Geistlicher würde er schwerlich die Werke verfaßt haben, die ihm einen Namen gemacht. Die Eingebungen seiner guten Laune, denen er in seiner freieren Stellung rückhaltlos folgen durfte, würden ihn in Konflikt mit einem kirchlichen Amt gebracht haben.
Musäus hatte eine satirische Ader; er verstand nach berühmten Mustern zu dichten und verkehrte Zeitrichtungen durch seine Parodieen zu geißeln. Da war damals von England die Mode der großen bürgerlichen Romane herübergekommen; Richardson war mit seinem „Grandison“, seiner „Pamela“ und „Klarissa“ der Held des Tages geworden. Diese weitschweifigen Romane hatten allerdings die Absicht, die Menschen zu bessern und zu belehren; aber es geschah dies im Ton einer so falschen Empfindsamkeit und affektirten Rührseligkeit, daß ein gesunder Sinn und Geschmack sich unangenehm davon berührt fühlen und dagegen Protest erheben mußte. Das geschah durch Musäus in seinem Roman: „Grandison der Zweite“ (2 Bände, 1760 bis 1762), in welchem er, sich an das Vorbild des Don Quixote anlehnend, den Roman Richardson’s parodirte. Und als der fromme Züricher Lavater mit seiner Physiognomik der Menschenkenntniß in stürmischer Weise neue Gebiete erobern wollte, wobei es nicht ohne abenteuerliche Auslegungen und den quacksalbernden Prophetenton selbstgewisser Weisheit abging, da geißelte Musäus die Auswüchse dieser neuen aufdringlichen Lehre in seinem Werke: „Physiognomische Reisen“ (1778 bis 1779), eine Schrift, die durch ihren schlagenden Witz dem Autor eine große Zahl von Freunden erwarb.
Diese Werke, so geistreich sie waren, so sehr sie in die damalige Zeit eingriffen, verschwanden doch wieder mit den Zeitrichtungen, die sie geißelten, und ließen ihre Spur nur in der Geschichte des deutschen Schriftthums zurück. Zu bleibendem Genuß aber auch für die Nachwelt erhielten sich „Die Volksmärchen der Deutschen“ (5 Bde. 1782 bis 1787), in welchen das graziöse Erzählertalent von Musäus seine unbestrittenen Triumphe feiert. Hier zeigt er sich als ein Jünger Wieland’s, dessen „Oberon“ er ein schön versificirtes Märchen von achtzehn oder mehr tausend Reimen nennt: das waren die anmuthigen Plaudereien, wie sie aus der Feder des schalkhaft lächelnden Meisters der attischen Grazie flossen. und doch war ein nicht unwichtiger Unterschied zwischen den Beiden bemerkbar: Wieland huldigte vielfach der orientalischen, noch mehr der französischen Dichtweise; davon wollte Musäus nichts wissen. „Reichthum an Erfindung, Ueppigkeit und Ueberladung an seltsamen Verzierungen zeichnet die morgenländischen Stoffe und Erzählungen; Flüchtigkeit in der Bearbeitung, Leichtigkeit und Flachheit in der Anlage die französischen Feeerieen und Manufakturwaaren, Anordnung und Uebereinstimmung und handfeste Komposition die Geräthschaft der Deutschen und ihre Dichtungen.“
So spricht sich Musäus aus, und damit entscheidet er sich für das deutsche Märchen.
Freilich, nicht für das Kindermärchen, wie es die Grimm’s und ihre Nachfolger geschaffen oder aus der Ueberlieferung des Volkes heraus in der ursprünglichen naiven Form dem Schriftthum angeeignet haben. Das einfach Herzige, Kindliche, Schlichte liegt den Märchen von Musäus fern; er selbst will ja nicht im Kinderton der Märchen „einer Mutter Gans“ erzählen. Gleichwohl lehnen sie sich an deutsche volksthümliche Stoffe an; die Darstellungsweise aber ist eine geistreiche; die freispielende und freischaffende Phantasie des Erzählers kommt zu ihrem vollen Rechte. Feine Ironie, schalkhafter Muthwille streuen ihre wechselnden Lichter darüber; immer aber wirkt die Fabel mit selbständigem Reiz, ohne sich in ein Sprühfeuer willkürlicher Phantasiespiele zu verflüchtigen, wie bei Ludwig Tieck und seiner Schule; die Legenden von „Rübezahl“, „Michilde“, eine Neudichtung des Märchens von „Schneewittchen“, „Die Nymphe des Brunnens“, „Der geraubte Schleier“ und viele andere dieser Märchen werden noch heute wie vor hundert Jahren die Leser erfreuen.
Und so sei das Gedenkblatt zur Säkularfeier dem bescheidenen Erzähler
gewidmet, dessen heiter lächelnder Charakterkopf im Album unserer
Litteratur immer seine Stelle finden wird. †
Schönheitskonkurrenzen. Aus Ungarn sowohl wie aus Belgien wird über Preiskrönungen weiblicher Schönheiten berichtet, die in letzter Zeit stattgefunden. Bei der großen Verschiedenartigkeit des Geschmacks bleibt die Thatsache immerhin merkwürdig, daß sich die Preisrichter über eine solche Entscheidung einigen können. Und doch ist dies in Pest wie in Brüssel betreffs der ersten Preise der Fall gewesen. In Brüssel hatten allerdings die neunzehn Preisrichter über die Schönheit der Schönen sehr abweichende Ansichten und über jeden Preis mußte eine geheime Kugelung stattfinden. Natürlich geht der Hautpreisvertheilung eine Ausmusterung in den verschiedenen Stadtvierteln voraus; da sind mehrere Preisjurys mit der „Aussiebung“ der überhaupt in Betracht kommenden Schönheiten thätig. In Brüssel handelte es sich zuletzt um acht junge Damen, aus denen die Schönste und die Schönsten, da es mehrere Preise gab, endgültig ausgelesen werden sollten. Im Pester Stadtwäldchen dagegen ging man liberaler zu Werke: schon bei der Vorprüfung hatten dreißig Schönheiten ausreichend bestanden, um bei der Hauptentscheidung in Betracht zu kommen. Außerdem wurde von dem Vorsitzenden des aus vier Edelleuten bestehenden Komtités noch mit lauter Stimme bekannt gemacht, daß sich Konkurrentinnen um den Schönheitspreis melden möchten. Und da durchbrachen noch zehn junge Mädchen den Kordon, im vollen Gefühl ihrer Berechtigung, mit dem Preise gekrönt zu werden.
Den ersten Preis im Pester Stadtwäldchen erhielt Gisela Scholz, eine sehr anmuthige Blondine, der ihre Rosatoilette vortrefflich stand; brausende Eljenrufe begrüßten die siegreiche Schönheit.
Den zweiten Preis erhielt Ida Toronyi, eine schöne Brünette, mit feurigen schmarzen Augen, welche bereits vor fünf Jahren einen Schönheitspreis erhalten und sich preiswürdig konservirt hatte. Den dritten Preis erhielt eine junge Wittwe, Marika Kolos, ebenfalls eine Brünette. Die jungen Damen hatten einen schweren Stand gegenüber der begeisterten, sich an sie herandrängenden Menge, welche ihre Kleider, ihre Haare berührte und nicht übel Lust hatte, sie auf den Schultern im Triumph davonzutragen.
Ohne stürmische Eljenrufe, aber nicht ohne pikante Arabesken ging die Preisverteilung in Brüssel vor sich. Eine Näherin, Fräulein Valdeken, erhielt wegen ihrer romantischen Schönheit und besonders ihrer prächtigen Augen wegen den ersten Preis und zugleich einen Kuß auf die Wange, den ihr der Vorsitzeude des Komités zu ertheilen das Recht und die Pflicht hat nach altem Brüsseler Stadtrechte. Eine klassisch schöne Schneiderin gewann den zweiten Preis. Bei den späteren war die Einigung schwieriger und man beschloß zwei fünfte Preise auszutheilen. Den letzten gewann eine Blumenverkäuferin, Fräulein Paque; da sie bei dem Konkurs zu spät erschienen war, so verurtheilte sie die Jury, zur Strafe ein Lied vorzutragen: es war bekannt, daß sie sehr hübsch sang. Nun wollten auch die andern preisgekrönten Schönheiten singen; einer wurde es noch verstattet; dem Andringen der übrigen aber leistete die Jury Widerstand und schloß die Sitzung.
In deutschen Landen besteht unseres Wissens nirgends eine althergebrachte
Sitte, der zufolge solche Schönheitskonkurrenzen stattfinden.
Doch wo eine „alte Sitte“ fehlt, könnte sie leicht durch eine „neue Mode“
ersetzt werden. Bisher hat bei uns nur jeder Einzelne das Recht, einer
Schönheit den Preis zu ertheilen. †
Die Elfenbeinfächer haben ihre frühere Harmlosigkeit verloren: sie
dienen jetzt zum Theil als Autographenalbums und schon mancher berühmte
Mann ist durch die Ankunft eines derartigen eleganten Toilettenstücks
daran erinnert worden, daß der Ruhm auch seine Beschwerden mit
sich bringt. Die Autographensammler jeder Art ertheilen den Herbergsgenossen
der Konversationslexika diese Lehre in oft empfindlicher Weise.
Wir haben in dem Artikel „Ein Stück Fächerlitteratur“ in Nr. 11, S. 173,
den Lesern der „Gartenlaube“ Proben davon gegeben. Nicht alle Besitzerinnen
schöner Fächer sinld indeß so glücklich wie Adeline Patti, die
auf dem ihrigen die Inschriften so vieler gekrönter Häupter trägt.
Ihre frühere eigene Landesmutter, die Königin Christine von Spanien,
schrieb die Worte darauf: „Der lieblichsten Spanierin eine Königin,
die stolz darauf ist, sie zu ihren Unterthanen zu zählen.“ Königin
Viktoria: „Wenn es wahr ist, was König Lear sagt, daß eine sanfte
Stimme ein schönes Ding am Weibe ist, dann sind Sie, meine holde
Adeline, die entzückendste aller Frauen.“ Sehr sinnig und treffend in
ihrer Kürze sind die Worte Kaiser Wilhelm’s I.: „Der Nachtigall aller
Jahreszeiten“, während man aus denjenigen des Kaisers Alexander III.
die Sehnsucht nach Ruhe herauslesen mag, die der so mächtige Herrscher
gewiß oft empfindet: „Nichts beruhigt süßer als Ihr Gesang; selbst aufgescheuchtem
Wilde würde er sofort das Gefühl der Ruhe geben.“ Der
frühere Präsident der französischen Republik, Thiers, hat auf dem Fächer
ein Epigramm mit ganz artiger Pointe eingezeichnet: „Königin des
Gesangs, ich reiche Dir die bürgerliche Rechte.“ †
Marodeure. (Mit Illustration S. 721.) Das Bild von Professor W. Diez ist ein stimmungsvolles Kriegsbild aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges und erinnert uns an einige Kapitel in dem Roman: „Simplicius Simplicissimus“, der uns von dem wüsten Leben und Treiben jener Zeit ein treues Gemälde giebt. Damals zuerst bildeten sich aus zurückbleibenden Truppen jene dem Heere nachziehenden Räuberbanden, welche von dem französischen Worte „maraud“ (Schurke) den Namen Marodeurs erhielten. Raub und Plünderung, Mord und Brand war ihr traurig Handwerk; mit bewaffneter Hand führten sie das Werk der Verwüstung und Zerstörung aus: die Waffe des Kriegers ward bei ihnen zur Waffe des Räubers.
Unser Bild zeigt uns im Vordergrunde zwei dieser Hyänen des Schlachtfeldes. Der eine Marodeur hat eine Fahne erbeutet. Gewiß hat sich der schwerverwundete Fahnenträger noch zur Wehr gesetzt; denn der Beutemacher zeigt eine verbundene Stirn und hat sich wohl nicht ohne Kampf des Beutestücks bemächtigt. Der andere, dessen Kriegskleid sich zum Theil in traurige Lumpen verwandelt hat, schmaucht seine Thonpfeife mit einem gewissen Behagen; denn der Sack, den er auf dem Rücken trägt, ist reich an Beutestücken. Weiter hinten folgt ein lustiger Reiter auf einem geraubten Ackerpferde, das durchaus nicht kriegsmäßig ausgerüstet ist. Dieser improvisirte Kavallerist hat einen Mantelsack hinter sich, der jedenfalls für den Eifer spricht, mit welchem er Schlachtfelder und Bauernhöfe ausgeplündert hat.
Es folgt ein lustiger Zug dieser Heuschreckenschwärme, welche hinter der Kriegsfurie einher verheerend durch die Lande ziehen: ein Sittenbild aus einer wüsten Zeit. Die Kriege sind menschlicher geworden und die heutige Disciplin duldet nicht dies Räuberunwesen. Ganz
[724] ausrotten läßt sich dasselbe freilich nicht, wenn es auch mildere Formen angenommen hat – und die Franzosen haben auch in diesem Jahrhundert in Deutschland kaum weniger barbarisch gehaust, wie jene Rotten des Dreißigjährigen Krieges, bei denen ihre Sprache zu Pathen gestanden. †
Aus dem Briefwechsel Napoleon’s I. und Josephinens. Die Briefe Napoleon’s I. an seine erste Gemahlin Josephine de Beauharnais geborene Rose Tascher de la Pagerie wurden zum ersten Male gedruckt im Jahre 1833 (Firmin Didot Frères, Paris); die Sammlung umfaßt kaum alle Billetts, auf denen der Eroberer der schönen Kreolin die Grüße seiner Liebe sandte, und die Zahl der mitgetheilten Briefe Josephinens ist nicht minder unvollständig; aber jedenfalls spiegelt sich in dieser auf rosarothes Briefpapier gedruckten Korrespondenz eines der berühmtesten Liebesverhältnisse der Geschichte, und der Einblick in das innerste und innigste Empfindungsleben des Welteroberers ist nicht nur historisch, sondern auch psychologisch interessant. Nicht einer dieser Briefe ist länger als eine Seite. Meist sind es nur ein paar Worte, mit denen der erschöpfte Feldherr am Abend einer heißen Schlacht der geliebten Frau von seinem Siege meldet. Er hätte sich kaum kürzer in Depeschen fassen können. „Ich habe den Feind geschlagen. Man wird Dir den Schlachtbericht zusenden. Ich bin todt vor Müdigkeit. Ich gebe Dir tausend Küsse. Ich bin zu Bett. Napoleon.“ So knapp und wortkarg lauten sie sämmtlich. Das ist der Stil der Napoleon’schen Liebesbriefe. „Adieu, mon amie. Tout à toi“ („Ganz der Deine“) ist ihr stereotyper Abschiedsgruß, bis dies tout à toi mit der zweiten Hochzeit des Kaisers zu Ende geht, ohne daß der Briefwechsel selbst damit gleichfalls am Schlusse wäre. Aber der Inhalt hat sich dann freilich wesentlich geändert. Die geschiedene Kaiserin kommt mit ihrer Jahresrevenue von 3 000 000 Francs nicht aus, und der Kaiser ist von dieser Thatsache nicht eben erbaut. „Urtheile selbst,“ schreibt er am 25. August 1811 von Trianon an Josephinen, „eine wie ungünstige Meinung ich mir von Dir bilden müßte, wenn ich erführe, daß Du bei 3 000 000 Francs Revenuen noch Schulden machst.“ Er verlangt, sie solle 1 500 000 Francs jährlich sparen. Aber auch dann schließt er mit der alten Herzlichkeit: „Adieu, mon amie, porte-toi bien.“ („Möge es Dir gut gehen!“) Das ist der Inhalt des vorletzten Briefes des Kaisers an seine erste Gemahlin. Das letzte Billett, das sie von seiner Hand empfing, ist mit der gleichen Theilnahme geschrieben, aber – Galanterie gehörte überhaupt nicht zu seinen Tugenden – es führt den unter so romantischen Umständen und mit wahrer Leidenschaft begonnenen Briefwechsel in der leider nicht eben poetischen Fassung zum Schlusse: „Lebe wohl, meine Freundin; schreib’ mir, daß es Dir wohl geht. Man sagt, Du würdest fett, wie eine dicke normännische Pächtersfrau.“
Aufrichtigkeiten. Unter diesem Titel hat Oskar Blumenthal eine kleine Sammlung von Epigrammen herausgegeben (Berlin, Freund und Jeckel), unter denen sich einige Treffer finden, z. B.:
Der Gerngroß.
Wem Dunst und Dünkel das Hirn verdrehte,
Wie wirkt er drollig in seinem Nichts!
Er hält zuletzt seine Kindertrompete
Für die Posaune des Weltgerichts.
Einer Dichterin.
Du fragst mich, stolz auf Deine Dichterleier:
„Sprich, haben meine Verse nicht viel Feuer?“
Ach wieviel besser wär’ es doch, Dorette,
Wenn’s Feuer lieber Deine Verse hätte!
Gelehrte Romane.
Es ist von je Gebrauch gewesen,
Romane zu seiner Erholung zu lesen;
Doch bei den gelehrten fragt mancher verstohlen:
Wo soll man sich von den Romanen erholen? †
Ein verbesserter Regenschirm. Findige Köpfe suchen Alles zu verbessern; auch der Regenschirm, das altbewährte Ausrüstungsstück gegen die Unbilden der Witterung, konnte diesem Verbesserungseifer nicht entrinnen, und die Menschheit hat dabei nichts verloren. Wir besitzen jetzt dauerhaftere und zugleich leichtere und elegantere Regenschirme als unsere Vorfahren. Bis auf die jüngste Zeit haftete jedoch dem Regenschirm ein Mangel an, der von den Meisten nicht beachtet wurde. Um den Schirm zu öffnen und zu schließen, mußten die beiden Hände gebraucht werden. Wer mit Packeten, z. B. mit Novellenmanuskripten, schwer beladen in strömendem Regen nach Hause eilte, der weiß wohl, daß das Oeffnen des Schirmes unter Umständen eine recht unangenehme Aufgabe bildet; sie wird erst recht lästig, wenn zu dem Regenwetter noch ein starker Wind hinzutritt. Jetzt ist diese Kalamität dank der Erfindung eines Leipziger Schirmhändlers, Max Kremer, aus der Welt geschafft. Er konstruirt Regenschirme, welche mit einer Hand geöffnet und geschlossen werden können.
Am Griff und im Stock des Schirmes befindet sich ein Mechanismus, welcher das Oeffnen und Schließen durch Druck und Zug mit dem Daumen ermöglicht. Der Daumen giebt jedoch dabei nur die regulirende Kraft; eigentlich öffnet und schließt sich der Regenschirm durch die eigene Schwere des Stoffes. „Er ist ein aëronautisches Kunstwerk,“ sagte mir der Erfinder, als ich anfangs Zweifel gegen die Brauchbarkeit der Neuheit erhob. Und in der That, man lernt in kürzester Zeit mit diesem Regenschirm in Wind und Wetter laviren; eine rasche Senkung, und der Schirm ist aufgespannt; ein Druck auf den Knopf am Griff, und der Schirm schließt sich von selbst. Billiger als die gewöhnlichen Regenschirme ist dieses „aëronautische Kunstwerk“ allerdings nicht; für die Entlastung der linken Hand muß der Besitzer des „Selbstöffners“ etwa 2 Mark mehr bezahlen, als für einen gleich gut gearbeiteten Schirm alter Konstruktion. Er verträgt auch keine schlechtere Behandlung als andere Schirme; aber in einer ihn sorgsam hütenden Hand bewährt er sich ganz gut. *
Obwohl nach den ersten 4 Stichen:
1. | V. | M. | H. | 3. | V. | M. | H. | |
(car. K.) | (p. B.) | (car. As) | (car. D.) | (tr. B.) | (tr. 8.) | |||
2. | M. | H. | V. | 4. | M. | H. | V. | |
(p. 9.) | (p. As) | (tr. Z.) | (p. K.) | (p. Z.) | (tr. K.) |
der Spieler alle übrigen Stiche bekommt, so hat er doch das Spiel verloren. Welcher von den Dreien war der Spieler? Was spielte er und wie saßen die Karten?
Die Mittelhand hatte auf folgende Karte:
Grand angesagt und war schwarz geworden (6 × 16 = 96) bei folgender Kartenvertheilung: Skat: gO, rO (+6):
- Vorhand: gW, sW, eZ, eK, eO, e9, e8, e7, sO, s9,
- Hinterhand: eW, gK, g9, g8, g7, rK, r9, r8, r7, s8.
Nach den beiden ersten Stichen in der Aufgabe folgt:
- 3. gW, rW, rK,
- 4. eZ, s7, g9,
- 5. eK, sK, g8,
- 6. eO, sZ, g7,
- 7. e8, rZ, r9,
- 8. e7, sD?? r8.
Der Spieler hätte aber im 8. Stich, weil die Hinterhand, welche am Ausspielen ist, bereits im 2. Stiche (siehe die Aufgabe) g mit sW gestochen hatte, das gD anstatt des sD werfen sollen; er hätte dann die beiden letzten Stiche mit 25 Angen herein- und mit dem Skat 31 Augen bekommen, also nur 3 × 16 = 48 zu zahlen gehabt.
H. K. in Karlsruhe. Sie schreiben uns, daß Sie öfter in Verlegenbeit sind, wenn es sich um deklamatorische Verträge in Gesellschaften oder bei festlichen Gelegenheiten handelt. Wir empfehlen Ihnen für diesen Zweck eine sehr reichhaltige Sammlung: „Deklamatorium. Eine Mustersammlung ernster und heiterer Vortragsdichtungen aus der Weltlitteratur.“ Herausgegeben von Maximilian Bern. (Leipzig, Philipp Reclam.) Die Auswahl ist geschmackvoll, die Uebersetzungen sind gut gewählt: neben Vortragsdichtungen, die sehr dankbar sind für gute Sprecher, finden sich auch kleine Zugaben für intimere Kreise.
H. R. in Dresden. Den jahrelangen Kampf um die Aufstellung des Leipziger Siegesdenkmals haben Sie, wie Sie uns mittheilen, mit vielem Interesse verfolgt. Die beiden städtischen Behörden waren mit Bezug hierauf stets entgegengesetzter Meinung. Jetzt ist es nach dem Schiedsspruche von Sachverständigen entschieden worden, daß das Siegesdenkmal auf dem Markte, im Innern der Stadt, aufgerichtet werden wird. An Vorschlägen aller Art hat es in der langen Epoche des Kampfes nicht gefehlt. Darunter waren einige wunderlicher Art. So ist allen Ernstes vorgeschlagen worden, das Siegesdenkmal auf dem flachen Dache des städtischen Museums zu errichten. Scherzhaft gemeint war dagegen der Vorschlag, das Siegesdenkmal auf Räder zu setzen und jeden Sonnabend Nachmittag vom Markt nach dem Augustusplatze und umgekehrt zu fahren, damit die beiden streitenden Parteien zu ihrem Rechte kämen.
B. in P. Die Pflanze, welche Sie meinen, heißt der Mottenkönig (Plectranthus fruticosus); es wird ihr nachgerühmt, daß ihr Geruch die so schädliche Pelzmotte von gepolsterten Möbeln, Kleidern, Pelzwerk etc. fernhält. Die Kultur des Mottenkönigs ist sehr einfach; er gedeiht im Zimmer, in jeder guten Gartenerde und bleibt das ganze Jahr hindurch in lebhafter Vegetation. Alle Theile der Pflanze besitzen einen angenehm aromatischen Geruch.
P. K. in Karlsruhe. So alt, wie man allgemein annimmt, werden die Eichen nicht. Die sogenannten „tausendjährigen“ zählen sicher keine tausend Jahre; das höchste Eichenalter, welches Professor Göppert bei der Eiche von Pleischwitz in Schlesien nachgewiesen hat, beträgt 700 bis 800 Jahre; durchschnittlich wird das höchste Alter der Eiche etwa 600 Jahre betragen. Den stärksten Durchmesser unter den historisch bekannten Bäumen dürfte die Eiche zu Damony in England gehabt haben; er betrug 68 Fuß. Im Innern des Stammes befand sich zu Cromwell’s Zeit eine Schenke.
K. S. in Gotha. Sie fragen, in welchem Blatte Sie Ihre Gedichte am besten zum Abdruck bringen könnten? Wir verweisen Sie auf Paul Heinze’s „Deutsches Dichterheim“ (Dresden-Striesen), ein Blatt, welches sich zur Aufgabe gestellt hat, jüngeren Talenten den Weg in die Öffentlichkeit zu bahnen, ohne daß indeß, wie ein Blick in die trefflich redigirte Zeitschrift beweist, Dichter von Ruf in derselben fehlten.
G. M. in W. Der Name „Nazarener“ für Overbeck und seine Schule stammt schon aus dem Anfang des Jahrhunderts und galt ursprünglich nicht der Kunstrichtung, sondern der Lebensweise der jungen Freundesschar, Overbeck, Pforr, Hottinger u. A., die alle ziemlich mittellos, aber voll glühender Kunstbegeisterung in Rom anlangten und sich gemeinsam in dem verlassenen Kloster St. Isidoro Werkstätten und Haushalt einrichteten. Ihr armseliges und doch durch Kunst und religiöse Begeisterung so hoch beglücktes Dasein erregte die Spottlust der derber organisirten Maler Koch und Reinhard, und diese verliehen ihnen den Spitznamen, der später auf ihre Kunstrichtung übertragen wurde und heute allgemein zur Bezeichnung derselben gebraucht wird.
P. P. in A. Der Ausdruck „das Couvert auflegen“ bezieht sich nicht auf den durch die Serviette bedeckten Teller, sondern entstammt einer viel älteren Tischordnung am französischen Hofe. Es war das Vorrecht der Könige und Prinzen, aus bedeckten Schüsseln und Krügen zu essen und zu trinken, im Gegensatz zu dem übrigen Hofstaat. „Mettre le couvert“ hieß also, die für den König bestimmten Gerichte auftragen und dadurch das Zeichen zum Beginn der Mahlzeit geben. Die kostbaren Deckelgefäße bildeten einen Haupttheil der unter den Souveränen früherer Zeit gewechselten Geschenke; es ist bekannt, was die mittelalterliche Goldschmiedekunst darin zu leisten verstand. Der Ausdruck „mettre le couvert“ erhielt sich dann, als jene Sitte verschwunden war, als Bezeichnung des Tischdeckens überhaupt.
Inhalt: Lisa’s Tagebuch. Erzählung von Klara Biller (Schluß). S. 709. – Abschied. Gedicht von Anton Ohorn. S. 714. Mit Illustration S. 713. – Der Raub in der Thierwelt. Charakterdarstellungen von Adolf und Karl Müller. II. (Schluß.) S. 714. – Der Unfried. Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer (Fortsetzung). S. 716. – Tirolerin. Illustration. S. 717. – Ueber Bergsteigen und Bergsport. Von Dr. Karl A. v. Zittel. S. 719. – Das Schlaraffenland. Eine lustige Entdeckung. Von H. Boesch. S. 722. – Blätter und Blüthen: Johann Karl August Musäus. S. 723. Mit Portrait S. 709. – Schönheitskonkurrenzen. S. 723. – Die Elfenbeinfächer. S. 723. – Marodeure. S. 723. Mit Illustration S. 721. – Aus dem Briefwechsel Napoleon’s I. und Josephinens. S. 724. – Aufrichtigkeiten. S. 724. – Ein verbesserter Regenschirm. S. 724. – Skat-Aufgabe Nr. 15. Von H. Grimm. S. 724. – Auflösung der Skat-Aufgabe Nr. 14 auf S. 688. S. 724. – Kleiner Briefkasten. S. 724.
- ↑ Am Schlusse des interessanten Artikels „Mahnungen aus den Hochalpen“ von Heinrich Noé haben wir unseren Lesern versprochen, daß wir die wichtige und jetzt die Gemüther so lebhaft beschäftigende Frage des alpinen Sportes noch einmal in streng sachgemäßer Weise erörtern werden. Es freut uns, für diese Arbeit Herrn Professor Dr. Karl A. von Zittel, den verdienstvollen Vorsitzenden des „Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins“, gewonnen zu haben, und wir hoffen, daß der vorstehende Artikel in den weitesten Kreisen nicht nur Interesse erregen, sondern auch Zustimmung finden wird. D. Red.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage unleserlich, zu erschließen aus dem 6. Stich.