Die zehn Gebote (Hermann von Bezzel)/Drittes Gebot II

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Drittes Gebot II.
Du sollst den Feiertag heiligen!

 Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir die Predigt und sein Wort nicht verachten, sondern dasselbige heilig halten, gerne hören und lernen.

 Ich aber will in dein Haus gehen auf deine große Güte, und anbeten gegen deinem heiligen Tempel in deiner Furcht. Ps. 5, 8.


 Bei allen Auslegungen der Gebote kann man merken, daß Luther den Text des einzelnen Gebotes ganz bestimmt auslegt. Beim vierten Gebot spricht er von den Pflichten gegen die Herren im Hause, in der Gemeinde, im Staate, in der Kirche; beim vierten Gebot spricht er wiederum von der Pflicht, welche die Herren gegen ihre Untertanen, die Eltern gegen ihre Kinder haben; im sechsten Gebot redet er ausführlich von den Pflichten derer, die in der Ehe leben, derer, die in der Ehe lebten und derer, die in der Ehe leben können. Und so wird jedes einzelne Gebot von ihm ganz genau ausgelegt. Nur beim dritten Gebot hat er jede Auslegung des Wortes „heiligen“ unterlassen. Die Frage: darf ich am Sonntag arbeiten? Wie viel darf ich arbeiten und wieviel muß ich lassen? Gibt es Werke der Not, die ich verrichten darf, und Werke der Liebe, die ich verrichten muß? Darf die Mutter ihr krankes Kind am Sonntag pflegen mit vieler Arbeit und Mühe? Darf der Vater sein krankes Kind stundenweit tragen am Sonntag unter heißer Bemühung? Alle diese Fragen läßt Luther beiseite und führt uns in das eigentliche Wesen des Sonntags| ein. Nicht das weiht den Sonntag, daß du an ihm nichts arbeitest, sondern das weiht ihn, daß du an ihm Gott ganz besonders für dich und in dir arbeiten läßt. Und wenn du den Sonntag vom frühen Morgen bis zum späten Abend jede Arbeit ließest und Gott hat an diesem Tage dir nicht besonders zugesprochen und du hast ihm nicht an diesem Tage dein Ohr besonders erschlossen und geliehen, so ist der Sonntag für dich ein Wehetag und ein Tag der Qual. Wessen Leben sich nicht schließlich aus lauter Sonntagen zusammensetzt, dessen Leben endet in der großen Qual eines ewigen Arbeitstages.

 Wer nicht von jedem Sonntag höher auf die Warte, von der aus man in die Heimat sieht, gestellt wird, der muß, weil es hier kein neutrales Gebiet gibt, durch den Sonntag immer tiefer von Gott gelöst und immer weiter von seinem Worte gebracht werden. Ja, wie soll ich dann den Sonn- oder Feiertag heiligen? Ich höre dich rufen: behüte uns doch Gott vor dem „englischen Sonntag!“ Und ich antworte dir: aber noch weit mehr behüte uns Gott vor dem „ägyptischen Sonntag“! Der englische Sonntag, der etwas äußerlich Enges, Gesetzmäßiges hat, der Tag, an dem kein Vergnügungszug geht, kein Theater geöffnet ist, keine Konzerthalle die Menge von Besuchern in sich schließt, der Tag, an dem auch Hausmusik verboten ist und an dem der ernste Engländer früh zur Kirche geht, nachmittags wieder zur Kirche geht und abends noch der Vesper beiwohnt, – der Sonntag mag uns Lutheranern etwas Fremdartiges sein. Aber noch viel ärger ist der ägyptische Sonntag, über dessen Toren das Wort steht: Und Gott sprach zum Volke und das Volk hörte ihn nicht vor lauter Arbeit! Darum: wie sollen wir den Sonntag heiligen? Und ich gebe dir als erste Antwort, in der alles enthalten ist: heilige ihn familienhaft!

 Das gilt nun zunächst denen der Anwesenden, die| Gott in das Glück und in den Ernst einer Familie geführt hat. Wenn der Vater die Woche über in Amt und Beruf festgehalten war, soll er sich am Sonntag antun und seinen Kindern leben und ihnen sein Herz zeigen mit den Gebeten der Woche und mit der Arbeit für das Wohl seines Hauses; die Kinder sollen das entwölkte und sorglose Antlitz des Vaters sehen, sollen sehen, wie er von Grund der Seele aufjauchzt, daß er heute ganz dem Sonntag gehören darf. Und wenn die Mutter frühzeitig ihre Kinder an den Sonntag und den Sonntagsgottesdienst gewöhnt, so ist das ein großes Ding.
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 Ich rede nicht über den Kindergottesdienst, obwohl ich mein persönliches Bedenken hierüber nicht unterdrücken kann. Ich freue mich über alles, was noch imstande ist, dem nachwachsenden Geschlechte Gottes Wort näher zu bringen. Aber es ergreift mich doch immer ein Weh, wenn ich die Kinder so allein da an den Toren der Kirche stehen sehe. Kein Vater hat sie an die Hand genommen, um mit ihnen ins Gotteshaus zu gehen; keine Mutter hat sie hierher geleitet. Und manchmal will mich’s bedünken, als ob der Kindergottesdienst ein Mittel wäre, die Kinder für einige Stunden loszubringen vom Hause am Sonntag vormittags. Wenn aber die Mutter schon frühzeitig ihre Kinder an der Hand nimmt und sie zum Kirchgang anleitet und sich nicht durch das törichte Gerede verführen läßt: das Kind versteht ja von der Predigt noch nichts, dann tut sie ihren Kindern einen großen Dienst der Gewöhnung. Denn wer in der Jugend das Kirchengehen nicht gelernt hat, lernt es in späteren Jahren nicht mehr. Und wie schön ist es – und auch die Großstadt kann dieses schöne Bild nicht ganz verdrängen – wenn Vater, Mutter und Kinder gemeinsam ins Haus des Herrn gehen. Dann klingen die kleinen Verdrießlichkeiten der Woche aus und über die Schwelle des Gotteshauses gehen die bösen Geister| und die kleinen Störungen des Hausfriedens nicht mehr hinüber und aus dem Gotteshaus geht ein neuer Vorsatz: Ich und mein Haus, wir wollen dem Herrn dienen! Und der Nachmittag des Sonntags ist beglänzt von Gottes Wort und überstrahlt von Gottes Verheißungen. Und es lebt der Vater seinen Kindern und die Mutter widmet sich den Ihren: ein gemeinsamer Spaziergang, gute Hausmusik, gute Erzählungen und vielleicht auch, was aber durchaus nicht zum Gesetz werde, eine Frage über die Sonntagspredigt, eine kurze Rede über deren Text. Ein solcher Ruhetag krönt die vergangene und adelt die kommende Woche; ein solcher Ruhetag ist ein Heiligtum vor Gott. – Gar manche Frau hat, nachdem sie beide einst am Altare versprochen hatten, sich fleißig zu Gottes Wort und Sakrament zu halten, den Mann ihrer Wahl wieder ins Gotteshaus gewöhnt und hat damit ihrer Ehe eine Weihe und ein edles Unterpfand werktätiger Liebe und Treue verliehen. Glaubt es einem Manne, der in viele zerstörte Ehen hineingeblickt hat und hineinblickt, und der das ganze Grauen männlicher Untreue und weiblicher Vergiftetheit kennt, der erste Anfang aller Eheirrung und Ehewirren ist: Die lebendige Quelle haben sie verlassen. Wenn die Frau gebetsarm und der Mann kirchenlos wird, wenn Mann und Frau sich schämen ihre Knie vor dem zu beugen, der am Hochzeitstag sein erstes Wunder getan und dem Christenhause seine ganze Liebe und Treue in gnadenreicher Weise gezeigt hat, dann beginnt die Ehe innerlich zu wanken; zuerst kann man sich nicht mehr verstehen, dann will man sich nicht mehr verstehen, und schließlich darf man sich nicht mehr verstehen, und weil die Pforten des Gotteshauses sich schlossen, hat der Feind die Pforten der Verleumdung und der Lüge weit aufgetan und der Traualtar ist zur Trauerstätte geworden. Ach, daß unsere Frauen diese edelste Kunst wieder lernen möchten, ihren Männern Gottes Wort und Gottes| Haus wieder teuer zu machen. So hart ist selten ein Mann, daß er nicht dem sanften Andringen und dem lauteren Wandel seines Weibes, dem wortlosen, schweigenden, reinen Wandel, nachgeben müßte. So hart ist selten ein Mann, daß er nicht dem Gemahl folgte, das Gott fürchtet. Und wenn es der Hausfrau nicht gelang, den Mann zurück zur Kirche zu führen, so muß sie um so mehr ihrer Kinder gedenken, daß sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual, da für Gott jedes Organ erstorben ist. Aber du sagst mir: ich habe keine Familie, ich stehe allein auf der Welt, ich wüßte nicht, wen ich zur Kirche einladen und mit wem ich zur Kirche gehen sollte. So weißt du doch, daß du zur großen Familie deines Herrn Jesu Christi gehörst, von der der Apostel schreibt: Ihr seid hinfort nicht mehr Fremdlinge und Pilgrime, sondern Gottes Hausgenossen. Wisset, man feiert den Sonntag familienhaft auf Erden, aber größer ist es noch, wenn man Familienbande hat mit denen, die droben sind. Denn das ist das erste, was Luther schreibt: Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir die Predigt und sein Wort nicht verachten – und er meint unter Predigt den gesamten Gottesdienst der Gemeinde – den Kultus. Sie sagen dir: „Kultur“ und ich sage dir: ohne Jesus wird alle Kultur Firnis. Sie sagen dir: sei gebildet! und ich sage dir: ohne Jesum ist alle Bildung Schein. Sie rufen dir zu: entwickle deine Fähigkeiten frei von allem Dogma und frei von der Lehre der Kirche! Und ich sage dir: alle Pflanzen, die nicht der himmlische Vater pflanzte, sind wurzelkrank, sind im Keime schon erstorben und nach kurzer Zeit welken sie und fallen ab.
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 Was ist es Großes, daß ich am Sonntag vornehmlich in familienhafte Verbindung trete mit der hl. Betgemeinde droben im Vaterhause! Wenn ich mir vorstelle: nun treten alle Heiligen, Cherubim und Seraphim, die ganze Schar engelischer Gewalten und Mächte mit dem Weihrauch| ihres Dienstes und ihrer Anbetung vor den Thron ihres Herrn; nun beginnt dieses himmlische Lobgetön: „Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth!“ Nun hebt der Wett- und Wechselgesang aller Gottseligen an: Ehre sei dem Vater und dem Sohne und dem heiligen Geist!

 Und wenn am Sonntag der Geistliche am Altare betet und noch lieber die ganze Gemeinde singt: Wir loben Dich, wir benedeien Dich, wir beten Dich an! dann ist es, als ob eine unsichtbare Gemeinschaft herrsche zwischen uns armen Pilgern hier im Staube und der hl. Gemeinde derer, die ihre Kleider im Blute des Lammes gewaschen haben und nun rein und ohne Sünde und Sorge vor dem Throne ihres Erbarmers stehen. Dann hebt die Seele sich heimatwärts und himmelwärts: Wirf ab, Herz, was dich kränket!

 Es ist diese Gemeinschaft ein Gottesdienst im oberen Heiligtum, den der Apostel Paulus Römer 12 einen „vernünftigen“ Gottesdienst nennt.

 Und nun meine Lieben, die ihr vielleicht so gerne an der Liturgie vorübergeht und es so einzurichten wißt, daß ihr über die Kirchenschwelle tretet, wenn der Geistliche eben die Kanzel besteigt, hört, um welche Gnade und welchen Reichtum ihr euch selbst dadurch bringt! Um den großen Reichtum gemeinsamer Anbetung. So wenig unsere Kirche gewillt ist, einen Gottesdienst zu feiern, in dem sie die Gebende, Gott der Empfangende ist – wie die katholische Kirche es hält, in welcher das Opfer, das der Priester bringt, den Höhepunkt des Gottesdienstes bedeutet, wo Gott dann das Meßopfer freundlich entgegennimmt – so wenig ist unsere Kirche dem reformierten und kalvinistischen Gottesdienste hold, in dem die Gemeinde lediglich die Empfangende, harrend Aufnehmende ist, ohne zugleich die Gebende, Spendende zu sein. Unsere Kirche, die liebe und geliebte Kirche der rechten Mitte, ist gebend und empfangend;| sie gibt und nimmt, sie empfängt und schenkt, sie erhält und bedankt. Sie bedankt aber hauptsächlich in der Liturgie. Geht es dir nicht durch die Seele, wenn die Gemeinde mit dem Geistlichen betet: Er lasse uns sein Antlitz leuchten, daß wir auf Erden erkennen seine Wege! Das Größte, um was wir ihn bitten können, daß Er uns nicht dunkle Wege führe, sondern daß Er uns lichte, gnadenvolle, von Verheißung und Erbarmen gekrönte Wege führen möge? Ist es dir nicht ein Bedürfnis zu singen: Es segne uns Gott, unser Gott? Und wenn dann das Gloria patri erschallt: Ehre sei Gott dem Vater und dem Sohn und dem heiligen Geiste – und darüber die Zeit und ihre Sünde ins Meer versinkt, dann treten all die kleinen Sorgen vor der großen zurück: „Wie es war im Anfang, jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ O, daß auch mein Leben ein Gloria sein möchte, eine Ehrung des dreieinigen Gottes, und auch mein Dienst ein willkommenes Opfer sei! Und wenn wir uns dann demütigen vor dem Gott unserer Väter mit der Sünde der Woche, mit dem Elende des Lebens, mit Vergehung und Unterlassung, mit Untat und Untreue und nun einmütig beten: Herr erbarme Dich, Christe erbarme Dich! – und das gnadenreiche Wort hören: „Der allmächtige und barmherzige Gott hat sich unser erbarmt“ – sind das Formeln? Sind das leere Worte? Ist es nicht vielmehr der selige Familienton aus dem Vaterhaus und Vaterherzen zu uns gedrungen in das Land der Ferne und Fremde, der uns aller Sorge entledigt und uns der seligen Vergebung trostreich und glaubhaft versichert?
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 Das ist ein vernünftiger Gottesdienst, den sollt ihr nicht verachten! Betrüget euch nicht, indem ihr an der Liturgie vorübergeht, um die Gemeinschaft der Heiligen! Es gibt mir immer – es geht mich zwar nichts an, sondern ist Sache der Gemeinde – einen Stich durchs Herz, wenn| ich Leute, von denen ich weiß, daß sie sehr viele freie Zeit haben, regelmäßig nach dem Glaubensbekenntnis kommen sehe mit dem Rechte der Selbstverständlichkeit. Es ist mir immer ein beschämendes und betrübendes Weh, nicht, wenn eine abgejagte und vielgemühte Hausfrau zu spät kommt, sondern wenn die Leute, die oft nicht wissen, wie sie ihre freie Zeit benützen sollen, ihrem Gott zuliebe nicht einige Minuten eher von zu Hause weggehen mögen. Wer sich um diese Gemeinschaftspflege betrügt, der wundere sich nicht, wenn er immer mehr allein ist. Und die vielen Einsamen in Stadt und Land, die vielen verkümmerten und verbitterten Existenzen, die wir gerade beim weiblichen Geschlecht so häufig finden, haben nicht selten ihren Grund darin, daß sie nicht gottesdienstliche Gemeinschaft pflegen.

 Die Predigt nun ist der Mittelpunkt des lutherischen Gottesdienstes; auch in ihr preist die Gemeinde Gott, sie gibt und nimmt: ihm den Dank, sich die Kraft; bei ihrer Anhörung und in ihr erquickt sie sich, wie der Apostel schreibt.

 Liebe Christen! Heutzutage wird die Predigt meist nach sehr äußerlichen Kennzeichen beurteilt: ob sie geistreich ist, ob sie viele Zitate bringt, ob sie den Leuten gefällt und vor allem ob sie nicht zu dogmatisch ist. Die meisten scheinen vom Prediger eine Art geistlicher Wochenübersicht zu erwarten; Leitartikel, die man die Tage vorher in der Presse las, wünscht man im geistlichen Gewande mit feinen Worten wohl am Sonntag von der Kanzel zu hören. Wenn ihr wüßtet, wie man sich sehnt, am Sonntag von dem Gerede der Woche, von den Gerüchten der Woche und von den Gerüchen der Woche verschont zu bleiben! Wenn ihr es wüßtet, wie man sich sehnt, an den lauteren Quellen des göttlichen Wortes zu trinken als ein Mühseliger und Beladener und nichts zu vernehmen, als: So spricht der Herr! Wir, die wir noch zur alten Schule gehören und wenn Gott Gnade gibt, auch zur alten Schule gehören wollen, bis sie| uns begraben, begehren von der Predigt nichts anderes, als daß der Diener Jesu das Wort zur Geltung kommen und an unsere Seele reden läßt. Das ist die beste Predigt, wo man den Prediger vergißt und nur noch den Diener hört, der seines Herrn Befehle ausrichtet. Das ist die beste Predigt, wo einer, gehorsam dem Worte seines Gottes, schlecht und recht darbietet, nicht, was Gott nach seiner Meinung gesagt haben wollte, auch nicht, wie es Gott besser gesagt haben müßte, sondern wie Gott zu uns spricht. Und diese Predigt sollt ihr nicht verachten! Je kunstloser sie ist, desto besser ist sie und je schlichter sie an euch kommt, desto treuer ist sie. Glaubt es, die Predigten, die eingetaucht sind in die Anbetung des Wortes und in den kindlichen Glauben an den, der uns das Wort gegönnt hat, müssen immer auf die Seele wirken. Und du hast einen fehllosen Erweis, ob eine Predigt für dich etwas nützte, wenn du aus ihr einen Willensentschluß heimträgst, der dich die ganze Woche hindurch verfolgt. Es ist ein schlechtes Ding, wenn man fragt: nun wie war die Predigt? und es erfolgt die stereotype Antwort: sie war sehr schön! Und was war der Inhalt der Predigt? Das weiß ich nicht. Du mußt aus der Predigt deinen Willen geheiligt sehen, dann war sie für dich ein Segen.
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 Und wenn du aus ihr nur einen Satz heimbringst, einen Satz, der dich nicht losläßt, sondern immer wieder dich beschäftigt und du nimmst diesen Satz und willst ihn im Leben befolgen, dann hast du eine gute Predigt gehört und wenn sie die einfachste und unansehnlichste wäre. So wollen wir die Predigt, d. h. den gesamten Gottesdienst nicht verachten. Und wenn du einmal traurig aus der Kirche heimkehrst, weil du so gar nichts gehört hast, was deinen inneren Menschen beschäftigt, wer wehrt dir da, die alten Predigtbücher deiner Kirche, deiner Väter aufzuschlagen? Ich habe vor einigen Tagen einen Brief eines| Geistlichen aus der Ferne erhalten. Er schrieb und fragte, ob ich es gewesen wäre, der die Predigten des seligen Pfarrers Löhe herausgegeben und bevorwortet hätte. Ich leugnete dies nicht, hatte auch keinen Grund hiezu. Der Geistliche schrieb weiter: Diese Predigten haben mich gerettet. – Seht, es gibt solch herrliche Predigten unserer Väter, eines Löhe und eines Ahlfeld, eines Kapff und eines Petri, es gibt so viel treffliche Predigten unserer Alten, daß es nicht nottut, Predigten zu lesen, in denen sehr viel Schönes, sehr viel Geistreiches, sehr Glänzendes, Interessantes und Lichtes steht, in denen aber nicht der Name, der über alle Namen ist, leuchtet, der unser armes Leben tröstet, Heil und ewige Seligkeit uns bringt. Ich weiß wohl, daß diese neue Art zu predigen, in der die Sünde nicht mehr in ihrer ganzen Schrecklichkeit und die Gnade nicht mehr in ihrer ganzen Herrlichkeit dargestellt wird, viele, viele dankbare Hörer hat. Aber ich würde nie zu meiner Erquickung eine Predigt lesen, die mich interessiert, aber die mich frömmer zu machen nicht imstande ist.
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 So könnt ihr euren Sonntag feiern. Eines habe ich geflissentlich noch ferne gehalten: warum lest ihr so wenig in eurem Gesangbuch? Es ist ganz betrüblich, wie wenige Lieder in der Hauptstadt gesungen werden. An Weihnachten habe ich in verschiedenen Gottesdiensten viermal das Lied singen müssen: „Jauchzet, ihr Himmel usw.“ Als ob es keine anderen Weihnachtslieder mehr gäbe. Warum sind wir so stumm geworden? Warum so wenig Choräle? Warum so wenig Melodien? Warum so viel von dem guten, aber wenig erquickenden Gellert? Ihr liebt euer Gesangbuch nicht genug, ihr lest zu wenig in ihm! Und ihr lernt auch zu wenig aus ihm. Denn das ist auch eine Verachtung der Predigt, wenn man nicht lernt. Ein Mann, der nie ein schwarzes Gewand trug, der große Geschichtsschreiber Treitschke, sagt einmal: Wenn man das Gedächtnis| für religiöse Fragen und Worte nicht beizeiten übt, so ist man im späteren Leben verarmt. Wir kennen alle das Gerede von der Überbürdung unserer Jugend mit religiösem Stoff. Dafür werden sie überbürdet mit allerlei unnützem und unnötigen Zeug und unsere Mägdlein und Buben werden in der Volksschule mit physikalischen Gesetzen gequält, mit Einwohnerzahlen und Bergeshöhen gemartert, aber Verse aus dem Gesangbuch lernen sie nimmer!

 Wie wäre es – ich wende mich an diejenigen unter den Anwesenden, die über freie Zeit verfügen – wenn nun manchmal ein Lied gelernt oder auch nur gelesen würde! Wie wäre es, wenn jemand sagte: ich will in meinem Gesangbuch heimisch werden; ich will mir Lieblingslieder suchen, die will ich beten; ich will spielen und singen dem Herrn in meinem Herzen! Wißt ihr jetzt, wie man Sonntag feiert?

 Ich wiederhole: familienhaft, in Gemeinschaft, die sich so leicht gibt und so schwer vermißt wird, vor allem aber im Zusammenschluß mit der Gemeinde daheim. Da ist eine Witwe, die oft ihres Heimgegangenen Gatten gedenkt, da ist ein Mann, der der Gehilfin und Gefährtin seiner Jugend und der Stütze seines späteren Lebens beraubt ist, da sind Kinder, die ihren Eltern nachweinen. Wollt ihr nicht der Gemeinschaft pflegen mit der vollendeten Gemeinde im Gebete der Kirche? Das wäre ein rechter Sonn- und Feiertag! Und kommt fleißig zur Kirche und kommt pünktlich zur Kirche und kommt gesammelt zur Kirche!

 O, wer betet denn, wenn der Geistliche hinauf zur Kanzel schreitet: Herr, rede Du, daß Dein Knecht rede in Deinem Namen! Wer betet, während seine Blicke dem zur Kanzel emporsteigenden Prediger folgen: heilige seine Lippen, reinige sein Herz, segne seine Worte, schenke mir durch Deinen Knecht, o Herr, einen Gruß aus der Heimat!

 Seht, für solche Sonntagsbitten kommt an euch selbst der Gewinn. Und dann, wenn der Sonntag zu Ende geht,| muß es in eurem Herzen wie Lobsagung und Dank sein, bis einst ein Sonntag erscheine, der aller Not ein Ende macht. Laßt es an jedem Sonntag in eurer Seele klingen und singen: „Gottlob, ein Schritt zur Ewigkeit ist abermals vollendet!“ auf daß die müden Stimmen, auf die so leicht der Erde Staub sich legt, sich erheben weit über alle Niederungen des Lebens, bis ihr daheim seid beim Vater. Es wird euch und auch uns einmal erfreuen, wenn wir, diesem armen Leben entnommen, von den mit uns feiernden Gliedern im Gedächtnis und von der gottesdienstlichen Gemeinschaft derer, die mit uns lobten, getragen sind. Es wird eine Erquickung für uns sein, wenn unser Hosianna und Halleluja von denen auf Erden aufgenommen und weitergegeben wird.

 Darum laßt uns die Gemeinschaft pflegen am Sonntag und laßt uns Sonntagschristen werden! Dann wird der Alltag auch ein Festtag sein. Laßt uns – das wollen wir in der nächsten Zusammenkunft betrachten – sein Wort lieb haben, nicht seine Wörter, nicht einzelne Reden, sondern sein heiliges, teueres Wort!

 Dieses Wortes Gnade und Gabe, dieses Wortes Sonne und Segen erhalte Er uns aus Gnaden! Denn wenn Er es nimmt, wie wird dann die Finsternis so groß sein! Und wenn Er es uns erhält, dann ist’s immer wieder Tag und immer wieder Licht. Denn Du bist die lebendige Quelle und in Deinem Lichte sehen wir das Licht!

Amen.





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